Für Sie gelesen

Co-Abhängigkeit – und wie du dich befreist

Das Buch „Mitgefangen in der Sucht“ ließ mich, trotz des dramatischen Themas, unerwartet … ja, hoffnungsfroh zurück. Irgendwie gekräftigt und voller Tatendrang, obwohl ich selbst gar nicht zu den Angesprochenen gehöre. Auch wenn Autorin Julia Maria Kessler ihr immer entsetzlicher werdendes Zusammenleben mit einem alkoholkranken Partner sehr lebendig schildert, ist es dennoch ganz das Gegenteil einer „Runterzieh“-Geschichte. Denn sie verbindet ihre Erfahrung mit Wissensvermittlung und Self-Coaching-Übungen: Co-Abhängige müssen nicht weiter leiden, sie können sich aus dieser Opferrolle befreien, ist ihre Botschaft.

Aber was bedeutet das überhaupt, co-abhängig zu sein? Woran erkenne ich das?

Ich wusste das gar nicht so genau bis dahin, denn als Alkoholikerin hatte ich genug mit mir selbst zu tun. Oder ich maß dem nicht sehr viel Bedeutung bei. Wie übrigens die Medizin anscheinend bis heute nicht: Es gibt fast keine Therapien für zutiefst erschöpfte, angstgequälte, schlaflose, depressiv gewordene, seelisch entwurzelte Angehörige. Als die Autorin den behandelnden Arzt ihres trinkenden Mannes um Hilfe für sich selber bat, verschrieb er ihr Antidepressiva …

Kurzum, ich hatte bisher wenig Ahnung, wie es meinen Angehörigen wohl gegangen sein mag, als ich soff. An vieles kann ich mich auch gar nicht erinnern. Insofern ist das Buch sehr lehrreich auch für alkoholkranke Menschen – und Nachscham auslösend dazu.

Ja, wie lebt ein Mensch damit, wenn der Partner trinkt, leugnet, streitet, verbal und körperlich verletzt, betrunken Auto fährt, bei Polizei oder Notaufnahme landet, und das immer und immer wieder?

Wer sich für den anderen überverantwortlich fühlt, will helfen, beschützen, nach außen abschirmen, übernimmt Aufgaben mit, hofft von einem Versprechen, einer Entgiftung zur nächsten, dass es doch mal besser wird – bis sich sein eigenes Leben nur noch um den Alkoholkranken dreht. Der Angehörige verliert sich selbst, wird krank. Aber aus Angst, sich trennen zu müssen, damit das enden kann, bleiben viele dann doch bei eben diesem Partner. Denn er hat ja nüchtern auch so seine wunderbaren Seiten.

Diese Angst kann Julia Maria Kessler den Leser*innen nehmen. Trennung ist nicht die einzige Lösung. Dazu im Buch mehr. Etwas ganz Entscheidendes ist aber sowieso noch viel wichtiger, findet sie: „Man bekommt immer nur das, was man immer schon erreicht hat, wenn man weiterhin tut, was man schon immer getan hat“, dieser Satz von Henry Ford bewegte sie selbst dazu, umzudenken. Neu zu denken. Sie lernte zum Beispiel, den Alkoholismus zu verstehen, auch als Krankheit. Und weiß nun, dass sie von außen rein gar nichts erreichen kann: ein Alkoholiker kann sich nur beginnend in seinem Inneren wandeln und trocken werden. Sie lernt, dass sie aber an der Situation etwas ändern kann, indem sie sich wieder auf sich selbst besinnt, wer sie ist, was sie möchte, was sie glücklich macht – dass sie sich dafür bewusst entscheiden muss und ins Handeln kommen, statt sich weiter als Opfer zu fühlen. „Die Veränderung musste bei mir beginnen!“, erkannte sie. Und: Sie selbst schreibt das Drehbuch ihres Lebens. Sie musste also loslassen von der selbstzerstörerischen Verantwortungsübernahme für ihren Partner.

„Solange wir am Alten festhalten, haben wir die Hände nicht frei und können neue Chancen nicht ergreifen“, ermutigt sie.

Hilfreich war für die Autorin auch ihr Besuch auf Rolf Bollmanns Finca Esperanza auf Mallorca. Dort lernte sie nicht nur viel, inmitten der abhängigen Patienten, über Alkoholismus, sondern begann auch die spirituelle Reise zu sich selbst, zurück in ihre Kraft, zurück ins Urvertrauen.

Viele kleine Self-Coaching-Übungen helfen den Lesenden, sich selbst zu erkennen, ihre derzeitige Lage, Ursachen, ihr eigenes Verhalten und wie man die alten Denk- und Verhaltensweisen verändern kann.

Ihrem Partner hat sie seine Verantwortung für sich selbst übrigens zurückgegeben. Er lebt nicht mehr bei ihr und ihren Kindern und auch die gemeinsame Firma gibt es nicht mehr. „Ich war … nicht mehr bereit, Teil dieses endlosen Dramas zu sein“, sagt sie. Und im Schlusskapitel, an die Leser*innen gerichtet: „Es wäre schön, wenn du versuchst, dich für den Gedanken zu öffnen, dass es eine Alternative zu deiner aktuellen Situation gibt, für die es sich unbedingt lohnt, loszugehen!“

Anja Wilhelm

 JULIA MARIA KESSLER, Mitgefangen in der Sucht, Wie du dich aus der Co-Abhängigkeit bei Alkoholismus befreist
255 S., Softcover, mvg Verlag
ISBN  978-3-7474-0402-7, 17 Euro


UNABHÄNGIG: Vom Trinken und Loslassen

Am liebsten würde ich es mir jetzt ganz einfach machen und sagen: Lesen Sie das bitte unbedingt selbst, Ausrufezeichen! Danach werden Sie wissen sie, warum …

Warum also? Viele ähnliche Bücher sind hier schon vorgestellt und weiterempfohlen worden: Von Frauen, die tranken, ja soffen, auf einem langen, gequälten Weg zur Einsicht gelangten und seitdem die Klarheit des Nüchternseins feiern.

Darum geht es in groben Zügen auch bei Autorin Eva Biringer, 33. Und doch ist etwas anders: Ich wünschte nämlich diesmal, es hätte nicht geendet, das Buch …

Es ist und bleibt immer hochspannend, finde ich. Zum einen natürlich, weil sie ihre Sauf-Absturz-Kater-Erlebnisse um den halben Erdball verteilte. Gesoffen wurde in Japan, Kopenhagen, auf Kuba, in Wien oder eben in Berlin – und einst im kleinen schwäbischen Dorf schon als 14-Jährige. Nach vertrunkener Student*innenzeit in WGs endeten jegliche Presseeinladungen, egal wo auf der Welt, für die junge Food-Wein-Journalistin (ihr Traumjob) oft mit Filmrissen und schweren Katern. Trinken, essen, trinken, Kater, schreiben, trinken … Sie trinkt jeden Tag, und nicht nur für den Job. Vorzugsweise gute Weine. Allein oder in Bars. Verliert manchmal Taschen, Geldbeutel, den Kopf und immer sich selbst dabei. Das ist so drastisch von ihr beschrieben, dass man sich als Leser*in „voll“ erinnern darf und mitleidet. Ja. Ja, so war das. Und die Abstinenten unter uns sich bestätigt fühlen: Bääh, bin ich froh, dass ich das nicht mehr muss!

Natürlich stellt sie irgendwann fest, dass sie SO nicht weitermachen will. Der Magen streikt, der Kopf, die Psyche. Besonders in Phasen, in denen sie eisern einige Wochen versucht, nichts zu trinken, also ohne ihre größte Liebe Alk (Männer trennen sich oft von ihr, der Alk tut das nicht) auszukommen, ist sie dann begeistert von der Nüchternheit, der neuen Lebensenergie, der Ausgeglichenheit, dem guten Schlaf, von dieser neuen Klarheit. Darüber schrieb sie in einer Zeitung und zitiert sich selbst im Buch: „In der ersten Woche des neuen Jahres regnete es durch. Im Winter setzt Berlin, dieser preußische Offizier, seine Pistole auf deine Brust und schreit: Trink! Dieses Jahr war es anders. Die Feindseligkeit eines verkaterten Tages war verschwunden, ich watete nicht mehr als Trümmerfrau durch die Scherben einer vergessenen Nacht. Jeder Morgen war klar konturiert wie die Stimmen der Radiomoderatoren im Deutschlandfunk.“

Absolut meine Lieblingsstelle. Ist das nicht eine tolle Schreibe? Sie zieht sich durch das ganze Buch. Unter anderem auch deshalb ist es wirklich spannend bis zur letzten Seite.

Gefangen zwischen den einzigen beiden Wünschen, die sie hat: Ich will trinken! Ich will nicht trinken! und mehreren Versuchen, aufzuhören, sucht sie Hilfe. Psychotherapie, Suchtberatung, Gruppen, ambulante Therapie während der Coronazeit. Vor allem Bücher helfen ihr. Sie sucht sich etwas, das diese neu gewonnene Zeit füllt, erfüllt, zum Beispiel das Laufen und Yoga. Sie lernt, ihren Kontrollzwang abzulegen, den Perfektionismus vieler Frauen – und übt, loszulassen. Sich selbst endlich als Freundin zu behandeln. „Ich hatte getrunken, um zu einer anderen Version meiner selbst zu werden, tough, stolz, emanzipiert. Das Verrückte: In dem Moment, indem ich damit aufhörte, bin ich genau das geworden.“

Aber ihre eigene Geschichte stellt sie nicht alleine in den Raum. Sie recherchiert mit uns zum Beispiel das Thema Frauen und Alkohol, wie tranken Frauen in der Antike oder im Mittelalter (sie durften nicht)? Und wie kam es dazu, dass heute immer mehr Frauen abhängig werden? Sie deckt zum Beispiel auf, wie Werbekampagnen direkt auf den Emanzipationszug aufspringen, um eine neue Absatzklientel zu erreichen, trinkt, Frauen, trinkt wie die Männer, das habt ihr euch verdient. Oder wie zielgenau die Bioprodukt-Verbraucher mit sogenannten Natur-Weinen gekapert werden …

Aber wissen Sie was? Alle guten Worte hier werden Eva Biringers Werk mitnichten gerecht. Lesen Sie vielleicht lieber einfach selbst. Ich finde, das lohnt sich!

Anja Wilhelm

EVA BIRINGER: Unabhängig, vom Trinken und Loslassen
352 S., Verlagsgruppe Harper Collins
ISBN 9783365000168
18 Euro


Heinz Strunk schildert kein Idyll in „Ein Sommer in Niendorf“

„Edeka, Ende der Karriere

Das Multitalent Heinz Strunk hat wieder zugeschlagen und zeigt, wie ein Mann aus der Mitte der Gesellschaft sich binnen drei Monaten mittels Alkohol an deren Rand katapultiert.

Dr. jur. Roth, erfolgreicher und gutbetuchter Wirtschaftsrechtler mit Millionenvilla in Hamburg, nimmt sich eine Auszeit. Zwischen der Beendigung der einen und dem Beginn der neuen Arbeitsaufgabe bleiben ihm drei Monate Zeit. Diese Zeit will er nutzen, um die Geschichte seiner Familiendynastie aufzuschreiben. Die Geschichte der Familie beinhaltet Verstrickungen mit dem Nationalsozialismus sowie die Insolvenz des Familienunternehmens durch väterliches Unvermögen. Roth hat 44 Tonbänder mit Interviews der Beteiligten. Der Plan ist, diese 44 Bänder auszuwerten und so zu einer Saga einer deutschen Unternehmerfamilie zu bearbeiten, die Bestsellerqualitäten hat und auch die Film- und Fernsehauswertung kann er sich vorstellen.

Um sein Vorhaben ungestört umsetzen zu können, mietet er sich für diese drei Monate eine Ferienwohnung am Strand der Ostsee in einem Ort namens Niendorf. Dies ist die formale Gegebenheit, mit der der Autor beginnt. Im Verlauf der Tragödie wird Dr. Roth, vorwiegend alkoholbedingt, mehrere Körperverletzungen und Straftaten begangen haben, es wird einen Toten geben. Dr. Roth wird seine Arbeitsstelle verlieren, körperlich erniedrigt werden, körperlich Schaden nehmen, lügen und betrügen und andere Unbill ertragen und verursachen. Das Familienepos wird wohl, zumindest von ihm, nicht fertiggestellt werden. Es wird aber trotz wechselnder Umstände immer durch das ganze Werk hinweg gesoffen, gesoffen und gesoffen, ob alleine von ihm oder in Kumpanei mit anderen Menschen. Am Schluss kommt es zur Katharsis, der Reinigung des „Helden“.

Strunk beschreibt diese drei Monate aus dem Leben des misanthropischen Dr. R. in seinem bekannten klaren und lakonischen Stil, der die Situation analysiert und illustriert, aufgefüllt wird das Ganze mit Floskeln und Sprüchen aus dem Alltag, der Werbung und aus anderen Quellen. Vor Brachialkomik macht Strunk nicht Halt, baut sie aber geschickt in seinen Textfluss ein.

Eine sehr lesenswerte Sommerlektüre zum Lachen, Fremdschämen und Nachdenklich werden.

Torsten Hübler

HEINZ STRUNK: Ein Sommer in Niendorf
240 Seiten, geb., Rowohlt Verlag, ISBN 978-3-498-00292-3, 22,00 Euro


Spielsucht ist eine Krankheit, eine Impulskontrollstörung (ICD-10, F63.0)

Der tut nichts, der will nur spielen!

Zufällig erreichten die Redaktion der TrokkenPresse fast zeitgleich zwei autobiographische Titel Spielsüchtiger, zwei von ca. 200.000 Betroffenen in Deutschland.

Der eine, Sascha Heilig, ist erst den Automaten verfallen, der andere, Daniel Kessler, erst den Sportwetten. Beide verspielen eine Menge Bargeld, der Turbo für die Geldverbrennung ist das Internet, durch die virtuellen Automatencasinos und Online-Wettbüros und dem Zocken mit virtuellem Geld werden alle Barrieren durchbrochen, beide verschulden sich und werden straffällig. Beide lügen und betrügen ihre Familien und reißen sie mit in den Abgrund. Sascha Heilig hat zwei Bewährungsstrafen mit jeweils über zwei Jahren Haft erhalten, Daniel Kessler kommt auf insgesamt eine Gelstrafe, vier Bewährungsstrafen und eine Haftstrafe über 21 Monate, die er beim Erscheinen des Buches noch absitzt, eine zweite Haftstrafe ist noch nicht rechtskräftig. Beide kommen aus „gutbürgerlichen“ Elternhäusern und lebten und strebten ein „gutbürgerliches“ Leben an. Der eine im Rettungsdienst, der andere in der Hotellerie. Beide sind seit jungen Jahren süchtig, anders als Alkoholkranke, bei denen die Sucht in der Regel erst ab der Lebensmitte oder später in Richtung Ruin kippt.

Die Sucht beginnt bei Sascha Heilig mit einem Gewinn am Automaten, aus Langeweile gespielt und Verlusten, die wieder aufgeholt werden sollten, dies führt in kleinen Schritten recht zügig zum täglichen Automatencasinobesuch, inklusive Betrugstaten, dem Verlust des Ausbildungsplatzes und der Freundin und am Ende steht die Verurteilung. Nach stationärer Therapie spielfrei, wird eine andere Ausbildung mit Bravour beendet und eine dauerhafte Beziehung etabliert. Durch einen Zufall und einmaligem Klicken auf eine Popup-Werbung aus dem Internet werden mehr als eine Viertelmillion Euro gewonnen — und viel mehr verloren, Schulden, Betrug, zweite Verurteilung und zweite stationäre Therapie, wieder vorerst spielfrei arbeitet der Autor wieder in einem „bürgerlichen“ Beruf und ist auch als Coach bei Spielsucht tätig.

Der 34-Jährige teilt die gut 170 Seiten in 54 Kapitelhäppchen auf, was den Fluss beim Lesen etwas bremst. Da er aus seinen Erfahrungen heraus eine eigene Firma zum Thema Spielsuchtvermeidung gegründet hat, stellt sein auch mit Hilfe einer Ghostwriterin geschriebenes Buch einen Teil seines Unternehmenskonzepts dar. Es liest sich daher flott und ist, anders als bei vielen Selbstpublizierten Titeln, fast fehlerfrei und ansprechend in der Sprache.

Bei Daniel Kessler beginnt die Sucht in seiner Ausbildung mit Fußballwetten unter Kolleg*innen. Dieses Verhalten steigert sich zum täglichen Besuch beim Buchmacher plus zusätzlicher Wetten im Internet, inklusive Lug und Trug der Familie gegenüber. Im Buch beschreibt er, dass er sogar in einer Gerichtsverhandlung, bei der es um seine Betrugstaten ging, unter dem Tisch mit dem Smartphone weiter Wetten platziert hat. Kessler beschreibt in der ersten Hälfte seiner Autobiographie sehr detailverliebt sein Leben bis zu seiner Inhaftierung mit 32 Lebensjahren. Dabei wird nicht einmal über Wetten, Schulden, Betrug oder Strafurteile berichtet.

Dann gibt es ein kurzes Kapitel über sein Wettverhalten, die Art und Weise seiner Betrugstaten. Damit beginnt der Teil des Selbstmitleides, das sich bis zum Endes durchzieht. Darin gibt es einen Exkurs über Spielsucht, Gewinnspielindustrie. Sich selbst bezeichnet er darin als pathologischen Spieler, schweift ins Strafrecht ab, dass Haftstrafen bei Drogensüchtigen ausgesetzt werden können, falls diese sich in stationäre Drogentherapie begeben, aber ungerechterweise Spielsucht und deren Therapie nicht zur Haftverschonung führt. Im dritten, scheinbar etwas unsortierten Teil geht es um die Umstände seiner Haft unter COVID-19-Bedingungen, Unzulänglichkeiten der Justiz in Baden-Württemberg und speziell in der Ulmer Haftanstalt. Beschreibungen seiner Mithäftlinge und Gedanken über das deutsche Rechtssystem schließen sich an. Die Litanei setzt sich mit Kommentaren u.a. über Sexualstraftäter und deren Behandlung fort. Kessler kündigt an, dass er in einem weiteren Band ausführlich über den Fortgang seiner Strafverfahren, den Haftverlauf sowie die angestrebte Therapie berichten will. Man kann gespannt sein, ob er bei der Reflexion seiner Sucht und deren Folgen für die Opfer weiter ist.

Torsten Hübler

SASCHA HEILIG: Mein Leben mit der Spielsucht
Wie ich mein Leben zurückgewonnen habe
172 Seiten, Softcover, Spielfrei. Werden & Bleiben, ISBN 978-3-00-068955-0, 9,99 Euro

DANIEL KESSLER: GameOver 23.01.2020
Wetten, Knast & COVID-19; 256 Seiten, Softcover, Rediroma-Verlag, ISBN 978-3-98527-291-4, 12,95 Euro


Nach mehr als 40 Berufsjahren als Chirurg ein Aufruf von Dr. med. Bernd Hontschik

Rettet das Gesundheitswesen!

Der Arzt und Autor arbeitete bis 1991 an einer Frankfurter Klink, bevor er sich mit einer eigenen Praxis niederließ. Er kennt sich also im deutschen Gesundheitswesen aus, welches er einer kritischen Untersuchung unterzieht.

Ins Vorwort stellt Hontschik ein Zitat aus Karl Marx‘ „Kommunistischem Manifest“, das sich mit der internationalen und imperialen zentrifugalen Verbreitung des Kapitals befasst, „Globalisierung“ nennt man das. Dem stellt er die zentripedale Expansion entgegen. Dies bedeutet, dass immer mehr Bereiche des öffentlichen Lebens eines Landes unter die Kontrolle des privaten Kapitals und dessen Renditeanspruch gelangen, die bisher unter der Kontrolle der Allgemeinheit standen, „Privatisierung“ nennt man das. Nach Meinung Hontschiks geht mit der Auslagerung öffentlicher Belange wie Universitäten oder Krankenhäuser die Expansion kapitalistischer Produktionsmethoden in diesen Bereichen einher, dies bedeutet z.B. Verschlechterung der Bezahlung und Verdichtung der Arbeitszeit für das Personal. „Aus dem (öffentlichen d. Red.) Gesundheitswesen wird die Gesundheitswirtschaft.“ Ein weiterer Schwerpunkt sind die Maßnahmen der Bundesregierung zur Eindämmung der Corona-Pandemie, die er mit kritischem Blick sieht, gerade im Lichte der massenhaften Datenerhebung der Bevölkerung mit dem Argument der Seuchenbekämpfung. Die gesetzgeberischen Maßnahmen, auch die Aussetzung bestimmter Grundrechte mit der Begründung der Seuchenbekämpfung, sieht er kritisch. Er warnt vor dem Schritt von der Gesundheitswirtschaft zur Gesundheitsherrschaft.

Wenn man von Gesundheitswirtschaft schreibt, dann muss man der Spur des Geldes folgen. Dies geschieht im zweiten Kapitel mit einem interessanten Ausflug in die Geschichte der ärztlichen Leistungsvergütung vom Codex Hamurabi (ca. 3000 v. Chr.) über das Herzoglich-Nassauische Medizinaledikt von 1818, um beim neuesten Bezahlmodell zu landen, dem P4P (Pay for Performance), bei der ärztliche Tätigkeiten anhand von medizinischen Qualitätskriterien und deren Erreichen vergütet werden. Die Frage stellt sich aber, wer legt diese fest, wie lassen sich Krankheiten und deren Therapien quantifizieren? Hängt der Behandlungserfolg vom medizinischen Personal ab oder von der Mitwirkung der Kranken (Ernährungsumstellung, sportliche Betätigung usw.)? Wie soll mit Patient:innen umgegangen werden, die sich der von der Medizinalkraft angestrebten Therapie widersetzen? Fällt dann die Vergütung für Arzt und Ärztin aus? Hontschik zeigt die Schwierigkeiten, ein aus der Industrie entlehntes Produktionskonzept auf die „Produktion gesunder Menschen“ zu übertragen. Dies wird anschaulich gemacht durch Beispiele aus seiner Tätigkeit als Chirurg in einer Klinik. Der Verfasser entwickelt in diesem Kapitel für chronisch Kranke eine utopische Idee, die bei ihrer Umsetzung die Erkrankten gesundheitspolitisch wieder vom Objekt zum Subjekt macht.

Wer verteilt das ganze Geld der Versicherten im Gesundheitssystem? Die Krankenkassen, die Thema des dritten Kapitels sind. Zu Beginn werden die Krankenkassensysteme einiger europäischer Länder sowie der USA dargestellt. Das deutsche System leistet sich als einziges die ineffiziente Parallelität von gesetzlichen und privaten Krankenkassen. Es wird eine Studie zitiert, die bei einer Abschaffung der Privatversicherungen ein Absenken um 0,7 Prozent der Beiträge für gesetzlich Versicherte prognostiziert. Seit 2009 fließt das Geld der gesetzlich Versicherten nicht mehr „ihrer“ Krankenkasse zu, sondern das Geld Aller wir in einem Gesundheitsfonds gesammelt, der es wieder nach gewissen Kriterien an die Krankenkassen verteilt. Entgegen dem bis 2009 praktizierten Interesse der Kassen, möglichst gesunde Mitglieder zu versichern und gesund zu erhalten, da dann die Kosten gering sind, sind jetzt moribunde Kunden erwünscht, da es dann höhere Zahlungen aus dem Gesundheitsfonds gibt, „Morbiditäts-Risikostrukturausgleich“ nennt sich das widersinnige Verwaltungsungetüm. Zu Recht wird die Frage gestellt, ob eine einzige Krankenkasse für alle nicht sinnvoller wäre, die Beispiele aus dem Ausland zeigen, es geht und ist für die Allgemeinheit preiswerter.

Wohin fließt das Geld der Krankenkassen? Ein großer Teil in die Krankenhäuser, die Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) und am Ende ein guter Teil in die Taschen der Klinikkonzernaktionäre. Hontschik zeigt den Weg der Krankenhäuser von Einrichtungen der allgemeinen Daseinsvorsorge zu normalen Wirtschaftsbetrieben, die den Renditeforderungen ihrer Investoren nachkommen müssen, statt das Wohl der Patient:innen im Blick zu haben. „Deutschland hat inzwischen den weltweit höchsten Anteil von Krankenhausbetten im Besitz privater Gesundheitskonzerne“. Auf der Ebene der ambulanten medizinischen Versorgung wurden medizinische Versorgungszentren als die neuesten Renditemaschinen entdeckt und entwickelt. Als Ausblick gibt der Autor den Leserinnen und Lesern die Gründung von medizinkonzerneigenen Krankenkassen mit. Der Mensch soll vollumfänglich von der Wiege bis zur Bahre vom Konzern betreut werden, mit entsprechenden finanziellen Vorteilen für den Konzern, nicht für die betroffenen Menschen.

Ein weiterer Teil der Versichertenbeiträge wird für die Medikation der Menschen verausgabt. Das Kapitel über die Pharmaindustrie ist mit „Gier“ überschrieben. Zu Beginn des zweiten Absatzes wird postuliert: „Es gibt kein Verbrechen, dessen sich die Pharmaindustrie noch nicht schuldig gemacht hat.“ Zwischen 2003 und 2016 mussten in den USA internationale Pharmakonzerne, d.h. auch deutsche, 33 Milliarden US-Dollar an Strafen zahlen, lediglich 1,5 Prozent ihres in diesem Zeitraum erwirtschafteten Umsatzes. Big-Pharma und deren Wirken in der Corona-Pandemie werden sechs aktuelle und kritische Seiten gewidmet. Zum Abschluss gibt es die Forderung nach einer verbindlichen „Positivliste“ für wirksame und preiswürdige Medikamente, diese Liste haben ein Gesundheitsminister der CSU, Horst Seehofer, und eine Gesundheitsministerin der SPD, Ulla Schmidt, nicht gegen die Pharmalobby durchsetzen können, weil den Pharmakonzernen Einsparungen in Höhe von mindestens zehn Milliarden Euro drohen, Philipp Rösler Gesundheitsminister der FDP hat es nicht einmal versucht.

Wenn nun die Klinik- und Pharmakonzerne unsere Krankenkassenbeiträge mit mangelhaften Leistungen verbraucht haben, was ist dann noch interessant an der Patientin, dem Patienten? Die Daten sind ja noch vermarktungsfähig, pures Gold. Hier kommt die sogenannte Gesundheitskarte ins Spiel, das E-Rezept, die E-Krankschreibung und die elektronische Patientenakte usw. Der Autor erkennt klar: „Wer die Verfügungsgewalt über Daten hat, der hat die Macht …“. Diese Daten werden nicht nur mittels Gesundheitskarte generiert, sondern verknüpft mit den Daten aus Smartphones, Smartwatches, den Smarthomes, den „intelligenten“ Stromzählern und nicht zuletzt mit den Daten aus der Kloake. Durch sehr genaue Messungen und Analysen der Abwässer konnten während der Corona-Pandemie wesentlich schnellere und genauere Vorhersagen zu den Infektionszahlen gemacht werden als mit den herkömmlichen Mitteln von Behördenseite möglich war, auch Drogenkonsum und Medikamentengebrauch lassen sich gut nachweisen. Hysterie? In China zeigt sich, was geht, die Bürgerinnen und Bürger werden in großen Teilen des Landes totalüberwacht, sozial bewertet und sanktioniert.

Zum Schluss wird ein Modell entwickelt wie die ideale medizinische Versorgung der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland aussehen könnte. Aber wer will das umsetzen, bei der bisherigen Struktur der politischen Entscheidungsträger ist das wünschenswert, aber schwer vorstellbar. Ein Verzeichnis von relevanten Kampagnen und Vereinen, die der herrschenden Gesundheitspolitik kritisch gegenüberstehen und ein Quellenregister vervollständigen das Buch am Ende.

Ein lesenswertes, flüssig geschriebenes, sachkundiges und hochaktuelles Werk für Lesende, die verstehen wollen, warum sie monatelang auf einen fünfminütigen Facharzttermin warten müssen, ihre Krankenkassenbeiträge ständig steigen und warum die Politikerinnen und Politiker diesen Missständen, trotz mehrerer sogenannter Gesundheitsreformen, nicht abhelfen wollen oder können.

Torsten Hübler

Bernd Hontschik, Heile und Herrsche! Eine gesundheitspolitische Tragödie, 144 Seiten, Softcover, Westend Verlag/ Frankfurt M., ISBN 978-3-86489-358-2, 18,00 Euro


„Depressionen gehören zu den häufigsten und hinsichtlich ihrer Schwere am meisten unterschätzten Erkrankungen. Insgesamt sind 8,2%, d. h. 5,3 Mio. der erwachsenen Deutschen (18-79 Jahre) im Laufe eines Jahres an einer unipolaren oder anhaltenden depressiven Störung erkrankt.“*

 Kurt Krömer widmet sich mit einem neuen Buch seiner Sucht und Depression

 Im Kopf des Komödianten

Unter dem Pseudonym Kurt Krömer hat Alexander Bojcan sein zweites Buch veröffentlicht. Das erste schildert seinen Besuch zur Truppenbetreuung in Afghanistan. Der neue Titel thematisiert die Verheerungen seiner Psyche und deren Folgen.
Anhand einzelner Episoden, auf der Bühne, bei der Therapeutin, beim Urologen oder im Bett, erzählt der Autor seinen Weg vom verstärkten Auftreten der eigenen Krankheit(en) über die Bewusstwerdung, dass Depression eine Krankheit ist, an der er schon lange erkrankt ist, bis hin zur Genesung. Auch die wiedergewonnene Lebensfreude feiert er zum Schluss des Berichts.

Aufgezeichnet ist der Report der privaten Heilungsgeschichte des Autors mit einem leicht selbstironischen Unterton. Thematisiert wird die Alkoholsucht des Autors, die er aber seit über zehn Jahren zum Stillstand gebracht hat und so erkennen konnte, dass die Sucht nicht sein einziges Problem war. Der krankhafte Alkoholgebrauch war nur die Betäubung eines anderen Problems. Krömer schildert seine Schwierigkeiten, die Depression als solche selbst zu erkennen. Geschildert werden Pleiten, Pech und Pannen, bis endlich eine Therapeutin erkennt, dass er depressiv ist und ihn ein Psychiater für acht Wochen in eine Tagesklinik einweist. Hier kann er genesen, er zeigt den Klinikalltag und den damit einhergehenden Erkenntnis- und Heilungsprozess. Beiläufig erlaubt er sich die Bemerkung, dass dieser günstige Heilungsablauf ihm als privatversichertem Patienten möglich ist, sich der Weg zur Genesung von gesetzlich Krankenversicherten steiniger darstellen kann.

Auch private Einblicke in das private Leben gibt der Bühnenstar.

Geschrieben hat Kurt Krömer die Abhandlung für die Millionen auch an Depression Erkrankter, deren Erkrankung noch nicht erkannt wurde. Er will mit seinem persönlichen Erfahrungsbericht diesen helfen und Mut machen, aus der Angst vor der Behandlung herauszukommen und etwas dagegen zu unternehmen, für ein besseres Leben. Mit Torsten Sträter, einem weiteren depressiven Komiker, führte er eine ganze „Chez Krömer“ Fernsehsendung lang ein Gespräch über ihre Depressionserkrankungen.

Vielleicht kann Alexander B., dank der großen Aufmerksamkeit, die sein berühmtes Alter Ego Kurt Krömer erzeugt, mit diesem flüssig und humorvoll geschriebenen Buch einigen Menschen helfen, den Ausstieg aus der Depression anzugehen und die Lebensfreude wiederzufinden, dann hätte er wohl sein Ziel erreicht.

Torsten Hübler

*www.deutsche-depressionshilfe.de (Schirmherr ist der Schauspieler und Alt-Komiker Harald Schmidt)

 Kurt Krömer, Du darfst nicht alles glauben, was du denkst – Meine Depression, 192 Seiten, Hardcover, Kiepenheuer & Witsch, ISBN 978-3-462-00254-6, 20,00,- Euro


Sternhagel …nüchtern

Schon wegen des wundervollen Schlusses bin ich froh, dieses Buch gelesen zu haben für Sie, liebe Leser*innen. Denn was das ganze Buch verströmt … das Gefühl, die Autorin ist mir gleichgesinnt und da für mich … bestätigt sie am Ende mit eigenen, ermutigenden Worten: „Und ich hoffe, Sie spüren dieses Wissen, die Kameradschaft, wo auch immer Sie … jetzt stehen mögen. Ich bin da. Und ich halte eine Fackel. Ich wünschte nur, ich könnte Ihnen die Hand halten …Und jetzt: Los gehts, Tiger. Ich glaube an Sie.“

Mit den vergehenden trockenen Jahren ist nicht mehr jeder frische, klare Morgen eine Offenbarung wie in den ersten Monaten, meint sie. Das wissen wir. Es wird normal, nüchtern durchs Leben zu gehen. Alltag eben. Nach den ersten Jahren sei die Trockenheit an sich ein Klacks, behauptet Catherine Gray in ihrem aktuellen „Sternhagelnüchtern – Vom unerwarteten Vergnügen, nüchtern zu bleiben“, das nun erschien. Drei Jahre nach ihrem Bestseller „Vom unerwarteten Vergnügen, nüchtern zu sein“, in dem sie ihr Trockenwerden schilderte.

Weshalb nun also nochmals ein Buch?
Sie sagt, sie sei immer noch beim Trockenwerden, weil Trockenwerden für sie heißt: „Ich entdecke, wer ich wirklich war, bevor alles schief ging.“ Was sie also nun beschäftigt, sind die Dinge, die folgen (sollten) – um weiter trocken bleiben zu können, und das zufrieden und frei, wie: Grenzen ziehen zu lernen, nein sagen zu lernen. Schuldgefühle abzuarbeiten. Und Wissensaneignung: Denn ihre Frage heute ist: „Wie kann ich mich endlich sicher fühlen? Sicher vor mir selbst, sicher vor anderen … sicher vor dem Alkohol und dem extremen Druck kulturellen Druck, der mit ihm einhergeht?“

Dank vier namhafter britischer Suchtwissenschaftler, der über 50 Erfahrungskommentare betroffener Menschen, eigener Erlebnisse und viel Recherche (10 Seiten brauchen alleine die Quellenangaben in kleingedruckt) sucht sie zum Beispiel Antworten auf „brennende Fragen“ wie: Was ist Sucht? Gibt es eine Suchtpersönlichkeit? Ist Sucht vererbbar? Oder auch: Stigmatisieren die Begriffe Alkoholiker &Co tatsächlich?

In ihrer Rubrik „Sturzbetrunken versus sternhagelnüchtern“ erzählt sie jeweils ein Erlebnis, wie sie es im Suff erlebte – und wie sie es Jahre später in ihrer Abstinenz erlebte, zum Beispiel einen Festival- oder Urlaubstag. Ein bisschen frech, amüsant und immer herzerwärmend gütig in bildhafter Sprache lebt der Leser alles mit …

Ein großes Thema sind auch ihre Entlarvungen, mit Fakten unterlegt natürlich, weshalb und wie Alkoholindustrie, Forschungsinstitute und Regierungen sozusagen „zusammenarbeiten“ (z.B. der Drinkaware-Skandal in Großbritannien).

Eingebettet in die großen Kapitel, jedes ist einem Jahr ihrer trockenen Zeit von fünf bis acht gewidmet, beschreibt sie außerdem detailliert, wie sie sich selber weiter kennenlernte. Wie sie sich endlich an die Aufarbeitung der Kindheit wagte und lässt die Experten zu Wort kommen, warum fast jeder Abhängige unverarbeitete Kindheitstraumata hat. Wie sie ihre Angststörung lernte zu akzeptieren und mit ihr umzugehen (viele Süchtige leiden darunter, erklären die Experten, und versuchen sie mit Alkohol zu „heilen“). Wie sie endlich all ihre schrecklichen Taten im Suff hervorholt, Schuld und Scham ausräumen kann …

Es geht um Trigger und Empathen, trinkende Mütter und Schwangere, darum, wie man Emotionen von Verlangen unterscheidet, wie der Dalai Lama seine Wut auf dem Laufband abarbeitet, ob man einem noch Trinkenden helfen kann und so weiter …

Manchmal erschienen mir der bunte Mix aus Themen und ihre Reihenfolge zu bunt gemixt. Aber das wurde spätestens bei den ersten Zeilen einer Geschichte völlig piepegal, weil man schon wieder in den Lese-Bann geraten ist.

Ihre letzten Zeilen berühren mich sehr. Sie hat endlich gefunden, wonach sie mit Alk und Drogen immer gesucht hatte. Acht Jahre hat dieser Weg gedauert und nun: „Das habe ich ewig gesucht. Ich fühle mich sicher. Geliebt. Zugehörig. Endlich. Bin ich sicher.“

Das frische Buch ist nicht nur ein ermutigendes, leidenschaftliches Loblied auf ein trockenes Leben, sondern zugleich voll mit neuen Erkenntnissen, neuem Wissen, neuen Tatsachen. Ich jedenfalls habe viel gelernt und Neues auch über mich selbst erfahren.

Das wünsche ich Ihnen auch …

Anja Wilhelm

CATHERINE GRAY, Sternhagelnüchtern-Vom unerwarteten Vergnügen, nüchtern zu bleiben, 352 S., Softcover, mvg Verlag, ISBN 978-3-7474-0401-0, 17 Euro


Das neue Buch von Henning Hirsch

Der Wunsch vieler Betroffener: „Raus aus dem Rausch“

Unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser kennen Henning Hirsch als Kolumnisten der TrokkenPresse, er hat nun sein zweites Buch zum Thema Alkoholkrankheit vorgelegt. Sein erstes Werk, der autobiographische Roman „Saufdruck“, beschäftigte sich mit dem desaströsen Leben des Alkoholikers Henning Hirsch. Nun, neun trockene Jahre später, nähert er sich dem Thema Alkohol von der sachlichen Seite her. Er will seinen Leserinnen und Lesern mittels eines Ratgebers helfen, vom Saufen loszukommen. Gebrauchsanweisung steht auf dem Umschlag, das deutet daraufhin, dass hier die Anwendung eines standardisierten Prozesses vorgestellt wird.

Im Vorwort schildert der Autor seine Gründe, diesen „Erfahrungsratgeber“ zu verfassen und will den Lesenden einen „Zehn-Stufen-Plan zum Ausstieg aus dem Alkohol nahebringen“. Im Kapitel „Aperitif“ steigt Hirsch ganz tief ins Thema ein und erklärt, was einen Rausch verursacht (Endorphine usw.), erklärt die Geschichte der alkoholisch gegärten und gebrannten Getränke und hantiert mit Statistiken und Zahlen in der Jetztzeit. Beantwortet wird die Frage: „Wann ist man Alkoholiker?“, beginnend mit der alten Jellinek-Klassifikation aus den 1930er Jahren, um über die Klassifikationen verschiedener anderer Wissenschaftler zur Definition der Weltgesundheitsorganisation WHO zu gelangen. Danach werden die körperlichen und seelischen Folgen des Alkoholverbrauchs dargestellt, es werden einige der über 200 durch Alkohol begünstigten negativen Folgen für den Körper dargestellt, auch auf die seelischen Schäden wird eingegangen. Die Frage „Muss man erst ganz unten ankommen?“ wird am Ende des Kapitels gestellt.

Nachdem die Lesenden mit Fakten und Statistiken gerüstet sind, werden die zehn Gänge bis zur zufriedenen Abstinenz serviert. Das von den deutschen Kranken- und Rentenkassen bereitete Standardmenü hier in Kurzform: Klinikeinweisung, Entgiftung, Erkenntnis der eigenen Alkoholkrankheit, Entwöhnung, Sucht-Selbsthilfe-Gruppe, zufriedene Abstinenz. Der Rückfall und dessen Vermeidung sind natürlich auch ein Kapitel wert. Begleitet werden diese Ausführungen durch die erfolgreiche Genesungsgeschichte des Autors, gewürzt durch Einschübe, Geschichten und Erfahrungen aus geschätzt 40 Trinkerjahren, 30 Entgiftungen und zwei Entwöhnungsbehandlungen. Am Ende ist ein Kapitel den sogenannten Co-Abhängigen gewidmet und die in Deutschland praktizierte menschenfeindliche Alkoholpolitik wird kommentiert. Das Werk beschließt ein Apparat aus Glossar, dem ehrwürdige Jellinek-Fragebogen, Listen von Anlaufstellen und Literaturtipps sowie den Quellenangaben.

Die knapp 200 Seiten sind flüssig in einem lockeren Stil geschrieben, der je nach Sichtweise der Betrachter dem Thema angemessen oder unangemessen erscheinen kann. Für seine „stellenweise Klugscheißerei“ entschuldigt sich der Verfasser vorsorglich im Schlusswort.

Wer sollte diesen Ratgeber lesen? Alle, die sich erstmals mit dem Thema Alkoholismus auseinandersetzen müssen, Betroffene, aber auch im Umfeld der alkoholkranken Menschen Lebende und Arbeitende. Hier wird konkret ein mit Erfahrungen unterfütterter Lösungsweg für das individuelle Alkoholproblem aufgezeigt, den Viele erfolgreich beschritten haben, ein „Einstieg in den Ausstieg“.  Torsten Hübler

Dr. Henning Hirsch
Raus aus dem Rausch
Gebrauchsanweisung, um vom Alkohol wegzukommen
192 Seiten, Softcover, humboldt, Hannover, ISBN 978-3-8426-3055-0, 19,99 Euro


‚Glamouröse Abstinenz‘ – oder

Nichts verlieren – alles gewinnen!

Positiv denken und handeln – wie lange und mühsam war der Weg dahin: weg vom Gefühl, durch Abstinenz etwas verloren zu haben, weg vom Gefühl, eine Niederlage erlitten zu haben dorthin, wo der Gedanke an das letzte Glas Erleichterung und Genugtuung bedeutete. Sich selbst wieder zu vertrauen, Freude am Leben verspüren und Lust, sie mit anderen zu teilen und den Dämonen der Sucht fröhlich eine lange Nase zu drehen, das hat nicht nur Kraft gekostet, sondern vor allem sehr viel Geduld.

Aber ja – das Buch von Jardine Libaire und Amanda Eyre Ward: BERAUSCHT VOM LEBEN, das im letzten Herbst in deutscher Übersetzung erschien, handelt genau davon: die Freiheit vom Alkohol genießen zu wollen und zu können und den Reichtum und die Vielfalt des Lebens nüchtern mit allen Sinnen wiederzuentdecken und zu gewinnen – das ist kein leeres Versprechen von trocken gelegten Langweilern, sondern von fröhlichen und mutigen Menschen, die es gewagt haben, nach der schmerzlichen Erkenntnis, das eigene Leben fast niedergebrannt zu haben, aus diesem Feuer etwas Wertvolles, Neues und Schönes entstehen zu lassen.

Die Autorinnen erzählen von vielen alltägliche Situationen und Begegnungen, die – weil sehr bewusst wahrgenommen und erlebt – das Wenige als viel, das Große als klein und das Banale als besonders erlebbar machen. Die Erkenntnis, nüchtern viel besser Wahrnehmungen zu realisieren und den Reichtum und die Vielfalt in Beziehungen und Umwelt als eine bessere Variante von Rausch in sich aufzunehmen und dafür offen zu sein, erzeugt in den Protagonistinnen eine ihnen bislang unbekannte Tiefe von Identität und Existenz.

Auch wenn die Episoden teilweise von einer sympathischen Oberflächlichkeit zeugen, die hiesiger Leserschaft eher aus romantischen Bestseller-Kreationen bekannt ist, so sind sie doch von einem soliden Selbstbewusstsein und einer sympathischen Unkompliziertheit, die dem Leben die Rolle des Tragischen nimmt und so‚weniger Alkohol, mehr Hier und Jetzt, mehr Verbundenheit, mehr Rock’n Roll‘ verleiht (so der Verlag auf dem Umschlagtext des Buches).

Zahlreiche Tipps und Suchen nach alltäglichen Abenteuern sind auch zum Teil ganz hübsch und auch durchaus wert, beherzigt zu werden, so unter anderem das Lob der Langeweile.  Michael Annecke

JARDINE LIBAIRE/AMANDA EYRE WARD
Berauscht vom Leben
400 Seiten. Paperback , ISBN 978-3-257-30083-3, € 18,00


Kindheit in einer Trinkerfamilie:

 „Die Überlebenden“

Der schwedische Autor Alex Schulman, in Deutschland bisher ein Unbekannter, in seinem Land Fernsehmoderator, Blogger und Schriftsteller, schrieb in dem Memoir „ Glöm mig“ über seine alkoholkranke Mutter. Es wurde 2017 in Schweden zum Buch des Jahres gewählt. Sein neues Buch „Die Überlebenden“ ist sein autobiographisch inspirierter, fesselnder Debutroman. Spannend und psychologisch einfühlsam schildert er eine Reise in ein altes Trauma. Schulman skizziert sensibel eine Fülle einzelner Situationen, präzise erfasst sowohl aus der Perspektive der Kinder als auch dem Erleben der erwachsen Gewordenen.

Um die Flut der Erinnerungen zu ordnen und zu bewältigen, bedient sich der Autor eines ungewöhnlichen künstlerischen Mittels: Zwei Handlungsstränge bewegen sich aufeinander zu, der eine vorwärts – es ist der, der in der Kindheit spielt –, der andere rückwärts. In vierundzwanzig Kapiteln, Stunde für Stunde bewegen sich die beiden Stränge aufeinander zu. Ich war zunächst etwas irritiert, denn es entfaltete sich eine scheinbar willkürliche sprunghaft zwischen Vergangenheit und Zukunft vorgetragene Erzählweise. Doch diese stringente Darstellungsform ermöglicht es dem Autor und dem Leser zugleich, eine seltene Verdichtung der Erzählung zu erleben. Der Stoff hat es in sich: Gewalt und Alkoholismus und seine psychischen, seelischen und soziale Folgen, Trauma, Familientragödie, Suizid, Schuld und Unschuld, Liebe und Hass, Bindung und Entfremdung, Verzagen und Hoffnung, Schmerz und Versöhnung, Kindheit in Ungeborgenheit, Sommer- und Ferienidylle versus Tristess, Unglück und Trauer.

Der Leser macht Bekanntschaft mit einer dysfunktionalen Familie. Der Vater, aggressiv, manchmal nett scheinend, dann aber wieder die drei Söhne bestrafend, animiert die Jungen zu waghalsigen Unternehmungen, schickt sie in Wettbewerbssituationen, ohne sich für den Ausgang dieser zu interessieren. Er trinkt zusammen mit seiner Ehefrau.

Die Mutter, offensichtlich Alkoholikerin, emotional instabil, launisch und unberechenbar und ziemlich gefühlskalt verfügt über die Vorstellungskraft grausamer Bestrafungen. Die Kinder, Niels, Benjamin und Pierre müssen um ihre Aufmerksamkeit buhlen; um wenigstens doch ein bisschen Zuneigung erfahren.

Die Jungs entwickeln unterschiedliche Überlebens-Strategien, um mit der Familiensituation klarzukommen:
Niels, der Älteste, der Rabiate, der sich gerne prügelt und auch die Brüder gegeneinander aufhetzt, sich aber auch allem, besonders dem Familiendrama versucht zu entziehen, ist der erste, der aus dem Haus fliehen und seiner eigenen Wege gehen wird.
Benjamin, der Mittlere, Nachdenkliche, Nach-Innen-Gekehrte, der sich ständig in der Nähe der Eltern aufhält, sie beobachtet und belauscht und wie ein Seismograph deren wechselnde Stimmungen registriert, der all diese sprunghaften Stimmungen einzufangen und alles in der Familie zu reparieren versucht. Benjamin, der aus der Perspektive des Ich-Erzählers auf der Suche nach dem Trauma, den Traumata und der Fragen nach der eigenen Schuld am Familienunglück ist. Benjamin, der versuchte, stets Verantwortung zu übernehmen und doch allzu oft scheiterte.
Pierre, der Jüngste, Ängstliche, Rastlose, Ungestüme, leicht zu Manipulierende, der bis ins Erwachsenenleben voller Aggressivität steckt.

Drei Brüder, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Sie bekriegen sich, haben absolut unterschiedliche Interessen und halten doch zusammen. Eine Familie bricht auseinander, verkommt förmlich, wird sich völlig fremd. Erst Jahre später und nach dem Tod der Eltern erfahren die drei verfeindeten Brüder den Grund dafür. Er ist natürlich schon angelegt in der toxischen Eltern-Kind-Beziehung, der emotionalen Unreife der Eltern, psychischer und physischer Vernachlässigung und Gleichgültigkeit der Eltern, die sogar das Leben der Kinder gefährden.

Nach dem Tod der Mutter, der Vater verstarb schon früher, erfüllen die Brüder, nun im Alter zwischen 30 und 40 Jahren, den letzten Wunsch ihrer Mutter, nochmals zusammen ins Sommerhaus ihrer Kindheit am See in einer einsamen Landschaft weit ab von nächsten Stätten des Lebens, zurückzukehren. Sie sollen ihre Asche in dem See verstreuen, dass sie nicht neben dem Vater bestattet werde. Es ist diese gemeinsame Unternehmung, die die unterschiedlichen Wahrheiten, nie besprochen und ausgesprochen, zwischen ihnen aufbrechen lässt. Sie überlebten getrennt und teilen doch eine „Kindheit in einem Oberklassenhaushalt unterhalb des Existenzminimums“: Die Eltern sind Trinker. Ein Funken Hoffnung entsteht, dass sich die entfremdeten Brüder wieder annähern.

Ich las ein meisterhaftes, mich tief anrührendes, sehr sensibles und psychologisch tiefgehend überzeugendes Buch. Mir begegnete eine mich sehr berührende und aufwühlende wie ergreifende und bedrückende und oft unter die Haut gehende beklemmende Geschichte, fulminant vorgetragen und mit Überraschungen. Ich konnte das Buch in zwei Etappen lesen.
Der Roman, für mich ein Kunstwerk, ist sehr klar, nüchtern und zugleich sprachgewaltig von der ersten bis zur letzten Seite fesselnd geschrieben. Bald war ich mir sicher, dass ich es noch einmal lesen werde.
Sehr empfehlenswert!
Hans-Jürgen Schwebke

ALEX SCHULMAN
Die Überlebenden
Aus dem Schwedischen von Hanna Granz
304 Seiten, geb. dtv 2021, ISBN: 978-3-423-28293-2, 22,00 €


Booker-Preis-Jury ist berührt vom Scheitern eines co-abhängigen Kindes:

Glasgow, ganz weit draußen

Zum Glück habe ich erst nachträglich erfahren, dass der vorliegende Roman den höchsten britischen Literaturpreis, den Booker Prize, erhalten hat, denn ich stehe den Urteilen der Buchpreis-Jurys meistens etwas skeptisch gegenüber. Bei „Shuggie Bain“ hätte ich mich aber geirrt, denn ich bin froh, dass ich den preisgekrönten Titel gelesen habe.

Der namensgebende Protagonist Shuggie steht am Beginn, es ist das Jahr 1992, am Broilergrill eines Einkaufzentrums im schottischen Glasgow und versucht, dem gegrillten Federvieh und der nervigen Kundschaft Herr zu werden, um dann in seinem öden Untermietzimmer mit schmierigen Nachbarn in einer Art Wohnheim sein Haupt zu betten. Dann kommt es zum Zeitsprung.

1981 beginnt die eigentliche Geschichte, Maggie Thatcher regiert und baut die Industrienation Großbritannien zum neoliberal globalisierten Finanzdienstleitungszentrum um, bei der die Schwerindustrie Glasgows sehr in Mitleidenschaft gezogen wird. Die Arbeitslosigkeit ist extrem hoch, tagsüber stehen die Kohlekumpel in ihren sauberen Arbeitsklamotten vor dem Pub und saufen. Shuggie ist sieben Jahre alt und lebt mit seinen zwei Geschwistern und den Eltern bei den katholischen Eltern seiner Mutter im 16. Stock eines Sozialbaus. Der Vater, Protestant, Taxifahrer und Ernährer der Familie, ist ein Vorstadtcasanova und verlässt seine Familie, nachdem er sie in einer Bleibe am extremen Rand der Stadt in einer Zechensiedlung untergebracht hat. Die zentrale Person des Romans neben Shuggie ist Agnes, Shuggies Mutter, die von ihren Eltern verwöhnt wurde, damals gab es noch gute Arbeit für ihren Vater, mit den gesellschaftlichen und persönlichen Realitäten nur schwer zurecht kommt und versucht, sich die öde Welt mit Alkohol aufzuhellen.

Bedrückend beschreibt Stuart nun die acht Jahre in der heruntergekommenen Zechensiedlung, die Zeche ist geschlossen und die meisten männlichen Bewohner arbeitslos, bis zum Umzug in die Stadt 1989. Die Alkoholkrankheit verschlimmert sich zusehends und die Armut der Rest-Familie auch. Die ältere Halbschwester von Shuggie entzieht sich durch Heirat nach Südafrika der Katastrophe. Der ältere Halbbruder ist auch schon auf dem Absprung. Der kleine Shuggie kämpft gegen den Alkohol, um seine Mutter zu retten, die immer tiefer in den Strudel der Abhängigkeit gerät. Kurzzeitig gestoppt durch kalte Entzüge, die dem Geldmangel geschuldet sind. Statt zur Schule geht er den wöchentlichen Sozialhilfescheck einlösen, um anschließend für seine Mutter statt Lebensmittel Alkohol zu kaufen. Aber es gibt Hoffnung, die Mutter lernt einen Mann kennen, sie stabilisiert sich, sie kann ihre Krankheit zum Stillstand bringen … Wie es weitergeht, lesen Sie bitte im Buch.

Der Verfasser, Douglas Stuart, wurde 1976 selbst in Glasgow geboren und wuchs dort auf, heute lebt er in New York.

Der weitgehend autobiographisch grundierte Roman ist wohl auch dank der guten Übersetzung von Sophie Zeitz fesselnd geschrieben und zieht die Leserin, den Leser trotz des schweren Themas in seinen Bann.

Torsten Hübler

Douglas Stuart
Aus dem Englischen von Sophie Zeitz
Shuggie Bain
496 Seiten, Hardcover, Hanser Berlin, ISBN 978-3-446-27108-1, 26,00,- Euro


Tesla?

Ja, da erscheint heutzutage als erstes Musks Elektroauto vor Augen, stimmts? Nicht etwa der Strom, der wie selbstverständlich aus der Steckdose kommt – und schon gar nicht der Mann, der ihn erfand …

Herbert Witzels handgebundenes Büchlein über Nikola Tesla, den größten Erfinder vergangener Zeiten, erinnert und – erhellt: Nämlich des Lesers Geist in erwartet witz(el)iger Weise – und das in vielfacher Hinsicht.

Wir erfahren, woher Tesla kam, wohin er ging, was er alles so erfand und wie er lebte. Er sollte zuhause in Kroatien Priester werden, seine Leidenschaft aber war die Elektrotechnik. Er entwickelte Patente, für die er selten ausreichend entlohnt wurde, sondern sogar übers Ohr gehauen. Er lebte in Prag, Paris und New York. Hatte zeitweise mit Alkohol und Spielsucht zu kämpfen, arbeitete, bitterarm, sogar eine Zeit lang als Straßenbauhelfer. Ja, dieser Mann, der dafür sorgte, dass die ganze Welt im Lichte baden kann: Dank der Erfindung des Wechselstromes. Womit er Glühbirnen-Thomas Edison und seine Gleichstromerfindung sogar übertrumpfte.

Was er sonst noch erfand und wir heute wie selbstverständlich benutzen? Lesen Sie am besten selbst. Das Büchlein, ein Schätzchen fürs Bücherregal, liest sich leicht und heiter. Bis auf die Stellen, die etwas detaillierter die Elektrotechnik beschreiben. Aber auch das ist erhellend, zumindest für Leser/Innen wie mich, deren 5. Klasse-Physikunterricht dann doch schon viele Jahrzehnte zurückliegt. Da musste Wikipedia ran: Wechselstrom? Gleichstrom? Ach, und wo kommt der Strom überhaupt her, wie war das nochmal? Wieder was gelernt/erinnert.

Hinzu kommt, dass die handlichen Bücher des trockenen Alkoholikers Herbert Witzel von der ersten Seite ein an ein liebevoll gestalteter Hirnschmaus sind. Ganz nach dem Motto auf Seite 5: „Hier läuft die Ware nicht vom Band, hier schafft man noch mit Herz und Hand“.  Und gleich darunter bittet er als „Macher“, „.. das Buch gut zu behandeln und vor Nässe zu schützen. Danke.“

Über die Eselsohren, die in diesem Buch nicht möglich sind, weil die Seiten gar keine Ecken haben … reden wir mal ein anderes Mal. Auch ein Recherche-Thema: Warum heißt die brutale Faltkunst eigentlich Eselsohr? Fragen über Fragen wirft das kleine Werk auf.

Solche Bücher liebe ich. Sie auch? Dann viel Freude daran, wünscht Ihnen

Anja Wilhelm

 H.F. WITZEL, Nikola Tesla-Sein Leben von mir selbst erzählt, 79 Seiten, mit 44 mehrfarbigen Abbildungen, worttransport.de , ISBN: 978-3-944324-81-4, 12, 80 Euro


Daniel Schreibers neuer Essayband

Liminal: „Allein“

Ein sehr häufig verwendeter Begriff in diesem Werk ist Liminalität und liminal. Da es nicht im Fremdwörterduden verzeichnet ist, möchte ich auf Wikipedia verweisen: Verkürzt gesagt bedeutet es fluktuierender Schwebezustand. Diese Begriffserklärung sei nur vorausgeschickt, damit man den Geist, in dem dieses Werk verfasst wurde, versteht.

Vor dem Alleinsein haben viele Menschen Angst, andere genießen es, alleine zu sein. In diesem Spannungsfeld reflektiert Daniel Schreiber über sein eigenes Alleinsein und das Alleinsein im Allgemeinen, mit und ohne Corona-Krise. Unseren treuen Leserinnen und Lesern dürfte der Autor bekannt sein, wir hatten seinen Essayband „Nüchtern“ in der Dezember-Ausgabe 2014 besprochen, in dem er sich mit seiner Alkoholsucht und den Weg in ein trockenes Leben auseinandersetzte.

In Daniel Schreibers typischem Stil beschreibt er sein eigenes Leben kurz vor und während der Pandemie, die für die meisten Menschen mit Kontaktbeschränkungen und Ansteckungsangst wohl einen wesentlichen Einschnitt im Leben darstellt. Den Leserinnen und Lesern bietet Schreiber seine Reflexionen über sein nicht einfaches Inneres als mittelalter, privilegierter, weißer, schwuler, alleinstehender Mann an. Der Autor erklärt sich seine eigene Welt, indem er vermeintlich passende Literatur- und Quellverweise für die Erklärung seines Lebens und seiner Gefühle verwendet. 141 Seiten Text werden durch acht Seiten mit 113 Fußnoten und neun Seiten mit Literaturangaben ergänzt. Das ist schon ein Hinweis, dass es keine leicht zu lesende Lektüre ist. Ein Ratgeber für den Umgang mit Alleinsein oder der Bewältigung des als Problem empfundenen Zustands ist dieses Werk nicht. Liminalität könnte auch eine Kurzbeschreibung für diesen Titel sein.

Torsten Hübler

DANIEL SCHREIBER, Allein, 160 Seiten, Hardcover, Hanser Berlin, ISBN 978-3-446-26792-3, 20,00,- Euro


Ohne Alkohol

Die beste Entscheidung meines Lebens

 Als Nathalie Stüben die „beste Entscheidung ihres Lebens“ traf, nämlich ohne Alkohol zu leben, hatte sie schon eine bewegte Geschichte mit dem Alkohol hinter sich – und sie war immer noch jung. Wie bewältigen junge Frauen ihre Abhängigkeit? Gibt es Unterschiede zu Männern in der gleichen oder ähnlichen Situation? Wie sind heute die Wege aus der Abhängigkeit? Gibt es den Königsweg? Fragen über Fragen, die sich immer wieder stellen, wenn es um das Thema Alkohol geht, und deren Beantwortung immer auch in ihrer Zeit gesehen werden müssen.

„Als ich wusste, jetzt muss ich etwas tun“, so erzählte es Nathalie Stüben im Interview, „habe ich das Thema so angepackt, wie ich es als Journalistin gelernt habe: Sich im Internet schlau machen, Podcasts hören und lesen, lesen, lesen, um einen Anpack zu finden.“

Diese Bemühungen führten zunächst zur eigenen Verhaltensänderung „Ich dachte, ein Leben ohne Alkohol bedeute Verzicht. Was für ein Irrtum. Ein Leben ohne Alkohol bedeutet Freiheit.“

Im vorliegenden Buch wird sehr schnell deutlich, wie intensiv Nathalie Stüben sich in die gesamte Thematik der Alkoholproblematik nicht nur eingelesen, sondern auch eingearbeitet hat. Selbstverständlich geht es in erster Linie um die Frage, warum war gerade ich abhängig – und eigentlich gibt es darauf, für sie persönlich – keine Antwort. Aber Einblicke in die verschiedenen Erklärungsmodelle der unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen mit der Erkenntnis, dass es den einen Weg in die Abhängigkeit nicht gibt, und demzufolge auch unterschiedliche Wege aus der Abhängigkeit möglich und notwendig sind. Dabei geht es immer wieder um das Krankheitsverständnis. Kein Zweifel daran, dass Abhängigkeit behandelbar ist. Aber durchaus Zweifel an der Grundannahme, dass das Leiden eines Abhängigen darin besteht, dass sie oder er unfähig ist, mäßig zu trinken. So schreibt die Autorin: „Wenn krank bedeutet, dass ich nicht mäßig trinken kann, dann bedeutet gesund, dass ich’s kann. Und hier steige ich aus. Zu meinem Verständnis von Gesundheit zählt nicht, dazu in der Lage zu sein, eine toxische Substanz zu konsumieren!“

Natürlich steht in dem Buch noch viel mehr. Immer wieder kommen Menschen zu Wort, mit denen die Autorin über ihre Podcast- und YouTube-Angebote in Kontakt steht, um sowohl die Individualitäten als auch die Allgemeingültigkeit der Aussagen im Buch zu belegen.

Natürlich geht es um die Fragen der Behandlung und der Behandlungsangebote und um die Auseinandersetzung mit den männlich dominierten, auf langjährige Abstinenz zurückblickenden Mitgliedern in der Selbsthilfe.

Was mich am meisten beeindruckt hat, das ist die gut belegte Schlussfolgerung, dass wir es hier nicht mit individuellen Problemen zu tun haben, sondern dass es sich beim Angebot alkoholischer Getränke und beim gesellschaftlichen Umgang damit um ein solch großes Problem handelt, dass es kollektiv verdrängt wird und daran fast alle in der Gesellschaft in ihren unterschiedlichen Rollen beteiligt sind.

Aber noch einmal zum Krankheitsverständnis. Gegen Ende des Buches schreibt Nathalie Stüben: „Ich muss mich gar nicht ein Leben lang gegen etwas entscheiden, sondern r etwas. Für mich. Für das Leben, das ich führen will. Und so ist es mir mittlerweile auch schnuppe, ob ich trinken kann oder nicht. Ich will es gar nicht mehr.“

Packende Lebensgeschichte, Auseinandersetzung mit Dogmen, Anregungen für neue Ansätze und viel Wissenswertes – all das macht das Buch so lesenswert.

Rolf Hüllinghorst

(Rolf Hüllinghorst war bis zu seinem Ruhestand 19 Jahre Geschäftsführer der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen, DHS.)

 Und hier ausnahmsweise diesmal noch eine zweite Meinung:

Das Wort Alkoholikerin

Sie hat dieses Wort aus ihrem Leben gestrichen. Sie fühlt und nennt sich gesund.Das hat mich am meisten zum Nachdenken gebracht in Nathalies Buch … denn es steht in krassem Gegensatz zu meinem eigenen bisherigen Denken: Heilung gibt es nicht, ich habe die Krankheit lediglich gestoppt. Ich bleibe zeitlebens eine Alkoholikerin.
Wirklich?
Ich habe aufgehört, eine toxische Substanz zu mir zu nehmen, bin ich dann echt immer noch krank daran, obwohl ich gesund bin?
Und sie geht sogar noch weiter, mit dem Begriff „Anonyme Alkoholiker“: Ihrer Meinung nach suggerieren diese Wörter und damit verknüpften Grundüberzeugungen: „Du bist anders, und dafür hast du dich zu schämen.“

Jetzt höre ich förmlich einen kollektiven Aufschrei von all den Menschen, die mit den AA trocken geworden sind und heute abstinent und zufrieden leben. Den Aufschrei verstehe ich gut. AA ist ein Weg und half und hilft abertausenden Abhängigen.

Aber: Nathalie vertritt hier ihre Meinung, erklärt sie gut und belegt sie mit klasse recherchierten Fakten. Diese Meinung darf sie haben, oder? Sie empfand es für sich eben viel motivierender, sich vor allem auf das zu konzentrieren, was das neue freie Leben an Gutem bietet, auf den Gewinn, nicht auf Krankheit und Verzichtenmüssen.

Und sie sagt dazu: „… es geht hier auch nicht darum, recht zu haben. Es geht einzig und allein darum, einen Weg hinauszufinden aus dieser Hölle. Einen, der für die jeweiligen Betroffenen funktioniert.“

Dem stimme ich zu. Irgendwie öffnen sich dadurch gefühlt mehr Türen, durch die man/frau gehen könnte. Diese neue, frische Einstellung der jüngeren Generationen von Alkoholabhängigen und der neuen sober-Bewegung könnte vielleicht auch endlich all die vielen, vielen Menschen erreichen, die das Wort Alkoholiker noch als schambesetztes Stigma empfinden – so dass sie doch sehr viel früher als bisher oder überhaupt ins Hilfesystem finden …

Anja Wilhelm

NATHALIE STÜBEN, Ohne Alkohol-Die beste Entscheidung meines Lebens, 190 S., Kailash Verlag München, ISBN 978-3-424-63223-1, 16,00 €


Rauschlos glücklich

So hoffnungsvoll und froh, wie der Titel klingt, entlässt mich das Buch am Ende wirklich! Denn es ist, Tatsache, „… eine Liebeserklärung an die Nüchternheit“ und die damit gewonnene unendliche Freiheit, wie die Autorinnen Vlada und Katharina im Vorwort verkünden.

Beide sind noch so jung, erst 35. Seit 30 Jahren befreundet, erzählen sie abwechselnd ihre Geschichte. Vom „ganz normalen“ Alkoholkonsum in der Jugend, als Studenten, im Berufsleben. Von durchfeierten Partynächten, den Katern, Kloschüsseln und Blessuren danach. Kein All-Tag ohne Alk. Das ist doch normal, das machen doch alle? So denken sie, wenn überhaupt … Bis der Alkoholmissbrauch bei Vlada zu einer schweren Abhängigkeit mit schon Ende 20 führt. Nur eine Entgiftung und eine Langzeittherapie für ein halbes Jahr retten ihr Leben. Auch ihre Freundin Katharina beginnt dann, ihren eigenen Alkoholmissbrauch zu überdenken – und entscheidet sich für das nüchterne Leben.

Alkoholiker-Lebensläufe in einem Buch sind doch nichts Neues? Stimmt.

Aber etwas macht dieses Buch ganz besonders: Es wendet sich vor allem auch an jene, die nur ahnen oder schon wissen, dass sie zu viel trinken, obwohl sie vielleicht noch „gesellschaftlich anerkannt“ trinken. Noch nicht abhängig sind oder vielleicht schon doch? An die, die ein Problem erkannt haben und darum eben genau dieses Buch kaufen und sich Rat erhoffen.

Denn wenn nur 15 Prozent der alkoholkranken Menschen überhaupt im Suchthilfesystem ankommen und Menschen, die ihren Missbrauch einschränken wollen, fast gar nicht ­ dann müssten es sehr viele sein da draußen, die Rat und Hilfe benötigen. Menschen, die aber Angst vor dem Stigma „Alkoholiker/in“ haben, die sich schämen, die nicht als abhängig abgestempelt werden wollen, die gar nicht erst abhängig werden wollen … „Und wenn du das Label Alkoholiker*in nicht magst, dann nimm es nicht. Wir sind Katharina und Vlada, das ist alles, was wir für unsere Nüchternheit brauchen“, wird jenen diese Stigma-Sorge gleich vorab erst mal genommen.

Die Autorinnen nehmen ihre Leser/innen mit auf ihre eigene Reise in die Nüchternheit. Von ihrer Angst vor einem tristen, lebensunwerten Leben ohne Alk bis hin zur endgültigen Entscheidung und hin zum neuen lebenswerten Leben in Freiheit. Schritt für Schritt. Was Alkohol als Nervengift ganz genau im Körper/Gehirn anrichtet, auch das wird erklärt ohne erhobenen Zeigefinger. Wie sie selbst herausfinden konnten, weshalb sie zu viel tranken. Wie sie sich mit klarem Geist dann selbst wiederfinden: Wer bin ich, was brauche ich, was träume ich, was will ich?

Sich selbst zu fühlen, Gefühle anzunehmen, sein Wesen zu entfalten, das Leben zu leben, das uns geschenkt ist – das geht nur ohne Alkohol, sagen sie. Unvernebelt. Und genau das macht glücklich. Rauschlos glücklich. Das leben beide, erzählen davon und motivieren damit.

Praktische Hilfe bieten auch die „Elf Schritte, die du gehen kannst, um mit dem Trinken aufzuhören“. Du hörst auf, indem du aufhörst, erster Schritt: „Aufhören. Jetzt! Es gibt nie den richtigen Zeitpunkt …“. Schritt zwei: Alkoholfreie Zone schaffen. Schritt 3: Du bist Prio Nummer eins. Und so weiter … Bemerkenswert finde ich auch Schritt 5: „Wer bin ich? Um dein Leben zu ändern, musst du auch dein Innenleben ändern.“ Und Schritt 7: „Ziel – Wo willst du hin? …Wie möchtest du dich fühlen? Wie möchtest du leben? Wie sieht ein perfekter Tag in deinem Leben aus?“

DAS fühlt sich für mich viel positiver an als eine Aussicht auf ein immerwährendes tägliches Abstinenzkampfdrama in Grau. Es erinnert mich an die Aufgabe, die mir meine Therapeutin während der Langzeittherapie einmal stellte: Suchen Sie die Freude an der Abstinenz! Das half mir mehr als vieles andere in ein frohes nüchternes Leben …

Die beiden Autorinnen gründeten übrigens www.mesober.de, bieten Mentoring/Begleitung an für Menschen, die nüchtern leben wollen, haben die Facebook-Community „Rauschlos glücklich“ gegründet und sind Teil der Sobriety-Bewegung in Deutschland. Ihr Wunsch: „Wir unterstützen Menschen dabei, ihrer eigenen Superpower namens Nüchternheit auf die Spur zu kommen und diese für ihre Träume einzusetzen. Und diese Superpower liegt in allen von uns. Wir haben es nur vergessen.“

Das Buch spricht übrigens nicht nur Hilfesuchende an, glaube ich. Nein, es kann älteren und lange Zeit stabil trocken Lebenden ebenso eine kleine oder große Offenbarung sein: Ich zum Beispiel konnte wiedermal auf meine eigene Nüchternheit schauen, auf mein Ich, mich dankbar erinnern, was ich alles an Schönem gewonnen habe auf diese Weise und feststellen, dass noch viel mehr vergnügtes Leben vor mir liegt. Vor Ihnen auch, hoffe ich!

Anja Wilhelm

VLADA MÄTTIG/KATHARINA VOGT
Rauschlos Glücklich
Auf die Freundschaft & das Leben ohne Alkohol
Verlag Knaur TB, 272 Seiten, ISBN: 978-3-426-79140-0
14,99 Euro


Die Opioid-Seuche kann Deutschland noch bevorstehen

Fentanyl

Das Schmerzmittel Fentanyl ist etwa 100 Mal stärker als Morphin und führt jedes Jahr zu mehreren Zehntausenden Rauschgift-Todesfällen, vor allem in den USA, aber zunehmend auch bei uns in Europa. Dem preiswert herzustellenden Opioid mit dem verheerenden Suchtpotential recherchiert der US-amerikanische Musik- und Investigativ-Journalist Ben Westhoff durch die gesamte Welt hinterher, Herstellung und Vertrieb werden beleuchtet, ebenso der internationale Kampf gegen die Drogen-Seuche, der Schwerpunkt liegt dabei auf den USA. Dabei befasst er sich auch noch mit weiteren synthetischen Drogen, deren gemeinsames Merkmal es ist, bei billigsten Herstellungskosten einen maximalen Gewinn und Schaden zu erzeugen. Westhoff zeigt die Verlierer und Gewinner der Sucht. Zeigt aber leider keinen sinnvollen Ausweg aus der Sucht-Epidemie, ausgelöst durch das verantwortungslose und rücksichtslose Handeln einiger US-amerikanischer Pharmakonzerne, die nun versuchen, sich mit Milliarden Dollarbeträgen von Schadensersatzforderungen der Abhängigen und deren Angehörigen freizukaufen. Die Wissenschaft hierzulande ist schon alarmiert. „Vor einer Opioid-Welle sind wir hier zu Lande dennoch nicht gefeit: Immer mehr Ärzte verschreiben auch bei uns hochpotente Schmerzmittel bei chronischen Leiden, wie aus Daten der Barmer GEK hervorgeht. Jeder vierte Langzeit-Opioid-Patient gilt in Deutschland als suchtgefährdet.“ (Spektrum.de 20.8.18)

Torsten Hübler

BEN WESTHOFF
Fentanyl
Neue Drogenkartelle und die tödliche Welle der Opioidkrise
264 Seiten, Hardcover, S. Hirzel Verlag Stuttgart, ISBN 978-3-7776-2852-3, 28,- Euro


DHS Jahrbuch Sucht 2021 ist erschienen – Verbrauch von Trinkalkohol steigt auf 10,7 Liter

Das Jahrbuch Sucht 2021, herausgegeben von der Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), ist pünktlich im April erschienen. Das Jahrbuch Sucht ist auch in seiner aktuellen Ausgabe wieder ein wichtiges Kompendium der Sucht-Zahlen und Fakten. Die redaktionellen Beiträge geben auch in dieser Ausgabe neue Perspektiven, Informationen und kompetente Einordnungen zum allgegenwärtigen Suchtgeschehen. Nachdem der Drogen- und Suchtbericht der Drogenbeauftragten der Bundesregierung seit dem letzten Jahr als zuverlässige und wissenschaftlich kommentierte Datenquelle ausgefallen ist, verbleibt das Jahrbuch Sucht als die letzte unabhängige Sucht-Publikation von dieser Breite und Qualität.

 In der aktuellen Ausgabe findet sich im redaktionellen Teil auch ein Artikel „Suchtberatungsstellen heute – Gemischtwarenladen oder funktional differenzierte Hilfe aus einer Hand?“ von Rita Hansjürgens und Frank Schulte-Derne. Hier werden kurz die Erfolge der Suchtberatung, auch volkswirtschaftlich, genannt, mit den Gewinnerinnen Krankenkassen, Renten- und Arbeitslosenversicherungen, aber auch die Probleme der Finanzierung und Verstetigung. Die beiden AutorInnen kritisieren die derzeit geübte Praxis der Ausschreibung von Suchtberatungsleistungen und deren ungesicherte Finanzierung, die es erschwert, die Leistungen zu erhalten und weiterzuentwickeln.

Das Suchtjahrbuch ist neben Politik und Wissenschaft nicht nur interessant für professionell Sucht-Helfende, sondern auch für engagierte Menschen aus der Sucht-Selbsthilfe. Deshalb werden wir Sie in der nächsten Ausgabe der TrokkenPresse (05/21) detaillierter über den Inhalt informieren.

Torsten Hübler

Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (Hrsg.), Jahrbuch Sucht 2021, 272 Seiten. Hardcover, Pabst, Lengerich 2021, ISBN 978-3-95853-69-13, 20,- Euro


Die grosse Angst von Roland Paulsen

Die große Angst

Taucht in Ihrem Kopf auch oft die Frage auf, „Was, wenn …?“ Was, wenn ich den Herd nicht ausgeschaltet habe, ein Brand ausbricht, den Nachbarn tötet? Was, wenn ich arbeitslos werde und meine Miete nicht mehr bezahlen kann? Was, wenn … ? Angst und Sorge dieser Art können zu ohrenbetäubenden Gedankenstürmen werden, die kaum zu stoppen sind und auf  Dauer zu Angststörungen, Zwangshandlungen und Depressionen führen.

Falls Sie sich wiedererkennen: Kein Wunder. Sie sind nicht allein. Je höher entwickelt ein Staat, je „reicher“ er ist, desto sorgenvoller sind seine Menschen, besagen Studien. Und die WHO alarmiert: Galt 1990 die Depression als vierthäufigste Krankheitsursache, steht sie 2017 an der Spitze. Mental geht es uns also immer schlechter, je weniger wir uns ums blanke Überleben sorgen müssen. Aber weshalb sorgen wir uns dennoch bis hin zur Depression?

„Warum wir uns mehr Sorgen machen als je eine Gesellschaft davor“ ist der Untertitel des Buches des schwedischen Soziologen Roland Paulsen. Er nutzt eine immense Anzahl an Studien dafür (das Quellenverzeichnis ist alleine schon 34 Seiten lang), um Antworten zu finden. Weshalb denken wir so weit voraus, dass es uns unglücklich macht? Denn Gedanken um Vergangenheit und Zukunft sind sogenannte kontrafaktische Gedanken, sie haben nichts mit dem Leben gerade in diesem Moment zu tun, mit den realen Fakten.

Paulsen reist mit uns zum Beispiel in die Geschichte: Jäger und Sammler dachten vermutlich nur von jetzt zu morgen oder übermorgen, denn sie lebten von der Hand in den Mund sozusagen, nahmen, was und wann sie es brauchten, aus einer Natur in Überfülle. Es war nicht nötig, sich darum zu sorgen, was in 100 Monden sein wird. Aber als die Menschheit begann, sesshaft geworden, erste Felder zu bestellen, begannen die Sorgen: Um das Wetter, ob die Ernte ausreicht, das Gelagerte nicht verdirbt usw. Jede Feldbestellung wurde zum Risiko.

Der Autor reist mit uns auch zu Naturvölkern, bei denen so manche Krankheiten einen einzigen Namen haben, der übersetzt bedeutet: „Zu vieles Denken“. Er streift die Erfindung der Uhr (dem Leben nach Zeit und damit auch weiten Planungen in die Zukunft hinein). Führt uns durch Jahrhunderte von Behandlungsmethoden bei „nervlichen Störungen“ wie Angst und Zweifel, er rastet länger bei der Freudschen Psychoanalyse (Angst als Ausdruck unbewusster Triebe) und verweilt bei heutigen Psychotherapien. Und deren Nutzen oder auch möglichem Nichtnutzen. Er bewertet die Politik (gegenwärtig eine Risikoaversionspolitik, eine Verwaltung dessen, was ist) und erklärt viele religiöse-kulturelle Anschauungen zur Angst. Das Buch ist ein Wirbel aus wissenschaftlichen Studienergebnissen, vielen, vielen Interviews mit von Angststörungen betroffenen Menschen und Schlussfolgerungen des Autors.

Was hat der sorgengeplagte Leser nun vom Buch? Was mache ich, wenn mein „Was, wenn …“ auftaucht und mich lähmt?

Hm. Den Anspruch eines Praxishandbuches hat dieses Buch sicher nicht. Aber: Es liefert Erklärungen. Zum Beispiel mit der Eisbärstudie: Versuchen Sie einmal selbst, eine Minute lang NICHT an einen Eisbären zu denken … klappt es …nicht? Weil jeder Widerstand gegen Gedanken jene verstärkt. Also wissen wir zumindest nun, dass es wenig hilft, Sorgengedanken weghaben, verdrängen zu wollen. Sie verstärken sich dabei eher. Aha. Gut zu wissen. Und darüber hinaus zu erfahren, dass Akzeptanz helfen kann. Ähnlich fernöstlicher Weisheitslehren: Akzeptiere, dass der Gedanke da ist, betrachte ihn von außen, aber verfolge ihn nicht weiter.

Eine weitere Möglichkeit könnte sein, statt immerzu mit den Gedanken in der Zukunft zu sein, sich aufs eben gerade Jetzt zu besinnen. Immer wieder neu, mit allen Sinnen. Die Amsel singt, der Chef sagt etwas, der Scheuerhader muss jetzt ausgespült werden, die Seife duftet toll …

Und die wohl wichtigste Möglichkeit: Anzuerkennen, dass das Leben nicht kontrollierbar ist. Dass sich wirklich ALLES stetig ändert, selbst die Atome im Stuhl, auf dem ich gerade sitze, huschen hin und her und verändern langsam die Holzstruktur. Veränderlichkeit gehört also zum Leben, das bedeutet: Unsicherheit ebenfalls, sie ist natürliches Dasein. Auch wenn ich mich nach vielem Abwägen für das Eine entscheide statt für das Andere, letztlich entscheide ich immer für dieses oder jenes Risiko. Egal, was ich tun werde, es kann immer ganz andere Folgen haben als vorausgedacht. Unsicherheit zu akzeptieren ist gar überhaupt nicht einfach, aber könnte Ängste tief in uns selbst lösen.

Mein Fazit: Nicht so leicht zu lesen wie ein Krimi, natürlich, aber es lohnt sich, sich durchzukämpfen, ich finde es sehr spannend aufgrund verblüffender Fakten und Schlussfolgerungen – und lehrreich.

Anja Wilhelm

ROLAND PAULSEN,  Die große Angst, Mosaik Verlag München, ISBN 978-3-442-39386-2, Hardcover, 415 Seiten, 20 Euro


Das Hauptkommissar-Müller-Buch

Herbert Witzel, der auch manchmal für die TrokkenPresse schreibt, hat mit seinem Kommissar-Müller-Buc, erschienen im sehr rührigen Wordtransport-Verlag, einen Nicht-Krimi vorgelegt. In seinen meist vier Seiten langen Episoden aus dem Berufs- und Eheleben des Hauptkommissars Bernd Müller sowie seines Assistenten Krahlmann entstehen den Lesenden mehr Fragen, als Antworten gegeben werden. Dem Klappentext: „Diese Geschichten amüsieren und gehen ans Herz. Eine total andere Sicht auf die Arbeit der Kripo. Kurzweilig. Heimelig. Therapeutisch. Minimalistisch. Unkriminalistisch. Lesbar. Erfassbar. Wunderbar.“ ist nichts mehr hinzuzufügen.

Torsten Hübler

Herbert Friedrich Witzel, Das Hauptkommissar-Müller-Buch, 133 Seiten, brosch. Worttransport, Rixdorf, ISBN 978-3-944324-58-6, 12,80 Euro


Weinpropaganda im Dritten Reich

„Saufen für den Führer“

Der vorliegende Titel ist mit seinen knapp 1,4 kg und über 500 Seiten ein gewichtiges Werk, nicht alleine durch die physische Präsenz, sondern auch durch die akribische Bearbeitung des Themas. Der Titel ist etwas irreführend, da der Autor nicht die generelle Weinpropaganda der Nationalsozialisten behandelt, sondern als Brennpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit das Weinanbaugebiet Mosel-Saar-Ruwer wählt, im heutigen Bundesland Rheinland-Pfalz zwischen Trier und Koblenz gelegen.

Das Thema irritiert mich etwas, da allgemein bekannt ist, dass Adolf Hitler keinen Alkohol trank und man nicht erwarten kann, dass ein System, das so auf die Person Hitlers fokussiert war, Alkoholpropaganda, und dann noch in Friedenszeiten, betreibt. Aber Autor Krieger belehrt uns eines Besseren. Die Nationalsozialisten veranstalteten die größte und erfolgreichste Werbekampagne für den deutschen Wein, die es jemals gab. Noch heute gründen einige Wein-Werbemaßnahmen auf den von den Nationalsozialisten gegründeten Fundamenten. Die „Deutsche Weinstraße“ wurde durch sie genauso initiiert wie die werbeträchtige Inauguration einer „Deutschen Weinkönigin“, beides Weinpropagandamittel, die bis heute Bestand haben. Die derzeitig amtierende Bundeslandwirtschaftsministerin, Juli Klöckner, schmückte sich einst auch mit dem Titel der „Deutschen Weinkönigin“.

Was lief also falsch für den höchsten Weinverächter der Nation, dass seine Untergebenen den irrwitzigen Spruch „Wein ist Volksgetränk“ in das Bewusstsein der Untertanen pressen konnten? Nach mehreren Missernten begehrten die Winzer 1933 am Westrand des Reichs auf. Vorher, 1926, hatten marodierende Winzer das Finanzamt in Bernkastel gestürmt und verwüstet. Als Folge des Bauernaufstandes wurde die erst am 26 Juli 1918 reichsweit eingeführte Weinsteuer wieder gestrichen und bis heute (2021) nicht mehr erhoben. Die Führung war also gewarnt. Nach einigen Versuchen, einzelne „Weintage“ 1933 und 1934 mit mittlerem Erfolg zu etablieren, wurden 1935 und 1936 „Das Fest der deutschen Traube und des Weins“ gefeiert und in ganz Deutschland wurden Weinfeste veranstaltet. Auf denen preisgebundener Wein in Massen ausgeschenkt wurde. Aufbauend auf die nationalsozialistischen Organisationen wie z.B. den „Reichsnährstand“ oder die durch ihre Reisen bekannte Organisation „Kraft durch Freude“ wurden die Bevölkerungsmassen aktiviert und soffen deutschen Wein in nie gesehenen Mengen und brachten die Winzer aus ihrer Not. Ab 1937 gab es Weinknappheit und weniger auszuschenken, Höhepunkt der Weinpropaganda sollte 1939 der Internationale Weinkongress in Bad Kreuznach sein. Der Überfall auf Polen durch Adolf Hitler beendete die Weinseligkeit.

Ein durchaus lesenswertes Buch für Menschen, die an Lokalgeschichte interessiert sind, aber auch Leser:innen, die sich mit der Nazi-Propaganda generell beschäftigen. Es ist akribisch recherchiert und flüssig geschrieben, in der heutigen schnelllebigen Zeit seltene Qualtäten. Interessant ist, wie die im Nationalsozialismus erfundenen Propagandawerkzeuge auch in der neuen Bundesrepublik eingesetzt wurden. „Deutscher Wein schenkt Freude“, 1939 von der Deutschen Weinwerbung GmbH kreiert, wurde auch nach 1945 von der deutschen Weinindustrie verwendet. Dies hängt bestimmt auch mit der personellen Kontinuität zusammen.

Torsten Hübler

Christof Krieger, Wein ist Volksgetränk, Weinpropaganda im Dritten Reich am Bespiel des Anbaugebietes Model-Saar-Ruwer, 512 Seiten, Hardcover, Rhein-Mosel-Verlag, Zell/Mosel, ISBN 978-3-89801-355-0, 32,90 Euro


Abenteuer Abstinenz

So lautet der Titel des schmalen, handlichen Büchleins. Und schon daran werden sich die Geister scheiden: Klingt „Abenteuer“ nicht zu fröhlich und leicht für den harten Kampf, den mancher ficht, um trocken zu werden und zu bleiben?

Andere aber möchten diesen Kampf vielleicht ebenso optimistisch führen, als sei es eine Reise in unerforschte, kenntnisbringende Gebiete: Neugierig auf das, was kommen könnte. Denn so hat der Autor Anton Erhart das empfunden. Auch deshalb ist er heute seit 24 Jahren trocken. Glücklich und zufrieden trocken. Er schildert seine Erfahrungen dazu, sein eigenes Erleben. Er nimmt Sie, liebe Leserinnen und Leser, einfach an die Hand und mit auf seine langjährige Reise in die zufriedene Abstinenz.

So mancher wird sich wiedererkennen in dem einst von Selbstwertzweifeln und Ängsten geplagten Jungen und jungen Mann, der einzig die Erwartungen anderer zu erfüllen versuchte, um Aufmerksamkeit und Zuwendung der Mitmenschen zu erhalten. Oder in dem späteren Toni, der diese und andere Gefühle mit Alkohol zu betäuben versuchte und immer weiter abwärts stürzte in seinem unglücklichen Leben. Bis er so weit unten war, dass er sich helfen lassen wollte und er eine stationäre Therapie begann. Die ihn dann erkennen ließ, dass nicht das Außen das Problem ist, sondern das Innen. Und wenn er selbst das Problem ist, dann kann er auch selbst die Lösung sein. Einfach nicht mehr zu trinken, trinken zu müssen, ist damals zwar eine Befreiung für ihn, aber nicht ausreichend. Er will mehr. Er will zufrieden leben ohne Alkohol. Und begreift: Er muss sich selbst verändern. Sich entwickeln. Sich seiner selbst, seiner persönlichen Fähigkeiten, die in ihm schlummern, bewusst werden. Mutig für ihn eigentlich beängstigende neue Situationen wagen, um selbstbewusster daraus hervorzugehen. Sich selbst wahrnehmen lernen, ebenso seine Gefühle anzunehmen. Die Hilfe anderer nutzen, besonders die von Therapeuten und in der Gruppe. Wieder oder überhaupt Verantwortung für sich selbst und sein eigenes Leben übernehmen und vieles mehr … kurzum, zuallererst gut für sich selbst zu sorgen.

Wie er zu diesen Erkenntnissen kam und wie er sie im Einzelnen umsetzte, erfahren Sie im Buch. Es geht um Resilienz, eine veränderte Identität, Erwartungen, Verantwortung, Kraftquellen, kognitive Fähigkeiten, Selbstwirksamkeit, den Ernstfall, um Bewusstheit. Sie bemerken sicher anhand einiger Fachausdrücke: Da ist ein „Profi“ am Werk. Ja, denn Toni Erhart ist inzwischen auch in der Beratung suchtkranker Menschen tätig und hat sich vieles an Wissen und Psychologie erarbeitet, hinzu kommen die vielen Erfahrungen aus der Arbeit mit Suchtkranken und eben die seiner eigenen Suchtgeschichte. Seine Sichtweise auf seinen eigenen Weg ist daher etwas tiefgründiger als eine bloße Beschreibung seines Erlebten. Es ist eben keine bloße Ab-Erzählung seiner Suchtgeschichte. Sondern er hinterfragt: Weshalb habe ich damals dies gemacht? Womit ging es mir warum besser? Wie genau habe ich das und das geschafft?

Zugegeben, ich fand das Buch nicht gerade einfach zu lesen und habe dafür länger gebraucht als erwartet. Vielleicht eben darum, weil ich etwas anderes erwartet hatte, nämlich eine Lebensgeschichte, strukturiert in: So trank ich, so hörte ich auf, so wurde ich glücklich. DAS ist das Buch eben nicht. Es ist kein Regelwerk: So werden sie zufrieden abstinent. Es ist anders aufgebaut als üblich. Und manchmal erschloss sich mir deshalb vielleicht das Warum eines Kapitels, z.B. „Resilienz“, an dieser Stelle des Buches einfach nicht. Es kam für mich wie „Kai aus der Kiste“, quasi. Und so manches Mal fühlte ich mich unter einer Kapitel-Überschrift durch den Autor abgeschweift vom Eigentlichen, von dem, was ich unter diesem Titel erhofft hatte, weil es dann doch auch um andere Inhalte ging.

Was da half, war meine Achtsamkeit (die übrigens auch im Buch als notwendig beschrieben wird). Jeder Satz wollte genau gelesen werden. Überfliegen geht nicht. Aber das ist auch nicht wirklich ein Drama, sondern vielleicht sogar im Gegenteil, denn jeder Satz hat es „in sich“, jeder einzelne Satz könnte bei einem Leser, einer Leserin offenen, neugierigen Verstandes einen Klick für sich selbst bedeuten …

„Abstinenz ist, was ICH daraus mache“, fasst der Autor im letzten Kapitel zusammen. Und so, wie ich das Büchlein verstanden habe, meint er damit: Er sieht das Aufhören mit dem Trinken als Möglichkeit, sich selbst neu zu entdecken und sich und sein Leben neu zu gestalten – und das macht zufrieden abstinent.

Dieser Bericht ist meiner Meinung nach ein Schatz an Erfahrungen für alle die, die ebenfalls mehr wollen als einfach nur mit dem Trinken aufzuhören. Und der, der das wirklich will, wird fündig werden, auch wenn es manchmal nicht einfach ist.

(Am Rande bemerkt: Lieber Toni, an der dudengemäßen Kommasetzerei sollte vielleicht noch etwas gefeilt werden, denn ein falsch gesetztes Komma kann das Verstehen des gemeinten Gedankens doch etwas erschweren oder gar verfälschen …)

Anja Wilhelm

Abenteuer Abstinenz, ANTON ERHART, BoD, TB, 107 Seiten, 5,99 Euro, ISBN 9 783753 485157


Neue Irre! –  Wir behandeln die Falschen

Der Facharzt für Nervenheilkunde, Psychiatrie und Psychotherapie und diplomierte Theologe, lange Jahre Leiter einer großen psychiatrischen Klinik in Köln, Manfred Lütz hat seinen Bestseller Irre  –  Wir behandeln die Falschen“ von 2009 aktualisiert und damit einen weiteren Bestseller gelandet. Er nimmt auch Bezug auf Gestalten, an die 2009 noch nicht zu denken war. Donald Trump aus den USA, Kim Jong-un in Nord-Korea oder Brasiliens Jair Bolsonaro werden zum Beispiel hier genannt.

Der Facharzt hat ein sehr verständliches Buch über die Gesellschaft und die Absonderlichkeiten des menschlichen Gehirns geschrieben. Er beginnt natürlich mit den „Normalen“, um dann weiter zu den Behandlungsbedürftigen zu kommen. Hier stellt der Mediziner dann die wichtigen Fragen „Warum behandeln, und wenn ja, wie viele?“ und gibt auch gleich die Antworten, die sehr nachvollziehbar begründet werden und nicht immer den reinen Regeln der Schulmedizin entsprechen. Im dritten Teil gibt er „Eine heitere Seelenkunde – Alle Diagnosen, alle Therapien“.

Manfred Lütz stellt entlang der WHO-Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) die wesentlichen psychischen Störungen und deren Behandlung vor: Sucht, Demenz, Schizophrenie, Depression und Manie. Die Beschreibungen sind kurz und knapp und für jeden verständlich. Es zeigt sich hier, dass ein erfahrener Fachmann am Werk ist, der den Nichtmediziner mittels seiner klaren Darstellung durch das kompliziert und geheimnisvoll scheinende Gebäude der Psychiatrie und Psychotherapie führen kann.

Besonders bemerkenswert finde ich sein Werkzeug zur Diagnose der Trunksucht: „Die sensiblen drei F“, Firma, Frau und Führerschein. Wenn es mit allen dreien alkoholbedingte Probleme gibt, dann liegt höchstwahrscheinlich eine Alkoholkrankheit vor. Knapp, aber zutreffend auf den Punkt gebracht.

Auf 200 Seiten kompakte Seelenkunde und Seelenheilung gibt nicht nur Erkrankten und ihren Angehörigen fundiertes Wissen an die Hand, sondern schreibt auch für den Rest der Welt. Am Ende hat man von dem humorvollen Rheinländer viel gelernt, mehrmals gelacht und tritt gut gelaunt aus diesem nicht mehr so komplizierten und geheimnisvollen Gebäude der Psychiatrie.

Torsten Hübler

Manfred Lütz: Neue Irre! – Wir behandeln die Falschen, 200 Seiten, geb., Kösel, München , ISBN 978-3-466-37268-3, 20,00 €


Ein Praxisbuch für Helfende + „Zoey“

Wenn Mütter oder Väter zu viel trinken … wie leben ihre Kinder damit? Wie wachsen die auf, die so dringend Fürsorge, Liebe, Förderung brauchen?

Fast drei Millionen Kinder in Deutschland sind in einer suchtbelasteten Familie zuhause, etwa sechs Millionen in Familien mit Alkoholmissbrauch. Sie brauchen Hilfe von außen, denn sie leiden. Weil sie aus Scham oft schweigen, werden sie nicht selten „vergessen“ – aber sie sind nicht verloren, denn Institutionen und Einrichtungen bieten ihnen Hilfe an. Für Helfende, ErzieherInnen, LehrerInnen, BetreuerInnen, PsychotherapeutInnen, die in ihrem Alltag eben diesen Kindern begegnen, ist das Praxisbuch von BLU:PREVENT geschrieben. Wie erkenne ich diese Kinder? Wie kann ich helfen?
Mit Fakten und einem Kapitel „Basiswissen“ beginnt das Handbuch (übrigens tatsächlich handlich):Was ist eigentlich Sucht? Wie entsteht sie? Einfach erläutert, gut bebildert, übersichtlich sind alle folgenden Kapitel dann ebenso. Zum Beispiel das nächste. Es erklärt das Fetale Alkoholsyndrom und auch, wie und weshalb betroffene Kinder sozial auffällig werden. Im Kapitel Familie erfahren die Leser/Innen, wie das Familiensystem „erkrankt“, wenn ein Elternteil abhängig wird. Dass Wärme, Fürsorge und Zuwendung fehlen, Streit und Stress für ein Kind Alltag werden. Wie sich Kinder unter diesen Bedingungen entwickeln. Zum Beispiel zum „verlorenen Kind“, angepasst, unauffällig, schüchtern. Oder zum „Helden“, der oft seine Eltern ersetzt, früh selbstständig wird, seine Familie nach außen aufwertet, aber sich selbst dabei vergisst. Schön überschaubar ist das jeweils gegliedert in Merkmale, Ziel und: Diese Kinder brauchen … Was braucht zum Beispiel das verlorene Kind? Ansprache, Aufmerksamkeit, die Erfahrung, wichtig zu sein, die positive Erfahrung, dass eigene Bedürfnisse wichtig und akzeptiert sind.

Wie kann man diesen Kindern helfen? Dazu gibt es im Kapitel Resilienz bewährte Ideen. Zum Beispiel, Distanzzeiträume zur Familie zu ermöglichen wie Ausflüge, Spielnachmittage, Sport. Oder stabile Beziehungen außerhalb der Familie zu knüpfen, um zum Beispiel Akzeptanz zu erleben.

Wenn nun Helfende den Verdacht haben, ein Kind wächst bei alkoholkranken Eltern auf – was können sie tun? Außer den einzelnen Schritten des Vorgehens könnte die Entscheidungsmatrix im Anhang prima helfen. Ein Frage-mögliche-Antwort-Katalog, dessen Weg, wenn er gegangen wird, bis zu Elterngesprächen und sogar den Beginn einer Suchtbehandlung führen kann.

Im Anhang sind viele, viele Bücher und Filme zum Thema aufgeführt, digitale und social media-Möglichkeiten, ein Comic, viele Anlaufadressen.

Im letzten Kapitel geht es um den Film „Zoey“ (der übrigens kostenlos als DVD zum Handbuch gehört). Aber nicht einfach darum, den Film mit Jugendlichen anzuschauen, sondern ihn gemeinsam zu „verarbeiten“. Es gibt methodische Vorschläge und Anleitungen dafür: Zum Beispiel, dass die Jugendlichen ein Plakat dazu erstellen oder ein Standbild, das die Gefühle der Filmdarsteller ausdrückt, es wird ein Konsumspiel vorgestellt oder spielerisch über Konsumformen diskutiert. Ziel soll sein, dass sich Jugendliche nicht nur Suchtwissen erarbeiten, sondern auch wissen, dass es und wo es Hilfe gibt.

Anja Wilhelm

Praxisbuch zur Arbeit mit Kindern und Jugendlichen aus Suchtfamilien, Blaues Kreuz in Deutschland e.V., 154 Seiten, kostenlos, bestellbar bei: www.bluprevent.de/shop/


Bis ans Ende der Welt – und zu mir selbst

Ach, wie wünsche ich mir, dass Sie dieses Buch auch lesen können, liebe Leserinnen und Leser!
Denn es ist ein Mutmacher-Buch: Es erzählt vom Aufstehen nach tiefem Fall. Vom Wagen des ersten Schrittes. Vom stetigen Weitergehen, wie hoch die Hürden auch erscheinen.

Autor Robby Clemens ist seit 23 Jahren trockener Alkoholiker. Seine „Therapie“ war höchst ungewöhnlich: Er kaufte sich eines Tages keine Flasche Schnaps mehr, sondern stattdessen Laufschuhe und begann zu trainieren. Die ersten 200 Meter waren für ihn ein Riesenerfolg, sein persönlicher erster „Marathon“. Und so machte er täglich weiter …
Hinter ihm lagen eine millionenschwere Firmenpleite, der Verlust allen Hab und Gutes und der das alles betäuben sollende Suff.
Ab dem Moment des Anziehens dieser neuen Schuhe und des ersten Schrittes damit ließ sich Robby Clemens aus Hohenmölsen in Sachsen-Anhalt nicht mehr gehen – er ging selbst …
Und das, nach vielen Jahren des täglichen Laufens über seine körperlichen Grenzen hinweg und der späteren Marathons, unter anderem vom Nordpol zum Südpol, über 23 000 Kilometer in fast zwei Jahren. Über viele Ländergrenzen hinweg. Von Grönland über Kanada durch die USA, über Mexikco, Peru und andere Länder hin durch Chile bis an die Schwelle zur Antarktis. Der deutsche Forrest Gump wurde er genannt. Er nächtigte im Zelt, am Straßenrand, manchmal in Motels, manchmal bei wildfremden Menschen, die ihn gastfreundlich einluden, manchmal auch bei Botschaftern oder Konsuls. Überall wurde er zu Vorträgen eingeladen, erzählte von seiner Reise und seiner Alkoholsucht und dem Aufstehen und Gehen. Manchmal begleiteten ihn Freunde mit dem Auto. Und mitunter auch Polizisten des Landes, zur Sicherheit, gerade in Südamerika.

Nur wer geht, kann das Land, die Natur, die Menschen, richtig wahrnehmen, meint er. Und er begegnete Einheimischen, wie es bei einer Auto-Reise nicht möglich wäre – und das ist für ihn, neben der wundervollen Natur, den Gebirgen, Wüsten, Seen und Flüssen, dem ewigen Eis, das Wichtigste: Die Menschen und wie sie leben. Sie berühren ihn in der Seele. Und gerade jene, die selbst kaum etwas besitzen, teilten von Herzen gern ihr Obdach, ihr Essen und Trinken mit ihm.

Aber lesen Sie das am besten selbst. Ein einziges großes Abenteuer … nie weiß Robby, was hinter der nächsten Bergkuppe auf ihn wartet. Schon allein dies, diese stete Ungewissheit, lässt mich als Leserin „Hut ab“ denken, diese Traute hätte ich selbst nicht. Dieses Vertrauen, dass alles irgendwie gut gehen wird. Bei Robby aber geht oder wird (wenn es doch mal eine Hürde gibt oder eine gefährliche Situation) tatsächlich immer alles gut. Er vertraut einfach. Auch in die grundsätzliche Güte der Menschen.

Parallel zur Reise schildert er seine Alkoholiker-Geschichte. Wie sie begann mit dem Firmensturz, wie sie verlief (zum Schluss Trinkerrunde vor dem Supermarkt), weshalb ihn die Ohrfeigen seines Hausarztes, der ihn von klein auf kennt, zum Nachdenken brachten und weshalb er seiner Frau und seiner Familie so unendlich dankbar ist.
Nach seiner Pleite, seiner Sucht und seiner Reise ist ihm Folgendes klar geworden: „Wer bist du, wenn du nichts mehr hast? Heute weiß ich, dass dieser Gedanke Quatsch ist. Du bist nicht das, was du hast. Du bist das, was du bist …Unsere Erfahrungen und was wir daraus machen, definieren uns.“

Aber musste es denn wirklich gleich ein beschwerlicher, ungewisser Lauf vom Nordpol zum Südpol sein? Das fragte ich mich hin und wieder so als Leserin. Doch im Grunde gibt das gesamte Buch die Antwort darauf. Und besonders die letzten Sätze fassen es zusammen: „Egal, wie weit und schnell ich lief. Am Ende führte jeder Schritt zum Ziel. Am Ende führte mich jeder Schritt zu mir selbst.“

Zu sich selbst …. Das klingt toll. Aber ein bisschen genauer hätte ich das schon gerne gewusst, was er damit meint. Vielleicht aber gibt es dafür auch einfach keine Worte …

Anja Wilhelm

ROBBY CLEMENS, Bis ans Ende der Welt und zu mir selbst, Zu Fuß vom Nordpol Richtung Südpol
TB, 270 S., 18 Euro
Malik Verlag
ISBN 978-3-89029-529-9


Alkohol adé – mit Nährstoffen?

 Für mich war mein Alkoholismus bisher immer ein „Psycho-Dings“. Wie hab ich in der Therapie und später nach der Wurzel dessen in mir selbst gegraben!

Deshalb, liebe LeserInnen, hatte ich, als ich das Buch durchblätterte und an Vitaminen und Mineralien hängenblieb, nicht recht Lust, es wirklich zu lesen. Denn wie sollen sogenannte Nährstoffe einem Alkoholiker ernsthaft helfen können, trocken zu werden und zu bleiben? Oder wie soll gar Nährstoffmangel eine mögliche Wurzel der Krankheit sein können? Alkoholismus ist doch eine psychische Erkrankung … dachte ich. Lernte ich. Die Ursache ein Gespann aus genetischen, psychischen, sozial-kulturellen Bedingungen, die zusammentreffen.

Nun, heute mal das Fazit vorneweg: Ich las das Buch dennoch – und wurde belohnt mit aufregend inspirierenden Thesen und Fakten. Mit Seite für Seite für mich sehr plausiblen Erläuterungen, die die These der Autoren stützen: Alkoholismus sei keine psychische Krankheit, sondern eine körperliche, biochemische, eine Art Stoffwechselerkrankung: „Wer sich ein Bein bricht, beschimpft auch nicht die eigene Psyche dafür, dass er nicht gehen kann“, schreibt die Autorin Gaby Guzek.
Sie ist Wissenschaftsjournalistin, alkoholabhängig, und hat mit Mitautor Dr. med. Bernd Guzek jahrelang penibel recherchiert, um für sich den eigenen Weg aus der Sucht zu finden.

Zusammengefasst:

Es geht es um Mangel in der Biochemie. Mangel z. B. an Neurotransmittern (Botenstoffen im Nervensystem wie z.B. Serotonin, Dopamin, GABA), der dafür verantwortlich sein kann, dass jemand zu viel Alkohol trinkt, bis er durch Dauergebrauch abhängig wird. An Nährstoffen wie Vitaminen (besonders auch B-Vitamine), der viele körperliche Unwohlheiten und Probleme hervorrufen und damit Rückfälle vorprogrammieren kann. An Mineralien und Spurenelementen (wie Eisen, Magnesium), die ebenso wie die Vitamine supernotwendig sind, z.B. für das Funktionieren der Neurotransmitter.

Und so in etwa habe ich das Buch, besonders den Mittelteil, verstanden:

Von Mutter oder Vater habe ich vielleicht einen Serotoninmangel geerbt (ein Botenstoff, der Wohlgefühl bis Glück erzeugt). Möglich, denn ich bin tatsächlich, seit ich mich erinnern kann, die Angst in Person. Verstärkt durch Kindheitserlebnisse, und auch dies kann den Serotoninmangel dauerhaft verstärken. Dann kommt dazu, dass Alkohol und Frohsinn einander scheinbar bedingten, wie ich im Umfeld erlebte und später an mir selbst: Für ein paar Stunden war ich dann selbstbewusst und frohen Mutes. Meine Medizin gegen Angst und Sorge. Bis es leider Klick machte. Ohne ging es nicht mehr. Von da an entzog Alkohol meinem Körper alle möglichen wichtigen Stoffe und Nährstoffe – oder zerstörte sie –, die das Hirn, das Nervensystem brauchen, um vernünftig zu arbeiten. Das brachte das gesamte Botenstoffsystem durcheinander oder zum Erliegen. Körper und Gemüt krank durch Mangel. Und durch Vergiftung. Der Alkoholentzug beendete aber nur letzteres. Der Mangel blieb logischerweise und drückte sich in weiterhin körperlichen Missgefühlen aus, in Ängsten, in Schlaflosigkeit, innerer Unruhe, Traurigkeit und in … der Sehnsucht nach dem Erlöser Alk. Was nun zu tun wäre: alle Nährstoffspeicher wieder auffüllen, jeden Mangel beseitigen, damit die Biochemie wieder annähernd stimmt und alle Botenstoffe arbeiten können …Die Autorin veröffentlicht dazu auch ihren eigenen Nährstoffplan der ersten Zeit nach dem Entzug.

Schon AA-Gründer Bill schwor auf Vitamin B3

Im Buch finden Sie verständlich erklärt, wie welcher Stoff wirkt und warum. Selbst die Geschichte von AA-Billie, der, weil er trotz Trockenheit immer unzufrieden blieb, dann mit dem Vitamin Niacin (Vit. B3) ein zufriedener Trockener wurde und Ärzte daraufhin in Studien die Wirksamkeit bewiesen … aber das ist so eine Sache, auch die wird an Beispielen belegt: Forschungsergebnisse brauchen mitunter sehr lange, um anerkannt und umgesetzt zu werden. Auch dafür hat Gaby Guzek viele Beispiele. Allein das Magengeschwür. 1983 wurde entdeckt, dass ein Bakterium daran schuld ist, nicht die Psyche. Aber erst nach 23 Jahren wurde das mit dem Nobelpreis für die Forscher wirklich anerkannt, in der Zwischenzeit lagen noch immer unzählige Patienten auf Psychiater-Couchen und so einige verbluteten irgendwann am Geschwür.

Und auch diese Frage wird im Buch gestellt, denn die Nährstoffthese ist teilweise sogar in Studien belegt: Weshalb nutzt man diese Erkenntnisse nicht in der Suchttherapie? Könnte es sein, dass all die an den jetzigen Behandlungsformen Beteiligten einfach weiter ihr Geld genau damit weiter verdienen wollen?

Die Frage ist erlaubt … und regte mich zum Nachdenken an. Obwohl ich persönlich zu den recht wenigen gehöre, denen die heutige, eher psychologisch geprägte Behandlungsstrategie bisher dauerhaft geholfen hat. Mir hat sie die Augen über mich geöffnet, über meine Konditionierungen, meine Ängste. Ich durfte mich selbst finden und verändern. Aber vielleicht hätten mir diese Nährstoffe die ersten Wochen der Trockenheit erleichtern können?

Im Buch finden Sie übrigens in einem dritten Teil Tipps und Vorschläge, wie man nach Entzug auch seine Gewohnheiten, sein Umfeld usw. ändert, um stabil trocken zu bleiben. Denn nur Nährstoffgaben genügen nicht, sind sich die Autoren einig. Dieser Teil ist dann für stabil Trockene nicht so neu.

Falls Sie sich selbst informieren wollen über das Buch und über noch viel mehr dazu: www.alkohol-ade.com

Anja Wilhelm

GABY GUZEK/DR.MED. BERND GUZEK, Alkohol adé, Der direkte Weg zurück zur Gesundheit
192 S., TB, Guzek Verlagsgesellschaft, 19,98 Euro
ISBN 978-3200068445


Durch Bewusstsein zur Selbstliebe

Es ist als Selbsthilfebuch für erwachsene Kinder alkoholabhängiger Eltern gedacht. Aber auch wenn Sie sich deshalb nun nicht direkt angesprochen fühlen ­ lesen Sie vielleicht trotzdem bitte ein bisschen weiter? Denn es ist viel mehr, werden Sie sehen …

Ich selbst weiß nicht, ob mein Papa alkoholabhängig war. Aber an viele Tage Alkoholmissbrauch kann ich mich erinnern. An Zank und bitterbösen Stress deswegen in unserer Familie mit einer dazu auch chronisch kranken Mutter. Heute bin ich selbst alkoholkrank und war jahrelang auf der Suche nach Ursachen dafür. Für dieses Buch von Finnja Stauff bin ich dankbar, denn es hat mir für Vieles die Augen geöffnet und nicht zu vergessen: das Herz auch. Plötzlich kann ich erkennen …

Ein kleines Beispiel von vielen: Gestern Abend habe ich, wie jeden Abend, die Frühstücksstullen für meinen Partner geschmiert, Rohkost geschnipselt. Dem voraus ging das Planen des Einkaufs, die Schlepperei nach Hause. Dann noch Abendbrot kochen, zack zack. Wie viel lieber aber hätte ich etwas anderes getan in dieser Zeit! Lesen, Freunde treffen, Telefonieren … Nein, ich komme wie immer hochverantwortlich meiner Pflicht (?) nach. Was ich selbst möchte, hintenan stellend. Das funktioniert wie antrainiert, wie selbstverständlich. Der andere ist wichtiger als ich. Wie geht es dir, was kann ich dir Gutes tun, wie kann ich dir helfen? Selbst bei Entscheidungen wie für Ausflüge, Wandfarbe oder Mittagessen ist mir wichtig, dass der andere das auch mag, und entscheide eher für ihn statt für mich.

Laut Autorin, als Kind alkoholabhängiger Eltern aufgewachsen, ist dies typisch für diese Kinder – und auch, wenn sie erwachsen sind. Eine angelernte, verinnerlichte Strategie, um Stress und Konflikten aus dem Weg zu gehen. Als extrem zuverlässig und extrem verantwortungsbewusst charakterisiert sie diese Menschen. Sich vorwiegend am Außen orientierend, an den (vermuteten) Erwartungen anderer orientierend. Die eigenen Bedürfnisse zurückstellend, die sie meist gar nicht kennen. Und so leben sie auch außerhalb des Elternhauses später meist weiter. Oft nichts davon ahnend. Später dann leiden sie an chronischen Schmerzen wie die Autorin, in Fehlpartnerschaften oder werden vielleicht auch zum Trinker wie ich. Weil sie nicht IHR Leben leben, sondern das der anderen.

Mein Partner jedenfalls genießt meine Fürsorge. Aber mitnichten MÜSSTE ich mich selbst so zurückstellen. Das betont er auch immer wieder. „Was möchtest DU denn? Es muss doch nicht immer nach mir gehen …“ Er könnte sich, auf das Beispiel oben bezogen, selbst Brote schmieren, mittags zum Kiosk gehen oder sich sonst wie selbst versorgen. Weshalb also kann ich nicht loslassen? Die freie Wahl habe ich ja inzwischen, anders als in der Kindheit. Und das ist etwas, was die Autorin umfassend und liebevoll beschreibt. Ich erkenne mich wieder im Buch: Wenn ich nicht dafür sorge, dass es ihm gut geht, bin ich schuld, wenn es ihm schlecht geht. Ich bin falsch, nicht genug. Und werde vielleicht dann nicht mehr geliebt und sogar verlassen. Ich möchte doch so gerne gemocht, anerkannt und gewertschätzt werden von den anderen. So oder ähnlich ist es wohl ganz fest im Unterbewusstsein verankert – seit der Kindheit. Bloß nichts tun, was den anderen, die Eltern, erzürnen könnte. Oder zum Noch-mehr-trinken bringt. Schon gar nicht sich außerhalb der Familie jemandem anvertrauen, denn das führt erst recht wieder in Familienstress. Aber etwas anderes als diese Familie habe ich ja nicht. Ich brauche sie doch!

Das Selbstwertgefühl dieser Menschen ist fast bei Null. Woher soll es auch kommen, wenn man sich gar nicht selbst kennt, kennen durfte, sich immer verbiegt und dient.

Das Buch gibt Anleitung zum Hinschauen, zum Erkennen. Und weiterführend dafür, sich als Betroffener sich selbst anzunähern. Wer bin ICH? Was möchte ICH, was entspricht meinem Wesen, was erfüllt mich?

Ein erster Schritt wäre zum Beispiel, ganz, ganz wichtig, FÜHLEN zu lernen. Gefühle überhaupt erst einmal zu erkennen, dann anzuerkennen. Denn ein Kind in Alkoholikerfamilien oder in solchen, in denen kleine Seelen „gestutzt“ wurden oder anderweitig psychisch missbraucht, kann nicht einfach so mal Angst zeigen, Fröhlichkeit (falls überhaupt Grund dazu ist), Wut, Groll oder Zorn. Es will/muss, um zu überleben, Gefühle verstecken, verdrängen, ignorieren. Um sich nicht schuldig fühlen zu müssen für schreckliche Dinge, die ansonsten vielleicht passieren könnten. Auch dieses später vielleicht passierende Schuldgefühl will von vornherein vermieden werden. Ein Kreislauf. Der krank machen kann. Und hier kommt die Ontologie ins Spiel, die Finnja Stauff geholfen hat, sich zu verstehen. Ihre jahrelangen Rückenschmerzen waren das Ergebnis der Verfestigung von nicht ausgelebten Gefühlen im Körper, erklärt sie ontologisch. Diese philosophische Lehre vom Seienden und Sein erklärt in einem Strukturmodell, wie das passiert. Sehr spannend. Es geht letztendlich auch darum, alte Gefühle wahrzunehmen, loszulassen und für keinen neuen Schmerz zu sorgen, indem man IST. Indem ich wahrnehme, wie mir gerade ist. Und diesem Gefühl Aufmerksamkeit schenke. Aha, da bist du ja. Und sie geht noch weiter: Gefühle nicht weghaben zu wollen, sondern anzunehmen, sei wichtig. Sie sind Gefühle, mehr nicht. Keine Tatsachen. Nicht ICH. Und sie kommen und gehen wieder.

Das ist erlernbar. Wir müssten dann nie wieder vor ihnen weglaufen, sie betäuben, sie verdrängen.

Zu sein, wer man ist, zu fühlen, was man fühlt, sich selbst wichtig zu nehmen – welch Befreiung wäre das!

Die Autorin macht Hoffnung mit ihrem eigenen Weg und lädt dazu ein, ihren Schritten, zum Beispiel den von ihr erweiterten 12 Schritten der AA, zu folgen. Auch Vergebung spielt eine Rolle. Und Vieles andere mehr.

Ich vermute, der eine oder andere von Ihnen, liebe Leser/innen, hat sich doch ein bisschen wiedererkannt? Egal, ob co-abhängig oder selbst betroffen?

Ich kann die Lektüre nur empfehlen …

Anja Wilhelm

FINNJA STAUFF, Durch Bewusstsein zur Selbstliebe: Ein Selbsthilfebuch für erwachsene Kinder von Alkoholikern, Verlag tredition, TB, 164 S., ISBN-13: 9783732345816, 12,95 Euro


Unter freien Menschen

Der Verlag worttransport.de von Herbert Friedrich Witzel hat nach „Die Gurgel Berlins“ von Magnus Hirschfeld einen weiteren alten Titel neu aufgelegt. Dieses Mal geht es nicht ums Saufen, sondern um die Ureinwohner Amerikas in ihrem natürlich Umfeld um das Jahr 1789 herum.

Die Vereinigten Staaten von Amerika hatten sich vor 13 Jahren gegründet und wählten in diesem Jahr, 1789, ihren ersten Präsidenten George Washington. In Frankreich ereignete sich in diesem Jahr die Französische Revolution, die „Meuterei auf der Bounty“ fand im Pazifik statt, das chemische Element Uran wurde entdeckt und Friedrich Schiller hielt seine Antrittsvorlesung in Jena.

Der deutsche Prediger und Missionar Georg Heinrich Loskiel (1740-1814) beschreibt in diesem Buch das Leben der Stämme der Delawaren und Irokesen sehr akribisch. Diese Stämme lebten im Osten Nordamerikas, an der Ostküste hatten bis zu dieser Zeit die europäischen Kolonisatoren nur einen schmalen Streifen besiedelt, Richtung Westen bis zum Pazifik befand sich noch ausgedehntes, unerforschtes Indianerland. Aufgeteilt in elf Kapiteln setzt sich der Autor nicht nur mit der Geografie der Ureinwohner auseinander, er befasst sich unter anderem mit dem Körperbau und der Gemütsbeschaffenheit, der Religion und allen anderen für die Beschreibung fremder Völker wesentlichen Tatbestände. Die Beschreibung erfolgt recht sachlich und nur mit sehr geringem rassistischen oder imperialen Unterton, aber auch ohne Verklärung, wie es ein anderer Deutscher, Karl May, später mit „Winnetou“ machte.

Ein Sachbuch über die Kinderjahre der Vereinigten Staaten von Amerika, als noch nicht für jeden absehbar war, dass eingeschleppte Krankheiten und der Alkohol fast ein ganzes Volk ausrotten werden, obwohl Loskiel darauf schon Hinweise gibt. Diese authentische Schrift ist für den am Thema Interessierten sehr lesens- und lohnenswert.

Torsten Hübler

Georg Heinrich Loskiel, Unter freien Menschen: Begegnung mit Indianern 1789, 215 S. br., worttransport.de, Berlin, ISBN 9783944324494, 16,00 Euro


Wir könne unsere Gene steuern!

Epigenetik — Die unbekannte Wissenschaft

Die an der ETH Zürich lehrende Professorin Isabelle M. Mansuy hat zusammen dem französischen Psychotherapeuten Jean-Michel Gurret und der Journalistin Alix Lefief Delcourt ein lesenswertes und für den Laien verständliches Buch über die Möglichkeiten der Beeinflussung unseres und unserer Nachkommen Leben geschrieben.

Worum geht es? Epigenetik (altgr.: epi = darüber) ist ein weniger im Brennpunkt stehendes Fachgebiet der Biologie, das erklären will, warum Lebewesen trotz absolut identischer Erbanlangen unterschiedlich sind. Die Gene eines Lebewesens sind über die Lebensspanne unveränderlich, außer es gibt eine zufällige Mutation (Fehler beim Kopieren) der jeweiligen Gensequenz, die sich auch an die Nachkommen vererben kann. Das erforscht die Genetik, die durch die Entdeckung der Genschere seit Neuestem die Möglichkeit hat, die Zusammenstellung der Gene zu verändern. Wie ist es aber möglich, dass Erfahrungen, Traumata oder Umwelteinflüsse an die nächste Generation weitergegeben werden und teilweise in der sechsten Generation noch nachweisbar sind (z.B. bei Nachkommen von Holocaustüberlebenden)? Hier forscht die Epigenetik, die Theorie ist, dass die Gene verschieden abgelesen werden oder auch gar nicht, also an- oder abgeschaltet werden. Dies erfolgt durch die wenig erforschte RNA.

Die Autorinnen und Autoren verstehen es, dieses komplizierte Gebiet dem Laien näherzubringen und darzustellen, dass unser heutiger Lebenswandel nicht nur unser jetziges Leben, sondern auch das Leben unserer Nachkommen beeinflussen kann. Die schreibenden Wissenschaftler zeigen anhand vieler Studien und Untersuchungen, dass wir Vieles für zukünftige Generationen beeinflussen können.

Es gibt Theorien, dass die Suchtkrankheit auch durch epigenomische Einflüsse gesteuert werden kann, auf diesen Aspekt der Epigenetik wird aber leider nicht eingegangen. Die Verfasserinnen und Verfasser schaffen es aber, die Weitergabe von Zivilisationskrankheiten (z.B. Diabetes) nachvollziehbar zu machen, es werden die Mechanismen aufgezeigt und man kann diese leicht auch auf die Suchtkrankheit und deren epigenomische Weitergabe anwenden.

Leider wird bei den Empfehlungen für eine gesunde Ernährung der Hinweis auf das „gesunde“ Glas Rotwein weiterverbreitet (dies haben andere Wissenschaftler schon mehrfach wiederlegt, es gibt keinen „gesunden“ Alkohol, in keiner Konsummenge).

Eine gute Einführung in die komplexe Welt der Gene, der Genetik, des Genoms und der damit verbundenen Epigenetik.

Torsten Hübler

ISABELLE M. MANSUY u.a.
Wir können unsere Gene steuern!
240 S. Geb., Berlin Verlag, ISBN 978-3-8270-1411-5, 22,00 Euro


Vom wahren Sinn des Lebens

Es erfreute mein Herz, dieses Büchlein.

Nicht nur, weil es auf der schönen Insel Kreta spielt und uns fast wie ein Reiseführer an weniger bekannte Orte wie göttliche Höhlen führt: Ich meine mehr. Es ist leicht zu lesen, zu verstehen und – irgendwie erleichtert es unmerklich den Rucksack, den jeder mehr oder weniger durchs eigene Leben, durch den Alltag schleppt. Den Rucksack voller Probleme, Sorgen, Unzufriedenheiten, Groll oder Angst.

Hauptfigur Ben ist TV-Regisseur, arbeitet zu viel, verdient gut, lebt in einer Luxuswohnung und fährt ein dickes Auto. Ohne Geldsorgen – und dennoch depressiv und zu viel Alkohol trinkend – flieht er für zwei Wochen irgendwohin, last minute ist gerade Kreta im Angebot. Eigentlich will er nur tatenlos und depri am Pool rumliegen. Aber Max, ein 72jähriger Urlauber, sprüht vor Lebensglück und Lebensfreude und kann Ben, der gerne ebenso wäre, Stück für Stück zurückholen in die Lebendigkeit. In bezaubernder Natur, auf anstrengenden Wanderungen bringt er Ben dazu, über die sieben wichtigen Säulen im Leben genauer nachzudenken. Gesundheit, Liebe, soziale Beziehungen, Finanzen, Beruf, Freizeit, Lebenssinn. Ist das Säulengebäude in Schieflage? Wodurch? Was wäre zu verändern?

Max weiß, wovon er spricht. Als Alkoholiker wurde er einst sogar obdachlos. Therapie und die AA und die Veränderung seiner selbst haben ihn zu innerer Freiheit und Glück geführt. Und so gibt er seine Weisheiten an Ben weiter … der am liebsten alles auf einmal in seinem Leben ändern möchte. Aber auch dafür hat Max eine Weisheit: „Lass die Zeit für Dich arbeiten … Die meisten Menschen überschätzen, was sie an einem Tag schaffen können. Aber sie unterschätzen, was sie in einem Jahr schaffen können.“

Eine Idee, sie kommt wohl auch von den Anonymen Alkoholikern, hab ich übrigens gleich in mein eigenes Leben aufgenommen: Jeden Abend fünf Dinge aufzuschreiben, für die ich heute dankbar war. Das erzeugt nicht nur ein warmes, weitendes Wohlgefühl dort, wo das Herz sitzt, sondern trainiert den „Glücksmuskel“, wie Max sagt …

Ach so, ja, und der wahre Sinn des Lebens?
Den können Sie nur für sich selber finden – aber das Büchlein begleitet Sie dabei Schritt für Schritt.

Anja Wilhelm

PHILIPP SOMMER
Gyros, Götter und das Glück
Vom wahren Sinn des Lebens
178 S., Broschur, Independently Published, ISBN 9798629507390, 6,99 Euro, philipp-sommer.jimdofree.com


Ich bin froh, ein Alkoholiker zu sein!

 Ja, es ist eine Autobiographie. Beginnend mit dem Jahr 1961, seinem Geburtsjahr, schlägt der Autor einen Bogen über gut 40 weitere Jahre seines Lebens. Man kann das Buch in drei Abschnitte unterteilen. Der erste befasst sich, oft unterschwellig humorig, mit seiner Kindheit und den frühen Jugenderfahrungen. Im zweiten wird es dann etwas ernster. Hier beleuchtet der Autor recht detailliert seinen beruflichen Werdegang in einer männlich dominierten Domäne sowie seine familiären Beziehungen und natürlich ausführlich sein allmähliches Abgleiten in seine Krankheit, den Alkoholismus.

Soweit eine gut nachvollziehbare, ehrliche Bestandsaufnahme. Der dritte Abschnitt behandelt dann eher den persönlichen Erkenntnisgewinn, der wohl auch zur Wahl des Buchtitels führte. Dabei werden die gewonnen philosophischen Weisheiten und Einsichten angenehm wertneutral behandelt. Es gibt keinen, sonst oft zu beobachtenden missionarischen Eifer bei seiner Schilderung der Hinwendung zu Jesus (Baptisten) und den Meetings der AA.

Wenn Sie die Lebensgeschichte eines guten, freundlichen Bekannten etwas genauer kennenlernen mögen, empfiehlt sich die Lektüre dieses Buches.

                                                             Uwe Ziehm

Gerald Erdmann
Ich bin froh, ein Alkoholiker zu sein!
180 S. PB, BoD Norderstedt
ISBN 978-3-7386-0018-6
14,95 Euro


Jeden Tag ist Heute

Klingt das nicht wundervoll? Der Titel erinnert daran, dass sich das wirkliche Leben genau JETZT abspielt, denn Gestern ist vorüber und Morgen ist noch nicht …

Was wie die Aussage eines östlichen Weisheitslehrers klingt, kam dem Autor eines Tages so in den Sinn. Eines schweren Tages von vielen schweren Tagen – im Kampf gegen den Suff  mit der Hilfe der AA: Nur für heute das erste Glas stehen lassen.
Die Anonymen Alkoholiker, die er bald regelmäßig aufsuchte, seit er ahnte, dass er Alkoholiker ist, gaben ihm das Gefühl, dazuzugehören, gleichgesinnter Freund zu sein. Er lernte viel über sich, den wahren Wert des Lebens, schreibt er, und vor allem, trocken zu werden. Deshalb widmet der Autor den Beginn des Buches den AA, wie eine Art Einführung in Dankbarkeit.

Was dann folgt, sind Briefe (an seine Mutter) und Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 1999-2002. Zeiten des Aufs und Abs, der lichten Höhen, aber meist sehr tiefen Tiefen: Ob nun beruflich (Firma fast pleite), in der Partnerschaft (Trennung), aber vor allem in der Beziehung zu und mit sich selbst. Er hadert mit sich und schwankt, er versucht und scheitert, steht auf, fällt wieder hin. Trinkt, gar säuft, bleibt trocken – und alles wieder von vorn. Stetig ist er auf der Suche nach etwas, vor allem nach der Wurzel seines Alkoholismus. Was er dann damals herausfindet, ist ein bestimmtes Verhaltensmuster  – nämlich dass er bisher immer für andere gelebt habe. Sich stetig verbogen hat, um die (vermeintlichen?) Erwartungen anderer zu erfüllen und so Liebe und Aufmerksamkeit zu erhalten. Eine Konditionierung, eingedrillt und sehr fest verankert, aus Kinderzeiten, wie er nun erkennt. Und wie er es in dem fast anklagenden Brief an seine Mutter beschreibt. Seine zwei Ehen enden letztlich, weil er eher „dient“, sich den Wünschen der anderen „unterwirft“. Er erstickt an Schuldgefühlen, wenn er es nicht tut, fühlt sich dann verantwortungslos. So überfordert er sich selbst, wie er sagt. Und, weil er unglücklich ist damit, säuft er. Oder rennt weg. Oder beides.

Das Tagebuchschreiben erleichtert ihn, er lässt seine Gefühle raus. Aufs Papier kommt, was ihm auf der Seele liegt. Flüche, Trauer, Glück, Hass, Wut, später dann auch Freude und Dankbarkeit, alles dabei. Authentisch, wie man heute sagt. Live aus seinem damaligen Leben. Fragen über Fragen auch, die er sich stellt. Über das Schreiben lernt er sich selbst besser kennen. Kommt am Ende zu dem Schluss: „Ich muss wirklich lernen, auf mein Gefühl zu hören, nicht immer allen alles zu Gefallen tun gegen mein Empfinden. Bloß merken muss ich das. Rechtzeitig. … Was für mich tun. Für mich leben. Nicht für andere. Habe ich schon so oft gehört bei AA. Und doch nicht gehört? Oder nicht verstanden?“

Und so geht er in kleinen Schritten in SEIN eigenes Leben. Erfühlt, was ihm guttut, wozu sein Herz Ja sagt. Scheidung. Er baut und rückt Möbel und Pflanzen im Haus, wie es ihm selbst gefällt und fühlt sich langsam wohl und frei. Beginnt, Gedichte zu schreiben, Bilder zu gestalten am PC. Einige davon finden sich auch im Buch wieder. Er fängt an, sich weniger als Opfer seiner Erziehung zu sehen, sondern sein Leben selbstverantwortlich JETZT und HEUTE zu gestalten. So bleibt er immer längere Phasen trocken. „Das Leben ist gut zu mir“, enden die Tagebuchaufzeichnungen 2002.

Mein Fazit: Als Urlaubslektüre ist das Büchlein wohl eher nicht geeignet, wie ich so zwischen fröhlichem Wasserplätschern und heiterem Sonnenbaden feststellte. Denn wer selber so getrunken und gekämpft und gelitten hat, darf sich dank der Zeilen gewaltig gut erinnern und noch einmal nacherleben, wie es einst war. Ungefiltert … Allerdings haben mich die Fülle an Schimpfworten wie Sch…, Idioten usw., die auf den Seiten gut Zuhause sind, und seine Beschreibung mancher „Weiber“ gestört. Manches mag den einen oder anderen auch triggern (mich z.B. die Muttergeschichte), eigene noch unbearbeitete negative Gefühle hervorrufen. Also: Zu empfehlen für LeserInnen, die sich erinnern wollen, neugierig sind auf Erfahrungen anderer oder aber für nichttrinkende Menschen, die mehr über Alkoholismus wissen möchten.

Anja Wilhelm

MIKE L.
Jeden Tag ist Heute
Gedanken eines Alkoholikers
213 S., TB, ALMUS Verlag Bergfelde
ISBN 3-00-010104-7
9, 90 Euro
Bestellen: www.almus-verlag.de


Cannabispolitik – quo vadis?

Eine Streitschrift

Die Autoren Jürgen Schlieckau und Imke Geest, Suchtexperten und Therapeuten, informieren über epidemiologische, erzieherische, medizinische, psychiatrische, pharmakologische, beraterische, rechtliche und politische Aspekte des Themas Cannabis. Regulierungsmodelle werden in dieser Streitschrift ausführlich diskutiert. Das Buch zielt auf Entscheidungsträger in der Politik, aber auch auf Eltern und Interessierte.

Die Haltung der Autoren zur Droge Cannabis und einer eventuellen Liberalisierung ist eindeutig: Sie fordern die Aufrechthaltung des Cannabisverbotes in Deutschland und begründen dies auch.

Dr. Imke Geest, als Psychiaterin in einer Suchtberatungsstelle tätig, sagt: „Das Ideal einer liberalen Gesellschaft ist, dass sich jeder mündige Bürger mit selbst erarbeitetem Wissen und Erfahrung eine persönliche Meinung bildet und diese in den Diskurs einbringt. Der Knackpunkt aber ist, dass die meisten Themen so komplex sind, dass man es kaum wirklich schafft, sich den nötigen Sachverstand anzueignen. Deswegen haben wir Repräsentanten. Diese sehen sich aber mittlerweile so vielen verschiedenen Themen ausgesetzt, dass die Vielfalt und die Minderheitenbewegungen großen Fleiß und klaren Geist erfordern, um den besten Weg für unser Land zu finden. Bleibt die Wissenschaft als Wegweiser.“

Irgendwie denke ich jetzt an Fußball und die Millionen Bundestrainer.

Jürgen Schlieckau, seit 2018 Leiter der Fachstelle Sucht für den Landkreis Cuxhaven, vorher u.a. pädagogischer und organisatorischer Leiter der Dietrich-Bonhoeffer-Klinik Ahlhorn, sieht die bisherige Cannabispolitik in der Bundesrepublik als gescheitert an. Er schreibt von einer quasi-rationalen Verharmlosungsdebatte, die die Anzahl der Cannabiskonsumenten weiter ansteigen lässt. Für eine gewisse Gruppe von Konsumenten gilt Cannabis als Lifestyle-Droge. Dabei ist nicht zu übersehen, dass mächtige Interessengruppen der Industrie hier mitmischen. Besonders in den USA und Kanada, aber auch in Europa. Die TrokkenPresse hat darüber berichtet. Die Cannabisindustrie wird immer wieder Schlupflöcher finden und eine Marketingstrategie speziell auf Jugendliche ausgerichtet kreieren. Vergleichbare Beispiele gibt es in der Alkoholindustrie zuhauf.

Im 2. Kapitel des Buches, mit der Überschrift „Cannabis und Risiken“, gehen die Autoren unter anderem auf die Gesundheitsrisiken, speziell für Jugendliche, ein. Die Quellenangaben sind schier unerschöpflich. Ein Beispiel? Zitat: „Die Zahl der Menschen mit cannabisbezogenen Störungen, die in der Suchthilfe Beratung oder Behandlung suchen, hat sich im Zeitraum von 2000 bis 2009 versechsfacht (dhs 2012), bzw. auf  30.000 erhöht (Deutscher Bundestag 2012).

Im 3. Kapitel wird ausführlich das Thema „Cannabis und Familie“ erörtert. Auch praktikable Ratschläge für Eltern kommen nicht zu kurz.

Der Unterschied zwischen Cannabis als Medizin (Medizinhanf ist seit 15 Jahren im Einsatz!) und Cannabis als Lifestyle-Droge wird genauestens erklärt.

Symptome, wie bei Jugendlichen auf Cannabiskonsum geschlossen werden kann, sind ausführlich aufgelistet, ein Anspruch auf Vollzähligkeit wird dabei nicht erhoben. Wir kennen das vom Alkohol, eindeutige und nicht eindeutige Anzeichen gibt es auch hier.

Die rechtlichen Fragen im Zusammenhang mit Cannabiskonsum werden erklärt, auch deren Entwicklung. Dabei wird genau unterschieden, wie die rechtliche Lage in den einzelnen Staaten ist und wie sie einmal war.

Am Interessantesten erscheint mir Tabelle 2: 30 Cannabismythen. Hier werden diverse Mythen ins rechte Licht gerückt. So wird zum Beispiel die Liberalisierung von Cannabis damit begründet, durch die Strafverfolgung würden unnötige Kapazitäten bei Polizei und Justiz gebunden. Sagt die FDP.

Beratung, Behandlung und Prävention sollen mehr gestärkt werden, sagt Die Linke. Durch eine Cannabissteuer könnte die Prävention besser finanziert werden etc.

Alle 30 Mythen werden ausführlich erörtert und, wie es mir scheint, ohne Vorurteile. Für 2021 ist eine weitere Herausgabe dieser Streitschrift geplant, so sagt es Jürgen Schlieckau.

In dem Buch findet sich auch folgender Appell auf den letzten Seiten:

„An die Jugendlichen: Fangt gar nicht erst an zu kiffen, es ist uncool und hilft mit Sicherheit der Organisierten Kriminalität, sie wird sich über satte Gewinne freuen. Wenn du kiffst, besteht das Risiko, dass du Probleme bekommst.

An die Eltern, Erzieher, Lehrer und Ausbilder: Schaut hin, kümmert euch, seid Vorbilder. Schafft vertrauensvolle Beziehungen, lasst euch nicht verunsichern, setzt ggf. klare Grenzen und bleibt konsequent.

An die Politik: Liebe Politiker, haltet die Cannabisprohibition dauerhaft aufrecht, dreht das Betäubungsmittelgesetz nicht um, stärkt das Gemeinwohl und bedient keinen Finger breit die Partikularinteressen der Cannabislobbyisten und der Cannabisindustrie.“

Mein Fazit: Lesenswert, aber bitte genau lesen, gerne auch zweimal. Auch für interessierte Laien geeignet, nicht nur für Fachleute.

Gerd Klütemeyer

JÜRGEN SCHLIECKAU/IMKE GEEST
Cannabispolitik – quo vadis?
169 S., Broschur, disserta Verlag
ISBN 978-3-95935-532-2
34,50 Euro


Alkoholfrei Gott genießen

Der TrokkenPresse Autor und Pfarrer im Ruhestand Christian Wossidlo hat ein neues Buch vorgelegt. Dieses Mal befasst er sich nur am Rande mit der (seiner) Alkoholkrankheit. In seinem neuen Werk geht es um Gott und die Welt.

„Glaub´ ich, glaub´ ich nicht …“ lautet der Titel und gibt damit schon die Richtung vor. Der Untertitel „Christ sein heute – muss ich alles glauben?“ kann in die Irre führen, es geht um das Christentum, aber auch andere Religionen und Weltanschauungen werden in die Glaubensfrage mit einbezogen.

Die Gliederung in fünf Kapitel, beginnend mit „Glauben und Bekennen“ über „Wegweiser durchs Jahr“, „Wegweiser durch den Alltag“, „Mit Gott die Welt verstehen“ endet verheißungsvoll mit „Die Hoffnung lebt“. Wossidlo beginnt mit „seiner“ evangelischen Kirche und hinterfragt Riten und Gebräuche, z.B. Abendmahl, Glaubensbekenntnis, setzt sich mit den Widersprüchen zwischen heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen und den Behauptungen und Wundern der Bibel auseinander. Danach geht er erst durch das Jahr und erklärt die Bedeutung der Feiertage und feierlichen Handlungen. Vom ganzen Jahr kommt er auf den Alltag und erklärt der Leserin, dem Leser die Dinge des Lebens aus der Bibel heraus, nicht ohne all seine Zweifel und Widerstände zu Protokoll zu geben. Vom Alltag geht es wieder ins Große, in die Welt, er untersucht den Fundamentalismus in allen Religionen, den Antisemitismus, die Evolution, um dann beim Größten, der Liebe, zu landen.

Man merkt dem Werk an, dass der Verfasser ein Gläubiger und ein Zweifelnder ist. Entlang seiner kenntnisreichen Route durch die Menschheits-, Religions-, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte lernen die Lesenden nicht nur viel über christliche Religion, auch über die vielen anderen Religionen der Menschheit. „Glaub´ ich, glaub´ ich nicht …“ ist flüssig geschrieben, man merkt dem Autor an, dass das Wort vierzig Jahre sein Beruf war und dies ist ein großer Gewinn für die Leserinnen und Leser, nicht nur Christenmenschen, auch ein Gewinn für Menschen, deren Weltbild ohne Gott auskommt. Der vorliegende Titel ist nämlich randvoll mit Wissen aus den entlegensten Gebieten, ich jedenfalls habe das Buch mit Gewinn gelesen.

Torsten Hübler

WOSSIDLO, CHRISTIAN
Glaub´ ich, glaub´ ich nicht …
Christ sein heute – muss ich alles glauben?
256 Seite, TB, BoD, Norderstedt, ISBN 978-375041041 , 12,00 Euro


Legal High

 Sex & Drugs & Korruption

 Der Titel des 2018 erschienen Bandes ist irreführend, denn Legal Highs sind in der Alltagssprache „psychoaktive Substanzen“, sogenannte berauschende Badesalze. Aber in Rainer Schmidts vergnüglicher Gesellschaftssatire geht es nicht um Badesalze, sondern um Cannabis. Geschildert wird fiktiv und durchaus kritisch der Prozess einer Legalisierung von Cannabis in der Bundesrepublik Deutschland. Es treten unter anderem auf: die Bundeskanzlerin und einige Medien- und Wirtschaftslenkerinnen, einige Firmenbosse und Spindoctors, kriminelle Banden, ein korrupter Innensenator aus Hamburg sowie Kleinkriminelle, schöne Frauen als Beiwerk sind auch zu finden. Die Hauptfigur ist der Dude, ein Cannabis-Produzent, den seine Hanf-Spitzenzüchtung in die Justizvollzugsanstalt gebracht hat.

Im fiktiven Jahre 2018 besteht die Möglichkeit einer Cannabis-Legalisierung. Schmidt arbeitet fein heraus, welche Interessen und Lobbys durch eine Legalisierung bedient werden, wie die einzelnen Beteiligten versuchen, ihr Stück vom Milliardenschweren Cannabis-Kuchen abzubekommen. Der Bauernverband, die Pharmaindustrie, die Genussmittelbranche, die Krankenkassen und alle anderen Säulen der Gesellschaft wollen ihr Cannabis-Schäfchen ins Trockene bringen, auch die, die bisher strikt dagegen waren. Die Kanzlerin scheint auch ihr eigenes Spiel zu spielen. Aber alle Marktteilnehmer und potentiellen Nutznießer der Gesetzesänderung sind auf qualitativ hochwertige Ware angewiesen, sonst lohnen sich die Investitionen im Vorfeld nicht. „Strongdude“ nannte der Dude sein bestes und unerreichtes Cannabis-Produkt, die Qualität von „Strongdude“ ist die Referenz für alle anderen. So wird aus dem Ex-Knacki Dude ein hochdotierter Mitarbeiter eines Marktteilnehmers. Können er und seine Freunde den Konzernen eine Nase drehen?

Soviel wird von der Handlung des spannenden und unterhaltsamen Krimis verraten, den Rest sollte die Leserin, der Leser selbst lesen. Ich kann diesen hintergründig und kenntnisreich geschriebenen Roman als humorig-augenzwinkernde Sommerlektüre empfehlen, zumal es schon eine preiswerte Taschenbuchausgabe gibt.

Torsten Hübler

RAINER SCHMIDT
Legal High
352 S., TB, Rowohlt Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-499-29028-2, 9,99 Euro


„Rausch Liebe“ von Karmen Jurela

Ein Ärzt*innen-Roman der anderen Art

Stella, eine erfolgreiche Frau, Ärztin, Geschäftsfrau, unverheiratet, keine Kinder, trifft nach über 20 Jahren ihre Jugendliebe, Pavlos, Arzt, verheiratet, zwei Töchter, wieder. Die alte Liebe flammt auf. Nach beruflichen Querelen und Arbeitsplatzverlust verlässt der Arzt seine Frau und Kinder im Süddeutschen, um in Berlin bei der Ich-Erzählerin Stella Unterschlupf zu finden. Das Zusammenleben, erst recht fidel, dann ungemütlicher: denn mit Pavlos abnehmenden finanziellen Reserven, der Unfähigkeit, einhergehend mit seinem stark steigenden Alkohol-Konsum, einen lukrativen Job zu ergattern und brutaler Gewalt gegen Stella ist das anfängliche Idyll beendet. Alkoholisiert schlägt Pavlos regelmäßig seine Lebenspartnerin, diese will und kann nicht von ihm lassen. Auf die schon alkoholdurchseuchte, gewalttätige und kaputte Beziehung wird noch eine opulente Hochzeit gepfropft, um den schönen Schein zu wahren und als letzter Rettungsanker für die zerstörte Zweisamkeit. Pavlos säuft und verprügelt seine Frau nicht nur, er betrügt sie auch. Stella kommt von ihrem Prinzen lange Zeit nicht los, denn auch ihr Kinderwunsch mit dem Alkoholkranken hält sie von einem Bruch der Beziehung ab. Mit Hilfe von Suchtberatung, Angehörigen-Selbsthilfegruppe und anderen Helfern schafft sie mit Trennung und Ehescheidung einen Ausweg aus dem Martyrium. Der vorläufige Endpunkt der Geschichte, wie es scheint.

Karmen Jurela beschreibt in ihrem 250 Seiten Roman, wohl überwiegend autobiographisch, einen dunklen Abschnitt in ihrem Leben, als sie für Jahre die Kontrolle über sich und ihr Leben verlor. Sie zeigt sprachgewandt die Vielschichtigkeit der Alkohol-Sucht, die eben nicht nur den Süchtigen, sondern auch sein ganzes Umfeld schädigt. Sie zeigt, wie Nicht-Abhängige lange Zeit die Alkohol-Sucht in ihrem Umfeld nicht bemerken (wollen) und dann als Co-Abhängige selber daran fast zugrunde gehen. Die in Berlin lebende Zahnärztin hat keinen Ratgeber für Partner*innen alkoholkranker und gewalttätiger Partner*innen geschrieben. Sie hat einen fast tödlich endenden Roman einer gescheiterten Liebesgeschichte verfasst, in der der Alkohol eine wesentliche Rolle spielt.

„Rausch Liebe“ lässt sich flüssig lesen, obwohl die detailreiche Aufzählung von Orten, Daten und unerheblichen Einzelheiten manchmal ermüdend sind. Diese Ausschmückungen sind wohl der persönlichen Betroffenheit der Autorin geschuldet, die eher den subjektiven Bericht ihres Leidens als einen fiktionalen Roman verfasst hat.

Das im Selbstverlag erschienene Werk ist sorgfältig korrigiert und man merkt, dass ein Lektorat stattgefunden hat, was nicht immer bei im Selbstverlag erschienenen Manuskripten vorzufinden ist. Der Titel ist, trotz Selbstverlag, in jeder Buchhandlung erhältlich!

Torsten Hübler

KARMEN JURELA
Rausch Liebe
250 S. PB, BoD Norderstedt, ISBN 9783750460720, 16,99 Euro


Einfach NÜCHTERN!

 Mal ein ganz anderes Buch über Alkoholismus, liebe Leser/innen. Auch wenn der Titel das nicht so recht in Aussicht stellt …
Zwar verursachten die hohen Versprechungen zu Beginn á la: „Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, sind Sie befreit von Ihrem Verlangen nach Alkohol …“ erst einmal Unbehagen. Ziemliches sogar. Wenn es nur ein Buch braucht, um aufzuhören, weshalb war ich dann 16 Wochen zur Therapie?
Aber kurzes Vorab und Entwarnung: Ich finde es sehr lesenswert. Die Perspektive ist einmal eine ganz andere – das Buch beleuchtet genauestens die von der Gesellschaft verursachten Konditionierungen, denen wir von Kind auf unterliegen: Alkohol ist toll. Alkohol macht glücklich, fröhlich – kurzum, er ist ein Lebenselixier. Dafür geht die Autorin, selbst alkoholkrank, all den oft zutiefst unbewussten Glaubenssätzen auf den Grund, die sich über Jahrzehnte in uns verfestigt haben. Sie holt sie ans Tageslicht. Nachvollziehbar für jeden Leser – Aha-Effekte bleiben nicht aus.
Schwellenpunkte, so nennt sie diese Glaubenssätze tief in uns drin. Und hier ein Beispiel:

Wir trinken, weil uns Alkohol schmeckt.
„Noch bevor Sie einen einzigen Schluck Alkohol gekostet hatten, beobachteten Sie, wie alle um Sie herum tranken und den Geschmack des Alkohols zu genießen schienen … Ihre allerersten Erfahrungen damit widersprachen jedoch höchstwahrscheinlich diesen Beobachtungen, Kinder mögen Alkohol in der Regel nicht, wenn sie ihn das erste Mal probieren. Doch weil wir weiterhin andere Menschen um uns sehen, die trinken, nehmen wir einfach an, dass es sich dabei um etwas Gutes und Positives handeln muss, auch wenn es vielleicht nicht so schmeckt. Wir schlussfolgern daraus, dass wir weitertrinken müssen oder bekommen vielleicht gesagt, dass wir noch einen Geschmack dafür entwickeln müssen.“
So funktioniert unser Selbstbetrug, deckt sie mit unzähligen nachfolgenden Fakten auf. Einer davon: In Wahrheit ist Alkohol ein Gift, dass unsere Sinne als solches auch anfangs entdecken: Oder hat Ihnen der erste Schluck geschmeckt früher? Anderswo wird mit Ethanol sogar das Auto getankt! „Purer Alkohol schmeckt entsetzlich und schon eine kleine Menge davon ist tödlich. Wir verwenden sehr komplexe Prozesse und Zusatzstoffe, um Alkohol so zu verändern, dass er gut schmeckt. Doch verringert keiner … den Schaden, den der Konsum …anrichten kann.“
Weitere Schwellenpunkte, also Glaubenssätze: Alkohol ist flüssiger Mut, Alkohol hilft gegen Stress und Anspannung, Trinken macht mich glücklich, Alkohol ist im Gesellschaftsleben unverzichtbar, ich muss trinken, um dazuzugehören. Spannend zu lesen, wie sie im Einzelnen entstanden sind in uns, und mit Gegenargumenten und Fakten davon überzeugt zu werden, weshalb sie nicht die Wahrheit sein können.
Die Autorin will die gesellschaftlichen Konditionierungen in unserem Bewusstsein und Unterbewusstsein rückgängig machen, schreibt sie. Aber mahnt Aufmerksamkeit an, da wir sie im Umfeld usw. immer weiter erfahren werden. Sie empfiehlt, die Prinzipien im Buch häufig zu lesen, zu wiederholen.
Manche ihrer eigenen häufigen Wiederholungen klingen fast wie Mut machende Mantras: „In dem Moment, in dem Sie sich entschließen, frei zu sein, werden Sie auch frei sein.“ Fast hypnotisch wirkend … Und mit frei meint sie, frei vom emotionalen Verlangen nach der Sucht erzeugenden Substanz Alkohol, das zum großen Teil die Gesellschaft erzeugt, zu werden.
Das Buch richtet sich nicht nur an jene, die ahnen, dass sie zu viel trinken, sondern auch an Abhängige. Deshalb drängt sie darauf, sich bei starker körperlicher Abhängigkeit unbedingt Hilfe zu suchen, in Kliniken, in Selbsthilfegruppen.
Ich glaube, das Buch unterstützt auf jeden Fall jede Leserin, jeden Leser, der den Druck „Ich darf nicht mehr trinken“ in ein befreites „Ich muss nicht mehr trinken“ verwandeln will.
Und das will doch jeder trocken gewordene Alkoholiker?
                                                                                                    Anja Wilhelm

ANNIE GRACE
Einfach NÜCHTERN!
Freiheit, Glück und ein besseres Leben ohne Alkohol
344 Seiten, Verlag Unimedica, ISBN:9-783962-571078
19,80 Euro


„Problem: Alkohol“ – ein Ratgeber für Angehörige

Von Herbert, AlkoholikerDieses Buch erzählt die Geschichten von Gesa Schwarz, Silvia Ratzek, von Margarete und Rainer Sielaff, von Rainer Fischer, von Monika und Michael Annecke. Allen gemeinsam ist die Erfahrung der Machtlosigkeit gegenüber dem Alkoholismus. Die Geschichten von Rainer Fischer und vom Ehepaar Annecke möchte ich als beispielhaft herausgreifen:

Rainer Fischer hatte einen Freund, bei dem es immer schlimmer wurde mit der Alkoholsucht. „Ich habe es lange Zeit nicht glauben können. Man hat es auch nicht gemerkt.“ Dem Freund wurde zwar der Führerschein für ein paar Monate abgenommen, und es gab schon Gerüchte, dass er tagsüber Schnaps trinken würde, „aber ich konnte mir das einfach nicht vorstellen.“
Bis es so offensichtlich wurde, dass er dem Freund ins Gesicht sagte: „Du hast ein Alkoholproblem. Du brauchst eine Therapie.“
Für Rainer Fischer war das ein Thema, vor dem er selber sich drücken wollte, weil er sich damit einfach nicht auskannte und nicht wusste, welche Möglichkeiten es gibt und wie er sich verhalten soll.
Solche Fragen beantwortet dieses Buch und zeigt Lösungswege auf für den Angehörigen, der sich mit dieser Krankheit nicht auskennt und immer wieder zu spüren bekommt, dass er bei dem Betroffenen nichts bewirken kann außer immer neuen Versprechungen, die doch nicht eingehalten werden. Besonders schmerzhaft sind Rückfälle nach hoffnungsvollen Zeiten ohne Alkohol. „Ich konnte kaum mit ihm reden. Die Begegnung hat mich tagelang mitgenommen.“
Rainer Fischer erlebte das, was viele Angehörige durchmachen: „Es dauert sehr lange, bis man wirklich versteht, dass man nichts ändern kann, wenn er es selbst nicht einsieht. Ich habe mich immer wieder gefragt, ob ich mit schuld bin, weil ich zu wenig getan habe, nicht aktiv genug war. Aber ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass ich alles getan habe, was mir möglich war.“
Die nächsten Schritte muss der Trinker selbst gehen. Oder er geht sie eben nicht und trinkt weiter. Es geht weiter bergab. „Es gibt auch Momente, in denen man sich nicht mehr damit konfrontieren möchte, weil es einen selbst so runterzieht.“
Vielen Menschen, die den Alkoholismus aus der Nähe nachhaltig erleben, geht es wie Rainer Fischer: Sie möchten gerne helfen und etwas tun, wissen aber nicht, was. Dieses Buch bringt ihnen bei, dass sie sich erst mal selber helfen müssen.
Die nächste Geschichte erzählt ein Ehepaar, das zusammenblieb. „Ich hatte Angst, was mit ihm ist, wie das jetzt weitergeht“, sagt Monika Annecke über ihren Mann Michael, und auch sie hat das alles beherrschende und erdrückende Gefühl ihrer Hilflosigkeit kennengelernt, das sich ausdrückte in den Gedanken: „Es hilft doch eh nichts, ich habe ja schon so viel versucht.“
Michael ist heute ein engagierter Guttempler, seine Ehe mit Monika hat die Krise überstanden und er trug viel zu diesem Buch bei. Es ist zu begrüßen, dass es nun diesen Ratgeber gibt, der Angehörigen hilft, Veränderungen in Gang zu bringen und Möglichkeiten zu finden für einen neuen eigenen Lebensweg.

CHRISTINE HUTTERER
Problem: Alkohol – Wege aus der Hilflosigkeit
Mit Fotografien vom Sibylle Fendt
Herausgegeben von der Stiftung Warentest in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Suchtpsychologie e.V.
176 Seiten, Buch-Format: 16,5 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-747101-11-7
19,90 €


Hinfallen ist keine Schande, nur Liegenbleiben

Sie hätte auch einfach liegenbleiben können …

Und weitersaufen. Weiter während ihrer Panikattacken um ihr Leben fürchten. Um ihre Kinder bangen. Um neue Jobs – oder schlimmer noch: sterben. Viel an Lebenszeit wurde ihr damals nicht mehr prophezeit.

Aber Schauspielerin Muriel Baumeister blieb nicht liegen. Diese reale Geschichte erzählt das Buch – und viele andere: Sie bezeichnet ihr Buch selbst als „Potpourri an Lebenserfahrung, lustigen Begebenheiten und einer Extraportion Glück.“

Und so geht es in erfrischendem Schreibstil um ihre Heimat, das Salzburger Land, hoch oben ein Haus auf einem Berg, in dem sie heute noch liebend gerne freie Zeit verbringt. Um ihre Eltern, ein Künstlerehepaar, die Mutter Tanzpädagogin, der Vater Bühnenschauspieler. Um ihre Kindheit und wieso sie das erste Mal mit 13 Alkohol trank, aus Versehen. Um Dreharbeiten, zum Beispiel auch die für ihre erste große Rolle in „Ein Haus in der Toskana“. Um spätere Herausforderungen im Beruf und die Fernsehbranche im Allgemeinen. Um ihre Ehen, weshalb sie drei Kinder von drei Vätern bekam und wie sie heute als „Patchwürg“-Familie leben. Um Erziehung („Ich bestrafe meine Kinder nicht, aber ich setze ihnen Grenzen.“), ihr Mutterherz, das Altern und weshalb sie Hyaluronsäure nutzt. Um ihre Vorbilder, die Großmütter. Um Freundschaften. Und um Vieles andere mehr.

Das alles in sehr lebendigen Episoden erzählt, mal tiefgründig, seelenreich, mal witzig oder beides zusammen. So, als würde es, gerade erst gedacht, gefühlt, aus ihrem Innersten über ihre Lippen gekommen sein. Ich mochte gar nicht aufhören, zu lesen. Für mich hätte das Buch ruhig viel dicker sein dürfen …

Tatsächlich also ein Potpourri aus Erlebnissen, Erinnerungen, Weisheiten, Meinungen, Haltungen und vielen Gefühlen. Und das alles mit einer gewissen „Schmäh“:

„Die Kunst, über sich selbst lachen zu können und in allem ein komisches Element zu finden, selbst in den traurigsten Situationen – das macht stark. In Österreich heißt das Schmäh.“ Und „Schmerzen kann man mit Scherzen heilen. Kein Witz.“ Und so erzählt die Autorin auch, manchmal sehr ernsthaft – oft aber auch witzig und komisch und frech und direkt.

Das Thema Alkohol zieht sich über mehrere Kapitel. Als sie aufwuchs und auch später im beruflichen Leben, war Trinken nicht nur normal, sondern gesellschaftlich anerkannt. Schleichend wurde „…diese klare Flüssigkeit … die Projektionsfläche für meine inneren Bedürfnisse. Sie war meine Vertraute und meine Medizin.“ Und: „Ich wurde beinahe asozial. Irgendwann war ich lieber mit einer Flasche Alkohol zusammen als mit Menschen.“ Bis gar nichts mehr ging …

Sie berichtet über ihre Entzüge und Therapien in einer Privatklinik und in der Salusklinik. Damals war ihr Ziel noch, kontrolliert trinken zu können. Bis sie ihre furchtbaren Panikattacken nicht mehr ertragen konnte und wollte und sich selbst in die Charité einweisen ließ. Die Hölle, nennt sie diese Zeit.

Seitdem ist sie trocken. Das ist nun zwei Jahre her. Zwei Jahre, in denen sie gelernt hat, all das, was sie früher betäubte, auszuhalten. Und neu und anders zu bewältigen. „Mein Leben hat sich sehr verändert. Es ist nicht alles nur besser, sondern vieles ist einfach anders … Ich bin guter Hoffnung, dass ich es schaffe. Ich habe unendlich viel über mich und das Leben gelernt und meine Wahrnehmung und mein Verhalten komplett umgekrempelt.“

Was sie damit im Einzelnen meint? Lesen Sie es selbst, liebe Leser/innen.

Das Buch macht Mut. Gibt Hoffnung – denn liegen zu bleiben, das ist keine Option für Muriel Baumeister. Sie kennt nur diese eine Option, vererbt von ihren Großmüttern: „Einatmen, ausatmen, weitermachen.“ Aufstehn. Etwas tun. „Die Bewegung selbst ist der Antrieb“, sagt sie.

Anja Wilhelm

 MURIEL BAUMEISTER
Mit Constanze Behrends
Hinfallen ist keine Schande, nur Liegenbleiben
232 Seiten, EDEL Verlag ISBN 978-3-95910-251-3, 17,95 Euro


Die Vermessung der Psychiatrie

Können sich auch Psychiater irren? – Selbstverständlich!

Der Psychiater und Psychotherapeut Dr. Dr. Stefan Weinmann nimmt in seinem neuesten Titel das eigene Fachgebiet kritisch unter die Lupe und hinterfragt die ehernen Regeln seiner Zunft.

 Vorweg, mich als Nichtpsychiater und Nichtmediziner hat dieses Buch tief beeindruckt. Ein Mann vom Fach räumt verbal in seinem Fachgebiet auf. Bei seiner Betrachtung der Psychiatrie betont er, dass sein Buch nur Bezug auf die schweren psychischen Erkrankungen (Psychosen, schwere Depression und manisch-depressive Erkrankungen, schwere Angsterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen) nimmt, nicht aber die sogenannten „common mental disorders“. Diesen Begriff erklärt er nicht. Wobei ein guter Teil seiner Ausführungen auch auf die Sucht-Psychiatrie zutreffen kann. Der (wünschenswerte) potentielle Leser muss sich auf ein medizinisches Fachbuch einstellen, durch das sich ein medizinischer Laie durcharbeiten muss. Allein schon die ausgiebige Verwendung von Fachbegriffen anstatt der genauso treffenden, aber gebräuchlicheren deutschen Vokabeln zeigt, dass ein Mediziner für Medizinerkreise geschrieben hat, nicht für die breite Öffentlichkeit, was bedauerlich ist, da Defizite bei der psychiatrischen Behandlung und Diagnose selbstverständlich auch die Allgemeinheit interessieren.

Der international erfahrene Arzt setzt sich zu Beginn mit den Begriffen Täuschung und Selbsttäuschung auseinander, bezieht diese Begriffe auf sein Fachgebiet und stellt eine Selbstdiagnose des Fachs. Nicht nur wird mit guten Argumenten hinterfragt, ob Psychiatrie überhaupt ein Teilaspekt der Medizin ist, es wird auch ein Basisargument der psychiatrischen Forschung angezweifelt; die Evidenz (Erfahrungswissen). Das Problem der psychiatrischen Forschung ist, dass sich psychische Defizite und Defekte meist nicht objektiv messen lassen wie z.B. Fieber. Daher ist statt des naturwissenschaftlichen Beweises wie in der Physik oder Biologie, aber auch in vielen Bereich der Medizin, die Evidenz in der psychiatrischen Forschung. Es werden vorwiegend Studien gemacht, die dann statistisch ausgewertet werden usw. Diese Art der Forschung hat ein sehr großes Fehlerrisiko und wird von Weinmann fachlich korrekt zerlegt. Auch die Definitionsmacht über psychische Krankheiten thematisiert der Autor.

Ein Beispiel: Aus diesen durch Studien und deren statistischen Auswertungen werden dann z.B. Grenzwerte festgelegt, welche dann die Grenze zwischen krank und nicht-krank bilden können. Diese Grenzwerte werden bei der weiteren Interpretation anderer Forschungsergebnisse dann unhinterfragt übernommen. Man könnte aber auch zu anderen Grenzwerten gelangen.

Im weiteren Verlauf wird auch die sehr großzügige Vergabe von Psychopharmaka und damit auch der übergroßer Einfluss der Pharmalobby auf die Behandlung der Patienten sowie die Anwendung unmittelbaren Zwangs thematisiert. Ein Lob der Gemeindepsychiatrie wird mit internationalen Beispielen untermauert.

Ein sehr lesenswertes Buch, dem viele geduldige Leser aus allen Stufen der psychiatrischen Behandlung zu wünschen sind, überzeugt mit einem breiten Themenspektrum, welches einen großen Teil des psychiatrischen Feldes abdeckt. Aber auch für von psychiatrischen Behandlungen Betroffene ist es sehr interessant, man versteht, wie „die“ Psychiatrie funktioniert. Vielleicht kann sich der Autor dazu aufraffen und sein wichtiges Buch ins Allgemeinverständliche übersetzen, ein weit über die Zunft der „Götter in Weiß“ hinausreichender Leserkreis wäre ihm sicher.

Torsten Hübler

Weinmann, Stefan
Die Vermessung der Psychiatrie
Täuschung und Selbsttäuschung eines Fachgebietes
224 S., Psychiatrie Verlag, Köln, 2019, ISBN 978-3-88414-931-7; 25,- Euro


Liebestölpel

Ein komischer Vogel schreibt über die Liebe

Nach seinen Romanen „Rabenliebe“ und „Schluckspecht“ befasst sich Peter Wawerzinek wieder mit einem Vogel, „Liebestölpel“ ist sein neuester Streich. Nach dem Saufen geht es also nun um die Liebe des in Ostdeutschland geborenen Literaten.

 In einem Kinderheim an der Ostsee beginnt sein Roman, auch der 1954 in Rostock geborene Autor wuchs in Kinderheimen der DDR auf. Mit Lucretia, dem Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, und anderen Kindern teilt er das Leben im recht idyllisch beschriebenen Heim. Der Ich-Erzähler wird aus dem Heim heraus von einem Pflegevater aufgenommen, dies bedeutet die Trennung von der angehimmelten Lucretia. Im Fortgang des Romans geht es weiter mit dem von Lucretia getrennten Erwachsenwerden des Ich-Erzählers in der DDR der 60er und 70er Jahre. Er hat ein Problem im Umgang mit dem weiblichen Geschlecht, dieses titelgebende Problem zieht sich dann durch das ganze Werk. Die bildschöne Lucretia spielt darin ab und zu eine Rolle, so gehen beide per Anhalter auf eine dreimonatige Reise ins sozialistische Ausland. Bis nach Bulgarien und ins etwas weniger sozialistische Jugoslawien geht der Trip. Als jungen Erwachsenen zieht es „Ich“ erst nach Plauen und dann in die Hauptstadt der DDR, nach Berlin.
Hier lebt er als Schriftsteller, er ist Teil des heute legendären Ostberliner Künstlerkreises aus dem Prenzlauer Berg. Daneben ist er zum Broterwerb in der Industrie und andernorts tätig. Zwischenzeitlich erscheint mehrmals Lucretia und verschwindet wieder, dabei verwirrt sie dann nicht nur den „Ich“, sondern auch dessen Leben. In seiner Not, die flatterhafte Liebe aus den Kinder- und Jugendjahren nicht halten zu können, heiratet er eine ungeliebte Frau und zeugt widerwillig mit ihr mehrere Kinder.
Nach Mauerfall und Wende kommt es auch zu einer kurzzeitigen Ehe mit Lucretia und „Ich“ zeugt eine Tochter mit ihr, die er dann ziemlich alleine aufziehen wird. Es wird in diesem letzten Teil des Buches sehr viel gereist. Schweiz, Mallorca, Arizona, Kuba, Italien …, mal mit, mal ohne Lucretia, mal mit, mal ohne Tochter. Der zeitliche Bogen endet in der heutigen Zeit in Berlin.

Der Bachmann-Preisträger von 2010, der auch noch viele andere literarische Ehren erhalten hat, beschäftigt sich in diesem Band wieder ausschließlich mit dem Erzählen eines Lebens, das im DDR-Kinderheim begann und dann, beim „Schluckspecht“, alkoholisch aus dem Ruder läuft, beim „Liebestölpel“ emotional, die menschliche Nähe funktioniert nicht. Der verwendete Sprachstil ist recht individuell, der Handlungsablauf recht sprunghaft. Peter Wawerzinek wirft in seiner Geschichte einen idealisierenden Blick auf die DDR, aber weder im Sozialismus noch im Kapitalismus kann der Protagonist seine Probleme mit den Mitmenschen und gerade mit den Frauen lösen. Wer gerne über unglücklich Liebende liest und sich mit den sprachlichen und stilistischen Eigenheiten des Autors anfreunden kann, hat hier einen originellen Lesestoff.

Torsten Hübler

WAWERZINEK, Peter
Liebestölpel
304 S., geb., Galiani Berlin, 2019, ISBN 978-3-86971-152-2; 20,- Euro


Die Fische schlafen noch …

 Wie ich meinen Papa an den Alkohol verlor und ihn auf der Straße wiederfand – das ist der Untertitel des Buches.

Es ist eine wirkliche Geschichte, die Autor Norman Wolf uns da erzählt: Das sorglose Familienleben, er das geliebte Nesthäkchen, wird zum Alptraum, als der Vater seine Arbeit verliert und trotz vieler Aufhörversuche tief in die Alkoholabhängigkeit rutscht. Ständiger Streit, Wutausbrüche, Tränen, fast mittellos – die Mutter kann irgendwann nicht mehr. Die Kinder, die alles hautnah miterleben, auch nicht. Trennung. Der Vater geht aus dem Haus, als Norman 12 ist. Niemand weiß, wohin. Zum Geburtstag aber telefoniert er immer mit Norman. Bis auch das ausbleibt. Mit der Zeit glaubt der Sohn, sein Vater sei tot. Bis er eines Tages, zehn Jahre später, auf sein Facebook-Profil eine Nachricht erhält, von einem Unbekannten: Das Foto eines älteren, krank scheinenden Mannes, neben einem Bankautomaten auf dem Boden sitzend, neben sich eine Flasche Bier … dieser Mann suche seinen Sohn, stand dazu. Norman erkennt seinen Vater und nimmt Kontakt auf mit dem Absender. Der verspricht, den Kontakt zum Papa herzustellen, falls er ihn wiederfindet. Aber er meldet sich lange nicht. Und so beginnt das „Twitter-Märchen“, wie Zeitungen damals titeln. Denn Norman, Psychologiestudent und gerade als Au Pair in den USA, startet eine Suchmeldung über seinen Twitter-Account. Tausende helfen mit, seinen obdachlosen Vater zu finden. Es gelingt nach nervenaufreibender Suche. Denn mal schläft er in jenem Park auf einer Bank, mal in einer Bank. Mal ist er in einem Krankenhaus. Nach 12 Jahren endlich sehen sich die beiden dann zum ersten Mal wieder. Der Vater vom Leben auf der Straße und dem täglich Bier inzwischen stark gezeichnet, physisch und psychisch. Aber anscheinend „zufrieden“. „Ich habe meinen Papa wieder. Doch wie viel von ihm ist noch übrig?“, fragt sich der Autor damals nach dieser sehr liebevollen, freudigen Begegnung. Norman schmiedet Pläne, will helfen, eine Meldeadresse muss her, um Geld vom Jobcenter zu bekommen und dann vielleicht eine Wohnung … aber er muss zurück zu seinem Job nach Amerika. Und der Vater ist für die, die ihm vor Ort helfen wollen, oftmals einfach wieder verschwunden. Später, als Norman wieder endgültig daheim in Deutschland ist, will er es selbst wieder versuchen. Und wieder und wieder. So endet das Buch.

Das Ende des Twitter-Märchens ist also noch kein Happy-end …

Das Buch hielt mich in Atem. Ich MUSSTE immer wissen, wie es weitergeht, wie es ausgeht. Und oftmals blieben mir Fragen. Auch diese: Weshalb hat er seinen Vater nicht von der Straße sofort mit nach Hause genommen? Nun, er hatte selbst keines, weil er ja in Boston als Au Pair mit im Haushalt lebte. Aber weshalb war ihm der Job in Boston wichtiger als sein Vater auf der Straße? Dafür habe ich keine Antwort finden können. Verträge kann man doch kündigen?

Ja, es steht uns frei, Norman dafür zu bewerten, gar zu verurteilen, wie es auch Hunderte Twitter-Nutzer getan haben. Er wurde aufs Übelste beleidigt und schriftlich öffentlich gehasst. Des Fakes beschuldigt. Ihm wurde vorgeworfen, einem Menschen, der es vielleicht gar nicht will, Hilfe aufzudrängen. Ihn öffentlich zu machen. Er wurde bezichtigt, diese Suche als Werbemaßnahme für seinen sehr bekannten Twitteraccount benutzt zu haben: @deinTherapeut. Dort diskutiert er Mental-Health-Themen (Psychische Gesundheit) und wurde dafür sogar mit dem Preis „Goldener Blogger“ ausgezeichnet.

Was immer auch die Wahrheit sei: Es ist auch unsere freie Wahl, einen Menschen NICHT zu bewerten und zu verurteilen, finde ich. Denn wir kennen seine Umstände gar nicht. Ein uraltes Indianersprichwort besagt: Urteile nie über einen Menschen, solange du nicht 100 Meilen in seinen Mokassins gelaufen bist.
Und hundert Meilen sind schon mal ganz schön weit, oder J?

Wie auch immer Sie denken, liebe LeserInnen, für mich bleibt es eine das Herz anrührende Geschichte von einer liebevollen Vater-Kind-Beziehung, bis das Trinken beginnt. Samt Mitgefühl für den Alkoholiker-Vater, der auf der Straße landet – es hätte jedem von uns ebenso gehen können. Und eine in einfacher, unverschnörkelter Sprache aufgeschriebene Geschichte der Suche.

Als Nicht-Twitternutzerin (wohl aber facebook) wurde mir außerdem sehr stark bewusst, welche Macht die sozialen Medien heutzutage haben. Sie können jemanden verdammen in tausendfacher Ausfertigung oder aber auch ebenso tausendfach Gutes bewirken …

Anja Wilhelm

NORMAN WOLF
Die Fische schlafen noch
Wie ich meinen Papa an den Alkohol verlor und ihn auf der Straße wiederfand
224 Seiten, mvg Verlag
ISBN: 978-3-7474-0077-7, 14,99 €


Chianti zum Frühstück …,

… so der Titel. Oh. Schreck. Will ich das Buch wirklich lesen? Von wegen Trigger und so?

Aber der Untertitel versöhnt und lädt ein: „Eine Frau hört auf zu trinken und fängt an zu leben“.

Und was soll ich sagen: Ich fand das Buch von der ersten bis zur letzten Zeile … zum Knutschen! Jawohl!

Witzig, trotz des überhaupt nicht lustigen Themas. Leicht zu lesen, trotz des komplizierten Sachverhalts. Erfahrungsreich, denn die Autorin schreibt über sich selbst. Zum Miterleben. Ja, wir erleben mit, wie eine englische Mutter von drei noch minderjährigen Kindern erkennt, dass sie abhängig ist. Eines Tages beschließt sie, so geht es nicht mehr weiter … und hört auf.

Ganz allein. Ohne Suchtberatung, ohne Therapie, ohne Gruppe.
Bis dahin war mir gar nicht mehr bewusst, dass es ja auch ganz viele Menschen gibt, die gar nicht in der Alkoholkranken-Statistik erscheinen, eben weil sie allein aufhören zu trinken. Mal abgesehen von der Gefährlichkeit eines Entzugs allein Zuhause (bitte nicht nachmachen!) – Hut ab vor jenen, die es auch ohne Unterstützung schaffen. Viele von uns durch Therapien gegangene haben es vorher auch auf diese Weise versucht.

Im Laufe der Jahre trank Clare Pooley erst nur abends ihren Wein, nachdem die Kinder im Bett waren – um sich zu belohnen und zu entspannen. Irgendwann wurde es dann schon nachmittags, beim Kochen für die Kinder. Dann manchmal bereits mittags auf dem Spielplatz mit anderen Müttern das erste Sektchen des Tages. Mit allen Folgen, wir selbst so kennen: Streit, Geschrei, heftige Kater, Nervosität, Unausgeschlafensein, Gedächtnisverlust … bis hin zum Schwimmring am Bauch.
Sie macht sich also auf den Weg: „Ist es möglich, ohne Alkohol in einer Welt zu leben, in der man eher ein Glas Wein als eine Tasse Tee angeboten bekommt, wenn man sein Kind bei einem Freund vom Spielen abholt? … Gibt es ein Leben nach dem Wein? Ich nehme an, ich werde es herausfinden.“

Aber ganz allein ist sie dabei dennoch nicht. Sie beginnt, aufzuschreiben, wie es ihr geht, über das ganze erste Jahr hinweg. Tag für Tag. Und zwar in einem Blog: mummywasasecretdrinker.blogspot.com. (Mama war eine heimliche Trinkerin).  Und bei facebook unter „Sober Mummy“.  Der Zuspruch der Leserinnen, es werden immer mehr und mehr, denen es ähnlich geht und ging, gibt ihr Kraft. Denn sie wird lernen müssen – und beschreibt es wundervoll lebendig und selbstironisch – zum Beispiel ihre stetige Ängstlichkeit und ewige Sorge ohne Wein auszuhalten. Das Familienweihnachtsessen ohne die Entspannungsgläser vorher zu bewältigen. Tägliche Kinderprobleme  und Herausforderungen zu lösen ohne Alk im Kopf. Partys zu besuchen, ohne der „Weinhexe“, wie sie die Stimme nennt, nachzugeben. Dieses Stück-für-Stück-Lernen erleben wir hautnah mit.

Und auch ihre Brustkrebserkrankung … die Ängste und Sorgen vor der Biopsieauswertung, der OP und der Bestrahlung nicht zu ersäufen, wie geht das? Sie schafft es. Und erfährt dabei auch wiederholt, dass ohne Alkohol alle Herausforderungen besser zu meistern sind.
Ihr Erleben der Nüchternheit geht bis hin zu Erkenntnissen wie: Plötzlich kann sie das Zusammensein mit ihren Kindern intensiv genießen, ohne gestresst zu sein. Daheim geht es fröhlich und friedlich zu. Alles wird leichter. Alles wird schöner, bunter ohne die Weinhexe. Sie fühlt sich wieder lebendig. „… wie ein Schmetterling, der langsam aus seiner Verpuppung kriecht.“ Wird wieder schlank. Vergisst nicht mehr so viel. Beginnt Yoga. Wird viel gelassener.

Auf ihrem Blog gibt sie an Tag 255 einen Rat: „Ob Krebs oder Entzug: beides ist ein Sprung ins kalte Wasser. Man muss lernen, zumindest eine Weile lang Unsicherheit und Angst auszuhalten. Wenn man den Alkohol weglässt, begibt man sich auf eine emotionale Achterbahnfahrt, die einen wiederholt von der rosa Wolke zur Mauer hin und wieder zurück sausen lässt … Meine Strategie des Umgangs damit ist dieselbe …– ich hangle mich von einem Tag zum anderen. Ich bewege mich in kleinen Schritten voran und versuche, so lange nicht in die Zukunft zu blicken, bis ich weiß, dass ich mit der Perspektive umgehen kann.“

Ich merke gerade, mein Bericht wird diesem Buch überhaupt nicht gerecht. Kann er nicht. Deshalb höre ich hier auf, liebe Leser/innen. Lesen Sie mal selbst, dann wissen Sie, was ich meine …
Viel Freude dabei, die werden Sie haben.

Anja Wilhelm

 CLARE POOLEY
Chianti zum Frühstück
Eine Frau hört auf zu trinken und fängt an zu leben
375 S., Beltz Verlag
ISBN:978-3-407-86539-7
17,95 Euro


Die berauschte Gesellschaft
„Genuss und Missbrauch liegen nahe beieinander“

Der ehemalige Präsident der Europäischen Alkohol Forschungsgesellschaft und einer der renommiertesten Alkoholforscher Deutschlands hat ein allgemeinverständliches Buch über die deutsche Todesdroge Nr. 1 geschrieben, Alkohol. Hier bringen er und seine Mitautorin, die erfahrene Journalistin Ingrid Thoms-Hoffmann, die Lesenden nicht nur auf den aktuellen Stand der Wissenschaft. Es werden auch klare, von wissenschaftlichen Erkenntnissen abgeleitete Forderungen zur Änderung der Alkoholpolitik an die Politikbetreibenden postuliert.

 Schon im Vorwort räumt Professor Seitz mit der Mär auf, dass es eine ungefährlich zu konsumierende Menge Alkohol gibt, auch das Glas Rotwein am Tag zur Vorbeugung gegen den Herzkasper ist wissenschaftlich nicht haltbar und eher kontraproduktiv. Vielmehr steigt für den Menschen beim Gebrauch kleinster Mengen Alkohol unter anderem die Krebsgefahr, gerade bei Frauen die Brustkrebsgefahr. Daher ist jeder Gebrauch von Alkohol eine Risikoabwägung, die jeder und jede Einzelne für sich vornehmen muss. Ziel von Autorin und Autor ist die „Darstellung des Ist-Zustandes“ in punkto Alkohol.

Schon der Beginn steht unter der Überschrift „Die Upper Class säuft“, hier wenden sich die Journalistin und der Mediziner der Geschichte des Alkoholgebrauchs zu und zeigen, dass exzessiver Alkoholgebrauch über Jahrtausende in den oberen Schichten zelebriert wurde. Erst durch die Industrialisierung der Schnapsherstellung konnte hochprozentiger Alkohol den Massen preiswert angeboten werden. Aber auch noch heute ist der Alkoholkonsum im Oberschichtbereich höher, man kann es sich leisten. Die weiteren Kapitel verfolgen den Weg des Alkohols und seines viel giftigeren Abbauprodukts Acetaldehyd durch den Körper, die zerstörerische Wirkung auf Mund, Speiseröhre, Magen, Darm, Leber, der hier nicht abgebaute Alkohol bzw. seine Abbauprodukte schädigen dann Gehirn, Herz, Bauchspeicheldrüse, Muskulatur und Knochen, um nur einiges zu nennen. Auch den verheerenden Folgen des Alkoholgebrauchs in der Schwangerschaft widmen die Schreibenden ein Kapitel. Mit dem Kapitel „Seelentröster im Alter“ schließt sich der alkoholische Lebensbogen des Menschen.

Auf den folgenden Seiten werden Fallbeispiele von süchtig trinkenden Menschen dargestellt, die man so oder so ähnlich auch im eigenen Umfeld kennen kann. Auch Alkohol und Ernährung sowie die berühmten Trinker werden gestreift, um im letzten Drittel auf die Politik zu kommen, besser, auf den parteiübergreifenden Einfluss der Alkohollobby auf die Politikerinnen und Politiker. Die Macht der Alkohol-, Werbe- und Medienkonzerne, die prächtig an der süchtigen, nicht nur berauschten, Gesellschaft verdienen und weiter verdienen wollen. Die juristische Seite des Alkoholrauschs wird beleuchtet und die medizinhistorischen Aspekte geklärt, es gibt einen Alkoholiker-Selbsttest und die Behandlung der Alkoholkrankheit wird von der Beratung über den Entzug und Entwöhnung bis zur Nachsorge aufgelistet. Am Ende stehen überraschend die Adressen der großen Sucht-Selbsthilfe-Vereine, auf die im restlichen Text gar nicht eingegangen wurde.

 Leider ist der vorliegende Titel sehr unklar strukturiert, aber die verstreuten Informationen können für Lesende beim Umgang mit der Droge hilfreich sein. Sucht-Selbsthilfe findet bedauerlicherweise in der Darstellung der Suchtbehandlung keinerlei Erwähnung, also ein Großteil der Suchtbehandlung findet in diesem Titel nicht statt. Professor Seitz stellt Leserin und Leser schon im Vorwort vor ein Dilemma, denn einerseits zeigt er die Gräuel von über 200 alkoholbedingten Krankheiten auf und stellt fest: „Alle bisherigen Aussagen, die moderaten Alkoholkonsum als risikoarm bezeichnen und von einer Schwellendosis (wie niedrig sie auch sein mag) ausgehen, können so nicht unterschrieben werden.“ Andererseits klärt er im gleichen Vorwort aber auf: „Um nicht falsch verstanden zu werden, nein, eine Republik von Abstinenzlern, die wünsche ich mir nicht.“ Der Suchtforscher und die Journalistin kommen ab Seite 105 zu ihrem wahrscheinlich eigentlichen Ziel diese Buches: Die erneute Propagierung der schon lange von Wissenschaftlern, Ärzten und anderen Fachleuten geforderten Konsequenzen aus dem deutschen Alkoholdebakel: Werbeeinschränkungen, Steueranpassungen, Verfügbarkeitsbeschränkungen und Mindestalteranhebung für Alkohol. Daher ist es auch sehr gut geeignet für Politikerinnen und Politiker aller Parteien und aller Positionen im demokratischen System, die sich so schnell und fundiert von einem weltweit geschätzten Experten über die Seuche Alkohol informieren lassen wollen. Auch sind die Schritte zur Linderung des Problems genannt.

Torsten Hübler

SEITZ, HELMUT K. & THOMS-HOFFMANN, INGRID
Die berauschte Gesellschaft
Alkohol – geliebt, verharmlost, tödlich
176 S. Geb., Kösel, München, ISBN 978-3-466-37222-5; 19,- Euro


Der leise Ruf des Schmetterlings

Es ist sein erstes Buch.
Schauspieler Hardy Krüger jr. erzählt über Liebe und Tod, über Schicksalsschläge und das Wiederaufstehen, über Veränderung und Selbstfindung. Über Lebenssinnfragen, die sich jeder irgendwann mal stellt: Wer sind wir, wozu sind wir hier und was ist dieses Hier überhaupt und was liegt hinter diesem Ort, auch in uns selbst?

Die Meinungen der Lese-Kritiker – es finden sich nur wenige Rezensionen großer Verlage, seltsam – sind geteilt.
Die einen empfinden das Buch als eine „ungeschickte Aneinanderreihung von Lebensweisheiten“. Andere lieben es, weil sie sich wiederfinden mit ihren Sinnfragen und sich ermutigt fühlen zu eigener Veränderung.

Und ich selbst?
Ehrlich gesagt, es wurde meine geliebte Abendlektüre über ein paar Tage. Nicht etwa, weil ich dabei rasch und gut ins Schlafen kam … nein, ganz anders: Das Buch wollte in Frieden, in Stille gelesen werden, dann, wenn der Verstand schon entspannter ist und leise wird. Um alles an tiefen Weisheiten nicht nur mit dem ewig wertenden Kopf, sondern insgesamt wahrzunehmen. Mit allen Sinnen. Hardys Gedanken haben mich meist auf seltsame Weise zur Ruhe gebracht, friedvoll gestimmt und ins Lächeln geführt. „Dieses Leben hier ist nur eine kleine Strecke auf unserem langen Weg der Erkenntnis, dass wir alle aus einer und derselben Energie stammen und wieder alle zu derselben werden, wenn wir dieses Leben verlassen.“

Es ist nicht wirklich ein Roman. Eher erinnert es etwas an den Ewig-Bestseller „Das Café am Rande der Welt“. Es ist auch keine Autobiographie, aber es fließen Dinge aus Hardy Krüger jrs. Leben ein. Der plötzliche Kindstod seines Sohnes Paul-Luca zum Beispiel. Das Verhältnis der Hauptfigur David zum Vater erinnert mich an das, was man so las über das reale Verhältnis Hardy Krüger-Hardy Krüger jr. Und es klingt auch das Thema Alkoholmissbrauch an wie im echten Leben.

Worum geht es?
Hauptfigur David zieht nach Rom, um ein neues, anderes Leben zu beginnen: „Ein Mann auf dem Weg in sein zweites Leben. Eigentlich war es schon sein drittes, wenn man bedenkt, dass sein Herz nicht mehr schlagen wollte. Er war bereits auf dem Weg in die nächste Dimension. Oder sagen wir, eine andere Form des Daseins.“ (Ich persönlich frage mich da, ob das Fiktion ist, oder Hardy Krüger jr. tatsächlich einmal dem Tode nahe war?). David jedenfalls lernt, das Leben mit allen Sinnen wahrzunehmen, ohne zu bewerten, das pralle Leben in Rom, den Kaffeeduft der Nachbarin von gegenüber, den Duft einer Blume, den Klang eines Opernliedes in einer unterirdischen Grotte. Begegnet Menschen, die ihm in dieser Weise nahe sind, seinen Pfad der Veränderung und Bewusstwerdung ein Stück begleiten. Er verliebt sich in Blumenhändlerin Laura, besondere Energiefrequenzen verbinden sie. Er stellt fest, dass das Leben genau in diesem Moment, und nur im Hier und Jetzt, das wirkliche Leben ist – und ein Geschenk. Er lernt, auf sich selbst zu hören, seinen eigenen Weg zu finden, statt wie bisher sein Leben lang Erwartungen anderer zu erfüllen. Später versöhnt er sich sogar mit seinem Vater in Australien. Er erkennt: „… dass wir das Glück in uns suchen müssen, und nicht da draußen.“

Das Buch sei „… eine Mischung aus erlebten, erträumten und fiktiven Situationen. Wie ein Grimm-Märchen für Erwachsene“, sagte der Autor einmal in einem Interview.

Nur zu gerne würde ich persönlich jetzt auch gerne wissen, wie Hardy Krüger jr. auf all diese Lebenserkenntnisse gekommen ist, deren Kernaussagen mich oftmals an Weltweisheitslehrer erinnern wie Krishnamurti, Siddartha, Eckhart Tolle … zum Beispiel dies: „Das Leben zu genießen, ohne etwas von ihm zu fordern, glücklich zu sein, ohne etwas zu erwarten, und du selbst zu sein, ohne jemand anders sein zu wollen. ZU SEIN. So einfach das auch klingen mag, so ist es doch die größte Herausforderung in diesem Leben für uns alle.“

Und welche Rolle der Schmetterling im Titel spielt?

Er „entpuppt“ sich und lernt fliegen …

Anja Wilhelm

HARDY KRÜGER JR.
Der leise Ruf des Schmetterlings
281 S., Giger Verlag Schweiz, 2018
ISBN 978-3-906872-54-4
22,90 Euro


Ein Betroffener bietet Hilfe zur Selbsthilfe

„Null Alkohol, ein Leben lang, Null Risiko und Null Toleranz“

In seinem zweiten Buch zum Thema Alkoholsucht wendet sich Burkhard Thom den mitbetroffenen Angehörigen zu, daneben geht es auch um Rückfallvermeidung und einen Beitrag zur aktuellen Diskussion reale Selbsthilfegruppe oder facebook-Gruppe.

In seinem 2016 erschienen Titel „Alkohol – Die Gefahr lauert überall“ befasste sich der Autor noch mit seiner persönlichen Saufgeschichte, den alkoholischen Gefahren, die die Lebensmittelindustrie für den Abstinenzwilligen bereithält und dem kulinarisch guten Leben ohne Alkohol in Speis und Trank.

Zu Beginn seines zweiten Werkes stellt er seine persönliche Motivation, nicht nur anderen Alkoholikern zu helfen, sondern auch dieses Buch zu schreiben, dar. Er zeigt das Alkoholelend in Deutschland mit Millionen Alkoholkranken, tausenden Alkoholtoten und einer vielfach höheren Anzahl an betroffenen Menschen im Umfeld der Kranken. Schließlich fordert auch er, wie fast alle Suchtexperten in Deutschland: Alkoholsteuererhöhungen, Beschränkung der Alkoholverfügbarkeit, Änderung der StVO, mehr Jugendschutz, Beschränkung der Alkoholwerbung und mehr Aufklärung.

Beim ersten Thema des Ratgebers, der Rückfallvermeidung, nimmt er den potentiell ersten Irrtum eines Alkoholkranken aufs Korn: Das allenthalben verbreitete Märchen vom kontrollierten Trinken für Süchtige. Und stellt klar, dass nur Abstinenz zum Stillstand der Krankheit führt. Dieser Weg führt über die Entgiftung, Entwöhnung und eventuell Nachsorge gradlinig in die Selbsthilfegruppe. Viele Mediziner werden ihm zustimmen, aber die aktuelle S3-Leitlinie zur Behandlung Suchtkranker sieht schon in der Konsumreduktion einen Behandlungserfolg und nach dieser S3-Leitlinie wird in den Kliniken behandelt. Kommerziellen „Beratern“, deren Interessen weniger dem Wohlergehen der Klienten gelten, erteilt er mehrfach eine klare Absage. Der Auslöser für einen Rückfall können alkoholkontaminierte Speisen sein, hierüber schreibt Thom nicht nur ausführlich in seinem Buch, sondern in dieser Ausgabe der TrokkenPresse. Er beschreibt seinen Kampf, Alkohol verbindlich auf den Speisekarten der Gastronomie zu kennzeichnen.

Auch die nächste Hürde für ein abstinentes Leben wird benannt, Medikamente. Viele Medikamente enthalten Alkohol als Lösungs- und Konservierungsmittel. Der Verfasser beschreibt, dass er beim Aufwachen von einer Notoperation Entzugserscheinungen hatte, der behandelnde Arzt bestätigte ihm, dass alkoholische Medikamente verabreicht wurden. Wissenswert ist auch die Ausführung über „mehrwertige Alkohole“, die chemiesystematisch zwar Alkohole sind, aber auf den Menschen eine andere Wirkung haben und daher nicht jugend- und abstinenzgefährdend sind. Ein relativ neues und bisher übersehenes Problem benennt Thom. E-Zigaretten, sie beinhalten auch ein alkoholisches Risiko, da einige der Nikotin-Liquide Alkohol als Lösungs- und Stabilisierungsmittel enthalten, mit dem Erhitzen verdampfen und so in den Körper gelangen.

Es folgen zehn Grundregeln zum Vermeiden des Rückfalls, die lobende Vorstellung von www.suchthilfeapp.de sowie die Vorstellung dreier Mentaltechniken zur Unterstützung der Abstinenz. Zu Schluss des Kapitels stellt er das Lotsennetzwerk, über das die TrokkenPresse schon mehrfach berichtete, vor. Stabil trockene Süchtige helfen, lotsen gerade erst trocken werdende Süchtige nach der Entgiftung oder Entwöhnung wieder im normalen, aber dieses Mal trockenen Leben anzukommen und zu bleiben. Der Kern der Selbsthilfe.

Beim zweiten Thema des Buches weitet Thom den Blick von den Suchtkranken zu den meist vergessenen Kollateralbeschädigten des Suffs. Bedingt durch seine persönliche Unterstützungstätigkeit für Alkoholiker kommt Burkhard Thom natürlich auch mit den ersten Opfern der Alkoholkrankheit in Kontakt, den Kindern, Ehepartnerinnen und -partnern, Eltern und dem gesamten durch die Sucht beschädigten Umfeld. Die sogenannten „Co-Abhängigen“, im Buch werden sie meist treffender „Mitbetroffene“ genannt, sind im klassischen Suchthilfesystem nicht vorgesehen, im Zentrum steht der Süchtige, die Erkenntnis, dass Sucht eine Familienkrankheit ist und auch so behandelt werden muss, setzt sich erst langsam durch. Den Mitbetroffenen bleiben meist nur die Angehörigen-Selbsthilfegruppen, wie sie z.B. NACOA oder Al-Anon anbieten. In der professionellen Suchthilfe werden sie wenig berücksichtigt, da es keine Finanzierung von den Kranken- oder Rentenkassen gibt. In diesem Teil kommen ausführlich Mitbetroffene zu Wort, die Alkoholsucht eindrücklich aus der Perspektive der nichtsüchtigen, aber doch stark beeinträchtigten Mitbetroffenen schildern.

Im Schlusskapitel wird faktenreich abgewogen zwischen realer Selbsthilfegruppe oder Gruppe in den sozialen Netzwerken. Letzt und endlich muss das jeder für sich selbst entscheiden. Einen wichtigen Rat gibt er den Suchenden aber auf den Weg, im realen Leben und ebenso im Cyberspace sollte man sich mehrere Gruppen anschauen, denn es gibt nicht DIE Gruppe, die Art und Weise der Gruppen ist so unterschiedlich wie die Menschen, die die Gruppen ausmachen.

Thom hat wieder eine Mischung aus Ratgeber und (Mit-)Betroffenenbericht verfasst, der nicht nur einzelne Aspekte im Alkoholhochkonsumland Deutschland thematisiert, sondern Betroffene und Mitbetroffene thematisiert. Insofern ist dem Titel eine breite Leserschaft zu wünschen.

Torsten Hübler

P.S.: Vielleicht kann der Verlag bei den nächsten Auflagen den Versatz zwischen Vorder- und Rückseite von über einer Zeile technisch in den Griff kriegen.

BURKHARD THOM

Alkohol : Hilfeschrei

256 S., TB, AAVAA Verlag, Bremen; ISBN 978-3845927268, 12,90 Euro


Muss ich jetzt in die Gosse?

Zum Lachen oder wenigstens zum Grinsen beim Thema Alkoholkrankheit ist mir auch nach fast sieben Jahren Trockenheit noch nicht … Ihnen vielleicht?
Also war erst einmal Skepsis angesagt, wenn ein Satiriker, der TITANIC-Autor Simon Borowiak, ein Buch schreibt, das ALK heißt. Mit dem Untertitel „Fast ein medizinisches Sachbuch“, die jetzt aktualisierte Fassung des 2005 erschienen gleichnamigen Kult-Buches.

Also, was gibt’s nun bei dem Thema zu lachen?
Ich kann Entwarnung geben. Außer vielleicht eine bestimmte Art von Psychiatern und Mitpatienten und die Politik stichelt der Autor niemanden satirisch an. Im Gegenteil: Manchmal fast sogar liebevoll komisch beschreibt er vom Schwips bis in den Tod, was Alkohol in verschiedenen Organen anrichtet. Was beim Entzug genau passiert. Was Sucht überhaupt ist, ab wann man süchtig ist (nach seinem Boro-Schema, grins). Was Rückfall, Suchtdruck und Krankheitseinsicht – die er lieber Alk-Bewusstsein nennt – sind. Wo und wie man weshalb entgiftet und entwöhnen kann.
Das klingt für Sie, liebe Leser/innen, vielleicht ein bisschen nach „Gähn, weiß ich doch alles, alles schon durch“. Aber stop, die Details und die Komik machen es neu, finde ich. Abgesehen von seinen niedlichen Zeichnungen dazu ist mir persönlich zum Beispiel neu, was eigentlich ganz genau vor sich geht, wenn Alk in uns landet. Der Autor erklärt alles bildlich, einfach, verständlich und mit einem Augenzwinkern oft. Egal, ob die menschliche Biochemie, Biologie oder Seele, wenn Alk auf sie trifft. Kleine Kostprobe?
„Das Chefenzym in Sachen Alkohol heißt Alkoholdehydrogenase, kurz liebevoll ADH genannt …Die wackere ADH läutet also in der Leber die Zersetzung des Alkohols ein … Wird die ADH bei ihrer Arbeit jedoch überfordert und kommt mit dem Zerlegen nicht mehr nach, schreit der Betriebsrat der ADH laut: ,Mir packe des net allaan! Die vom MEOS müsse jetzt mit Üwwästunde ran!‘“
Und so geht es weiter, mit Bauspeicheldrüsenentzündung bis Leberzirrhose, Trinkerbein und Hirnzirrhose, alles genauestens erklärt.
Ich wusste das nicht so genau. Und vieles mehr auch nicht, zum Beispiel, wie ein Trockenrausch entsteht und wieso man danach sogar einen Kater haben kann.
Da der Autor selbst betroffen ist und seit vielen Jahren mit Entgiftungen, Entwöhnungen, trockenen Phasen und Rückfällen zu kämpfen hatte, sind seine Erfahrungen, die er auch beschreibt, damit nicht nur real, sondern auch besonders hilfreich. Er hatte sein Buch von 2005 jetzt aktualisiert, weil sich Therapien und Suchtpolitik geändert hatten. Unter anderem kamen Medikamente auf den Markt, z.B. Baclofen. Er selbst schwört auf Antabus. Weshalb? Lesen Sie selbst …
Aber es soll nicht nur ein Buch für die Alkoholkranken selbst sein. Auch für die, die ahnen, dass sie zu viel trinken. „Bin ich schon Alkoholiker? Und wenn ja, muss ich jetzt in die Gosse?“
Im Vorwort hießt es: „Ein Buch für alle, die schon mal einen heben. Und für alle, die schon einen zu viel gehoben haben.“
Und für (noch) Unabhängige, die mehr wissen wollen über abhängige Partner oder Freunde, füge ich hiermit hinzu. Schon immer hatte ich ergebnislos versucht, meinem Liebsten zu erklären, wieso ich nicht einfach so n i c h t s trinken konnte, wie er immer wieder entnervt vorschlug, oder was Suchtdruck ist. Eine Stelle, direkt für Nichtsüchtige geschrieben, las ich ihm vor, da hat dann bei ihm doch leise ein Aha geklickt: „Also los, verbieten Sie sich spaßeshalber für ein Jahr Ihre Lieblingsspeise! Das müsste doch zu schaffen sein! Und jetzt erhöhen wir den Thrill: Wenn Sie auf Kuchen stehen – besuchen Sie täglich eine Konditorei … Fleischfresser – ab ins Steakhaus! Und kommen Sie unverrichteter Dinge wieder raus!“ Auch da muss ich tatsächlich nicht nur schief grinsen, sondern echt schmunzeln.
Und um auf den Anfang zurückzukommen: Meine Skepsis stellte sich als unbegründet heraus. Borowiak nimmt nicht die Krankheit oder den Alkoholiker „aufs Korn“ (die deutsche Trinkkultur- und politik aber doch), und auch nicht fröhlich „auf die Schippe“.
Es ist eher dies: Humor ist, wenn man trotzdem lacht …

Anja Wilhelm

SIMON BOROWIAK
ALK, Fast ein medizinisches Sachbuch
250 S., TB, Penguin Verlag
ISBN: 978-3-328-10385-1
12, 00 Euro


Herr Sonneborn geht nach Brüssel: Don Quijote trifft Manneken Pis

Der ehemalige Chefredakteur und Buchautor Marin Sonneborn schaffte es bei der Europawahl 2014 mit seiner Partei DIE PARTEI, mit 184.709 (0,6%) Wählerstimmen in das Europaparlament gewählt zu werden. Über seine ersten fünf Jahre legt er nun Rechenschaft ab.

 Die 2004 gegründete PARTEI wird allgemein auch als „Spaßpartei“ tituliert, bekam bei der Europawahl überraschend einen Sitz im Europaparlament. Diesen einen Sitz wollten die Parteimitglieder über die fünf Jahre währende Wahlperiode mit monatlich wechselnden Abgeordneten besetzen, um 60 Menschen die Vorteile eines Europaparlamentariers spüren zu lassen. Dies ging aus rechtlichen Gründen nicht. Der Parteivorsitzende Sonneborn amtierte die gesamten fünf Jahre. Das erste gebrochene Wahlversprechen der jungen Partei. Sonneborn hat nun mit dem Auslaufen der Wahlperiode ein Buch vorgestellt, das sein politisch recht wirkungsloses Tun im Brüsseler Parlament dokumentieren soll.
Bei einem Satiriker unvermeidlich, es wird lustig, zumal Sonneborn zu den besseren Satirikern zählt. Damit das Ganze nicht zu einer Witzesammlung verkommt, berichtet der Europa-Abgeordnete auch über die ernsten Realitäten in Brüssel, Straßburg und im deutschen Politikbetrieb. Hierzu zitiert er aus „seriösen“ Medien und offiziellen Dokumenten, um klarzumachen, dass die Vorgänge, die er berichtet, selbst erlebt und real sind, keine Satire.
Bei einem Jahreseinkommen von rund 160.000 Euro plus sehr, sehr vieler weiterer Vergünstigungen lässt sich gut Satire machen. Der Parlamentarier zeigt gnadenlos die Schwächen des Systems EU auf, ohne dabei europafeindlich zu argumentieren. Als Leser erhält man den Eindruck, dass in der Vergangenheit bei der Konstruktion und Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft einiges falsch gelaufen ist und korrigiert werden sollte. Der Autor zeigt exemplarisch an einzelnen Abgeordneten, wie Wirtschaftsverbände und Lobbyisten ihre Interessen stark, manchmal auch korruptiv befördern. Er weist auf das Defizit der demokratischen Legitimierung der EU hin und zeigt die Machtlosigkeit der einzelnen Europaabgeordneten im jetzigen überbordenden System.
Auch erhält man den Eindruck, in der professionellen Politik wird sehr viel gesoffen, Sonneborn ist keine Ausnahme. Obwohl er alles andere hinterfragt und infrage stellt, seinen stark überhöhten Alkoholkonsum kommentiert er kindlich unkritisch. Man kann nur hoffen, dass der Volksvertreter seine Zeit in Brüssel schadlos überstanden hat und nicht, wie so Viele, alkoholkrank wurde.
Wer während dieser mehr als 400 vergnüglichen Seiten ins Wundern und Staunen, vielleicht auch in Wut gerät, sollte sich den alten Satz „Humor ist, wenn man trotzdem lacht“ von Otto Julius Bierbaum (Schriftsteller, 1865 – 1910) ins Gedächtnis rufen. Was bleibt einem außer Lachen übrig …?

Torsten Hübler

Sonneborn, Martin
Herr Sonneborn geht nach Brüssel
Abenteuer im Europaparlament
427 S. Klappenbr., kiepenheuer & Witsch, Köln, ISBN 978-3-462-05261-9; 18,- Euro


Nach dem Streicheln: Hände waschen!

Der Tierpathologe Prof. Dr. Achim Gruber berichtet in seinem Buch „Das Kuscheltier Drama“ über seine Tätigkeit bei der Vermeidung von Seuchen oder bei der Hilfe für gequälte Tiere, aber auch über menschliche Abgründe im Allgemeinen. Dr. Gruber obduzierte auch Eisbär und Medienstar Knut aus dem Berliner Zoo, der 2011 an Gehirnentzündung starb. Das Vorwort schrieb der Berliner Humanpathologe und Buchautor Prof. Dr. Tsokos, der Knuts 2008 an einem Herzinfarkt verstorbenen Pfleger Thomas Dörflein obduzierte. Also sehr viel Fachverstand zwischen zwei Buchdeckeln.

 Für Tierbesitzer und die, die es werden wollen, aber auch für Tierliebhaber generell ist dieser flüssig geschriebene Titel sehr lesenswert. Ein Praktiker erzählt anhand von konkreten Fällen über Gefahren, die von Tieren ausgehen können, aber auch von Gefahren für das Tier, die vom Menschen oder anderen Tieren ausgehen können.

Tierpathologe zu werden ist nicht einfach, nach einem Studium der Veterinärmedizin schließt sich noch eine lange Ausbildung zur Spezialisierung als Tierpathologe an. Diese Spezialdisziplin klärt nicht nur Todesfälle bei Tieren auf. Ziel ist es, die Gesundheitsgefährdungen durch Tiere für andere Tiere oder Menschen zu verhindern, egal ob Goldfisch oder Elefant. Ein anderes Ziel ist die Beweissicherung für kriminaljuristische Tatbestände (… waren zuerst die Katzen tot oder könnten sie die Leiche angefressen haben, wie starben dann die Katzen?) und zivilrechtliche Ansprüche (… war das Tier vor dem Kauf schon krank …?).

Auch dem lebenden Tier kann der Tiermediziner mit seinem Labor und Mikroskop zur Seite stehen, z.B. wenn der Mensch es zu gut meint, der Hund dann Schaden nimmt, aber, nach Untersuchung von Proben im Labor, der Mensch zum Wohle des Tiers sein eigenes Verhalten ändert.

Der Professor gibt am Anfang des Buches allen Leserinnen und Lesern den Rat seiner Großmutter weiter: sich nach Kontakten mit Tieren unbedingt die Hände zu waschen und steigt zusammen mit dem Leser hinab in das Grauen der Fuchsbandwürmer und Herzwürmer und anderer für den Menschen tödliche Parasiten, die gar nicht mal so selten vorkommen und gerne auf den Händen der Streichelnden reisen, die befallene Person wird von innen aufgefressen, bis die Organe versagen. Einige Illustrationen stellen das farbig dar. Viren und Bakterien gibt es aber auch noch, mit verheerenden Wirkungen auf Mensch und Tier! Sogar neue, unbekannte Erreger einer für Brieftauben tödlichen Krankheit wurden von einem Mitarbeiter Doktor Grubers mitten in Berlin entdeckt. Ein weiterer Aspekt des Buches sind die verschiedenen Formen der Qualzucht, was Menschen wehrlosen Tieren antuen, damit sie ein bestimmtes Aussehen oder Verhalten an den Tag legen, für die Lesenden keine leichte Kost. Aber widerliche Realität im Alltag der Amtstierärzte und Tierpathologen.

Auch aus der jüngsten Geschichte berichtet der Veterinär mir Unbekanntes, oder wusste Sie, dass zwischen 1904 und 1924 in München, Chemnitz und Breslau rund 42.000 Hunde geschlachtet und verzehrt wurden? Erst 1986 wurde die Hundeschlachtung zur Fleischgewinnung gesetzlich verboten.

Der Autor beschränkt sich im Kaleidoskop der Tierwelt im Wesentlichen auf Haustiere und lässt Zoo- , Zirkus- und Nutztiere außen vor, sie finden nur am Rande Erwähnung, es wäre wahrscheinlich zu umfangreich, auch bei diesen Tiergruppen die pathologischen Befunde für den Leser aufzubereiten.

Interessierte Leserinnen und Leser finden in den gut 300 Seiten mit Leseempfehlungen und Register viel Erstaunliches, Wissenswertes, aber auch Abstoßendes.

Torsten Hübler

GRUBER; Achim
Das Kuscheltier Drama
Ein Tierpathologe über das stille Leiden der Haustiere
312 S., mit einem Vorw. Von Dr. Michael Tsokos 12 farb. Illustr., Geb., Droemer, München, ISBN 978-3-426-27781-2; 19,99 Euro


Die Klarheit

Jawohl, mit diesem Buchtitel ist ein klarer Kopf gemeint …aber das ist lange, lange noch nicht alles.

Vorab: Mich machen diese über 600 Seiten inclusive 60 (!) Seiten Quellenangaben sehr andächtig: Soweit ich das beurteilen darf, ist dieses Werk hohe Kunst, Literaturkunst. Kein Satz, an dem man einfach mal vorbeihuscht, kein Wort, das nicht seinen Sinn an genau diesem Platze hat. „Erhabene Sprache …“, so bezeichnete es eine Rezension in der „Zeit“. Wobei ich da trotz meiner fast sprachlosen Andächtigkeit ein persönliches Kritikchen anbringen möchte, aber dazu erst am Ende.

Zum Inhalt: Autorin Leslie Jamison ist tatsächlich studierte Literatin aus den USA, 35 Jahre jung, und bereits seit acht Jahren trocken. Ja, sie hat früh angefangen. Alkohol gab ihr, die stetig an sich zweifelte, sich kritisierte, sich als nie genug empfand, die immer nach Anerkennung durch andere suchte, eine „strahlende Version meiner selbst“. Alkohol schaltete ihren sonst immerwährenden inneren Monolog aus.

Sie beschreibt ihren Krankheitsverlauf durch all ihre beruflichen und partnerschaftlichen Lebensstationen. Beginnend vom Anhimmeln schriftstellerischer, trinkender Vorbilder wie William Faulkner, Raymond Carver, Ernest Hemingway, Jack London – hier in dieser Künstlerkneipe saßen sie also, tranken und schrieben …

Mehrere Inhaltslinien durchziehen dieses Buch, verweben sich, ergänzen sich. Zum einen ihre eigene Biographie, ihre Genesung dank und mit dem Zwölf-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker (wobei viele persönliche noch unbekannte Dinge über den Gründer Ben Wilson zu lesen sind) und Ergebnisse aus ihren Archiv-Studien zu ihrer Doktorarbeit. Sie will herausfinden, ob ein Schriftsteller tatsächlich emotionales Leid und das Gegenmittel Mittel Alkohol braucht, um wirklich kreativ zu sein.

Ihre Erzählungen über die AA – aus Meetings und von den Leben der anderen – reichen von ihrem früheren Widerstand einer sprachbegabten Intellektuellen gegen klischeehafte Glaubenssätze bis hin zur Erkenntnis der Heilsamkeit durch letztendlich einfache Hingabe. Bewusst will ihr Buch auch ein wenig an ein AA-Meeting erinnern: Wir hören einander unseren Geschichten zu. Deine könnte die meine sein. Meine ist die Deine. Wir sind nicht allein …

Eingebettet in ihre eigene Geschichte der Sucht und Selbsterkenntnis noch erschütternde Themen wie die einstige Strafverfolgung Drogensüchtiger in den USA, Strafe statt Heilung – und aktuelle Erkenntnisse zur Sucht als Krankheit.

Verzeihung, liebe Leserinnen und Leser, aber ich finde es hier an dieser Stelle so langsam schier unmöglich, auch nur ansatzweise anzudeuten, mit welchen Gedanken jede Seite prall gefüllt ist. Lesen Sie am besten selbst. Und nehmen Sie sich Zeit für jeden einzelnen Satz.  Einer zum Beispiel geht mir nicht mehr aus dem Kopf, er trifft das Wesen der Abhängigkeit mit nur wenigen Worten: „Wir tun etwas in uns hinein, um zu verändern, was wir fühlen.“ Wenn wir dies erkennen und anerkennen, könnten wir vielleicht lernen, zu fühlen, was wir nicht fühlen wollen, ohne es verändern zu wollen. Leslie Jamison macht es uns mit vielen beindruckend beschriebenen eigenen Beispielen vor. Und lässt dabei nicht aus, wie verdammt schwer es ist, gerade in den ersten Monaten …

Zu meiner kleinen Kritik, wie oben erwähnt: Mitunter liest sich so mancher Satz für mich wie künstlich erschaffen, genau abgezirkelt. Kühl, mit dem Verstand erdacht, nicht wie aus dem Leben selbst heraus geboren, aus der Seele, dem Universum oder was immer es braucht. Manche, viele Sätze „fassen mich nicht an“. Mir fehlt etwas Wärme, die sich aus einem Satz ergießen könnte, auch wenn er aus nur drei einfachen Worten bestünde.

Ach, übrigens: Nicht nur Leslies Jamisons Recherchen für die Doktorarbeit ergaben, dass Schriftsteller wie zum Beispiel Stephen Kind oder Raymond Carver später auch nüchtern kreativ sein konnten – oder erst recht. Nein, sie selbst ist wohl auch das beste Beispiel dafür, finde ich …

Anja Wilhelm

 JAMISON, LESLIE
Die Klarheit
Alkohol, Rausch und die Geschichten der Genesung
638 Seiten, Hanser Berlin, fester Einband
ISBN 978-3-446-25856-3, 28,00 Euro


Vom unerwarteten VERGNÜGEN, NÜCHTERN zu sein

So der Buchtitel einer britischen Star-Journalistin.
Nun ja, also wieder jemand, der mit der neuen Sober-Bewegung mal ausprobiert, wie es sich so lebt ohne Alkohol – ohne tatsächlich alkoholkrank zu sein?

Das stellte ich mir darunter zumindest so vor – vor der ersten Seite!
Aber heute bin ich fast verliebt in dieses Buch. Und zwar so sehr, dass ich es gern an alle alkoholkranken Menschen verschenken würde.

Und nun zum Weshalb des Sinneswandels …

Die Autorin selbst, Catherine Gray, ist schwere Alkoholikerin. Wacht in Ausnüchterungszellen auf, in fremden Betten, muss sich häufig krank melden im Job. Sie beschreibt ihr Trinkerin-Dasein detailliert und lebendig, eigene Erinnerungen kommen hoch dabei. Ja, so war das damals. Auch ihre gescheiterten Versuche des maßvollen Trinkens oder die Rückfälle wird so mancher Leser, manche Leserin wiedererkennen.

Ja, werden Sie vielleicht jetzt denken: Darüber gibt’s doch schon viele Bücher …

Da stimme ich zu. ABER: Dieses eine geht weit, weit darüber hinaus. Es stellt nämlich die neu entdeckte Freude am Nüchternsein, an jedem Tag mehr und mehr, in den Vordergrund. Und den Weg dorthin. Die ersten 30 Tage beschreibt sie als sehr hart. Dazu gibt sie aber auch gleich 30 Hilfsmittel weiter, mit denen sie diese Zeit überstand. Zum Beispiel: lange Bäder nehmen, sich die Augen ausweinen, Vitamin B essen, sich Rituale schaffen, Hausputz veranstalten, einen alkoholfreien Zufluchtsort schaffen, die Suchtstimme erkennen und vor allem: Gleichgesinnte suchen, Stammesmitglied werden, nennt sie es: „Anderen unser Verlangen nach Alkohol einzugestehen nimmt diesem Gedanken die Macht, die er über uns hat.“

Das Beste am Entzug ist, dass du wieder etwas fühlst. Und das schlimmste am Entzug ist, dass du wieder etwas fühlst, sagt sie. „Doch der anfängliche Horror lässt nach, das verspreche ich Ihnen …“

Sie nimmt uns mit auf ihre vorerst stolperige Reise in das sie noch ängstigende nüchterne Leben. Wie sie sich selbst, ihre Gefühle, andere Menschen und die Umwelt so entdeckt, wie sie wirklich sind – und lernt, damit umzugehen ohne betäubende Hilfsmittel, schildert sie genauestens. Und zwar „Tapfer, witzig und brillant …“, wie die Zeitschrift Marie Claire urteilte. Ganz meine Meinung, es fällt schwer, das Buch aus der Hand zu legen. Gleichzeitig möchte man es dehnen, die Zeit mit ihm verlängern.

Das liegt auch an den vielen hilfreichen Tipps. Zum Beispiel, wie man mit ewig kreisenden Gedanken umgehen könnte. Wussten Sie schon, dass dagegen schon hilft, nur durch eine Tür zu gehen? Weil dadurch eine Gedankenlücke entsteht. Sehen Sie, und mit solchen Dingen ist das ganze Buch gespickt. Nüchtern tanzen? Nüchtern daten? Nüchtern Sex haben? Nichts lässt sie aus, worin ein Trockener Probleme sehen könnte.

Was noch besonders auffällt, ist die wohltuende Toleranz, die sich durchs ganze Buch zieht. Es gibt keinen Königsweg, meint sie, und belegt auch dies mit Fakten aus groß angelegten Metastudien. Und wenn jemand am besten trocken bleiben könne, indem er sich blau anmalt wie ein Schlumpf … dann schenken Sie ihm einen Topf blaue Farbe, rät sie augenzwinkernd.

Ach, es gäbe noch viel mehr zu berichten über dieses Buch … aber lesen Sie selbst. Es wird Sie herzzerreißend und vergnüglich ermutigen können, die Freude am nüchternen Leben selbst zu entdecken.

Anja Wilhelm

CATHERINE GRAY

Vom unerwarteten Vergnügen, nüchtern zu sein
Frei und glücklich – ein Leben ohne Alkohol
405 Seiten,TB,  mvg Verlag München
ISBN 978-3-86882-958-7
16,99 Euro


Wie sieht der Rausch der Zukunft aus?

KRISTALL

Alexander Wendt, Journalist, der unter anderem für die Wirtschaftswoche, den Focus und den Stern schrieb, mit Schwerpunkt Energiewirtschaft und Strommarkt, setzt sich in seinem neuesten Titel mit den aktuellen und zukünftigen Drogen auseinander. Nicht nur mit Cannabis, dem kommenden Boom-Markt für Großkonzerne und Alkohol, dem Boom-Markt bestehender Großkonzerne.

Der unscheinbare Titel „Kristall“, nicht „Crystal“ und das zurückhaltend gestaltete Cover weisen schon auf einen eher sachlichen als plakativen Umgang mit dem Thema hin. Wendt stellt seinem Erlebnisbericht eine klare Ansage voran: „Jeder Drogenkonsum beruht auf einem Gegengeschäft. Wer sich darauf einlässt, der bietet eine selbstverständliche Funktion seines Körpers – vorausgesetzt, alles dort befindet sich in gutem Zustand ‑, um eine außergewöhnliche Fähigkeit einzutauschen.“ Er weist darauf hin, dass man bei diesem Handel, Rausch gegen Gesundheit, verlieren kann und dass dieses Geschäft nie wieder rückabgewickelt werden kann.

Nach dieser klaren Definition begibt sich der Autor auf eine Reise durch die Zeit und die Kontinente, um die Geschichte der Rauschmittel zu erkunden, hierbei behauptet er, „Drogen fliegen dem Menschen seit tausenden Jahren in den Mund wie gebratene Tauben …“. Wendt erzählt vom Rausch der Inuit am Nordpol, den Drogen der Tataren in der Steppe Asiens und anderen Völkern und Riten. Er kommt zu dem Schluss, dass der Mensch ein Grundbedürfnis zur Änderung seines Geisteszustandes hat. Er geht weiter in der Evolution zurück und zeigt, dass die aus Afrika in die Karibik eingeschleppte südliche Grünmeerkatze, sich dort an vergorenem Zuckerrohr berauscht, in Afrika, dem Herkunftskontinent, gibt es kein Zuckerrohr und keinen Rausch.

Er schlägt den Bogen von den natürlichen Rauschgiften wie Pilzen, Cannabis, Kath zu den halbsynthetisch hergestellten Giften wie Heroin und Kokain zu den vollsynthetischen, Pervitin, Crystal, NPS. Unterbrochen werden seine Ausführungen durch Schilderungen von Treffen mit Beteiligten, einem z.Zt. cleanen Crystal-Süchtigen in einer Entwöhnungseinrichtung in Sachsen oder dem Chef der portugiesischen Drogenbehörde, einem Dealer vom Görlitzer Park oder beim Zuschauen auf der Toilette beim Drogengebrauch. Abgerundet wird der flüssig geschriebene Text durch die Darstellung vieler bekannter und unbekannter Fakten.

Die Alkohol-Prohibition in den USA 1919 bis 1933 ist für den Verfasser ein großes Thema, an dem er bedingt schlüssig zeigen will, dass Rauschgiftverbote zum Scheitern verurteilt sind, er stellt dem die Drogenpolitik Portugals entgegen, die eine völlige Freigabe des privaten Rauschgiftgebrauchs für portugiesische Staatsbürger vorsieht. Eine ausführliche Würdigung des LSD, Geschichte, Wirkung und gesellschaftliche Auswirkungen findet sich in der Reisebeschreibung durch die Drogen des 21. Jahrhundert.

Das eigentlich Neue an diesem Titel war für mich die Schilderung über „Micro-Doser“ und „Biohacker“, vorwiegend in den USA. Die „Micro-Doser“ experimentieren mit kleinen Dosen von Ecstasy, LSD oder Psilocybin, ungefähr einem Zehntel der üblichen Rauschdosis. Sie wollen keinen Rausch, sondern meinen, ihre Leistungsfähigkeit damit zu erhöhen und so in der Arbeitswelt besser bestehen zu können. Über die Selbstvergiftung für den Arbeitsplatz hinaus gehen „Biohacker“, die ihren Körper durch Ein- oder Anbau von Hardware optimieren wollen, indem sie Sensoren oder Schnittstellen in ihren Körper implantieren. Wendt beschreibt eine „Biohacker“-Party, bei der sich Menschen Gegenstände von Nicht-Medizinern unter sehr ungünstigen hygienischen Bedingungen in den Körper praktizieren lassen …

Ein nicht nur informatives und gut lesbares Buch, wobei man nicht den Meinungen des Autors folgen muss, es kann auch einen Fingerzeig für die zu erwartenden Herausforderungen für die Gesellschaft geben, wenn der rauschgiftenthemmte und optimierte Mechano-Mensch auf den nüchternen Teil der Natur-Menschheit trifft.

Torsten Hübler

WENDT, ALEXANDER
Kristall
Eine Reise in die Drogenwelt des 21. Jahrhunderts
243 S., Pb., Tropen, Köln; ISBN 978- 3-608-50353-1, 17,95 Euro


Wackeljahre

 Jenny Elvers gäbe es seit 2012 nicht mehr … wäre sie nicht damals in den Entzug gegangen. Damals, kurz nach ihrer betrunkenen Lall-Vorstellung bei DAS! im NDR. Zwei Monate hatte ihr ein Arzt höchstens noch gegeben, wenn sie so weitermache wie bisher. Und auch während der ersten Tage ihres Entzugs in der Betty Ford Klinik war ihr Körper kurz davor, völlig zu versagen. Ohnmachten, Krampfanfälle, „Hölle“, nennt sie es heute.

Seit diesen sechs Wochen in der Klinik, „Wochen des Lernens“, sagt sie, lebt Jenny Elvers trocken.

Wie sich das Gift Alkohol so in ihr Leben schleichen konnte, dass sie davon abhängig wurde, schildert sie detailliert in den letzten Kapiteln ihres autobiographischen Buches „Wackeljahre“, Mein Leben zwischen Glamour und Absturz. Detailliert bedeutet: Von Zittern, Stürzen bis Trockenkotzen … alles dabei. Ebenso ihr Beginn: Die ersten Gläser am Abend, dann bereits am Mittag bis hin zum morgendlichen Prosecco gegen die Entzugserscheinungen. Ihre Scham über sich selbst, ihre Schuldgefühle, ihre Angst.

Jeder alkoholkranke Mensch kann das genau nachvollziehen. Aber eben auch der nicht alkoholkranke Leser. Denn sie beschreibt ihr Erleben klar, anschaulich und vor allem schonungslos ehrlich.

Vielleicht war auch das ein Ansinnen des Buches: Ein für allemal allen kursierenden Gerüchten zu begegnen und ihre Krankheit klarzustellen und zu erklären. Und vor allem auch: dazu zu stehen.

Es sei kein Sucht-Buch, sagte sie in einem Interview, aber sie wolle erzählen, wie man dahin kommt.

Das Buch beginnt also schon viel früher. In ihrem wohligen Heimatdorf Amelingen in der Lüneburger Heide. Als „Püppi“ von Mama und Papa innig geliebt. Immer und überall als aufgeschlossen, freundlich und unkompliziert bekannt. „Dann sind alle zufrieden“, erlebt sie. Dieses Muster brennt sich ein. Eigentlich will sie Physiotherapeutin werden, insgeheim Schauspielerin, aber das erscheint ihr vorerst wie ein unerfüllbarerer Traum. Seitdem sie aber zur „Heidekönigin“ gekürt wird, verändert sich alles: Modeljob in Japan, erste Auftritte im Rampenlicht, Moderationen im TV, Partys… sie liebt den Glamour, will mehr, will auf Titelblätter. Als Bestätigung, dass „…ich hübsch war, dass ich ,jemand‘ war, und pushte damit mein von Natur aus eher mittelmäßig ausgeprägtes Selbstwertgefühl.“ Später reflektiert sie: „Ich reduzierte mich schließlich selbst auf das, was die Boulevardpresse in mir sehen wollte: Die freche, sexy Blondine. Immer lustig. Immer nett …“ Irgendwann aber, nach Schauspielschule und ernsthaften Rollen in TV und Kino (z.B. „Nikola“, „Frauenherzen“, „Otto-Die Serie“, gefeierte Theaterrollen) ändert sich ihr Ruf langsam mit.

Ja, auch über ihre Partnerschaften schreibt sie etwas.  Sie sucht nach der großen, einzigen Liebe des Lebens , zum Beispiel auch in Heiner Lauterbach. Um weitere Partnerschaften geht es andeutungsweise ebenfalls.

Von der unerfahrenen Heideblüte zur ernsthaften Schauspielerin geworden, pendelt sie zwischen Drehorten, Städten und dem Zuhause mit Sohn Paul hin und her. Sie leidet irgendwann unter der Angst, nicht perfekt zu sein, bis hin zur nächtlichen Panik. Schlafstörungen. Tabletten helfen zuerst. Später nur noch mit Wein im Doppelpack. Mit immer mehr davon. Ihr Absturz nimmt seinen Lauf.

Ihr besagter TV-Auftritt bei DAS!, sagt sie heute, wäre ihre Erlösung gewesen. Und dass sie in der Therapie erkannte: „ … dass ich zwar viel Liebe in mir trage … aber für mich nichts übrig gelassen hatte. Was nicht passte, wurde passend betäubt …“ Sie lernt, auch einmal Nein zu sagen und zu reflektieren, was sie selbst möchte. Und auch, nicht mehr das immer nette, freundliche Mädel sein zu müssen, nur weil andere das so von ihr erwarten … So jedenfalls habe ich das verstanden.

Jenny Elvers gibt sich in ihrem Buch glaubhaft preis, so wie sie wirklich ist.
Nie weinerlich, nicht als Opfer von Umständen. Eher sachlich berichtend, manchmal heiter, manchmal komisch gar.
Und immer nach vorne schauend …

Anja Wilhelm

JENNY ELVERS
Wackeljahre
176 Seiten, Softcover, mvg Verlag,
September 2018
ISBN: 978-3-86882-667-8


Bestsellerautorin De Vigan befasst sich mit

Loyalitäten

In Paris leben die beiden dreizehnjährigen Freunde Théo und Mathis. Beider Eltern Ehen sind zerrüttet. Théos Eltern sind geschieden und Théo lebt eine Woche bei der Mutter, die andere beim Vater. Matthis Eltern haben sich auseinandergelebt, der Vater ist nach Feierabend heimlich als Hassblogger im Internet unterwegs, die Mutter ist unzufrieden mit ihrem Leben als Hausfrau. Die beiden Schüler, insbesondere Théo, werden von einer Lehrerin, Hélène beobachtet, die eine gewalttätige Kindheit erlebt hat und daher meint, bei Théo vermutliche Anzeichen familiärer Probleme zu erkennen. Das ist der Rahmen des Romans.

Erzählt wird die Handlung kapitelweise wechselnd aus der Sicht der Teilnehmenden. Die Dauer der Vorkommnisse ist ein nicht genauer definierter, beschränkter Zeitraum. Entlang Théos wird eine Geschichte erzählt. Die beiden Jungs haben ein Versteck in der Schule gefunden, in dem sie heimlich Schnaps trinken können, vorwiegend finanziert aus Kleingelddiebstählen, die Mathis bei seiner Mutter durchführt. Théos Eltern merken vom sich ausweitenden Alkoholgebrauch ihres Jüngsten nichts, Théos alleinstehender Vater ist nach langer Arbeitslosigkeit depressiv in der Medikamentenabhängigkeit gelandet, die auch alleinstehende Mutter versinkt in ihrem Hass auf den Ex-Mann. Théo will mit dem Alkohol sein Hirn in den ultimativen Rausch versetzen, um der Welt zu entfliehen. Matthis hingegen trinkt aus Solidarität mit seinem einzigen Freund mit. Man erfährt viel über Matthis Mutter, die einen Psychiater konsultiert, ihre Gespräche dort werden im Buch wiedergegeben. Den Vater kennt man nur aus den Erzählungen der Mutter beim Nervenarzt. Hélène, die Lehrerin, will Théo schützen, bedingt durch ihre gewalttätige Kindheit und Jugend kann sie keine Kinder bekommen. Sie engagiert sich über die Grenzen des Lehrerberufs hinaus für das Wohlergehen Théos. Das führt zu Ärger mit dem Schulrektor. Die Handlung des kurzen Romans setzt unvermittelt ein und endet auch unvermittelt.

Das schön ausgestattete Buch, mit Lesebändchen, festem Einband und Schutzumschlag, beleuchtet mit einer sehr sachlichen Sprache nicht nur Théos Werdegang Richtung Abgrund, sondern auch das Auseinanderfliegen der bürgerlichen Familien. Loyalitäten, der Plural von Loyalität, zeigt die Vielschichtigkeit der heutigen Gesellschaft, mit ihrer Gewalt, dem Rausch und der Sucht.

Dieser Titel ist kein unterhaltsames Buch, es ist bedrückend, als Leser möchte man manchmal in den Ablauf eingreifen, aber die Handlung schreitet immer weiter.

Torsten Hübler

DE VIGAN , DELPHINE (Übers. Doris Heinemann)
Loyalitäten
176 S., geb., DuMont Buchverlag, Köln; ISBN 978-3-8321-8359-2, 20,00 Euro


Nach Deinem Tod

(Fortsetzung von „Ich sehe Dich sterben“)

Umarmen möchte ich die Autorin Lexa Wolf!
Weshalb?
Aus Dank für diese 464 lebensprallen Seiten – und auch einfach, weil sie mir mit jedem Tag des Lesens mehr ans Herz gewachsen ist. Egal, ob in der Bahn, auf Sofa, Parkbank oder Wiese: Sie hat meinen Alltag begleitet.

Lexa Wolf erzählt keine erfundene Geschichte, aus der man sich leicht rein-oder wieder rausklappen kann, um ansonsten seinem Tagwerk nachzugehen. Nein. Klappe ich das Buch zu, bleibt etwas hängen. Vielleicht so etwas wie Nähe? Eine Anwesenheit? Und es kommt sogar vor, dass ich gerade vor irgendeinem Problem des Tages stehe, mir das Hirn martere … und da fällt mir Lexa ein. Lexa? Die hat viel Schwierigeres gemeistert. Die hätte … auf jeden Fall nicht aufgegeben. Sie findet immer eine Lösung. Also: Welche könnte ICH jetzt finden?
Soviel zur unterschwelligen Nach-vorne-guck-Wirkung des Buches auf mich und sicher auch auf andere.

Den Inhalt zu beschreiben allerdings würde ebenfalls 464 Seiten brauchen. Denn es geht Schlag auf Schlag. Im ersten Teil, „Ich sehe Dich sterben“ (s. TP 2/18), beginnt sie mit ihrem Leben als Co-Alkoholikerin. Bis hin zu Gewalt und Morddrohungen ihres Mannes. Dann stirbt er eines Nachts einsam an einem Magendurchbruch. Im diesem zweiten Teil geht es um das Leben danach. Denn sie leidet an den Folgen dieser Ehe: Sie muss gegen den Vorwurf von Lebens-Versicherungsbetrug kämpfen, um das Haus – sie steht nicht im Grundbuch, wohl aber im Kreditvertrag. An Körper und Seele geschwächt und krank, versucht sie, den Kindern, sich und ihrem neuen Partner ein schönes Zuhause zu schaffen, aber Jochen “begleitet“ sie immer weiter.
Ihre Erfahrungen mit ihm drängen sich auch in die neue Zweisamkeit. Ihr Ekel vor Bier und Bierfahnen belastet auch ihren Partner. Mitten hinein in all dies: Probleme als Patchworkfamilie mit dem Stief-Sohn. Dann stirbt die Mutter des Partners. Später stirbt ihre Ex-Schwiegermutter. Am Ende auch ihr Seelenhund Knuddel. Und auch sie selbst erhält die Diagnose: Krebs.
Typisch Lexa aber, traut sie der Schulmedizin nicht. Beliest sich, hört in sich hinein und beschließt: „Meine Möpse bleiben dran!“ Mit Hilfe einer Ernährungsumstellung und der Naturheilkunde heilt sie sich selbst und ist heute tumorfrei.
Lexas Leben bis Anfang 2018 ist eine Zeit von hohen Höhen und tiefen Tiefen, zwischendrin fehlen aber auch ruhige, friedliche Zeiten nicht. Mit der Zeit lernt sie, dass sie dem, was kommen wird, nicht entgehen kann: „Was für Dich bestimmt ist, findet Dich überall!“

Die Frage, wie sie mit all diesen Schicksalsschlägen zurechtkommt, woher sie die Kraft nimmt, beantwortet sie im Buch selbst: Nach einigen außersinnlichen Erfahrungen, gerade mit den ihr nahe stehenden  Sterbenden, weiß sie heute für sich: „Müsste ich meinen Glauben genau beschreiben, würde ich über eine gewaltige Energie sprechen, welche in uns Menschen schlummert, über jeden Angriff von außen und alle Verletzungen erhaben. Unzerstörbar … Hat eine Energie ihre Hülle verbraucht, tritt sie aus und geht zumindest nicht verloren … Mit diesem Blick in eine sanfte, leichte Welt ohne den Ballast des irdischen Daseins kann ich nun deutlich gelassener weiterleben.“

Nämlich genau JETZT. Letztlich gibt es ja immer nur das Jetzt.

Ach, ich könnte Ihnen noch viel mehr verraten, liebe Leserinnen und Leser. Dass Krebs keine Himbeeren mag? Dass sie Hunde vor der Tötung rettet? Dass das Nachbargehöft abbrannte?
Lesen Sie lieber selbst. Schon allein Lexas Schreibstil wird Sie einfangen: Authentisch wäre das heutige Modewort dazu. Aus dem Bauch heraus. So, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Oft mit einem Grinse-Smiley im Gepäck. Lebhaft, lebendig, rastlos. Niemals langweilig.

  Anja Wilhelm

LEXA WOLF
Nach Deinem Tod
464 Seiten, Taschenbuch, Books on Demand Norderstedt
ISBN 978-3-7528-7839-4, 18,90 Euro


Der Ernaehrungskompass von Bas Kast

Der Ernährungskompass

Was soll ich denn nun bloß essen?

Hmm. Ich kenne doch die Ernährungspyramide. Wozu soll jetzt auch noch ein Ernährungskompass gut sein? So dachte ich, als das Buch nun vor mir lag. Skepsis. Aber wenn es doch auf der Spiegelbestsellerliste die Nummer 1 ist, schon wochenlang?

Und siehe da: Beim ersten Durchblättern verwandelte sich Skepsis dann plötzlich in große Neugier. Und das lag nicht nur an den Mäusen. Ja, auf einer Seite zwei Strichmäuse von oben. Eine dünn, die andere dick. …? Dazu die Ergebnisse einer Studie: Die eine hatte täglich 24 Stunden Futter im Angebot und fraß auch ständig. Die andere, die schlanke, nur in einem Zeitfenster, nämlich nur tagsüber.
Und solche, für die meisten von uns völlig unbekannte Studien, zieht das gesamte Buch zu Rate. Der Untertitel lautet: Das Fazit aller wissenschaftlichen Studien zum Thema Ernährung.

Inzwischen bin ich begeistert von diesem Kompass. Bas Kast, Wissenschaftsredakteur beim Tagesspiegel, hat nicht nur in jahrelanger Klein-und Feinarbeit fast alle gängigen, oft auch gegensätzlichen Ernährungsweisheiten und Diäten wie z.B. Low-Carb, Low-Fat, Atkins, Mittelmeerdiät und viele weitere unter die Lupe genommen, Studienergebnisse aus aller Welt verglichen und ausgewertet – er beschreibt es auch recht leicht les- und verstehbar, manchmal sogar heiter. Und zwar bis hin in die chemische Zusammensetzung von Fetten (gesättigte, ungesättigte) und was genau sie im Körper bewirken, oder was Insulinresistenz ist und was sie verursacht, was wirklich dick machen, Diabetes und Herzprobleme verursachen kann – und unheimlich Spannendes viel mehr.

Irgendwann während der Lektüre wird so mancher nicht umhin kommen, seinen Erläuterungen irgendwie Glauben zu schenken. Sie scheinen wohl auch Widerwillige überzeugen zu können. Zumindest dazu, einfach mal verschiedene Dinge für sich selbst auszuprobieren. Eingeschliffene Essgewohnheiten („Bei uns gabs doch immer Kartoffeln mit Soße und Fleisch) mal zu hinterfragen. Oder gar zu ändern. Mal genauer darüber nachzudenken, was wir unserem Körper eigentlich jeden Tag antun oder Gutes tun. (Manchmal, scheint es, machen wir uns über unsere Autos mehr Gedanken: Bloß kein schlechtes oder falsches Benzin tanken!).

Das Buch regt dazu an, mal nicht einfach zu glauben, was uns die Lebensmittelindustrie und die Produkte im Supermarkt vorgaukeln, und auch dazu, mal nicht die Ernährungsempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung einfach so hinzunehmen …

Nur kurz ein paar seiner Erkenntnisse zur Information, liebe Leser/innen. Die Studien und Erklärungen dazu aber erläutert dann das Buch selbst:

Olivenöl: Mehrere Esslöffel am Tag! Brot: Je dunkler und körniger, desto gesünder. Zucker: Finger weg vom Haushaltszucker (Stichwort Fruktose). Fruchtsäfte, Cola &Co: Die Dickmacher Nummer 1! Fett: Macht nicht automatisch fett! Fleisch: Nur als Sonntagsbraten, lieber Fisch (fetten!) essen. Eiweiß: Fungiert als Sattmacher, zu viel ist aber nicht gut. Milch: Nicht unbedingt, Joghurt aber unbedingt!

Das nur als eine kleine Auswahl. Und immer gibt es zu diesen Aussagen fundierte wissenschaftliche Erläuterungen, teils sogar anhand internationaler, unabhängiger Meta-Meta-Studien.

Weshalb hat sich Bas Kast eigentlich diese riesige Mühe für uns gemacht?

Nicht für uns Leser/innen tat er das ganz zu Beginn, sondern für sich selbst. Jahrelang war Junkfood seine Ernährung. Chips zum Abendbrot. Als er trotz Joggens dann doch irgendwann ein Bäuchlein bekam, wurde er stutzig. Aber als er mit Anfang 40 plötzlich an schweren Herzattacken litt, zwang ihn das zum Nachdenken. Seine Frage damals war: Was soll ich essen, um mein Herz zu schonen?
Wie ein Besessener sammelte er Wissen, Fakten, Studien aus originalen Forschungsquellen aus aller Welt. Und stellte nach und nach seine eigene Ernährung um. Er probierte aus, wie ihm dies oder jenes bekam, wie er sich fühlte. Sein Bäuchlein ist heute ohne Mühe verschwunden und sein Herz vollkommen in Ordnung.
Ist das nicht eine schöne Nachricht? Mit dem, was wir täglich essen und trinken, könnten wir Übergewicht vermeiden, Altersleiden hinauszögern, einige Krankheiten vielleicht sogar wieder loswerden. Dieses Buch könne Leben retten, schätzte ein Buchkritiker sogar ein.
Was der Autor noch vermitteln will: „Es hängt von unserem Körper ab, wie gut wir auf eine bestimmte Ernährungsart ansprechen. … Deshalb kommt es zuletzt auf den Selbstversuch an …Die Zeiten einheitlicher, starrer Ernährungsrichtlinien, die die individuelle Situation nicht berücksichtigen, sind vorbei.“

Ich für meinen Teil habe aus Neugier während der Lektüre dieses Buches gleich dies und jenes an Veränderung ausprobiert. Nur ein kleines Beispiel (außer der seitdem viel rascher leer werdenden Flasche Olivenöl): Trotz der empfohlenen mindestens zwei bis drei Handvoll fettreicher Erdnusskerne (naturell) pro Tag nahm ich nicht zu, sondern mühelos und unbeabsichtigt einfach so zwei Kilo ab. Vielleicht nicht „trotz“, sondern „wegen“?

Lassen Sie sich doch selbst überraschen …

Anja Wilhelm

BAS KAST
Der Ernährungskompass
320 Seiten, geb., c. Bertelsmann Verlag
ISBN 978-3-570-10319-7, 20 Euro


Silla

Vom Alk zum Hulk

Silla, den jüngeren Lesern vielleicht als Rapper und Kraftsportler bekannt, hat sein gesamtes Leben rückhaltlos rekapituliert, schon im Alter von 32 Jahren. Grund ist sein Aufenthalt in einer Entwöhnungsklinik, mit dem Wunsch, seinem Leben einen neuen Anfang zu ermöglichen.

1984 wird Matthias als Sohn eines Beamten in West-Berlin geboren. Er verbringt eine gutbürgerliche Kindheit und Jugend im Ortsteil Mariendorf, als er erstmals in der 7. Klasse Cannabis raucht und später Alkohol trinkt. Wegen des Diebstahls des Klassenbuchs muss er die Schule wechseln und lernt neue „Freunde“ kennen, die ihm neben Alkohol und Drogen auch ermöglichen, einen Fuß in die Musikbranche zu bekommen, als „Godsilla“. Sein Debütalbum 2004 heißt „Übertalentiert“. Es kreuzen viele Rapper, mit Namen wie z.B. „Bushido“, „King Orgasmus One“, „Fler“ oder „Sultan Hengzt“, seinen Weg. Dabei: Alkohol, Alkohol, Cannabis. Ausgiebig werden die Konzerttouren und die Feiern mit den Abstürzen beschrieben. 2009 wird Matthias in die Berliner Charité mit 4,9 Promille eingeliefert und wird wiederbelebt.
Das Ende von „Godsilla“ kommt 2010 in Form eines japanischen Konzerns, der die Namensrechte an dem Monster hat. Ohne „God“ geht die steile Karriere als „Silla“ weiter. Dabei: Alkohol, Alkohol, Cannabis. In einer Trockenphase wendet er sich dem Kraftsport zu und beginnt eisern, täglich Gewichte zu stemmen und sich vom unscheinbaren Matthias zum Muskelmann zu entwickeln. Nebenher liefert er Pizza aus, um seinen Unterhalt zu verdienen, macht aber weiter Musik. Er trifft seine Traumfrau, zieht mit ihr zusammen. Dabei: Alkohol, Alkohol, Cannabis. Beziehungskatastrophe, Rückfall, Entwöhnungsbehandlung.
Diese flüssig geschriebene Lebenserinnerung dürfte natürlich die Fans der Rap Musik interessieren. Bemerkenswert ist, mit welcher rückhaltlosen Offenheit Silla sein Leben, seine Gefühle, seine Ängste, seine Erfolge, aber auch seine Misserfolge von Anfang bis Ende der Leserin und dem Leser nahebringt. Er beschreibt sehr plastisch seinen fortwährenden Kampf mit und gegen das Monster Alkohol. Wenn man die sehr interessanten Einblicke in das Musikbusiness abzieht, zeigt sich eine knallharte Alkoholikerkarriere mit allen Folgen. Daher kann diese Autobiographie vielleicht für manchen alkoholaffinen Menschen erhellend und erschütternd wirken, denn der vorliegende Titel zeigt mal wieder, welche Verheerungen das Zellgift Alkohol anrichtet. Silla kämpft bis heute, mit erst 34 Jahren, mit seiner Krankheit, die er sich in jungen Jahren zugezogen hat.

Torsten Hübler

SILLA
Vom Alk zum HUlk
206 S., geb., Edition Riva, München, Berlin; ISBN 978-386883-833-6, 19,99 Euro


Selbsttest einer „Normal“-Trinkerin:

Ein Jahr ohne Alkohol

„Nüchtern betrachtet, war‘s betrunken nicht so berauschend“, fasst der Buchtitel das Experiment der Autorin zusammen.

Susanne Kaloff, die weltreisende Lifestyle-Redakteurin aus Hamburg, hatte sich vorgenommen, ein Jahr lang auf Alkohol zu verzichten. In ihrem Falle auf edle Weine, Gin Tonic, Brandy, Sekt und Champagner. Meist getrunken bei offiziellen Anlässen, Partynächten, Geburtstagsfeiern, eher selten allein daheim. Und schon gar nicht täglich. Sie ist nicht alkoholabhängig. Wohl aber gewohnt, zu diesen und jenen Gelegenheiten zu trinken. Mit den anderen, für die es ebenso „normal“ ist. Manchmal bis zum Absturz – und sogar zu einem echten Sturz.

Soberness ist das neue Zauberwort aus den USA, eine Art Gesundheitsbewegung, die alles weglässt, was das pure Sein vernebelt. Alkohol und Drogen vor allem. Darauf ist Susanne Kaloff neugierig. Was passiert mit mir, in mir, mit den anderen, wenn ich nicht mehr trinke, mittrinke? Weshalb trinke ich überhaupt? Wie geht das, ohne Alk in einer Gesellschaft, in der das Gläschen oder Fläschchen einfach dazugehört? Und wie wird es mir nach einem trockenen Jahr gehen?

Ja, wie wohl? Dies gleich einmal vorab: „Vor allem merke ich: Ich möchte nie wieder einen Rausch haben. Nicht mal einen Schwips.“ Einmal hat sie aber tatsächlich Lust, nach einem Jahr ohne Alk, zufällig wird ihr ein viertel Glas edler Champagner serviert, sie nippt. „Es ist ein makelloser Schluck Alkohol, ich trinke ihn sehr langsam, aber er lässt mich so kalt, als fließe Eiswasser durch meine Adern.“ Sie benötigt Alkohol also nicht mehr. Er lässt sie kalt …

Irgendwie ist dies doch der Traum eines jeden trocken lebenden alkoholkranken Menschen: Der Alk wird uns total egal …

Was nur ist also in diesem einen Jahr mit der Autorin passiert?

Natürlich stand da kein MUSS bei ihr jeden Tag neu vor der Tür. Sie hätte die Abstinenz einfach abbrechen und wieder trinken können. Das Abstinent-bleiben-müssen, die Angst vor einem Rückfall, die alltägliche Vorsicht – diesen überlebensnotwendigen Druck hatte sie einfach nicht. Sie konnte irgendwie leichter, freier beobachten, was geschieht. Freier entscheiden, was geschehen soll. Auf diese Reise nimmt sie uns mit. Detailliert und oft ironisch-salopp.  Und dieser freiere, unverkrampfte Blick erlaubte ihr auch, so finde ich, Dinge zu erkennen, zu erfühlen, die uns trockene Leser/innen bestärken könnten. Uns unterstützen könnten, zufrieden abstinent zu leben. Wenn schon jemand, der eigentlich saufen dürfte, überzeugter Nichttrinker wird?

Ja also, wie erging es ihr nun?

Mit einem Glas Wasser statt Wein in der Hand, wird sie sogar manchmal gefragt, ob sie Alkoholikerin sei. Sie fühlt sich ausgegrenzt von Gesellschaft und Geselligkeit. Sie fühlt sich wie das schlechte Gewissen der Trinkenden. Ihr wird klar, dass „…Alkohol auch in den kleinsten Mengen einen Weichzeichner auf die Tatsachen legt.“ Und sie kommt sich selbst, ihrem Selbst, auf die Schliche: „…in Wahrheit hat Alkohol die Wirkung eines Pflasters: Er deckt bloß die Oberfläche vorübergehend ab.“ Sie lernt, sich auszuhalten ohne all das. Jedes Gefühl, das sie sonst vielleicht mit Wein gedeckelt hätte. Das aber ist schwer: „Es ist so schwer, dass ich seit einer Woche beinahe täglich mit dem Gedanken spiele, aufzuhören. Oder eher, anzufangen. Anfangen ist ganz einfach. Man trinkt einfach wieder.“ Aber sie kämpft sich durch. Hält Traurigkeit aus mit einem Grünen Tee, Wehmutsanfälle mit Zitronenwasser. „Man wird bewusster, in jeder Situation. Bewusstsein schützt einen aber nicht vor unangenehmen Gefühlen, im Gegenteil. Man nimmt alles eher intensiver auf, das Schöne, das Hässliche, das Böse und das Gute. Alles, was man fühlt, ist hausgemacht, ohne Zusatzstoffe …“ Und so erlebt sie aber: „Selbst Scheißtage sind nüchtern besser“. Ein Trip in die Freiheit also, so auch der Untertitel des Buches.

Mehr möchte ich jetzt gar nicht verraten. Lesen Sie selbst – ich kann es nur empfehlen. Mir war die Autorin mit ihren Erlebnissen und Erfahrungen eine wunderbare tägliche Begleitung über die Tage des Lesens hinweg, fast wie eine große Schwester an meiner Seite in meinem täglichen Trockenbleiben.

Anja Wilhelm

 

SUSANNE KALOFF

Nüchtern betrachtet war‘s betrunken nicht so berauschend

Ein Trip in die Freiheit

252 S., Taschenbuch, Fischer Verlag, ISBN 978-3-596-70133-9, 14,99 Euro


„Running man“ Charlie Engle

Ein Ultralauf zurück ins Leben

Vielleicht eine Suchtverlagerung?
Das kam mir als erstes in den Sinn während des Lesens.

Denn weshalb quält sich ein Mensch zum Beispiel 7500 km laufend durch die Wüste Sahara, trotz offener Blasen, Infektionen, Verletzungen an Muskeln, Knochen, trotz Schwäche und Schmerzen?
Ja, weshalb tut sich Ultra-Marathonläufer Charlie Engle aus den USA so etwas an?
Antwort im Klappentext: Er läuft sich zurück ins Leben!
Aus dem Drogenrausch zum Runners High, erklärt auch schon der Untertitel des Buches.

Vorab:
Charlie Engle gibt es wirklich. Er ist einer der bekanntesten Ultra-Marathonläufer der Welt. Ultra-Marathon? Das bedeutet oft Strecken von 100 Kilometern und noch viel mehr, quer durch Wüsten, Dschungel oder Gebirge. Diese abenteuerlichen Erfahrungen, ob bei Läufen in Südamerika, Asien oder Afrika, beschreibt er in seinem Buch. Die Qualen. Die Schmerzen. Und wie er sich immer wieder überwindet, nicht aufzugeben.

Aber seine Geschichte beginnt er noch viel früher … Aufgewachsen als Hippieeltern-Kind, macht ihn damals das Laufen schon immer irgendwie glücklich. Als Student allerdings steigt er um auf Alkohol, später zusätzlich noch Kokain. Immer auf der Suche nach dem Kick, nach Erfüllung von außen. Tagelange Orgien, Black-Outs. Sein Familienleben steht auf dem Spiel, er hat eine Frau und zwei Söhne. Nach unzähligen Besserungs-Geloben und Rückfällen, während seiner Therapie, gibt er sich endlich zu, dass er süchtig ist. Und beschließt, dass dies nicht heißt, weiter wie ein Süchtiger leben zu müssen.

Er nimmt nach dem Klinikaufenthalt gleich am ersten 12km-Lauf in der Nähe teil, geht als einer der Letzten durchs Ziel, aber: „Ich spürte ein … ganz neues Gefühl. Ich fühlte mich clean. Mein Körper war frei von Drogen und Alkohol. Nichts verdeckte den Schmerz oder vernebelte die Anstrengung.“

Die Meetings der Anonymen Alkoholiker stützen ihn. „Und jetzt füllt all diese Zeit mit etwas anderem. Mit etwas Sinnvollem“, hört er. Und wendet sich dem Laufen ernsthaft zu. „Nichts anderes verschaffte mir das Gefühl, so rein zu sein, so konzentriert und so befriedigend verausgabt … Diese überschäumende Ausschüttung von Endorphinen … war reiner und wohltuender als jeder Rausch, den ich je nach der Einnahme von Drogen verspürt hatte …“

Er trainiert nun täglich. Er nimmt an berühmten Wettkämpfen teil, weltweit. Für das Projekt Sahara-Durchquerung gewinnt er zwei Freunde. 100 km pro Tag durch die Wüste. Sie leiden, täglich mehr. Werden immer schwächer. Detailliert beschreibt er, wie es ihnen ergeht. Und wie sie über die Schmerzen hinausgehen. Bis gar nichts mehr zu gehen scheint … „Ich wollte, dass wir  litten … dass wir alle leer waren. Das war die einzige Möglichkeit …dass etwas Neues Platz in uns finden konnte.“

Mit diesen Abenteuern aber ist es jäh zu Ende: Trotz (sehr viel später erst erwiesener) Unschuld wird er wegen Bankbetruges angeklagt, muss 21 Monate in ein Bundesgefängnis, gerade eben operiert am Meniskus. Dort versucht er, zu überleben, irgendwie. Besinnt sich wiederum aufs Laufen. Beginnt langsam auf dem Gefängnisareal. Manchmal läuft er in der Zelle (674 Schritte auf der Stelle, Fuß 15 cm über den Boden anheben dabei = 1 Meile). Später schließen sich ihm Insassen an, eine Laufgruppe gründet sich. Und eines Tages nimmt er imaginär am gerade stattfindenden Bad Water Marathon teil: Er läuft die 160 km an zwei Tagen auf dem Gefängnishof …

Wie es nach dem Gefängnis weiterging? Lesen Sie am besten selbst. Ich verspreche Ihnen, liebe Leser/innen, fast Abenteuer-Spannung in jeder Zeile, auf jeder Seite!

Und: Falls diese extreme Laufleidenschaft doch eine Suchtverlagerung sein söllte, wäre es zumindest eine drogen-und alkoholfreie Beschäftigung, oder? Aber aus Wissenschaftskreisen heißt es sowieso: „Positive Süchte sind eines der nachweislich wirksamen Elemente, die zum nachhaltigen Erfolg der Abstinenz beitragen“ (Suchtfibel 2009, S. 441).

Anja Wilhelm

CHARLIE ENGLE

Running man

Unimedica

328 Seiten, geb.

ISBN: 978-3-946566-89-2

19,80 Euro


Wie verlernt man das Fürchten?

Gummistiefel statt Pumps – wann immer sie auf die Straße raus musste.
Das schien bei Hanka Rackwitz (TV-Maklerin, RTL-Dschungelprinzessin) eins ihrer Markenzeichen zu sein. Die Gummistiefel-Macke eben.
Aber der wahre Grund wurde erst seit ihrem Outing 2016 öffentlich: Sie litt an Zwangsstörungen. Vor allem Kontaminations- und Kontrollzwangshandlungen bestimmten ihren Alltag, tatsächlich von früh bis spät. Nur der Schlaf erlöste sie für ein paar Stunden davon.

Gummistiefel sind nun mal leichter zu desinfizieren als andere Schuhe …

Stellen Sie sich einmal vor, auch wenn es fast unvorstellbar ist: Sie sitzen an einem Café-Tisch in der Sonne. Ohne die Arme aufzustützen natürlich, der Tisch könnte mit dreckigem Tuch abgewischt worden sein. Eine Dame setzt sich auf den anderen freien Platz, kurz, nachdem sie – Sie haben das registriert, weil Sie stetig auf den Boden schauen – auf eine Zigarettenkippe getreten war. Dann schlägt jene das Bein übers Knie. Dabei berührt sie unabsichtlich mit dem „verseuchten“ Schuh IHRE HOSE! Horro-Szenario, Panik! Jetzt müssen Sie aufpassen, dass nichts mit dieser kontaminierten Stelle an Ihrem Bein in Kontakt kommt. Hoffentlich nicht Ihre Einkaufstüte. Dann ist sie auch verseucht und muss samt Inhalt in den Müll. Bloß nicht daheim auf die Couch setzen, dann ist die auch verkeimt. Also jetzt schnell nach Hause, Hose ausziehen. Beine desinfizieren. Hose in die Waschmaschine, mit Desinfektionsmittel mehrmals waschen. Hände desinfizieren.

So beschreibt Hanka Rackwitz nur eine einzige Mini-Situation von vielen, vielen aus ihrem Zwangsalltag! Hinzu kommen Ess-Ängste – die Lebensmittelverpackungen könnten kontaminiert sein. Kontrollzwänge: Ist der Wasserhahn auch wirklich zu, der Herd aus oder müssen wegen mir Menschen sterben in einer Feuersbrunst?

Irgendwann traut sie sich kaum noch hinaus. Vereinsamt sogar.

Rechtzeitig bemerkt sie aber auch noch, dass Alkohol ihre Zwangsgedanken herrlich betäubt, deshalb achtet sie nun sehr darauf und schränkt ihren Konsum stark ein.

Nach mehreren ambulanten Therapien, die teilweise halfen, entschließt sie sich eines Tages zu einer stationären Therapie. Von dort, aus der Klinik, schreibt sie ihr Buch. Erklärt, was Zwangsstörungen sind (psychischen Störungen, es besteht ein innerer Zwang oder Drang, bestimmte Dinge zu denken oder zu tun). Berichtet von ihren Fortschritten mithilfe der kognitiven Verhaltenstherapie, der Konfrontationstherapie und eines Achtsamkeitstrainings: Sie erlernt, den Zwangsgedanken keine Zwangshandlungen mehr folgen lassen zu müssen. Kann zum Schluss sogar barfuß über den Teppichflur gehen, Türklinken ohne Gummihandschuhe benutzen, sich nur 10 statt 80 Mal am Tag die Hände waschen und vieles mehr. Sie geht dabei über ihre Angst und Panik und Tränen weit hinaus …

Und ist heute glücklich darüber, dass das Leben so viel leichter geworden ist. Dass sie die Freiheit im Denken und Handeln zurückgewonnen hat.

Das erinnert mich sehr an uns Alkoholkranke: Auch wir konnten erleben, wie sehr der Trinkzwang mit allem, was dazu gehört, unser ganzes Leben, jeden einzelnen Tag, bestimmt hatte. Und wie frei im Denken und Handeln wir dann wieder werden durften, abstinent.

Was die Autorin mit ihrem sehr lebendig und unterhaltsam geschriebenen Buch – aus jeder Zeile „guckt“ die Hanka, die die TV-Zuschauer kennen und mögen, heraus – bezweckt, lasse ich sie hier selbst sagen:

„Ich hoffe so sehr, dass ich …dazu beitragen kann, dass sich der eine oder andere besser und verstanden fühlt und den Mut bekommt, sich noch mehr helfen zu lassen, um seiner Einsamkeit und dem Leid zu entfliehen …“

Anja Wilhelm

HANKA RACKWITZ

Von einer, die auszog, das Fürchten zu verlernen: Wie ich meine Zwänge, Ängste und Neurosen besiegte
215 Seiten, Softcover
mvgverlag
ISBN 978-3-86882-910-5
16,99 Euro


Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen, von Axel Hacke

Über die Unmöglichkeit des Herrn Hacke, mit Anstand ein Buch zu schreiben

Axel Hacke schrieb früher für die „Süddeutsche Zeitung“, ist Kolumnist und Bestsellerautor. Der Autor will im vorliegenden Band der Frage des Anstandes nachgehen, auch will er Gedanken über die soziale Interaktion des Menschen äußern. Sehr häufig verwendet der Autor in Zusammenhang mit seiner Person den Begriff „Bier“ und der meistgenannte Ort ist „Dresden“.

Nun könnte man meinen, der Autor setzt sich mit der in Dresden beheimateten Pegida und deren alkoholisierten Mitläufern auseinander. Vielleicht auch mit der Semperoper in Dresden und der dazugehörigen Bierwerbung. – Falsch. Hacke setzt sich mit gar nichts auseinander. In einem knapp 200- seitigen Wortschwall, der nicht durch Kapitel oder ähnliche Strukturen in geregelte Bahnen gelenkt werden soll, gelingt es der Edelfeder aus München, weder dem Leser (s)eine Definition von Anstand begreiflich zu machen, noch eine Lösung zu entwickeln, um den von ihm nicht definierten, aber trotzdem behaupteten schwindenden Anstand zu retten.

Das Buch beginnt in einer Kneipe, wo sich ein Ich-Erzähler und sein Freund jeweils ein Bier bestellten, wobei das eine Bier aus einer angeblich umweltschädigenden Brauerei stammen soll und der Freund ein anderes bestellt. Der Ich-Erzähler denkt, „ein anständiger Kerl“, so ist der Beginn des in der Spiegel-Bestsellerliste unverständlicherweise unter „Sachbuch“ eingruppierten bierseligen Geschwafels über dies und jenes. Loriots Trickfilm über den kaputten Fernseher („… Ich lasse mir von einem kaputten Fernseher nicht vorschreiben, wann ich ins Bett zu gehen habe“) wird seitenlang beschrieben, es werden seitenlang relativ belanglose Chats zu völlig irrelevanten Youtube-Filmchen protokolliert. Dazwischen wirft der „Freund“, der dem Leser nicht weiter vorgestellt wird und im Verrinnen der Seiten drei bis vier Bier trinkt, ansatzlos Weisheiten ein. Neben den langwierigen und detailreichen Schilderungen von Banalitäten wird der Rest der knapp 200 Seiten mit für den wohlmeinenden Leser grundlos eingeführten Autorinnen und Autoren mit langstieliger Beschreibung ihrer Bücher gefüllt. Auch Literaturnobelpreisträger Albert Camus kommt zu Wort, aber nicht direkt aus seinen Werken zitiert, sondern aus den Arbeiten einer seiner Biographinnen als Zweitaufguss. In der Wissenschaft nennt man diese Finten „name dropping“, um eine bedeutungslose Arbeit mit etwas Bedeutung aufzublasen. Ich muss zugeben, nach dem Lesen dieser literarisch-handwerklichen Frechheit war ich ratlos. Bin ich zu dumm, hatte ich etwas nicht verstanden? Ich habe es widerwillig ein zweites Mal gelesen, mit gleichem Ergebnis: angesoffenes Geschwafel eines Lohnschreibers, der wahrscheinlich seine Vertragsverpflichtungen zum Thema „Anstand“ gegenüber dem Verlag termingerecht einlösen musste und das in wenigen Stunden heruntergehackt hat, um ans Honorar zu kommen.

„So haut man den Leser übers Ohr“ (Mark Twain), dachte ich. Man nehme einen bekannten Namen, einen renommierten Verlag und ein aktuelles Thema, packe dies ansprechend in ein gut ausgestattetes, schönes Buch und fertig ist der Bestseller für 19,00 Euro, ein Geschenkbuch im angenehmen Format, was keiner lesen muss und keiner lesen soll, Inhalt irrelevant. Erst später wurde mir klar, es ist eine Eulenspiegelei des Axel Hacke, er will den Leser/Käufer vorführen und es hat geklappt. Hacke konnte mich bis zum Ende des Buches foppen und vorspiegeln, es gehe ihm um das Thema „Anstand“ in unseren Zeiten, dabei ging es darum, dem Leser eine Lektion in Nicht-Anstand zu geben. Wenn man das verstanden hat, dann erklärt sich der Rest.

Torsten Hübler


Ich sehe dich sterben

Autobiografie einer Co-Alkoholikerin

Lesen Sie dieses Buch … wenn Sie sich trauen!
Denn diese wahre, beklemmende Geschichte bis zum bitteren Ende mitzuverfolgen fordert doch irgendwie Mut ab.
Jedenfalls ging es mir selbst so. Oft genug wollte ich es, einmal aus der Hand gelegt, nie wieder aufschlagen. Aber dann musste ich doch immer wissen, wie es weitergeht …
Das mit dem Mut – dazu komme ich aber später.

Vorab, worum es geht: Kurz zusammengefasst, schreibt sich die Autorin Lexa Wolf (Pseudonym) ihr jahrelanges Zusammenleben mit einem alkoholkranken Partner von der Seele. Es beginnt in großer Liebe und voller Hoffnung, seine Trinkerei ändern zu können. Und endet, als er einsam, körperlich und psychisch vom Alkohol gezeichnet, an einem Magendurchbruch stirbt.

Das Dazwischen ist es, was die meisten Seiten des Buches einnimmt:

Detailliert beschreibt sie den Alltag mit ihrem Jochen. Wie sie die Alkoholsucht irgendwann erkannte, aber noch dachte, er müsse doch einfach nur aufhören zu trinken. Die unvermeidliche Entwicklung vom Kasten Bier am Abend bis zum versteckten Schnaps im Keller. Das Warmtrinken vor der Arbeitsschicht. Dann das Trinken im Job bis zum Jobverlust. Sie berichtet von verbalen Ausfällen des Betrunkenen, von Beleidigungen, schlimmsten Beschimpfungen bis hin zu körperlicher Gewalt.

Nur eine Szene aus der letzten Zeit der Ehe hier als Beispiel: „Polternd schleudert er den Stuhl an die Schrankwand, greift mir mit einer Hand unters Kinn und hebt mich an. Seine Stirn rammt meine, sein Atem bereitet mir Übelkeit und seine Augen jagen mir Schauer über den Rücken. … Es folgen noch Worte, die ich keinesfalls niederschreiben kann und es folgen Handlungen, die sich nun jeder in seiner Phantasie ausmalen kann oder es besser sein lässt. Jedenfalls lande ich mit dem Rücken am Kühlschrank, dessen Griff sich mir schmerzhaft in die Schulterblätter bohrt. Ich schreie auf …“

Sie hat Angst, er droht ihr sogar, sie zu töten, wenn er betrunken ist. Und sie hat Angst und Sorge um ihre Kinder. Sie beschreibt, wie sie ihm dennoch bei kalten Entzügen daheim die verschwitzte Bettwäsche wechselt, den Brecheimer hält. Immer wieder hilft sie ihm. Und niemand erfährt, wie es ihr wirklich geht. Sie wahrt nach außen „Gesicht“ und das Lächeln.

Mehrfach stellt sie ihm ein Ultimatum: Therapie oder ich bin mit den Kindern weg. Doch danach, auf dem Weg von der Klinik nach Hause, hat er schon wieder Bierkästen im Kofferraum des Autos.

Trockene Zeiten, in denen (fast) alles wieder schön ist, ihr Jochen fast der alte, in den sie sich einst verliebte, wechseln ab mit den Zeiten, in denen er zunehmend aggressiver wird.

Hoffnungsvolle Zeiten, dass sie und ihre Liebe zu ihrem Ehemann Berge versetzen könnten – auch wenn ihr Misstrauen wächst – wechseln ab mit Zeiten täglicher Furcht und auch Wut.

Die Partnerschaft ist längst keine mehr. Sie fühlt sich einsam. Und vor allem hilflos. Machtlos. Sie erkennt jetzt: Sucht ist stärker als Liebe.

Ja, sie will ihn oft verlassen. Doch warum bleibt sie dennoch so lange bei ihm? „Ich wette an dieser Stelle …, dass Millionen Frauen aus genau diesen Gründen ihre Männer nicht verlassen: Sie wissen nicht, wohin sie gehen sollen, sie fragen sich, womit sie ein neues Leben finanzieren sollen und sie glauben, ihren Kindern damit zu schaden. Lieber stecken sie jahrelang zurück …“. Denn genauso erging es der Autorin selbst. Sie weiß heute: „Mir ist durchaus bewusst, … dass all die Handlungen, die aus seinen Exzessen entstanden sind, gar nicht seine Schuld sind.“ Und über ihre Rolle als Co-Abhängige: „Ich bin das traurige Produkt einer langen Reise durch die flammenden Höllen des ,Alkoholteufels‘; dessen immer schuldige Handlangerin, seine kleine Bedienstete. Ich mache die Fehler und gebe ihm die Steilvorlage für seinen teuflischen Plan … Wie eine Klette hing ich an den beiden, an Jochen und ihm.“

Sie versucht, sich finanziell unabhängig von Jochen zu machen. Baut eine berufliche Existenz auf und spart heimlich. Irgendwann, in einer Ein-Tages-Aktion, gemeinsam mit guten Freunden, darunter auch ein Polizist, wagt sie den Auszug – und den Einzug in ein eigenes Haus, reicht die Scheidung ein. Ihr Noch-Ehemann stalkt und bedroht sie auch dort. Und er verwahrlost immer mehr. Einen Tag vor einem erneuten Klinikaufenthalt stirbt er.

Ach ja genau, das Thema Mut vom Beginn:

Den hat das Buch von mir tatsächlich gefordert, denn alle Geschehnisse sind so genau, authentisch, klar in ungekünstelten Sätzen beschrieben, dass man mit-erlebt, was passiert, unweigerlich. Und für einen suchtkranken Menschen kann es schwer erträglich werden, an seine eigenen Handlungen in der nassen Zeit erinnert zu werden. Mit dem Wissen dazu, dass durch den Stoff auch noch Vieles im Nebel versteckt sein könnte, an das man sich gar nicht mehr erinnert. Was mag ich selbst wohl meinen Liebsten angetan haben? Wie ist es ihnen ergangen mit mir? Wie kann ich das je gut machen? Und dann die beschriebenen Trinkszenen, Trinkphasen … ich denke, jeder, der süchtig ist, kann sich erinnern und hineinversetzen, wie es dem Ehemann erging, wie auch er gelitten hat unter der Sucht.

Ein kleines bisschen warnen muss ich vielleicht an dieser Stelle: Möglich, dass manche Situation einen suchtkranken Leser triggern könnte, das Suchtgedächtnis schläft nicht …

Mein Fazit: Das Buch bringt alkoholkranken Menschen sehr deutlich nahe, wie die eigene Sucht andere Menschen verletzen kann, zutiefst unglücklich machen, auf ewig prägen – vor allem auch die Kinder. Und es zeigt Partner/innen alkoholkranker Menschen, dass sie nicht allein sind und kann sie vielleicht sogar ermutigen, loszulassen und für sich selbst Verantwortung zu übernehmen, ein eigenes, unabhängiges Leben zu beginnen …

Anja Wilhelm

 LEXA WOLF
Ich sehe dich sterben
440 S., Taschenbuch,
Books on Demand, Norderstedt
ISBN 9783744830966
17,90 Euro


Zum 70. Geburtstag

Der neue Seyfried 68 50

1978 betrat der Grafiker, Cartoonist, Karikaturist, Autor und Übersetzer Gerhard Seyfried die Welt der Bücher mit seinem Cartoon Band „Wo Soll Das Alles Enden. Kleiner Leitfaden durch die Geschichte der undogmatischen Linken“. 1979 legte er mit „Freakadellen und Bulletten“ nach, dabei bildete er West-Berlin zu Zeiten von WGs, Hausbesetzung und links-alternativem Leben ab. Nun, nach gefühlt 20 Jahren, schenkt er sich selbst zum 70. Geburtstag wieder einen echten „Seyfried“ in Buchform.

Hauptakteur der detailverliebten Bildergeschichte ist der aus früheren Geschichten bekannte Zwille, der als arbeits- und obdachlos gewordene Comicfigur keine Unterstützung vom Sozialamt mehr erhält – da Comicfiguren ewig leben, ist das dem Staat zu teuer. Auf der Suche nach einem Job und einem Dach über dem Kopf gelangen die Berufskreuzberger sogar bis nach Berlin-Wannsee und Potsdam-Babelsberg. Kreuzberg, korrupte Politiker und natürlich Spekulanten mit ihrer Gentrifizierung spielen eine Rolle. Ein zweiter Handlungsstrang setzt sich mit den Auswüchsen der Medien und „Sozialen“-Netzwerken auseinander, die der Kreativität den Garaus machen wollen. Der Schluss ist überraschend und versöhnlich.

Seyfried zeichnet wie immer das Leben und den Wandel in Kreuzberg und Berlin, detailreich, liebevoll, parteiisch. Wem schon „Wo Soll Das Alles Enden.“ Und „Freakadellen und Bulletten“ vor vierzig Jahren gefallen hat, dem ist mit diesem Comic geholfen. Wer jünger ist und mit „Graphic Novels“ und „Mangas“ aufgewachsen ist, kann mal einen anständigen „Comic“ lesen und so seinen Horizont erweitern.

Die undifferenzierte Propagierung des Hanf-Konsums in diesem Band will ich nicht verschweigen, denke aber, dies ist lediglich unreflektierte Traditionspflege des 70-jährigen Zeichners. Die Leser der TrokkenPresse können bestimmt zwischen Phantasie und Wahrheit unterscheiden und wesentlich für den Plot ist es auch nicht.

Eine „Volksausgabe“ als preiswertes Taschenbuch wäre „Zwille“ zu wünschen.

Torsten Hübler

GERHARD SEYFRIED
Zwille: The Law returns to Kreuzberg!
64 S., Geb., Verlag: fifty-fifty, Frankfurt/ M.
im Vertrieb Westend Verlag, Berlin
ISBN 978-3-946778-06-6
16,00 Euro


Sucht ist eine Lernstörung (?)

Einen revolutionären Erklärungsansatz und neue Chancen für die Therapie … das verspricht der Untertitel des New York Times-Bestsellers „Clean. Sucht verstehen und überwinden“.

Das klingt spannend. Nach ganz neuen Erkenntnissen zur Abhängigkeitserkrankung. Nach neuen Wunder-Therapien irgendwie …Und die Autorin Maria Szalavitz scheint auch zu wissen, wovon sie spricht: Selbst drogenabhängig gewesen, in verschiedenen Therapien und sogar Klein-Dealerin, ist sie seit 25 Jahren renommierte Journalistin und Suchtforscherin in den USA. Etwa 40 (!) Seiten kleinschriftige Quellenangaben von Studien und Statistiken im Anhang des Buches belegen ihre aufwändigen Recherchen. Und ihre eigenen Erfahrungen mit Kokain und Heroin, wie es dazu kam und wie sie clean wurde, schildert sie auch. Zum Miterleben detailliert. Ihr Fazit: Sucht ist eine Lernstörung. Natürlich weiß sie, dass sie nicht die erste ist, die Süchte als erlerntes Verhalten beschreibt. Sie fordert vor allem Konsequenzen daraus, in Behandlung, Vorbeugung und Drogenpolitik: „Das Problem mit der heutigen Einstellung zur Sucht besteht darin, dass wir die Bedeutung des Lernens ignorieren und versuchen, die Sucht als medizinische Störung oder moralisches Versagen abzustempeln.“

Fragezeichen in meinem Kopf …

Ach ja. Genau. Es geht hier im Buch nicht um unser deutsches, international als vorbildlich geltendes Suchtbehandlungssystem. Die Autorin redet von den USA. Von den dortigen noch meist veralteten Therapieansätzen. Von den USA, wo in 14 Staaten Suchtberater weder Zulassung noch Bescheinigungen benötigen. Wo noch etwas mehr als 80 Prozent aller Suchtherapien auf dem 12-Schritte-Programm der AA beruhen. Wo noch immer harte Bestrafung vor Therapie gilt, Sucht kriminalisiert wird. Insofern liefert das Buch viele neue Informationen über den deutschen Tellerrand hinaus. Und ehrlich gesagt schätze ich nun umso mehr, in dem sicheren, menschenwürdigen Suchthilfenetz meiner Heimat aufgefangen worden zu sein.

Also: Lernstörung? Was meint die Autorin damit?
„Wenn Sie nicht gelernt haben, dass Drogen Ihnen ,helfen‘, können Sie nicht süchtig werden, selbst wenn Ihr Körper süchtig ist … (sonst) könnte man Süchte einfach dadurch heilen, dass man den Entzug durchhält.“ Genauer: „Drogenkonsum beginnt als rationale, bewusste Entscheidung und wird durch Wiederholung zum automatischen, unbewusst motivierten Verhalten … so, wie Musiker nicht mehr überlegen müssen, wie sie ihre Töne hervorbringen.“ Und noch sehr viel genauer beschreibt sie ausführlich die Dinge, die psychisch und biochemisch dabei im Gehirn vor sich gehen. Und noch viel mehr.
Das liest sich für mich sehr spannend und lebendig. Sie untermauert jede These mit ihren eigenen Kindheits-und Drogenerfahrungen und mit Studienergebnissen.

Letztendlich geht es, wenn ich das richtig verstand, darum, dass wir Süchtigen Bewältigungsstrategien entwickeln, um mit Traumata, Problemen, Gefühlen zurechtzukommen. „Selbstheilungsversuche“ mit Drogen sozusagen. Es geht uns schlecht – wir trinken Alkohol – es geht uns kurzzeitig besser (Belohnungssystem, Dopamin). Das „erlernen“ wir, es wird zur Automatik, zum Zwang.

Was folgt daraus? Dass andere Bewältigungsstrategien erlernt werden könnten. Der Autorin geht es vor allem auch um eine Richtungsänderung in der US-Drogenpolitik. Nicht hohe Gefängnisstrafen können den Süchtigen helfen, sondern Mitgefühl und Ermutigung beim Lernen. Sie stellt den neuen Leitsatz Schadensminimierung vor und Organisationen wie LEAD und ARRIVE, die bereits nach ihm arbeiten. Erfolgreich, belegen die Statistiken.

Fazit: Wenn ihr Erklärungsansatz auch für uns nicht so revolutionär zu sein scheint, wie er auf dem Cover angepriesen wird – die meisten Fachkliniken wenden hierzulande bereits die kognitive Verhaltenstherapie an, in der es zum Beispiel darum geht, Glaubenssätze, Denkweisen, Selbstinstruktionen aufzudecken, neues Verhalten zu entdecken und zu „üben“ – ist es ein sehr, sehr informatives Werk. Für Suchtkranke, um sich selbst noch besser zu verstehen ebenso wie für Therapeuten, z.B. als Sammlung verschiedenster moderner Studien und Statistiken aus den USA.

Anja Wilhelm

MAIA SZALAVITZ
CLEAN
Sucht verstehen und überwinden
416 Seiten, geb., mvg verlag, ISBN 978-3-86882-850-4, 24,99 Euro


Wenn Freund Alkohol zur Bestie wird

Drachenspuren

So schreeecklich …
Nein, nein! Nicht das Buch.

Sondern die eigene Erinnerung, die wieder hochkommt, auf jeder der 230 Seiten. Denn die Geschichte der Autorin beginnt wie die fast jedes Abhängigen. Erst ein bisschen trinken, wie alle anderen auch. Später allein, um zu entspannen am Abend. Danach das Betäuben von Sorgen, Problemen und Ängsten. Noch ist sie sich dessen nicht bewusst, dass sie Bier und Whisky „benutzt“, weil sie mit ihren Gefühlen nicht anders umzugehen vermag. Sie will sich aber beweisen, dass sie keine Trinkerin ist und entgiftet allein, bleibt ein mühevolles Jahr trocken. Es geht ihr körperlich besser, psychisch aber so schlecht, dass sie Medikamente nimmt. Der Rückfall ist vorprogrammiert. Und er kommt, für das abstinente Jahr kann man sich ja mal belohnen …

Nach folgenden Jahren mühseligen Versuchs, kontrolliert zu trinken, immer in Scham, Schuld, Lügen, Heimlichkeiten gefangen, nach körperlichem Abbau und Depressionen, erkennt sie eines Tages, dass sie so nicht mehr leben kann. Und nicht mehr will. Therapie. Gruppenbesuche. Seitdem ist sie trocken …

Dieser Erfahrungsbericht ist also nicht so neu. Bücher, die dies beschreiben, gibt es einige.
Und dennoch hebt sich dieses durch einige Dinge heraus:

Die Autorin, Mara Reven ist ein Psyeudonym, lässt Nathaniel erzählen. Und Nathaniel ist ihr Engel. Er beobachtet und beschreibt sie, ihr Denken, Fühlen und Tun, benutzt dazu auch ihre Tagebuchausschnitte. Er tut es nicht verurteilend, sondern in Güte und Geduld. Manchmal haareraufend und immer in Aktion. Er hat viel zu tun.

Anders ist auch, dass nicht nur beschrieben wird, was geschieht – sondern auch, welche Gefühle da sind, die dazu führen. Die Autorin reflektiert sich. Schaut genau nach innen. Sie will verstehen. In jeder Phase der Sucht: Was ist los mit mir? Besonders gegen Ende fragt sie sich immer wieder, welch tiefere Wurzel ihre Abhängigkeit haben könnte. Denn sie lebt inzwischen abstinent, aber wie nun umgehen mit all dem, das sie einst betäubte? Mit Angst, Unwertgefühl, Druck, Stress? „Ich habe nach wie vor das Gefühl, dass man mir meine Krücken weggenommen hat … und mich jetzt ohne Waffen und ohne Heilmittel einfach auf der Straße liegen lässt. Ich weiß alles ganz genau, aber meine Gefühle scheren sich einen Dreck …Wie kann man lernen, neuem Erleben nicht mit altem Muster zu begegnen?“

Eine Psychotherapie hilft ihr dabei. Sie lernt, mit Gefühlen anders umzugehen. Lernt Meditieren, das hilft ihr sehr. Während einer Session hört sie, vermutet sie, Gott. Den, der gütig ist und alles und jeden liebt, auch die Mara, die sich immer als nicht gut genug empfand. Und er lacht sogar freundlich. Dieses Lachen Gottes, schreibt sie, begleitet sie von nun an …

Wie sagte Engel Nathaniel zu Beginn des Buches? „Ein Mensch, der viele Jahre an Krücken geht, kann nicht automatisch gleich laufen, nur weil er diese von sich wirft.“

Trockenwerdung braucht Geduld, neues Lernen, Veränderung in sich – dies bringt das Büchlein nahe.

Es schenkt Hoffnung.

Anja Wilhelm

MARA REVEN
Drachenspuren/Wenn Freund Alkohol zur Bestie wird
230 Seiten, Taschenbuch, Großschrift
Verlag AAVAA
ISBN 978-3-84590-017-9, 11,95 Euro
e-book: 6,99 Euro


 

Über Grenzen denken

Eine Ethik der Migration

Der Philosophie-Professor Julian Nida-Rümelin hat sich in einem Essay Gedanken zu Grenzen gemacht, in einem Land, das zwischen „Obergrenze“ und „offenen Grenzen“ pendelt.

Der Autor geht philosophisch ein aktuelles und scheinbar unlösbares Problem an. Weltweit sind Millionen von Migranten aus den verschiedensten Gründen unterwegs, Krieg und Bürgerkrieg, Hunger und wirtschaftliche Not, politische und religiöse Unterdrückung. Die meisten Migranten bleiben im Umfeld ihrer Herkunftsländer, da sie es meist aus finanziellen oder physischen Gründen nicht schaffen, eine Reise in die reichen und freien Teile der Erde zu unternehmen. Aber diese Reise unternehmen trotzdem Jahr für Jahr Millionen von Menschen und versuchen, in die EU oder nach Nordamerika zu gelangen. Millionen Menschen in den Zielländern versuchen dies mit verschiedenen Mitteln zu unterbinden.

Es ergibt sich so die Frage, was sind eigentlich Grenzen und wie lassen sie sich begründen? Grenzen definieren ein Staatsgebiet, die darin lebenden Menschen sind das Staatsvolk und die darin geltenden Gesetze sind die Staatsgewalt, diese Gesamtheit ist ein Staat, so die herrschende Meinung.

Der Autor teilt seine Analyse von Grenzen in der heutigen Zeit in zehn Kapitel auf, geht von den ethischen Pflichten und den verschiedenen Ausprägungen der Verantwortung (individuell, kollektiv, global) zu den beiden vermeintlichen Gegenpolen Kommunitarismus und Kosmopolitismus, um dann auf die drei Hauptgründe von Migration zu kommen, Armutswanderung, Kriegs- und Bürgerkriegsflucht sowie Wirtschaftsmigration. Daraus folgert er sieben Postulate:

  • Gestalte die Migrationspolitik so, dass sie zu einer humaneren und gerechteren Welt beiträgt.
  • Gestalte die Migrationspolitik im Inneren, also in den aufnehmenden Gesellschaften so, dass die Einwanderung als Bereicherung und nicht als Bedrohung wahrgenommen wird.
  • Migrationspolitische Entscheidungen müssen mit dem kollektiven Selbstbestimmungsrecht der jeweiligen Bürgerschaft verträglich sein.
  • Die Migrationspolitik sollte so ausgestattet sein, dass sie die soziale Ungleichheit im aufnehmenden Land nicht verschärft, die Strukturen des sozialen Ausgleichs (Sozialstaat) nicht gefährdet und über alle sozialen Schichten hinweg Akzeptanz finden kann.
  • Die Migrationspolitik generell, speziell aber die Wirtschafts- und Arbeitsmigration gerichtete, hat die Nachteile, die sich daraus für die Herkunftsregionen ergeben, vollständig zu kompensieren.
  • Da Migration … bei der Bekämpfung des Weltelends und der Milderung der Ungleichheit zwischen globalem Norden und Süden (eher kontraproduktiv wirkt), sollten die Solidaritätsressourcen der Weltgemeinschaft nicht überwiegend durch transkontinentale Migration gebunden, sondern … zum Aufbau einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung eingesetzt werden.
  • Verlange von der Migrationspolitik nichts, was du nicht auch in deinem sozialen Nahbereich akzeptierst und praktizierst, und praktiziere in deinem sozialen Nahbereich, was du von der Migrationspolitik erwartest.

Anhand eines konkreten Beispiels zeigt er im vorletzten Kapitel die Legimitation von Grenzen auf, um sich im letzten Kapitel gedanklich auf den Weg zu einer gerechteren Welt zu begeben.

Der nicht leicht zu lesende Text beschäftigt sich mit dem komplizierten Thema auf grundlegend humanistische und weltsichtige Weise. Er benennt klar die Defizite der aktuellen Politik und gibt einen Ausblick auf bessere Handlungsmöglichkeiten.

 Torsten Hübler

JULIAN NIDA-RÜMELIN
Über Grenzen denken
248 S., geb., edition Körber-Stiftung, Hamburg, ISBN 978-3-89684-195-7, 20,- Eur0


 

beziehungsweise Café Milath

Ein Ü-Buch – in der U-Bahn …

So in etwa wirkt das handliche schmale Büchlein auf mich beim ersten Durchblättern: Ah, Fotos. Alte Fotos. Oh, eine leere Seite mit gelbem Kreis? Ui, keine Ecken für Eselsohren …

Lauter Überraschungen eben.

Ich lese es in der Berliner U-Bahn … Es liest sich irgendwie passend so, im berlinernden Menschengetümmel, aussteigen, einsteigen, Potsdamer Platz, Alexanderplatz … Denn genau hier spielt die Geschichte – mitten in Berlin. Sie beginnt im Jahre 1976, Elvis lebt da noch. Und ein Jahr später, wenn die Geschichte endet, ist Elvis tot. Die Maria Callas ebenso. Das wird so am Rande erwähnt. Vielleicht zur besseren geschichtlichen Einordnung. Ebenso tauchen viele andere kleine geschichtliche Anekdoten auf aus dieser Zeit.

Die Story an sich scheint einfach: Hilfskellner Urs, 30, Literaturstudium-Absolvent ohne Abschluss, arbeitet tagein, tagaus im Café Milath am Luise-Platz. Das Café ist damals berühmt für sein selbstgemachtes Eis. Urs ist etwas schüchtern, das Gegenteil von welt-und wortgewandt – zumindest in entscheidenden Momenten. Und so verliebt er sich in die blonde Bibelschulenbesucherin Nadja, seine Aushilfskollegin – ohne ein Jahr lang die rechten Worte zu finden. Nebenher ist er auf Lebenssinn-Suche, oder muss sich um die Chefin sorgen, die bei einem Raubüberfall schwer verletzt wird, oder steckt zeitweise in unrühmlichen Lebenserinnerungen fest, und und und … Aber irgendwann dann, ein Jahr später (wie gesagt, Elvis ist nun tot) endet die Story – indem eine neue beginnt … Welche? RINGlingLING. Lesen Sie selbst.

Ich als Leserin nehme teil am Leben in diesem Berliner Café. Die Besucher, ihre Lebensgeschichten, die Dialoge, die Urs aus seiner Sicht erzählt, sind miterlebbar – als säße man mit an Tisch 2 oder 3 und das Vanilleeis zergehe einem gerade auf der Zunge wie Stammgästin Frau Mewes’ Lebensweisheiten im Ohr. Vergnüglich zu lesende Gespräche in Berliner Denkart und Schnauze.

Und: Aha. So ging es also damals zu in den Siebzigern, in Westberlin – bekomme ich einen kleinen Eindruck. Zeitreise. Auch dank alter Fotodokumente auf den vom Autor so genannten Bonusseiten …

Ein knuffiges, handtaschentaugliches Büchlein voller Gedanken- und WortWITZ(EL). Autor Herbert Witzel, der einstige Spediteur, transportiert nun Worte – in seinem vor einem Jahr gegründeten Verlag www.worttransport.de und ist übrigens ein langjährig ehrenamtlicher Autor der TrokkenPresse.

Anja Wilhelm

HERBERT WITZEL
beziehungsweise Café Milath
Eine Geschichte aus Berlin
107 Seiten,
wortransport.de Verlag – Bücher ohne Eselsohren
14 Euro


 

Ernst Bloch: Zu seinem 30. Todestag

Das Prinzip Hoffnung ist Blochs Hauptwerk. Es zu lesen ist nicht einfach, fast schon abenteuerlich zu nennen. Die Sprache schwierig, klobig, wie Felsgestein. Der Inhalt ist ein wüstes Gemenge, eine wilde, schier berauschenden Mixtur (wäre sie dazu nicht allzu schwer) aus Musik, Philosophie, Religion und Kunst. Und obwohl Bloch stets großen Wert darauf legte, als Marxist gesehen zu werden, spielen Politik und Wirtschaft darin kaum eine Rolle. Stattdessen breitet er ein mit großem Pathos vorgetragenes (kulturelles) Bild der Menschheitsgeschichte (von ihm versehen mit den Kategorien Möglichkeit, des Noch-Nicht, des Surplus und des Prinzips Hoffnung) und ihrer vor allem vom Juden-und Christentum inspirierten Hoffnung auf eine bessere Welt vor uns aus.

Seine Zielvorstellung war es, die in seinen Augen noch lange nicht ausgeschöpften Möglichkeiten der Welt und des Menschengeschlechts zu einer ganz anderen als der bisherigen Welt aufzuzeigen und ihr zum Durchbruch zu verhelfen. Und dies nicht auf dem Boden bloßer Schwärmerei, sondern als etwas Reales, als eine Möglichkeit (daher die Kategorie), die in der offenen Struktur des Menschen und der Welt angelegt sei. In einer Welt und in Menschen verankert, worin alles noch am Anfang stünde, alles noch sei wie am ersten Tag, wie neugeboren und in nichts an sein Ende gelangt.

Dass aus solch einer Offenheit nicht allein ein Paradies auf Erden resultieren könnte, sondern auch das Gegenteil, ist der weiße Fleck in seinem Werk. Woran auch der Titel eines seiner letzten Aufsätze: Kann Hoffnung enttäuscht werden (eine Frage, welche er bejahte) nur wenig ändern kann. Denn sein Verhältnis zur Welt war weniger ein analytisches als das einer Weltanschauung, weshalb eine Zeit lang auch Stalin neben seinen sonstigen Lieblingsfiguren Jesus, Hegel, Marx und Karl May in die Position eines Säulenheiligen bei ihm gelangen konnte und Bloch folgerichtig die Moskauer Prozesse vehement verteidigte. Manche titulieren deshalb sein Verhalten, seine Sprache und seine Art des Philosophierens als die eines Sportreporters, als zu emotional, zu schmissig, zu laut und zu wenig durchdacht. In dieser Weise geurteilt, könnte man die Art Heideggers pedantisch nennen, bürokratisch und sein in schier unvergleichlich eng gestrickter Weise geschriebenes berühmtesten Werk – Sein und Zeit (mit den Vokabeln der Sorge, des Hineingehaltensein ins Nichts, des Geworfenseins, der Existenz, der Angst angesichts des Todes, der Begrenztheit von Raum und Zeit) als ungenießbar, als phantasielos und als phrasenhaft. Bloch hielt es (platt wie oft) für den Ausdruck der letzten Zuckungen eines untergehenden Kleinbürgertums. Nur so, wie es Heidegger unmöglich gewesen wäre, die Oktoberrevolution (wie Bloch es tat) für das Geburtsdatum einer neuen Welt und eines neuen Menschen zu halten, so wenig wäre es Bloch eingefallen, den Nationalsozialismus (wie es Heidegger tat) zur angemessenen Form menschlichen Daseins zu erklären. So gewiss Hoffnung enttäuscht werden kann, so gewiss kann sie auch Erfüllung finden. Und was wäre eine Welt schließlich ohne sie anderes als ein Höllenkreis. Nur was dann, wenn sie „Erfüllung“ fand ? Auch hier erneut zu viel an Phrase und zu wenig an Gedanken.

Nein, all dies ist letztlich keine Philosophie, denn er übersieht vollständig, dass er mit gleichem Recht ein Prinzip der Hoffnungslosigkeit hätte schreiben können (mit den Kategorien der Unmöglichkeit et al, vergleichbar den Versuchen Schopenhauers und Nietzsches dazu). Denn dort, wo er die Philosophie zu beenden sucht, dort fängt sie (das Denken) erst an. (Ganz so, wie das Leben einer Alkoholikerin mit der Nüchternheit erst beginnen kann, statt dort zu enden.)

Wolfgang Hille

 ERNST BLOCH
Das Prinzip Hoffnung
Taschenbuch, 1696 Seiten
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 554
Erschienen: 01.07.1985
ISBN: 978-3-518-28154-3
32,00 €


Jürgen

Ladies first, James Last

Nach dem Bestseller „Der Goldene Handschuh“ legt Heinz Strunk nun wieder eine kleine Geschichte über zwei Männer auf ihrer Suche nach dem Glück vor.

Jürgen, der Ich-Erzähler, ist Parkwächter in einer Tiefgarage in Hamburg, seine bettlägerige Mutter lebt bei ihm. Bernd, Jürgens bester und einziger Freund, ist Sachbearbeiter bei Westsaat mit Schwerpunkt Kaltakquise, da macht ihm keiner was vor, und sitzt im Rollstuhl. Diese Zwei stellen nun, im mittleren Alter von Jahren fest, dass eine Partnerin in ihrem Leben fehlt. Die Ansprüche der Beiden sind bescheiden, der eine äußert sich: „Ob blond, brünett oder rothaarig, spielt keine Rolle. Das Alter ist auch nicht entscheidend. Nur übermäßig dick sollte sie nicht sein, und nicht zu groß.“ Der Andere: „Ich hab auch keine großen Ansprüche: Meine Zukünftige sollte Insekten wegmachen können, keine Amalgamzähne haben und gerne kniffeln.“ Jürgen Dose hat alle Ratgeber zum Thema „Mission Traumfrau“ gelesen und zitiert das ganze Buch hindurch die Ratschläge der „Beziehungsprofis“. Theoretisch weiß er alles über Frauen (wenn sie flirten, erhöht sich angeblich die Blinzelrate), nur praktisch hat er wenig Anwendungsmöglichkeiten.

Jürgen geht es an und hat ein Date mit Manu, die sich während des Essens beim Italiener volllaufen lässt, das ergebnislos endet.

Nun gehen es die beiden Freunde und Leidensgefährten gemeinsam an, mit Speeddating, welches aber auch, trotz zweier „Augenpralinen“,  nur ins Fiasko führt.

Letzte Rettung ist die Firma „Eurolove“, die anschmiegsame Frauen aus Polen vermittelt. Beginnend mit einer Kleinbustour von Hamburg über Dortmund und Bautzen nach Breslau nimmt das Desaster seinen Lauf.

Diese an sich banale Geschichte wird durch Strunks Erzählweise veredelt. Die nicht nur aus den Ratgebern, die tatsächlich als Quellen am Ende des Titels angegeben werden, sondern aus Werbe- und Behördendeutsch entnommenen Phrasen, Stereotypen  und Worthülsen lassen die Geschichte leicht und lustig werden. „… zähl deine Geschenke, nicht deine Probleme. Denn wenn dir das Leben nur Zitronen gibt, dann mach Limonade draus.“ Und ähnlichen Schwachsinn baut der Autor in die Sätze der beiden armen Kerle ein.

Angereichert wird das Ganze noch mit skurrilen Nebengeschichten, z.B. von dem Plan des Mann aus der Stammkneipe der beiden Hauptakteure, der ins Guinnessbuch der Rekorde kommen will, indem er unentdeckt über 15 Jahre tot in seiner Wohnung liegen will oder dem Nachbarn, der jahrelang für 8.000 Petro-Dollar im Monat in einem Ölstaat als lebende Schachfigur arbeitet.

Keine große Literatur, aber ein sehr heiteres Buch, was gute Laune macht. Trotz der trüben Ausgangssituation und der Rückschläge lassen sich die Beiden nicht unterkriegen und schauen optimistisch in das Morgen.

Torsten Hübler

HEINZ STRUNK
Jürgen
256 S., geb., Rowohlt, Reinbek, ISBN 978-3-498-03574-7, 19,95 Euro


 

Tatort Krankenhaus

Hochgerechnet 21.000 Patientenmorde in Heimen und Krankenhäusern

Nach „Tatort“, Deutschlands beliebtester Krimiserie, benennen Professor Dr. med. Karl H. Beine und Jeanne Turczynski ihren neu erschienen Titel zum skandalösen deutschen Krankenhaus- und Pflegeheimwesen. Die Autoren rechnen eine aktuelle Umfrage der Universität Witten-Herdecke mit gut 5.000 Teilnehmern für ganz Deutschland hoch.

Dies ist natürlich eine hochspekulative Zahl. Beine ist Chefarzt am St. Marien-Hospital in Hamm und Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der untersuchenden Universität Witten-Herdecke. Turczynski ist Redakteurin in der Redaktion Wissenschaft beim Bayerischen Rundfunk. Daher verwundert die sehr bodenständige Herangehensweise an das komplexe Thema Krankenhaus, Versorgung und Pflege.

Ausgehend vom Fall Niels H., dem „Massenmörder im weißen Kittel“ (Frankfurter Rundschau), welcher zugab, in Oldenburg und Delmenhorst mindesten 30 Patienten mittels Medikamenten zu Tode gebracht zu haben und weiterer spektakulärer Patientenmordfälle, soll dargestellt werden, wie die Überlastung der Pflegekräfte, die Unzulänglichkeiten des Systems und die Widersinnigkeit der Fallpauschalen einen schlechten, teils mörderischen Umgang mit den Patienten hervorrufen. Belegt wird dies überwiegend mit Zahlen aus der oben genannten Studie der Universität Witten-Herdecke und der minutiösen Schilderung von tödlichen Einzelfällen. Auch werden Auswüchse des unbestritten schlecht arbeitenden Krankenhaussystems teils mehrfach benannt, z.B. ein 93-Jähriger, dem eine neue Herzklappe implantiert wird. Um am Ende in sieben Forderungen (z. B: bessere Ausbildung, Klasse statt Masse oder Wehrt euch!) zu gipfeln, deren Adressat aber unbestimmt bleibt.

So nachvollziehbar Kritik am bestehenden überkomplexen Gesundheitssystem ist, so wenig nachvollziehbar ist der Weg, den die Autorin und der Autor gehen. Ausgehend von Mord und Totschlag fokussieren sie auf die Arbeitsbelastung und den Patientenschlüssel der Pflegenden in Deutschland und stellen dem Schweden als positives Beispiel entgegen. Sie fordern, die Ökonomisierung des Krankenhausbetriebes abzuschaffen zugunsten einer dem Patienten zugewandten Medizin und Pflege. Als Vorschlag zur Finanzierung von mehr Pflegenden pro Patient, besserer Ausbildung, Coaching und anderen wünschenswerten Dingen schlagen sie vor, die Chefarzt-Boni zu streichen, nach meiner Einschätzung ein Tropfen im großen Fass der Gesundheitsindustrie. Es wird sich sogar zu der Frage verstiegen: „Muss tatsächlich ein Medikament gezahlt werden, bei dem eine Dosis 100.000 Euro kostet?“ Eine weitere Auseinandersetzung mit der Finanzierbarkeit ihrer Forderungen findet nicht statt.

Beide vermeiden eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem weltweit teuersten Gesundheitssystem, welches nur bestenfalls mittelgute Ergebnisse liefert. Gefragt werden müsste, warum kein Geld für mehr Pflegende im System ist. Liegt es an der Aufteilung in private und gesetzliche Kassen, liegt es an der Anzahl der 200 gesetzlichen Krankenkassen? Liegt es daran, dass nicht alle nach ihrem wirtschaftlichen Leistungsvermögen in die Gesundheitskassen einzahlen? Natürlich ist bei der Verteilung des Geldes der Versicherten eine Ökonomisierung zu wünschen, man darf dies aber nicht Politikern, Lobbyisten, Krankenkassendirektoren  und Gesundheitsmanagern überlassen, auch die Pharmaindustrie ist außen vor zu lassen. Der vorliegende Titel bringt wenig Neues, breitet dies aber weidlich aus. Vielleicht wäre es besser gewesen, wirklich nur die Kriminalfälle im Krankenhaus zu reportieren, auch der Abrechnungsbetrug zählt dazu. Die Forderungen an das System hätten vielleicht in einer eigenen Publikation Platz gefunden, begründet und dargestellt anhand der immer wieder im Buch auftauchenden Studie der Universität Witten-Herdecke und deren Zahlen.

Torsten Hübler

KARL H. BEINE, JEANNE TURCZYNSKI
Tatort Krankenhaus
256 S., geb., Droemer Verlag, München, ISBN 978-3-426-27688-4, 19,99 Euro


7 Cover CannabisPsychiatrie Verlag Basiswissen

Cannabiskonsum und psychische Störungen

Michael Büge, Berliner Therapeut aus dem Suchtbereich, schreibt einen hilfreichen Praxis-Ratgeber über Cannabis, nicht nur für Fachleute.

24.000 Cannabisabhängige in der Hauptstadt sind kein Pappenstiel. Dies nur vorausgeschickt, damit der Leser die enorme Dimension des oft bagatellisierten Rauschmittels einschätzen kann. Büge geht sehr systematisch an das Thema, gibt erst Grundinformationen zum Cannabis und dessen synthetischem Ableger, sog. „Badesalze“, um dann praktische Fragen aus dem Alltag des Missbrauchenden zu diskutieren. Über die Erklärung der Sucht und den Wechselwirkungen zu psychischen Erkrankungen und Medikamenten kommt er zur Behandlung. Die Rolle der Helfer und Angehörigen wird besprochen und Vorschläge für ein konkretes Handeln im Umgang mit dem Suchtkranken werden gemacht.

Neben der guten Systematik ist auch das Druckbild sehr hilfreich, da Kernwörter fett gedruckt am Rande stehen und so ein Auffinden bestimmter Themenkomplexe erleichtert wird. Auch werden Merksätze und Beispiele verwendet, die das Büchlein zu einem hilfreichen Ratgeber machen. Geschrieben für Praktiker, Therapeuten und andere in der professionellen Suchthilfe Tätige, kann es auch hilfreich für Angehörige von Cannabismissbrauchenden sein, die sich im Bereich Cannabissucht schnell und effizient orientieren wollen. Die einzelnen Kapitel sind kurz und sehr konzentriert geschrieben. Neben den allgemeinen Themen geht es um folgende psychischen Erkrankungen und deren Wechselwirkungen mit Cannabis: Depression, Persönlichkeitsstörungen, Angsterkrankungen, ADHS und verschiedene Psychosen.

Am Ende werden noch Web-Links und ausgewählte, weiterführende Literatur aufgelistet.
Ein schneller und umfassender Einstieg in das Thema.

Torsten Hübler

MICHAEL BÜGE
Cannabiskonsum und psychische Störungen
152 S., TB., Psychiatrie Verlag, Köln, ISBN 978-3-88414-635-4, 17,95 Euro


7 cover dunkelblauDunkelblau.

 Vor drei Jahren starb der Vater an den Folgen der Alkoholsucht. Ganz allein, ja einsam sogar, in seiner Wohnung. Dominik Schottner erfuhr es damals von der Polizei am Telefon, als er, 500 km entfernt, gerade in seiner Küche steht und Kartoffelsuppe kocht …
Seitdem hatte sich der Autor auf den Weg gemacht, herauszufinden, warum das passieren konnte. Nun ist sein Buch darüber erschienen.

Ihm war immer bewusst, dass sein Vater zu viel trank. Zu viel, seit er sich erinnern kann. Schuldgefühle kamen hoch: Hätte er etwas tun sollen dagegen? Tun können überhaupt?

Er macht sich auf, quer durch Deutschland, um Verwandte, Freunde, Kollegen des Vaters zu befragen – und erinnert sich zurück in seine eigene Kindheit mit einem trinkenden Vater. Wie wurde er zum Alkoholiker? Wann und warum begann alles? Wie hätte man ihm helfen können? Hätte er Hilfe überhaupt angenommen?

Für Alkoholabhängige ist an der Geschichte des alkoholkranken Vater nichts tatsächlich neu. Wir kennen aus eigenem Erleben, wie man sich fühlt, wie man leidet, kämpft, sich schämt. Was aber neu ist: Dass sie von einem nichtsüchtigen Außenstehenden, vom Sohn sogar, erforscht und betrachtet wird. Nicht als Bewerter und Verurteiler. Nein, der Autor fahndet fast liebevoll nach Anzeichen und Ursachen. Versucht, Rat zu finden in der Suchtforschung (zum Beispiel: Kann Alkoholismus vererbt werden?), in der Suchtpolitik, bei Betroffenen.

Auf spannende und in einem für mich geübten, tollen Schreib-Stil – er ist Journalist und Radiomoderator – verwebt er diese seine neuen Erkenntnisse mit der Geschichte seiner Suche, seiner Erinnerungen und die der anderen.

So erleben Angehörige einen alkoholabhängigen Menschen, so leiden sie häufig unter ihm – ja, diese Blickrichtung mal anders herum finde ich persönlich sehr wichtig!

„Warum trinken wir eigentlich überhaupt Wein und Bier und Schnaps?“, das ist die Grundfrage, bei der der Autor landet. „Die Antwort: Weil Sie, weil ich, weil wir es so gelernt haben.“ So kommt er auf das Thema der gesellschaftlichen Akzeptanz von Alkohol. Die Universaldroge der Welt, wie er es nennt, preiswert und allgegenwärtig. Und er stellt weiter fest, dass „… dieses gesellschaftliche Klima Erfüllungsgehilfe und Henker zugleich“ für Suchtkranke wie seinen Vater ist.

Dominik Schottner teilt mit diesem Buch seine Erkenntnisse mit dem Leser – und kann vielleicht den einen oder anderen auf den eigenen unbedachten Umgang mit dem Feierabendbier oder dem Problem-Schnäpschen aufmerksam machen …

„Dunkelblau erzählt eine Familiengeschichte, die auch unsere sein könnte“, bemerkte ein Rezensent treffend, finde ich.

Anja Wilhelm

DOMINIK SCHOTTNER
Dunkelblau. Wie ich meinen Vater an den Alkohol verlor
254 Seiten, Taschenbuch, Verlag PIPER, ISBN 978-3-492-06062-2, 15 Euro


7 Cover Erhard

Vom Sollen zum Wollen

Lesen Sie es, dieses Büchlein … das ist meine Empfehlung: An den noch unentschlossenen Alkoholkranken. An jenen, der gerade eine Entwöhnung hinter sich hat – und an diejenigen, die schon lange trocken leben. Jeder kann den Gedanken Anton Erharts etwas für sich entnehmen, finde ich.

Denn etwas ist anders, ist besonders an diesem Büchlein in der langen Reihe inzwischen vieler Bücher von trockenen Alkoholikern: Es ist kein bloßer Erfahrungsbericht. Zwar berichtet  der Autor natürlich von seinem Weg in die Trinkerei. Vom Verlust von Ehe und Job. Von Entgiftung und Therapie. Von seinem Weg in die Trockenheit bis hin zur zufriedenen Abstinenz. Diese Geschichte gleicht den unseren. Typischen Alkoholiker-Lebenswegen. Wir können uns wiederfinden darin.

ABER: Mit seiner Erfahrung von 18 Jahren Trockenheit ist er in der Lage, auch zu reflektieren. Zum Beispiel die Warum‘s, die Wie’s. Er stellte sich selbst viele Fragen im Laufe der ersten Zeit, wie: „Ich hätte die Freiheit, weiter zu trinken, doch zu welchem Preis? Wäre ich bereit, die Konsequenzen zu tragen?“ oder „Wieso sollte ich ein Recht auf Glück haben?“ Solche Fragen teilt er mit dem Leser. Erzählt, wie er welche Antworten fand. Unwillkürlich stellt sich der Lesende diese Fragen auch selbst dann … Und Anton Erhart spricht den Leser auch sehr häufig direkt an: „Möchtest du sagen können, ich trinke keinen Alkohol mehr, und das ist gut so?“ Jeder kann sich seine Antworten dann selbst finden. Und das eben ist noch etwas sehr Besonderes: Der Autor nimmt den Lesenden an die Hand in einem Erkenntnisprozess, wenn es der Lesende denn will.

Anton Erhart schreibt nicht, um sich selbst darzustellen. Schon gar nicht, um uns seinen persönlichen Weg als DEN Königsweg aufzudrücken, Recht haben zu wollen oder gar zu sagen: Du musst dies und das! Eher wirken seine Gedanken, seine Worte, ja … mitfühlend ist vielleicht das richtige Wort. Helfen wollend, ohne Druck. Und das immer, immer positiv. Darum geht es ihm: Zu motivieren. Das tut er vor allem in Kapiteln wie „Loslassen“, „Veränderung des Denkens, Handelns und Fühlens“, „Dafür und nicht dagegen, „Auch du hast ein Anrecht auf Glück“, „Vom Sollen zum Wollen“. Er schreibt zum Beispiel: „Mir hat geholfen, dass ich Abstinenz nicht mehr als notwendiges Übel ansah und als Verzicht, sondern als besondere Leistung und Freiheit, die mich keine Energie kostet, sondern mir sogar Energie gibt. Ich habe mir erlaubt, wieder Spaß und Freude am Leben zu haben, damit ich keinen Alkohol mehr trinken möchte.“

Wie er bis dahin gekommen ist, wie er das geschafft hat, diese zufriedene Abstinenz, die nur eintreten kann, wenn man mehr ändert im Leben als nur das Trinkverhalten, das können Sie sehr detailliert in seinem Buch nachlesen.

(Übrigens: Anfangs bin ich zwar über die zahlreichen Groß/Kleinschreibungs-und Kommafehler gestolpert, weil sie manchmal etwas den Sinn veränderten – aber da das Buch im Selbstverlag ohne Lektorat erschien, kann man sich doch rasch und verständnisvoll daran gewöhnen ;-))

Anja Wilhelm

ANTON ERHART
Mach dich unabhängig – vom Sollen zum Wollen
Softcover, Taschenbuch, 144 Seiten
Verlag www.epubli.de
ISBN: 9783956454851
7,99 Euro


7 GurgelStatistik der Versoffenheit

Der Arzt Magnus Hirschfeld beschreibt das Elend durch den Alkohol im wilhelminischen Berlin

Ein Fund im Antiquariat macht die Neuausgabe des vergessenen Werkes „Die Gurgel Berlins“ von Magnus Hirschfeld im kleinen Berlin-Neuköllner wortransport.de Verlag erst möglich. Dr. Magnus Hirschfeld (1868-1935) war Arzt in Berlin-Charlottenburg, bekannt wurde er als Sexualforscher, setzte sich aber auch mit der verheerenden Wirkung des Alkohols auseinander. Vor der „Gurgel Berlins“ schrieb er schon „Der Einfluss des Alkohols auf das Geschlechtsleben“, danach „Alkohol und Familienleben“, die auch einer Neuauflage harren.

In im Jahre 1905 erschienenem Werk „Die Gurgel von Berlin“ beschränkt er sich auf ein vergleichsweise kleines Gebiet, den Alkoholmissbrauch in der Stadt Berlin. Dabei bedient er sich in allen drei Kapiteln eines unverdächtigen Werkzeugs, der Statistik.

Hirschfeld führt penibel auf, wie sich der Bestand der Branntweinhandlungen und -schenken langsam erhöhte, setzt dies ins Verhältnis zur Einwohnerzahl. Desgleichen schreibt er von Weinlokalen, Bierrestaurants, Schankwirtschaften und Kaffeehäusern mit alkoholischem Ausschank. Im Jahre 1905 werden 157 Berlinerinnen und Berliner von einer gastronomischen Einrichtung mit alkoholischem Ausschank versorgt, eine Steigerung um 83,8 Prozent in zwanzig Jahren, wie der Mediziner feststellt. Der Autor setzt auch die Anzahl der Schenken in Relation zur Anzahl der Berliner Grundstücke, nach seiner Rechnung befand sich in jedem zweiten Haus ein alkoholischer Ausschank. Auch internationale Vergleichszahlen zieht er heran, in Wien z.B. versorgte ein Ausschank 1.244 Einwohner.

Der Arzt Hirschfeld zeigt im zweiten Teil die katastrophalen gesundheitlichen Folgen des Nervengifts und zieht nicht nur die Berliner Statistik heran, dem heutigen Leser wird manche Kategorie der Datenerhebung absonderlich vorkommen (z.B. bei Suizid die Kategorien „wegen Laster“ oder „wegen Leidenschaft“), sondern auch die Berichte seiner renommierten Kollegen aus den großen Berliner Krankenhäusern und Nervenheilanstalten. Überraschend für den Leser ist 100 Jahre später, welches Wissen schon damals über die gesundheitlichen Folgen des Alkoholkonsums bestand. Im weiteren Verlauf der Beobachtung führt Hirschfeld den Zusammenhang von Obdachlosigkeit und Alkohol sowie Kriminalität und Alkohol aus, alles unterlegt mit Zahlen und plastischen Beispielen. (Mit Interesse hat der Rezensent zur Kenntnis genommen, dass es 1905 schon den „XI. [elften] Kongress gegen den Alkoholismus“ in Stockholm gab, sich also die Medizin schon seit mindestens, aus heutiger Sicht, 123 Jahren öffentlich und international mit dem Alkoholismus beschäftigt.) Den schädlichen Folgen des Alkoholkonsums fügt der Mediziner noch eine weitere, alle Bürger betreffende, hinzu, die ökonomische. „Alle Fachleute sind sich darüber einig, dass die Belastung des Kommunalhaushalts durch den Alkoholismus in Deutschland eine sehr erhebliche ist“, führt er aus und unterlegt auch diesen volkswirtschaftlichen Aspekt mit einer Menge Zahlen. Das Kapitel endet mit dem Aufruf: „Zwei Probleme individueller Lebensführung harren heute mehr denn je der Nachprüfung und Lösung: Die Alkoholfrage und die sexuelle Frage.“ Die sexuelle Frage ist weitgehend gelöst, die alkoholische harrt noch ihrer Lösung.

Im dritten und letzten Teil befasst sich der Autor mit der Alkoholkrankenhilfe, die es auch schon gab. Er sieht Suchthilfe als Kampf gegen das finanzkräftige „Alkoholkapital“. Interessant für den Leser, es gab schon damals ein alkoholfreies Restaurant, welches aber mangels Zuspruch schließen musste. Auch hier schaut er über den Berliner Tellerrand und benennt z.B. Schweden, das seinen Rein-Alkoholkonsum von 23 Liter pro Kopf und Jahr in 1829 auf 3,6 Liter im Jahre 1896 reduzieren konnte und resigniert „ Im ganzen Königreich Schweden mit 5 Millionen Einwohnern finden sich weniger Branntweinverkaufsstellen als in Charlottenburg“. Hirschfeld zeigt die schon damals existenten zwei Säulen der Suchthilfe, die professionell-medizinische und die nichtökonomische Selbsthilfe. Er setzt seine Hoffnung auf die neue Trinkerheilanstalt in Fürstenwalde und zeigt ausführlich die Aktivitäten der verschiedenen Abstinenzverbände und –vereine, wie z.B. Guttempler, Blaues Kreuz, Heilsarmee. Er lobt die Produzenten alkoholfreier Getränke und verdammt den Markt der Scharlatane mit den „Trunksuchtmitteln“ Damals wie heute ist die Dauer der (zu kurzen) Entgiftung und Entwöhnung Thema. Auch werden Gesetzgebungsvorhaben und Steuererhebung thematisiert.

Insgesamt ein Kabinettstück, welches der Verlag ausgegraben hat. Für Medizinhistoriker bestimmt eine hilfreiche Abhandlung, kann das Werk aber auch den normalen Leser interessieren. Hirschfeld ist kein Schriftsteller und der vorliegende Band ist kein belletristisches Vergnügen, aber ein populärwissenschaftliches Sachbuch. Für Menschen, die an Kultur- oder Berliner Geschichte interessiert sind, ein lesenswertes Stück Zeitgeschichte. Es ist schon erschreckend, wie viel Wissen es im Jahre 1905 schon über die Alkoholkrankheit gab, und wie wenig in über 100 Jahren seit dem Erscheinen des Titels in Sachen Suchtbehandlung und Suchtprävention geschehen ist.

Torsten Hübler

MAGNUS HIRSCHFELD
Die Gurgel Berlins
218 Seiten, TB, worttransport.de, Berlin; ISBN 978-3-944324-70-8, 12,00 Euro


Denn sie wissen nicht, was sie tun

„Vorsicht, Erfahrungsbericht!“, möchte ich am liebsten vorher warnen.

Denn dieses Buch ist vielleicht nichts für zartbesaitete Seelchen? Es kann erschüttern. Indem es sehr detailgetreu die schleichende, tragisch-dramatische Entwicklung einer schweren Krankheit – der Alkoholsucht, schildert

Es gibt bereits so einige Erfahrungsberichte von trockenen Alkoholkranken in Buchform. Aber das Besondere an diesem von Belinda Stern ist: Sie macht es nachvollziehbar auch für Außenstehende, dass die süchtige Trinkerei keine Schwäche des Willens ist, kein Fehler des Charakters. Täglich kämpft sie darum, weniger oder gar nichts zu trinken. „Jeden Morgen beschimpfte ich mich still als Versager, Nichtsnutz, Tunichtgut. Jeden Morgen nahm ich mir vor: Heute ist mein letzter Tag mit Alk.“ … „Abends lag ich mit Entzugserscheinungen im Bett. Ich war schweißgebadet, mein Herz raste, jeder Muskel und jeder Nerv zitterte und mein Puls spielte verrückt.“ Dagegen trinkt sie dann dennoch immer wieder an … Und das heimlich. Niemand soll es bemerken, weil sie sich schämt und schuldig fühlt.

Alkoholkranke Leser werden erinnert werden … So wie ich. Mir war, als würde Belinda Stern MEIN einst nasses Dasein schildern. Sie emotionalisiert nichts, schildert ganz sachlich ihre Tagesabläufe mit Feind/Freund Alkohol. Ja, genau so habe ich dahinvegetiert als Pegeltrinkerin. Das Büchlein erinnert mich an Details, die ich längst weit hinten im Gehirn abgelegt hatte. Ich wusste gar nicht mehr, dass ich ebenfalls Wein in Limoflaschen umgefüllt hatte zur Tarnung. Jeden Tag neu planen musste, wann genau ich wohl wieder einen kleinen Underberg – oder mehr –brauchen würde gegen das Zittern, um nicht aufzufallen und halbwegs gerade laufen und denken zu können. Wo ich den verstecke könnte oder einnehmen kann. Ich wusste nicht mehr so im Detail, dass ich genauso mit meinen Liebsten verbal gefochten hatte, sie beleidigt, verletzt, wie Belinda Stern. Dass jeder Tag einfach nur die Hölle war bis zum nächsten Schluck, der irgendwann auch nicht mehr befreite. Ich durchlebte alles nochmals. Wollte es gebannt weiterlesen – und wiederum auch nicht. Nach einigen Seiten musste ich das Buch immer wieder zuklappen, es bedrückte mich zu sehr.

Andererseits fühlte ich mich auch wie ein Beobachter, Außenstehender, ich konnte das Drama sehen wie in einem Spiegel, aber es war nur ein Spiegel, es war nicht mehr ICH. Teil des Gesundungsprozesses?

Die Story des Buches des Buches ist rasch erzählt:

Über den Zeitrahmen von neun Jahren schildert Belinda, Mutter von zwei Kindern und mittlere Angestellte einer Spedition, ihr Leben. Als ihre innig geliebte Mutter stirbt, trinkt sie vor Kummer drei Gläser Wein auf Ex. Die wohltuende Wärme überrascht sie. Bald wird der tägliche Wein selbstverständlich. Sie ahnt aber irgendwann, dass das doch nicht mehr normal sein kann. Schafft es aber nicht, aufzuhören. Es wird täglich mehr. Dennoch funktioniert sie, sie schafft es, im Job und Zuhause zu verheimlichen, wie es ihr wirklich geht. Ihre Filmrisse, ihre Streitlust belasten das Familienleben mit dem neuen Partner, der die Ursache nicht bemerkt. Nach neun Jahren allerdings und bei Schnaps in großen Mengen angelangt, ist sie körperlich und seelisch am Ende. „… ich beneidete jeden, der mir begegnete … Sie waren frei, frei von dem Diktat des Alkohols … Ich dagegen fühlte mich wie eine Gefangene.“ Sie entscheidet sich für professionelle Hilfe …

Ein Buch für Trockene, die sich erinnern und niemals vergessen wollen.

Ein Buch für Angehörige und Freunde von Alkoholkranken, die verstehen wollen.

Und ein Buch für jene, die noch um eine Entscheidung ringen, um die Erkenntnis: Bin ich Alkoholiker oder nicht?

Anja Wilhelm

BELINDA STERN
Denn sie wissen nicht, was sie tun
Mein Leben als „Nasse“ Alkoholikerin:
Neun Jahre, vier Monate und zwölf Tage
215 Seiten
AAVAA-Verlag
ISBN: 978-3-8459-1339-1
11,95 Euro


7 cover ALKOHOL-Die Gefahr lauert überall!Drei Bücher in einem

„Saufen kann jeder und die reine Lebensgeschichte eines Trinkers, will die jemand lesen?“ schreibt Burkhard Thom in seinem hier besprochenen Titel über die Buchpläne saufender Prominenter. Sein Buch ist zur einen Hälfte genau das, eine Säufergeschichte. Ein deutscher Manager säuft sich weltweit durch die Flughafenlounges, Edelhotels und Nobelrestaurants. Der lukrative Geschäftsabschluss, ein erfolgreicher Messetag, ein Geschäftsessen, ein langer Flug, es gibt immer Gründe, dem Alkohol zu frönen, zuerst nur auf geschäftlicher Ebene, später werden auch am heimischen Herd die Pullen versteckt und heimlich konsumiert. Nach Feierabend kommt das gesellschaftliche Leben nicht zu kurz, ein alkoholisches Getränk geht immer und überall. Zusammen mit seiner Frau plant er den Ausstieg aus der Sucht. Nachdem er in seinem räumlichen Umfeld ein in seinen Augen unzulängliches professionelles Hilfeangebot vorfindet, macht er einen „kalten Entzug“ zuhause und besucht ein Jahr lang eine Nachsorgegruppe. Er ist heute seit 23 Jahren trocken. In seiner alkoholischen Autobiographie setzt er sich auch mit der Verbreitung des Alkohols in Gesellschaft und Lebensmitteln auseinander. „Will die jemand lesen?“ Wenn man sich mit der Sucht auseinandersetzt, erkennt man im Austausch mit anderen, dass es DIE Sucht nicht gibt, jeder hat seine eigene Ausprägung, insofern ist auch die Schilderung von Thoms Sucht für den Leser hilfreich und zeigt einen Menschen, der sich seiner Krankheit gestellt hat und sie zum Stillstand bringen konnte. Eine Erfolgsgeschichte, die man gerne liest, die Mut macht.

Im zweiten Teil findet sich die Korrespondenz mit Lebensmittelherstellern zum Thema Alkohol in ihren Produkten, die der Verfasser nur kurz kommentiert. Es werden viele Produkte des täglichen Lebens behandelt und dem Leser wird der Untertitel klar, „Die Gefahr lauert überall“, nicht nur in der Schwarzwälder Torte, auch in Hygieneartikeln und in der Medizin. Dieses Kapitel ist sehr unübersichtlich und schwer zu lesen, kann aber dem frisch Entzogenen Hinweise für die neue Lebensführung geben.
Im letzten Teil hat sich der Autor mit einem Spitzenkoch zusammengetan und bietet 33 alkoholfreie kulinarische Rezepte auf hohem Niveau. Mache Rezepte wird kaum ein Leser dieser Zeilen je verwirklichen, z.B. „Cremesuppe vom Hummer mit Curry & Kokos“ (man benötigt u.a. 600g Hummerschalen), andere sind durchaus für den Normalbürger machbar, so das „Schmorhuhn“. Wer gerne kocht, findet hier Anregungen für das eigene Speisenangebot.

Hier hat jemand seine Jahrzehnte Suff, seinen Weg in die Trockenheit und seinen 23 Jahre währenden Erfolg in einem Buch aufgeschrieben, das eigentlich drei Bücher ist. Eine Autobiographie, ein Diskurs über versteckte Alkohole und ein Kochbuch, was eine Empfehlung an einen Leserkreis schwierig macht. Zum Schluss möchte ich dem Verlag bei einer weiteren Auflage empfehlen, dass ein gewissenhaftes Lektorat durchgeführt wird – es gibt beispielsweise recht viele Doppelungen in der Erzählung – und ein akribisches Korrektorat, da Satz- und Rechtschreibfehler das Lesevergnügen dieser Auflage sehr trüben.

Torsten Hübler

BURKHARD THOM
Alkohol : Die Gefahr lauert überall
212 Seiten; Klappenbr.; AAVAA Verlag, Hohen Neuendorf; ISBN 978-3-8459-2000-8; 11,95 Euro


cover Albers-BuchWolfgang Albers: Zur Kasse, bitte!

Gesundheit als Geschäftsmodell

Es gibt Bücher, die ich gerne bespreche, weil sie mir geistigen Genuss bereitet haben, und es gibt solche, die ein ungutes Gefühl erzeugen. Die Journalistenpflicht erfordert aber, das Eine zu tun, ohne das Andere zu lassen.

Das vorliegende Buch gehört eindeutig zur zweiten Kategorie. Erstens ist es ein Sachbuch, eine Analyse, und zweitens sind die genannten Fakten nicht neu, aber in der Konzentration bedrückend. Es geht um den Wandel des Gesundheitswesens zur Gesundheitsindustrie und den vom Patienten zum Kunden. Was ursprünglich Teil des „Sozialstaates“ war, wird jetzt Teil des ausschließlich profitorientierten Monopolkapitals. Auch in der deutschen Bundesrepublik, die im weltweiten Vergleich noch über ein solides Staatswesen und eine profitable Wirtschaft verfügt, werden durch die Regierung im Zuge der neoliberalen Globalisierung und der steigenden Umschichtung der Geldmittel von unten nach oben ehemals staatliche Aufgaben an private Unternehmen „verkauft“: Energieversorgung, Verkehrswesen, Wohnungswesen, Wasserwirtschaft und eben auch das Gesundheitswesen. Damit ist der Bürger zunehmend der Willkür und den Preisen der privaten Konzerne ausgeliefert. Deren Interesse ist natürlich nicht das Wohl der Menschen, sondern ausschließlich der Profit (wer mehr dazu wissen möchte, lese bei Karl Marx oder Noam Chomsky nach). Der Staat verletzt mehr und mehr eine seiner Hauptaufgaben, die Daseinsfürsorge für seine Bürger, ausgedrückt in einer alten römischen Rechtsnorm, nämlich: salus populi suprema lex – das Wohl des Volkes ist das oberste Gesetz.

Ein Insider analysiert

 Der Arzt Wolfgang Albers, gesundheitspolitischer Sprecher der Linken im Berliner Abgeordnetenhaus, analysiert in seinem Buch das deutsche Gesundheitswesen unter dem Gesichtspunkt des Wandels von der sozialen gesundheitlichen Fürsorge zum profitorientierten Wirtschaftszweig. Dabei geht er von den Ursprüngen der sozialen Sicherungssysteme aus, schildert die Anfänge der Krankenkassen und des Kassenarztsystems und kommt bereits im ersten Kapitel zu dem Schluss, dass die Solidargemeinschaft ein Auslaufmodell zugunsten der Privatisierung ist. Die Ärzte werden Unternehmer und die Krankenhäuser wandeln sich „… in Profitcenter und Renditefabriken“, wie er dann im Folgenden anhand zahlreicher Beispiele ausführt. Hier hat das Unbehagen schon längst von mir Besitz ergriffen: Wenn der Patient als Profitquelle gesehen wird, inwieweit kann ich dann Ärzten und Kliniken noch vertrauen? Werden meine Erkrankungen künstlich verlängert, statt sie möglichst schnell zu heilen? Werden mir Operationen aufgeschwatzt, die zwar nicht unbedingt erforderlich sind, Chirurgen und Krankenhäusern aber größtmöglichen finanziellen Nutzen bringen? Bekomme ich Medikamente, die den Gewinn der Pharmaindustrie erhöhen, aber für mich überflüssig sind (vgl. auch unsere Besprechungen der Bücher von Giovanni Maio und Peter C. Gotzsche)?

Noch ist unser Gesundheitssystem eine stabile Säule des Sozialstaates. Allerdings belegt Albers anhand zahlreicher Fakten, wie der Umbau zur Gesundheitsindustrie beschleunigt wird, unter tatkräftiger Mithilfe der Politik. Dabei beschreibt er auch, wie die Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen mit ihren Beiträgen zunehmend gesamtgesellschaftliche Aufgaben, die eigentlich aus Steuermitteln zu finanzieren sind, übernehmen müssen. Als Beispiele nennt er die „Gesundheitsförderung in den Schulen und Kindergärten, die Förderung von Selbsthilfegruppen oder von Beratungsstellen“.

Im Kapitel 3 beschreibt der Autor „Gesundheit als Ware“. Darin kritisiert er u. a. die bei den niedergelassenen Ärzten häufig angebotenen IGeL-Untersuchungen (Individuelle Gesundheitsleistungen). Allein 2014 wurden jedem dritten Patienten diese aus eigener Tasche zu bezahlenden Leistungen angeboten. Er verweist auf solche Angebote wie die Licht- und die Bachblüten-Therapie, die Ultraschalluntersuchung der Eierstöcke oder das sogenannte „Baby-Fernsehen“ in geburtshilflichen Praxen. Auch die Vielzahl von Therapien und Medikamenten, die vor allem in bunten Blättern beworben werden: „Befindlichkeitsstörungen wandeln sich so durch ein entsprechendes Marketing zu ausgewachsenen Krankheiten und selbst normale Lebensprozesse, wie eine Glatzenbildung …, geraten auf einmal zum medizinischen Problem. Manchmal mit fatalen Folgen.“ Daraus resultiert seine Schlussfolgerung: „Bekannt ist schon lange, dass die Pharmaindustrie mehr Geld in die Vermarktung ihrer Produkte steckt, als in die Erfindung neuer.“ 60 000 Medikamente sind in der Bundesrepublik zugelassen, aber etwa 2 000 würden für alle ausreichen.

Wo bleibt das Geld?

 Heute wird über die „Eigenverantwortung“ der Menschen diskutiert, sei es bei Rente, Arbeitslosigkeit oder Gesundheitsversorgung. Dabei ist damit nichts anderes gemeint als eine „Eigenbeteiligung“ an den Kosten, die allerdings jeder durch die entsprechenden Versicherungen bereits übernommen hat. Wohin die Gewinne, nicht nur im Gesundheitswesen, verschwinden, steht im „stern“ 50/2016, S. 32: „Den Zugewinn haben sich die …oberen vier bis fünf Prozent gesichert: die Eigentümer der Unternehmen und ihre treuesten und teuersten Angestellten, die Topmanager … Allein dem reichsten einen Prozent gehört heute ein Drittel von allem, und das reichste Promille besitzt ganze 17 Prozent.“ Dass die Gesundheitsindustrie da nicht abseits stehen will, ist nur zu verständlich, zumal es immer Behandlungsbedürftige geben wird und die Altersstruktur der Bevölkerung dazu beiträgt. Und nur wenig ist dem Menschen so wichtig (und so teuer) wie seine Gesundheit.

Auch die vielgepriesenen „Reformen“ der vergangenen Jahrzehnte „liefen … im Kern nur auf eine Verschlechterung oder eine Verteuerung der Gesundheitsversorgung für die große Mehrheit der Bevölkerung hinaus“. Letztendlich werden ärztliche und klinische Leistungen verkauft. Im Mittelpunkt steht nicht mehr der Mensch, sondern der Gewinn. Diesem Dilemma sind aber nicht nur die Kunden (früher: Patienten) unterworfen, sondern auch die niedergelassenen Ärzte und das Personal in den Krankenhäusern: Eine unzumutbare Zahl an Überstunden, Personaleinsparungen, Beschäftigung von minderbezahlten (und qualifizierten) Hilfskräften, Leiharbeitskräfte (bis hin zu Ärzten: rent a doc) tragen nicht nur zu einer Überforderung, sondern auch zum Qualitätsverlust in der Medizin bei. Besonders geißelt Albers den „Dokumentationsirrsinn“. Ein klinischer Internist wendet pro Schicht über drei Stunden dafür auf, ein Kassenarzt hat es mit 60 unterschiedlichen Formularen zu tun. Dabei laufen viele Krankheiten über die „Disease-Management-Programme“, die einen riesigen Dokumentationsaufwand erfordern, egal, ob bei einem Diabetes oder beim Bluthochdruck.

Abgesehen von der enormen Belastung der Mediziner geht hier wertvolle Zeit verloren, die besser dem Patienten zugutekommen sollte.

Schlussfolgernd stellt Albers fest: Die marktwirtschaftlichen Steuerungsmechanismen führen zwangsläufig zu einer nichtbedarfsgerechten Gesundheitsversorgung, weil die, welche die Versorgung in der Regel am nötigsten brauchen, sich diese Versorgung nicht mehr werden leisten können. Für diese Menschen beschränkt sich ihre medizinische Behandlung auf die Grundversorgung, denn mehr ist für die Alten, für die chronisch Kranken und für die anderen, die nicht über die nötige Kaufkraft verfügen, auf einem solchen Markt nicht zu haben.

Seine Aussagen für die Wandlung des Gesundheitswesens zum Gesundheitsmarkt belegt der Autor durch zahlreiche Fakten und Beispiele. Je länger der Leser sich in das Buch vertieft, umso mehr ergreift ihn das eingangs geschilderte Unbehagen. Geht es in der Konsequenz doch um nichts weniger als die weitere Auflösung der Solidargemeinschaft und somit um gesellschaftliche Grundsatzfragen. Wenn wir zulassen, dass unser Leben immer weiter nach einem ökonomischen Darwinismus ausgerichtet wird, werden immer mehr auf der Strecke bleiben. Eins ist zumindest klar: Das gegenwärtige Gesellschaftssystem und die Politik sind nicht in der Lage und nicht willens, einen grundlegenden Wandel herbeizuführen. Berufspolitiker sind abhängig von Lobbyisten und Topmanagern, und diese genießen offensichtlich einen lebenslangen Welpenschutz. Wer sich also über einen Teilaspekt, nämlich die Probleme im Gesundheitswesen, informieren möchte, dem sei dieses Buch empfohlen. Denn Wolfgang Albers beklagt nicht nur, er zeigt auch mögliche Lösungen auf.

Jürgen Schiebert

 Wolfgang Albers
Zur Kasse, bitte! Gesundheit als Geschäfts-Modell.

218 Seiten
Das Neue Berlin
ISBN 978-3-360-01312-5
14,99 €


7-dirk-marx-coverrgbSei mutig!

Hier wollen wir das Buch, über dessen Vorstellung schon berichtet wurde, vorstellen. Dirk Marx „Ick durfte neue Wege gehen … und wollt‘ mich ma‘ bedanken“, eine Sammlung aus Gedichten und Prosatexten. Marx hat für seinen Titel gekämpft, nicht nur die Texte verfasst, sondern sich Umschlagsgestalter, Innengestalter, Setzer und eine Druckerei gesucht und, als er keinen Verlag fand, mit selbst aufgetriebem Geld sein Werk realisiert. Es ist durch und durch das Werk von Dirk Marx, der auch seinen Therapeuten aus der Fontane-Klink Motzen für ein Vorwort gewinnen konnte, Thomas Klein-Isberner.

„Als Kräuterschnaps noch zweimal brannte“
Im ersten Teil des Bandes merkt der Leser schnell: Der Autor fabuliert gerne und spielt ausgiebig mit den Worten. Bei den dort versammelten Gedichten reimen sich nicht alle Verse immer nahtlos aneinander, bei Joachim Ringelnatz gelang das auch nicht immer, gut war es trotzdem, aber der Autor erzählt damit seine Mission: Es ist besser, positiv ins Leben zu schauen als den schwarzen Hund des Missmutes spazieren zu führen. Es ist besser, trocken und zufrieden zu leben als besoffen im Unfrieden. Seinen Weg zeichnet der Autor in 32 langen und kurzen Gedichten, immer mit Humor. Es geht um die Leere, die Depression, die Suchtverlagerung und Selbstbefragung hin zur Achtsamkeit.

RIP
Der zweite Teil versammelt zwei Nachrufe auf nun verstorbene Personen, Therapeuten, denen Marx in der Entzugsklinik begegnet ist und die ihn tief beindruckten und ihm und seinem Leben eine Wendung gegeben haben, Joachim Duda und Rainer Meschede. Der dritte Nachruf ist seinem Bruder Olli gewidmet.

… wir fahr‘n, fahr‘n, fahr’n …
Die letzten beiden Arbeiten beschäftigen sich weniger mit dem süchtigen als mit dem allgemeinen Leben, dem deutschen Bußgeldkatalog und dem Leben in Königs Wusterhausen, Land Brandenburg. Dem Leser steht besinnliche und vergnügliche Zeit mit den Gedichten bevor. Menschen, die Herrn Duda und Herrn Meschede gekannt haben, werden an den tiefempfundenen und persönlichen Nachrufen anteilnehmen. Aktiven und ehemaligen Gästen der Fontane-Klinik Motzen, aber auch anderer Einrichtungen, werden einiges wiederkennen.

Gut angelegenes Geld, da auch von den zwölf Euro noch zwei Euro an eine Suchthilfe Einrichtung gehen. Ein bisschen umständlich ist der Beschaffungsweg, da das Buch nur beim Autor persönlich zu beziehen ist, Kontaktdaten stehen unten.

Torsten Hübler

Dirk Marx
Ick durfte neue Wege gehen … und wollt‘ mich ma‘ bedanken
200 Seiten, 42 Abb., Broschur
12,00 Euro
Selbstverlag:
Dirk Marx, Friedrich Engels Str. 6,
15711 Königs Wusterhausen
Tel. 0162 870 33 55
dirk.marx@freenet.de


Wie alle anderen von John Burnside

Wie alle anderen

Ganz ehrlich? Ich möchte dieses Buch nicht ein zweites Mal lesen.
Weshalb? Es macht mich irgendwie … traurig. Es zieht mich ‘runter. Oder besser: Zurück. Zurück in meine Vergangenheit, in die düsteren Erinnerungen einer Suchtkranken. Ich leide mit dem Autor, wenn er versucht, nüchtern zu bleiben Tag für Tag. Der Trinker erkennt sich wieder in all seinen tragischen Versuchen, aufzuhören. „Geh zur Arbeit. Bring die Zeit rum beschäftige dich, und vor allem, bleibe so lange nüchtern wie irgend möglich …“

Burnside beschreibt den Abschnitt zwischen seiner Entlassung aus der Irrenanstalt (wie er die Klinik lakonisch nennt), beginnend mit seinem Entschluss, von nun als normaler Mensch zu leben – bis hin zur späteren Erkenntnis, dass dies doch nichts für ihn sei. Immer wieder versucht er, „normal“ zu leben, wie alle anderen um ihn herum. Er sucht sein persönliches Surbiton (ländliche Vorstadt von London), eine Wohnung, findet einen Job als Programmierer (später einen, bei dem er die Welt bereisen muss), geht morgens arbeiten, geht nach Hause, geht wieder arbeiten und so weiter. Lernt, Marmelade zu kochen, joggt, heimwerkert. Aber irgendwann landet er, der trockene Alkoholiker, doch wieder in einem Pub. Und dann noch einmal. Und dann immer wieder. Gesellt sich zu trinkenden Kumpanen, trinkenden oder nüchternen Liebschaften.
Er beobachtet – und nimmt den Leser mit dabei – die „normalen“ Menschen, ob im Büro oder auf einem Flughafen, wie sie leben, was sie tun, wie sie sich geben, was sie antreibt. Zwischen liebevoll und sarkastisch beschreibt er sie. Nie aber böse verurteilend.

Das normale Leben, das er ausprobiert, scheint ihn aber nur weiter in die Sucht zu treiben. Es ist ihm schlicht zu langweilig. Zu unattraktiv.
Also sucht er immer weiter. Aber wonach eigentlich? Irgendwo ist zu lesen: „… eine tiefe, hoffentlich anhaltende Zufriedenheit“.
Manchmal, in kleinen Augenblicken, meist in der Natur, ob in der weißen Stille eines finnischen Waldes oder nach einem Regenguss in Surbiton, tief berührend geschildert, ist da etwas. Fühlt er etwas. Nimmt er etwas wahr: Verbundenheit mit alles, was ist. Mit der Welt.

Im Schlusswort fasst er zusammen: „Nicht, wie die Welt ist, ist das Mystische, schrieb Wittgenstein, sondern dass sie ist … Und vielleicht war das über die vielen Jahre der eigentliche Grund für meinen vermeintlichen Wahn. In jenen Tagen, da ich geistesgestört war … konnte ich mich mit der gegebenen Welt einfach nicht abfinden.“

Auch wenn ich selbst mich kein zweites Mal in dieses Buch vertiefen möchte: Offen bleibt für den Leser, wie er es denn geschafft hat, irgendwann ein mit sich selbst zufriedenes Leben zu führen. Denn das lässt der klassische Rahmenbau, der zu Beginn und am Ende die Situation heute schildert – mit Familie und Kindern in einem Haus lebend – erahnen.

Das, ja das macht mich wirklich neugierig auf des mit vielen Preisen bedachten schottischen Poeten Burnsides nächstes Buch … wie ging es weiter, damals?

Anja Wilhelm

John Burneside
Wie alle anderen
Knaus Verlag
Gebunden, 314 Seiten
Erschienen: 22.08.2016
ISBN 978-3-8135-0714-0
€ 19,99


9783462048858_10„Man muss aufpassen“

Über Benjamin von Stuckrad-Barres „PANIKHERZ“

Da hat aber einer wirklich sehr kurz vor ganz knapp die Reißleine gezogen oder sie ist ihm gezogen worden (‚halb sank er hin‘…) und mit ganz viel Chuzpe und Hilfe hat Benjamin von Stuckrad-Barre, Autor  von ‚Panikherz‘, einem zu frühen Ende seines Lebens entkommen können.

Darin liegt mehrfaches, jedoch nur vorläufiges Glück. Zum einen und vor allem für den Autor selbst, der vor lauter Erstaunen über seine Rettung sogar die bemerkenswerte Energie aufbringt, seine Sucht-Biographie niederzuschreiben, zum anderen für den Leser, dem mit ausnahmsloser Ehrlichkeit und in höchst anschaulicher Weise und Sprache die Verzweiflung und tausendfach vergebliche Energie aufgeblättert wird, mit der der Autor seinen Wünschen, Zielen, Träumen hinterher hetzt und sich dabei immer mehr in den so grandios vergeblichen Versprechungen von Drogen verheddert.

Das Glück für Autor und Leser besteht aber vor allem darin, dass dieser Bericht – bei aller mutigen Verzweiflung, mit der Menschen ihren Träumen, Idealen und Wünschen entgegen leben – ein wunderbares Beispiel dafür ist, dass eben diese doch stärker sein können als all das Elend unserer „normalen“ Existenz, die uns so viel verspricht und oft genau so wenig hält wie alle leeren Versprechungen aller Suchtmittel.

Dass dies so ist, belegt die zweite Hauptrolle in „Panikherz“ und dies ist niemand Geringeres als Udo Lindenberg, dessen Lieder und Texte dem Autor schon früh zur Leitplanke seines nervösen Lebens werden.

Udo Lindenberg selbst beweist ja permanent, wie weit ein selbst erfundenes Leben die Wirklichkeit prägen kann und wie stark Identität eben auch zu einem Wegweiser werden kann – zugebenermaßen nach endlosen Irrungen und Wirrungen, in denen Drogen-Konsum zum Selbstverständlichsten der Welt gehören, genauso wie die vielen Chancen des Scheiterns und Untergehens. Sucht entfaltet enorme und ungeheure Energien – Udo L. kultiviert die Lässigkeit und cooles Selbstvertrauen trotz vieler langer alkoholgeschwängerter Jahre – die auch er wohl erst jüngst durch Abstinenz erlöst hat.

Idole, Träume, Ziele, Wünsche sind wichtige und wegweisende Bestandteile des Lebens, aber sie bleiben nur Abziehbilder oder Projektion und sind zu oft nur Einbahnstraßen in die falsche Richtung oder ersehnte Realität im Gefängnishof der Illusionen, wenn nicht eine innere Sicherheit Halt bietet, der sich Gelassenheit und Solidarität zugesellen.

In einer Welt, in der Oberflächlichkeit und Erzeugung von Schein-Realität als Hauptbeschäftigung von Medien und ihren Produzenten Selbstzweck geworden sind, sind substanzlose Existenzen ohne Identität dankbare Opfer von Ersatzleben und MÜSSEN Illusionen nähren und füttern bis zur Bulimie.

Das innere Doppelleben passt nicht mehr in die Schablonen von Wünschen und immer mehr Scherben von zerplatzter Realität machen genau diese so unerreichbar für den Süchtigen.

Wie heftig und umfassend Rausch, Sucht und Leiden an Sucht in der Mitte unserer gesellschaftlichen Normalität angekommen ist und wie sehr sie offensichtlich als Korrektiv einer unerträglichen Realität benötigt werden – in „Panikherz“ kann es anschaulich und präzise nachvollzogen werden und darin liegt wohl auch der Grund dafür, warum die Lesungen des Autors so gut besucht sind und das Buch sich so sehr gut verkauft.

Aber zurück zur „Rettung“ und zum „Glück“. Wie fast immer ist es weniger eigene Einsicht oder Entschlussfähigkeit, die zur Wirklichkeit zurückführt – es ist die Droge, die niederzwingt und es ist Notwehr, wenn sich die Restbestände des Ichs aufraffen und jeden Notnagel verzweifelt begrüßen.

Wenn diese grandiose Rutschpartie durchs Leben eine Botschaft beinhaltet, dann ist es eindeutig der Weckruf, sich so früh wie möglich bewusst seiner Identität zu versichern und der nervösen und kurzsichtigen Hektik unserer so „aufgeklärten“ Gesellschaft Widerstand zu leisten. Glück ist mehr als die Abwesenheit von Unglück und Freiheit ist mehr als man darf – die Rettung für Benjamin von Stuckrad-Barre hat mit „Panikherz“ begonnen – sie wird Realität, wenn der begonnenen Abwesenheit von Drogen mehr als nur Nachsorge und beginnende Langeweile folgen. Hoffentlich wird es so sein, dass Udo Lindenberg und der Autor von „Panikherz“ nun frische Texte verfassen mit neuem spielerischem Mut, sich selbst immer wieder zu begegnen, ohne zu erschrecken und sich den eigenen Wünschen und Träumen wieder gefahrlos und mutiger zu nähern – sie sind wichtiger und notwendiger denn je, die Wünsche und Träume und die nüchterne Freundschaft von Stuckrad-Barre mit Udo Lindenberg.

Michael Annecke

Benjamin von Stuckrad-Barre:
PANIKHERZ
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016
576 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-462-04885-8
22,99 €


 Zwei Reisen zu sich selbst:
„Freut euchTosende Stille von Janice Jakait nicht zu spät“ und „Tosende Stille“

Sie ist allein auf dem weiten Ozean …

Und rudert und rudert. Meist Tag und Nacht. Durch Stürme und Flauten des Meeres. Und durch die in ihrem Inneren. Nur eine Sturmschwalbe begleitet sie 6500 Kilometer von der portugiesischen Küste an. Sie muss Öltankern ausweichen, sich vor Haien fürchten, haushohe Wellen überstehen. Nach 90 Tagen erreicht sie ihr Ziel. Eigentlich ihre zwei Ziele:
Barbados – und das, was sie antrieb , dieses Wagnis einzugehen: Die Suche nach sich selbst.

Sie ist heute die erste Deutsche, die mit einem Ruderboot (keiner Nussschale, sondern einem hochmodernen Boot) den Atlantik überquerte. Aber nicht um diesen Ruhm ging es ihr, sondern:

7 Jakait

„Wir können heute fast alles erreichen, doch was genügt und erfüllt uns wirklich? … Ich fand einfach keine dauerhafte Zufriedenheit – und auch keinen rechten Lebenssinn. Ich steckte in einem Hamsterrad fest.“
Auch in den ersten Wochen auf dem Ozean zermartert sie sich das Hirn und denkt und denkt und will den Sinn ihres Lebens mit dem Verstand ergründen. Doch erst in jenen Augenblicken, in denen sie, zu Tode erschöpft und  ohne Überlebens-Hoffnung, aufgibt, sich der Situation hingibt und nichts mehr denkt … wird sie dessen gewahr, was sie immer suchte: Sie spürt das Gefühl von Lebendigsein, rein in der Gegenwart, im Hier und Jetzt. Und als sie einem Wal begegnet, der ihr direkt in die Augen schaut, erfühlt sie plötzlich die ganze Welt als Eines …

„Mitreisend“ nannte ein Journalist dieses Buch, das 2014 ein Bestseller wurde. Dieses Buchstabenspiel trifft es, finde ich. Denn auch ich war beim Lesen mitgerissen vom Mitreisen-Dürfen. Ob Schmerzen, Hunger, Übelkeit oder ohrenbetäubender Wellenlärm – alles erlebt der Leser hautnah mit. Ungeschönt und ehrlich. Spannend in jeder Zeile.

Und natürlich habe ich sehnsüchtig auf das Folge-Buch gewartet. Janice hatte auf dem Meer sich selbst gefunden, das Sein im Augenblick wieder entdeckt. Wie nun aber hat sie wohl danach weitergelebt, an Land, in ihrem alten Umfeld, mit ihrer alten Arbeit als IT-Beraterin …?
Darum geht es in ihrem gerade erschienen Buch: „Freut euch nicht zu spät! Warum das zweite Leben beginnt,  wenn man begreift, dass man nur eines hat.“ Darin nennt sie ihre Extremtour heute eine Flucht, einen Egotrip. Aber sie persönlich habe das gebraucht auf ihrem Weg des Erkennens, des Sicht-Findens.
Wieder an Land, kommt sie vorerst gar nicht zurecht: „Jetzt konnte ich mich zwar stundenlang im Gezwitscher der Vögel verlieren und mich frei und erfüllt fühlen, doch der Lärm der Menschen trieb mich in den Wahnsinn.“ Sie zog sich zurück. Verlor Freunde. Und begab sich wieder auf eine Reise – in die Spiritualität. Mit geheimnisvollen Schamananmittelchen versucht sie, Erleuchtung und Erlösung zu finden. Das gelingt zwar für Stunden, aber nach denen landet sie immer wieder in der Wirklichkeit. Doch eines Tages waren da die Erdbeeren … Der Duft von Erdbeeren, der sie in einem Supermarkt streift. Sie steht vor dem Regal und beginnt  einfach so zu weinen. „Mein Herz öffnete sich, und ich spürte die Welt umso mehr, je weniger ich davon noch verstehen konnte. Und ich atmete dieses Leben ein …“.

Es scheint mir kaum möglich, in nur wenigen Sätzen zusammenzufassen, wie ihr Weg weiter verläuft, welche Erkenntnisse sie sammelt und welche Erfahrungen. Das muss dem Leser vorbehalten bleiben: Janice Jakait auf ihrem weiteren Weg vom Kopf zurück ins Herz zu begleiten, in ein zufriedenes, erfülltes Dasein. Nur so viel: Sie werden Gedanken finden wie „Wir sind schon, was wir suchen“, „Wir haben viel zu gewinnen, nämliche sinnliche Erfahrungen, die nur dem Menschen vorbehalten sind“, das zweite Leben sei „ der Frieden mit dem Leben, das wir die ganze Zeit schon hatten. Es ist der Frieden mit der Tatsache, dass wir alles erfahren und erleben dürfen, wie es ist“ oder „Die Bäume wachsen ohne unser Zutun, auch wenn sie niemand als Baum bezeichnet“.

Wie sie zu diesen Aussagen gelangte? Das Büchlein nimmt Sie mit bis dahin, immer wieder neu.
Ich empfehle es jedem, der auf der Suche ist, der in einer Krise steckt oder nach einer Krise nach Veränderung für sich sucht. Wir sind nicht das, was wir über uns denken, wir sind viel mehr – das ist wohl der Kernsatz.

Dieses kleine Buch passt übrigens in jede Handtasche – und die kurzen Kapitel laden ein zum Hinein schauen, wo immer man einmal ein paar Minuten Zeit hat. Es kann also ein Begleiter im Alltag werden …

Anja Wilhelm

JANICE JAKAIT

Tosende Stille
Goldman/Random Houses
5. Auflage 2016, Taschenbuch
9,99 Euro
Taschenbuch
ISBN: 978-3-442-15894-2
(auch als Hörbuch und ebook erhältlich)

Freut euch nicht zu spät
EUROPAVERLAG
April 2016
17,99 Euro
ISBN 9783958900240


7 Strunk 978-3-644-05081-5„Denn alles, was man sich vorstellen kann, gibt es auch“

 Der in Hamburg geborene Schriftsteller und Entertainer Heinz Strunk wagt in seinem im März beim Rowohlt-Verlag erschienenen Roman „Der goldene Handschuh“ eine Reise an die Grenzen menschlicher Vorstellungskraft. Mit großem Einfühlungsvermögen, Rechercheaufwand und mit Milieukenntnis zeichnet er das psychologische Profil des deutschen Serienmörders Fritz Honka nach. Der Fall ging in die Justizgeschichte ein, nachdem der Münchner Staranwalt Rolf Bossi ein kontrovers diskutiertes Urteil wegen verminderter Schuldfähigkeit in Folge von „entwicklungsbedingter, seelischer Abartigkeit mit Krankheitswert“, erwirkte.

 Der Großteil der Handlung spielt sich rund um das 24-Stunden-Lokal „Der goldene Handschuh“ auf der Hamburger Reeperbahn ab. In einer vor Schmutz, Grausamkeit und Verzweiflung starrenden Welt verrotten die vom Leben und Alkohol gezeichneten, zerstörten Gestalten des untersten Trinkermilieus und scheinen nur noch auf ihre Erlösung, den Tod, zu warten. Hier war der Serienmörder Stammgast und traf drei seiner vier Opfer zum ersten Mal, bevor er sie, allesamt obdach- und mittellos, aus scheinbarer Großzügigkeit mit zu sich nach Hause nahm. Dort versklavte er sie buchstäblich und machte sie zum Spielball seiner krankhaften, sexuellen Fantasien – bevor er sie aus teils niederen, teils sadistischen Beweggründen ermordete. Der in seiner Entwicklung stark beeinträchtigte, schwere Alkoholiker Fritz Honka tötete zwischen 1970 und 1974 insgesamt vier Frauen, die er anschließend zerstückelte, und zum Teil in Plastiktüten verpackt in seiner Hamburger Wohnung verstaute. Heinz Strunk gelingt es beinahe spielerisch, den Leser in die perfide Gedankenweltwelt des Triebtäters und der Ihn umgebenden, schrillen Charaktere eintauchen zu lassen und fast ein Teil von ihr zu werden. Zugleich wirft er in seinem Roman eine schon vor den 70er Jahren heiß diskutierte Frage in den Raum: Kann ein Triebtäter für die ihm zur Last gelegten Verbrechen verantwortlich gemacht werden oder ist er so krank, dass er in psychiatrische Behandlung gehört?

An der Grenze zum Wahnsinn
In drei Handlungssträngen, die nur auf den ersten Blick ohne Bezug zueinander stehen, gelingt es dem Autor milieuübergreifend, die unter Alkoholeinfluss übermächtig werdenden, kranken Fantasien von drei augenscheinlich vollkommen verschiedenen Menschen lebendig werden zu lassen.

Da wären zum einen Fritz Honka, der im untersten Trinker-Milieu der Hamburger Reeperbahn nur dadurch auffällt, dass es ihn eigentlich gar nicht gibt. Deshalb ist er auch wahnsinnig stolz auf seinen neuen Spitznamen „Fiete“, der einer Beförderung gleichkommt und der endlich zeigt, dass er jemand ist. Zwischen Allmachtsfantasien und fehlendem Selbstwertgefühl führen seine radikale Ich-Bezogenheit und sein übermäßiger Alkoholkonsum dazu, dass ihm selbst die abartigsten Gedankengänge die meiste Zeit „normal“ erscheinen. Der zweite im Bund ist der dauergeile und in Folge einer genetischen Beeinträchtigung entstellte, von Minderwertigkeitskomplexen zerfressene Sprössling der traditionsbewussten und (noch) wohlhabenden Hamburger Reederfamilie Dohrens: Wilhelm Friedrich 3 (genannt WH3). Von „den anderen“ oder seinen eigenen Gedanken im Leben und der Liebe aufs Abstellgleis gestellt, verzehrt er sich vor Sehnsucht nach Anerkennung und körperlicher Nähe, ohne dabei auch nur den geringsten Bezug zur Gefühlswelt der ihn umgebenden Menschen zu haben – oder haben zu können. Zu guter Letzt wäre da noch der erfolgreiche und stets gelangweilte Anwalt Karl von Lützow, der jüngere Bruder der Mutter von WH3. Er scheint nur in seinen menschenverachtenden und sexuell ausufernden, perversen Fantasien (auf)leben zu können. Wenn er getrunken hat, geht es ihm gut.

Gemeinsam ist allen dreien vor allem ihre triebgesteuerte Psychopathie und ihr stark ausgeprägter Hang zum Alkoholismus. Das übermächtige Gefühl innerer Leere und die Unfähigkeit zum Empfinden von Empathie machen sie zu stillen Leidensgenossen. Ihre, zum Teil grausamen, Persönlichkeitsveranlagungen werden unter Alkoholeinfluss um ein vielfaches verstärkt, Grenzen überschritten. Der sich stetig steigernde Wahnsinn, das Gedankenkreisen und sich Hineinsteigern in Denkmuster und kranke Fantasien nach dem „Genuss“ alkoholischer Getränke wirkt dabei so authentisch, dass man sich wohl nicht nur als (trockener) Alkoholiker beim Lesen immer wieder und auf schwer zu beschreibende Weise „ertappt“ fühlt – und sich zugleich angewidert abwenden möchte. Frauen werden zu Objekten und zum Spielball sexueller Grenzfantasien, Menschen werden zu Dingen und Mücken zu Elefanten.

Erst kommt der Gedanke, dann die Tat?
Nie ist ganz klar, ob und wann einer der drei Protagonisten die Kontrolle verlieren wird und vor allem: warum? Der einzige, der der Triebkraft seiner abartigen Fantasien letztlich voll erliegt und sie fast beiläufig auslebt, ist der Serienmörder Fritz Honka. Die Frage nach der Schuldfähigkeit und dem Umgang mit Triebtätern gewinnt umso mehr an Bedeutung, als die irren Gedanken und gelegentlichen Grenzüberschreitungen der anderen Figuren eben nicht zum Äußersten führen. Greift bei Ihnen eine letzte, moralische Schranke oder verhindert am Ende doch ein kleines bisschen Restempathie das Schlimmste? Heinz Strunk zieht den Leser von Beginn an auf schwer zu beschreibende Weise in seinem Bann. Mit unglaublichem Einfühlungsvermögen und großer Menschenkenntnis führt er an die Grenzen der Vorstellungskraft und erweckt eine abgründige und kaputte Welt zum Leben. Zum Schluss stellt man sich unweigerlich die Frage, wie viel von einem Fritz Honka, WH3 oder Karl von Lützow in einem selbst steckt und ob andauernder Alkoholmissbrauch irgendwann nicht jeden zum Psychopathen werden lässt.
(mahebest)

HEINZ STRUNK
Der Goldene Handschuh
Rowohlt
19,95 Euro
ISBN 978-3-644-05081-5


Reinhard Siemes:

Mein Todfreund, der Alkohol.

Beflügelt und zu Tode getrunken … Das Buch erschüttert Bastionen. Nämlich die der Suchttherapien und die der  „von Berufstrockenen dominierten Selbsthilfegruppen“. Der renommierte deutsche Werbetexter Reinhard Siemes (1940 -2011)  stellt nicht nur die Überheblichkeit, Selbstgefälligkeit und Bigotterie in den Entzugsstationen, Kliniken, aber auch der „Trockenpropheten“ in der Suchtselbsthilfe in Frage, sondern er analysiert schonungslos seinen eigenen Weg durch alle Stationen der Sucht, dabei die schönen Seiten seines bewegten Lebens nicht aussparend.

In über 50 Kapiteln, geschrieben nach 2006, fasst er wichtige Stationen seines beruflichen Lebens, die ständig vom Alkohol geprägt waren, und seine Gedanken über Menschen, Dinge und Erscheinungen zusammen. Eine überaus spannend zu lesende Lektüre, die auch deshalb so fesselt, weil sie autobiografisch ist und tiefe Einblicke in die Szene der PR und Werbung der 1960er bis 2000er Jahre ermöglicht, in der der Alkohol gewissermaßen geistiges Schmiermittel war und noch heute ist (der Rezensent weiß, wovon er spricht). Genauso sprunghaft wie sein Leben verlief, sind auch die 56 Episoden angeordnet, der Leser kann also einsteigen, wo er will.

Dabei bezeichnet Siemes den Alkohol als seinen „Todfreund“, und in den fiktiven Dialogen mit ihm kommen in deutlicher Klarheit die zwei Seelen zum Ausdruck, die in der Brust eines jeden Trinkers wohnen. Der „Todfreund“ versucht nicht, ihn plump zum Trinken zu verführen, er wendet sich sogar gegen den Alkohol als „Heilsversprechen“, sondern er bezeichnet die Sucht als einen Weg zur Erkenntnis: „Ich, der Todfreund, meinetwegen auch Teufel, bin die wahre, die ehrliche Religion. Ich verspreche den Menschen nicht ewigen Frieden und Glückseligkeit, sondern mache ihnen bewusst, dass Wohlgefühl und innere Zufriedenheit nur geliehen und vergänglich sind. Ich nenne ihnen immer wieder den Preis, den sie bezahlen müssen, wenn sie sich mir bedingungslos hingeben: Kotzen, Zittern, qualvolle Ängste, Schmerzen und Tod. Propheten und Heilslehrer aber … versprechen nur das Gute … Eine wunderbare Lüge … Das Gute wird nur erlebbar durch das Böse, die Euphorie des Rausches durch den Absturz … Ich bin der wahre, der ehrliche Gott.“

Siemes hat eine erfrischend lakonische und sarkastische Art, mit sich selbst, aber auch mit Kollegen, Auftraggebern und Medizinmännern umzugehen. Seine Texte kommen mit der Komik des Entlarvens daher, aber seine Selbstentblößung ist nie exhibitionistisch. Dabei geht er in die Tiefe, bis dahin, wo es wehtut, um seine Befindlichkeit, aber auch die Liebe und das Leiden der ihm wichtigen Freundinnen zu beschreiben. Seine Darstellungen aus dem interessanten Leben eines Werbetexters wechseln mit der Analyse der Trinkphasen und der unterschiedlichen Kliniken und Therapien sowie der Erfahrungen in den Selbsthilfegruppen. Unter der Überschrift „Wer feiner säuft, darf auch einen feineren Entzug machen“, schildert er seine Eindrücke aus der bundesweit bekannten Oberbergklinik 1996. Für 610 D-Mark pro Tag wurden dort die „besseren“ Säufer, Ärzte, Rechtsanwälte, Hochschulprofessoren usw. behandelt, aber als Außenseiter. Dass der dritthäufigsten Todesursache in Deutschland, nach Krebs und Herzerkrankungen, auch heute noch im Medizinstudium nur einige Stunden gewidmet werden, ist nicht nur dem Autor unverständlich.  Dabei setzt sich Siemes, wie im ganzen Buch, sehr skeptisch mit Theorien und Vorgehensweisen auseinander. Namentlich benannt wird Prof. Heinz von der Charité, dessen These von der genetisch bedingten Funktionsstörung der Neuromodulatoren, die durch negative Lebensumstände verstärkt werden, seinen Widerspruch herausfordert, denn „kein Mensch wird mit Genen geboren, die ihn irgendwann zum Säufer machen.“ Dazu haben die Säufer nicht die geringsten Gemeinsamkeiten, es kann jeden erwischen. Das Motiv ist bei allen die Realitätsflucht. Suchtprägende Faktoren können nach seiner Meinung „Armut oder Überfluss. Dominanz der Mutter. Überzogene Ansprüche des Vaters. Bevorzugung der Geschwister. Zu wenig oder erdrückende Liebe. Freudloses Stadtviertel oder stressende Nobelgegend. Herrschsüchtige Lehrer oder Weicheier“ sein. Siemes betrachtet diese Faktoren zwar als persönlichkeitsbeeinflussend, nicht aber als direkte Suchtauslöser. Für ihn ergibt sich die Frage: „Warum trinke ich, mein Nachbar aber nicht, obwohl wir das gleiche Schicksal haben, den gleichen emotionalen Status? Das ist die große, unbeantwortete Frage, die ewige Grauzone des Alkoholismus. Das Wühlen in unserer Vergangenheit bringt darum gar nichts. Allenfalls die Psychiater haben was davon, wenn sie die Rechnung schreiben.“ Der Mangel aller Therapien besteht nach seiner Meinung darin, dass zwar alle gleich saufen, der Weg in die Trockenheit aber sehr individuell ist. „Den Weg in ein suchtfreies, zufriedenes Leben muss jeder für sich selbst finden und gehen. Doch statt Beistand bekommt er eine starre, zementierte Therapie übergestülpt … Ärzten und Therapeuten fällt es leider schwer, die Freiheit des Individuums zu berücksichtigen.“

Ähnlich zugespitzt und spöttisch geht er mit den Dogmatikern der Selbsthilfe ins Gericht. Er geißelt die „abstoßende Selbstgerechtigkeit der Trockenpropheten in den AA-Gruppen“ ebenso wie die „bigotten AA-Leierkästen mit ihrem Spruch von der wundervollen Gruppe, die ihnen die Augen geöffnet hat.“ Seine Kritik an der aktuellen Praxis in den Gruppen mündet in der Aufforderung: „Es ist an der Zeit, dass nicht nur die Ärzte, sondern auch wir, die Betroffenen, die gesammelten Thesen und Heilslehren überdenken. Mein Todfreund ist raffiniert und einfallsreich bis zum Gehtnichtmehr. Wenn ich ihm gegenüber kapituliere, was viele Selbsthilfegruppen als Voraussetzung für ein Leben in Trockenheit ansehen, wird er mich besetzen … Kapitulation bedeutet Unterwerfung. Ich muss meinen Todfeind bekämpfen und besiegen. Andernfalls werde ich auch als trockener Alkoholiker von ihm beherrscht: Ich muss ihm jeden Tag huldigen, indem ich mir sage, wie schön es ist, dass ich nicht trinke.“

Damit greift Siemes vermeintlich unumstößliche Prinzipien der Selbsthilfe an. Auch der Rezensent ist der Meinung, dass sowohl die klinischen Therapien als auch die Inhalte und die Struktur der Suchtselbsthilfe einer Reform bedürfen, denn eine Rückfallhäufigkeit von 70 bis 80 Prozent zeugt nicht gerade vom Erfolg der Bemühungen. Damit soll keinesfalls die Berechtigung aller vorhandenen Maßnahmen in Frage gestellt werden, aber, wie Siemes konstatiert, was Bill und Bob (die Gründer der Anonymen Alkoholiker) vor 80 Jahren geschrieben haben, mag damals gut und nützlich gewesen sein, heute stehen ganz andere Stressfaktoren vor uns. Auch der teilweise immer noch vergötterte Jellinek war zu seiner Zeit aktuell und richtig, inzwischen ist die Welt, auch die der Säufer, eine andere. Erste, vorsichtige Schritte in eine neue Richtung der Therapie sind bereits zu verzeichnen, die z. B. die Rigorosität der Abstinenz, mit der vor allem jugendliche Mehrfachabhängige nicht zurechtkommen, langsam auflöst. Die Eigenmotivation ist m. E. die wichtigste Voraussetzung für einen erfolgreichen Weg in die Trockenheit. Nicht alle Positionen des Autors finden meine Zustimmung. Aber: es ist die schonungslose Analyse eines Lebens in der Hölle, aber auch im Himmel, wobei ersteres vor allem dem Alkohol geschuldet war. Hier hat sich einer der Mühe unterzogen, vermeintlich in Stein Gemeißeltes zu hinterfragen und zu durchdenken und im Kantschen Sinne seinen eigenen Verstand zu nutzen. Inwieweit der Leser ihm zustimmt, muss dieser selbst entscheiden, denn so manche Aussagen fordern in ihrer Provokation geradezu zum Widerspruch heraus. Das Reden in den Selbsthilfegruppen über eigene Erfahrungen, egal ob negativ oder positiv, ist immer noch sinnvoller und hilfreicher als das Wiedergeben übernommener Aussagen, die ich von irgendwem gehört habe und nun als Allgemeingut wiedergebe. Siemes spricht davon, dass das Trockenwerden auch einen bestimmten Lernprozess beinhaltet, im Sinne von Erfahrungen anderer individuell zu verwerten. Diese sollten dann allerdings auch auf persönlich Erlebtem beruhen und keine Floskeln wiedergeben.

Meiner Meinung nach gibt es zurzeit kein spannenderes und mehr zum Widerspruch herausforderndes Buch zum Thema „Alkohol“ als das hier besprochene. Einige Kapitel eignen sich hervorragend, um so mancher im eigenen Saft schmorenden Gruppe neues Leben einzuhauchen.

Dass ich bei der Lektüre wieder zahlreiche U-Bahnstationen verpasste, der Vollständigkeit halber.

                                                                                                                                                                                                                                  Jürgen Schiebert

Reinhard Siemes: Mein Todfreund, der Alkohol.
56 Episoden aus dem Leben eines Reklametexters, der auch Trinker war. Und eines Trinkers, der auch Reklametexter war.
avedition, Stuttgart 2015
360 Seiten, Hardcover
ISBN 978-3-89986-226-3
24,90 €


Das Jüngste Gerücht, Joachim Seiler, TrokkenPresse Verlag

Anmerkungen zur Veröffentlichung
des TrokkenPresse Verlages:

Joachim Seiler, „Das jüngste Gerücht“

In der großen Gemeinschaft trockener Alkoholiker ist Joachim Seiler eine Institution. Nach einem äußerst bewegten, nassen Leben hat er, wie viele andere auch, den Weg in ein Leben ohne Alkohol geschafft. Das war ihm allerdings längst nicht genug. Um auch anderen Betroffenen zu helfen, gründete er eine Selbsthilfegruppe und verfasste Bücher und Einzelartikel rund um den Alkohol und vor allem viel über die Wege, auf denen er letztendlich selbst das trockene Ufer erreichen konnte. Joachim Seiler hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass diese Wege steinig und schwierig waren. Trotzdem hat er bei aller Betroffenheit nie den Humor verloren und sich häufig mit spitzer Feder und einem feinen Sarkasmus vor allem mit den Ultras der Alkoholiker-Selbsthilfeeinrichtungen auseinandergesetzt. So auch in diesem Buch.Dieses Buch ist eine Sammlung von Texten, die Joachim Seiler in seiner aktiven Zeit verfasst hat. Es erschließt sich mir nicht, warum dieses Buch ausgerechnet „Das jüngste Gerücht“ heißen muss? Dieser Titel wurde in den sechziger Jahren vom Kabarettisten Wolfgang Neuss für sein Soloprogramm verwendet. Neuss war respektloser Spötter und Salonlinker, bis er sich für ein Leben im Haschisch-Rausch entschied. Neuss verstarb zahnlos, vereinsamt als Sozialhilfeempfänger fast unbemerkt am 5. Mai 1989 in Berlin.

Als Joachim Seiler geboren wurde, muss der griechische Gott Satyr[1] auf dem Dach des Hauses gesessen haben. Nur so ist für mich (mythologisch) erklärbar, wie dieser Mensch trotz Alkoholbelastung und einer Fülle privater und beruflicher Probleme (siehe Blaupause) den Weg zu einer derartig spitzfindigen, teilweise humoristisch bösartigen Schreibweise finden konnte. Und ungeachtet der zahllosen Meinungen im Umfeld der Sucht- und Alkoholexperten, hat es etwas außerordentlich Erfrischendes, Joachim Seilers Texte zu lesen.

Wer die Blaupause von Joachim Seiler kennt, dem liefert dieses Buch nichts wirklich Neues. Es ist noch einmal die Aneinanderreihung bekannter Auslassungen. Allerdings macht es Spaß, in dem 95 Seiten umfassenden Buch zu lesen! Das steht außer Frage. Dieses Buch ist zuallererst eine Würdigung des Menschen Joachim Seiler. Das hat er sich verdient, ersoffen und erschrieben. Daran gibt es nichts zu zweifeln.

Das jüngste Gerücht ist eine kurzweilige Lektüre für Abhängige und Unabhängige (um im Sprachgebrauch der TP zu bleiben) und dieses Buch hilft auch einen gesunden Abstand zum teilweise sehr verbohrten und festgefahrenen Denken der Old-School-Selbsthilfeexperten zu entwickeln. Ist diese Form des Umdenkens heute überhaupt nötig? Hier lege ich mich mit einem eindeutigen „Ja“ fest und stelle mich eindeutig auf die Seite von Joachim Seiler, der aus seinem gespannten Verhältnis zu den Ultras der Selbsthilfegruppen in keiner Zeile ein Geheimnis macht. Das jüngste Gerücht endet mit folgendem Satz meine alkoholischen Brüder und Schwestern, ihr selbst seid es, die über euch bestimmt und entscheidet.“

Damit legt sich Joachim Seiler eindeutig fest, dass er sich als Alkoholiker nie als Opfer, sondern immer als Täter gesehen hat. Auch im Zustand zufriedener Abstinenz bleibt der Autor Täter und nicht Opfer. Er bestimmt mit der Unterstützung von Experten den Zeitpunkt seines Ausstieges und damit auch den weiteren Verlauf seines Lebens. Er übernimmt als Täter selbst die Verantwortung für die Vergangenheit, Gegenwart und das, was ihn dann als Zukunft noch erwartet. Das ist Selbstverantwortung im wahrsten Sinne dieses Wortes!

Und weil er das so gemacht hat, hat er auch das Recht, die Finger in die Wunden des Lebens trockener Alkoholiker und ihrer Selbsthilfeeinrichtungen bzw. deren Vertreter zu legen.

Joachim Seilers Buch liefert erheiternde Beiträge für einen Lebensbereich, in dem es nicht immer für alle etwas zu lachen gibt. Wer sich allerdings auf den Weg macht oder gemacht hat, sein Leben endlich ohne Alkohol zu gestalten, hat auch ein Recht darauf, sein Lachen und seine Fröhlichkeit wiederzufinden, ohne deshalb gleich in euphorischem Größenwahn zu versinken. Niemand von uns (den trockenen Alkis) muss im Büßerhemd unter dem Teppich kriechen, sondern wir alle sollten uns darüber klar sein, trocken sind wir vor allem eines wieder: liebenswerte, achtsame Menschen. Das muss Joachim Seiler durch den Kopf geschossen sein, als er sich sehr kritisch mit dem Ritualen der SHG auseinander gesetzt hat, bei dem auf Gruppentreffen, nach der Namensnennung, das Bekenntnis zur Alkoholsucht zu erfolgen hat. J. Seiler stellt den Sinn dieses Ritual einfach nur zur Diskussion. Er sagt ja nicht, hört auf damit und dann wird alles viel, viel leichter. Was er aber mit diesem kurzen, einleitenden Gedanken meint, ist, dass wir uns besinnen sollen! Zuallererst auf uns selbst. Denn wir alle sind Täter und halten damit auch in unseren Händen, ein Leben ohne Alkohol hinzubekommen. Das nimmt uns niemand ab.

Dieses Buch ist wenig gut geeignet für Menschen, denen das Verhältnis zur Selbstironie abhandengekommen ist. Es ist kein Leitfaden zur Selbsthilfe für Suchtkranke und es ist völlig ungeeignet für Menschen, die zum Lachen in den Keller gehen.

Dieses Buch ist gut geeignet für alle Menschen, die trotz Suchterkrankung ihr Leben wieder ohne Suchtmittel meistern und ihren Sinn für Humor nicht verloren haben. Dieses Buch liefert einen unschätzbaren Beitrag, dass Gedanken und Ideen des trockenen Alkoholikers Joachim Seiler in uns allen weiterleben können.

Joachim Seiler verstarb im Jahre 2014.

                                                                                                                                                                                        Joachim Köhler / Berlin-Michendorf

[1] Satyr wird von vielen Experten als der Urvater der Satire genannt. Als stets unbekleideter Mann soll er in der Antike mit kritischem Auge das gesellschaftliche Leben seiner Zeit beobachtet haben. Sprachwissenschaftler bestreiten diesen Zusammenhang. Für sie stammt das Wort Satire aus dem lat.: satira/ satura lanx


 Das-verlorene-WochenendeCharles Jackson: Das verlorene Wochenende

Der Schweizer Dörlemann Verlag hat Charles Jacksons sehr lesenswerten Roman „Das verlorene Wochenende“ dankenswerterweise wiederentdeckt. Die Erstauflage 1944 in den USA war ein Bestseller, 1945 verfilmt von Billy Wilder als „The Lost Weekend“ (dt. „Fünf Tage“).

In diesem Roman geht es um fünf Tage im Jahre 1936, die Don Birnam, Schriftsteller und Alkoholiker, in New York verbringt. Es ist das Jahr nach der Gründung der AA´s in den USA.
Sein Bruder Wick ist alleine aufs Land gefahren, Don hatte es so eingerichtet, dass er den Bruder verpasst und ihm nun geplante fünf Tage eines Rückfalls bevorstehen. Der Leser begleitet den Protagonisten durch ein alkoholisches Martyrium. Die Handlung des Romans ist recht einfach, der Held trinkt, vertrinkt und verliert öfters sein Geld. Das ganze Buch über bemüht er sich, Geld zum Saufen zu beschaffen, irgendwie gelingt es ihm immer wieder. Er versucht, eine Handtasche zu stehlen, was misslingt; versucht, seine Schreibmaschine zu versetzen, was misslingt, landet auf der Entgiftungsstation, versetzt den Pelz seiner Bekannten und pumpt arme Witwen an.

Es ist also nicht eine komplizierte Handlung, die den Roman so fesselnd macht. Wobei die Schilderung seiner fußläufigen Odyssee durch fast ganz Manhattan, die schwere Schreibmaschine unter dem Arm, auf der vergeblichen Suche nach einem geöffneten Pfandleihgeschäft, es ist Feiertag, so eindringlich geschildert ist, dass man die Symptome des kalten Entzugs zu spüren meint.
Es sind die Gedanken, die sich im kranken Hirn von Don Birnham abspielen, die das Buch auch heute noch so lesenswert und für seine Zeit einzigartig machen. Die Rückblenden in die Kindheit und Jugend, sein schmählicher Abgang in der Universität nehmen großen Raum ein. Faszinierend macht das Buch aber die realistische Darstellung der Gedanken und Gefühle eines Abhängigen mit und ohne Stoff. Teilweise sind die Schilderungen so eindringlich, dass sich beim Leser körperliches Unwohlsein einstellen kann.
Mit Jacksons Werk findet, erstmals in der Literatur, die Trunksucht als Krankheit Eingang, und nicht als heroische Saufaus-Geschichte oder tragischen Roman eines Willensschwachen wie bei Falladas „Trinker“ noch gezeigt.

Dieses sorgfältig und wertig gestaltete Buch ist, wie man sich denken kann, kein Unterhaltungsroman, aber er fesselt den Leser durch eine ungeschminkte und realistische Darstellung eines Zustandes, den Millionen Menschen ertragen müssen – Sucht.

                                                                                                                                                                                                                  Torsten Hübler

Charles Jackson
Das verlorene Wochenende
Übersetzung Bettina Abarbanell
348 Seiten,
Dörlemann-Verlag, Zürich 2014,
ISBN: 978-303820007-9,
geb., 24,90 Euro


Rolf-LudwigLebenserinnerungen des Schauspielers Rolf Ludwig:
„Nüchtern betrachtet“ …

… und mit meinen Augen einer Alkoholabhängigen gelesen:

Oh ja.
Wenn Rolf Ludwig, der große Mime des deutschen Theaters und Films, kein Trinker war, wer dann?

Sein übermäßiger Konsum von Bier, Schnaps und Likör zieht sich fast durchs ganze Buch. Als stetige Randerscheinung, wohl gemerkt. Ob als komisch-erlebnisreiche Zecherei oder trauriges Besäufnis. Ob nach der Probe, nach dem Auftritt, oder auch dazwischen. Vor so manchem Rausschmiss hatte ihn bewahrt, dass er auch angetrunken keine Vorstellung platzen ließ. Dass er seine Kollegen – viele namhafte wie Wolfgang Heinz, Thomas Langhoff, Dieter Mann, Harald Juhnke – niemals im Stich ließ.

Aber natürlich erinnert er sich vor allem an seine Arbeit als Schauspieler. An das Leben hinter den Kulissen und vor den Kulissen. An Anekdoten am Rande. An liebevolle Interna aus der Szene. „Tausendsassa der Berliner Bühnen“ genannt, war sein Lebensinhalt nun mal die Bühne. Zuletzt die des Deutschen Theaters. Und als Soldat im Kinofilm „Das Feuerzeug“ bleibt er ebenso unvergesslich auf Zelluloid gebannt wie in 49 weiteren Filmen.
All seine beruflichen Stationen, seine Kindheit als Buchdruckersohn in Dresden, seine Zeit als Kampfpilot der Wehrmacht, die britische Kriegsgefangenschaft, seine zwei Ehen beschreibt er in diesen Erinnerungen. Ohne Häme gegen andere, ohne Schuldzuweisungen und Vorwürfe, eher mit einer großen Portion liebevollen Schalks in den lebendigen, unterhaltsam zu lesenden Zeilen.

Seine zweite Frau Gisela, die ihm bis zu seinem Tod – er starb 1999 an Lungenkrebs – nicht von der Seite wich, ergänzt seine Betrachtungen mit ihren eigenen Erinnerungen, aus ihrer Perspektive.

Ärzte diagnostizierten seine Trinkerei übrigens als Versuch, sein Kriegstrauma zu bewältigen. Und wer weiß, vielleicht war auch die Schauspielerei eine Art Flucht vor den Erinnerungen an unmenschliches Kriegsleid? Falls ja, hat er es in Freude für Millionen Zuschauer wandeln können.

Danke, Rolf Ludwig!

(Ach ja: Ob er wohl jemals eingesehen hat, abhängig zu sein?
Lesen Sie doch einfach nach …)

                                                                                                                                                                                                                       Anja Wilhelm

 Rolf Ludwig
Nüchtern betrachtet
Mit Erinnerungen von Gisela Ludwig
DAS NEUE BERLIN
Auflage 2015,
ISBN 978-3-360-02193-9,
14,99 Euro


Cover "Nüchtern", Daniel SchreiberDaniel Schreiber: „Nüchtern“

Über das Trinken und das Glück

Ein sehr gutes Buch, wenn nicht das Beste, das ich bisher über die Alkoholsucht gelesen habe. Daniel Schreiber, Journalist und Publizist, schreibt über sein nasses Rauschleben und sein trockenes Suchtleben, daneben, und das macht das Buch so lesenswert, reflektiert er über unsere alkoholgeschwängerte Gesellschaft und teilt sein Wissen aus der aktuellen Suchtforschung und Suchtmedizin mit dem Leser. Dies funktioniert deshalb so gut, weil der Autor sehr gut und verständlich schreiben kann, ein scharfer Beobachter, der nicht nur die Wissenschaftsliteratur beherrscht, sondern auch die schöne Literatur.

Die Kernzielgruppe seines Bandes dürften die „Normalen“ sein, denen er sehr verständlich die schwer verstehbare Krankheit „Sucht“ erklärt. Ein Buch für Menschen aus dem Umfeld des Alkoholikers, die nicht verstehen können, warum dieser Mensch so uneinsichtig und schwach ist und das exzessive Trinken nicht beendet. Nichtsdestotrotz kann man es auch als Abhängiger mit großem Gewinn lesen.

Durch den ganzheitlichen Blick auf das Problem Alkoholsucht geht das Werk über andere Titel hinaus, die das Trinkerleben beschreiben und so die Krankheit individualisieren. Schreiber zeigt anhand seiner eigenen Person und seines eigenen Erlebens, wie banal und einfach der Weg in die Sucht ist, auch wie in dieser Gesellschaft lange Zeit ein alkoholsüchtiges Leben kaschiert werden kann und wie es plötzlich, mit der ausgesprochenen Feststellung „Alkoholiker“, zu Ende ist mit dem bürgerlichen Firnis und damit die Ausgrenzung beginnt.

Der Autor hat sich sogar die Mühe gemacht, ungewöhnlich für einen Essayband, ein recht umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis anzufertigen, das sehr hilfreich ist.

Ich kann das Buch uneingeschränkt empfehlen, für Alkoholkranke, die mehr über ihre Krankheit wissen wollen, und Menschen ohne Alkoholkrankheit, die ihre alkoholische und alkoholkranke Umwelt besser verstehen wollen.

Daniel Schreiber verfasste zwei Jahre lang eine monatliche Kolumne in der „taz“auch mit dem Titel „Nüchtern“, die sich an die breite, zumeist nicht ständig nüchterne Leserschaft wandte; dieser Band ist nicht die Sammlung der Kolumnen, aber ihre logische Fortführung, seine Abschiedskolumne drucken wir mit freundlicher Genehmigung des Autors nebenstehend.

                                                                                                                                                                                                                               Torsten Hübler

Daniel Schreiber
Nüchtern
160 Seiten,
Hanser Berlin,
ISBN: 978-3-446-24650-8,
gebunden,
16,90 Euro