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Titelthema 01/2014: Die Wiedergeburt des Klaus A.

Dr. Rüdiger-Rolf Salloch-Vogel: Die Wiedergeburt des Klaus A.


Unsere Gefühle, besonders die „Grundgefühle“ Angst und Trauer, Wut und Freude differenziert zu erleben, ist ein wesentliches Zeichen der inneren Autonomie, wie auch das Erkennen und Zulassen von Scham. Die Einsicht, dass wir ein Gewissen haben, die Erfahrung und der Glaube, auf andere Menschen angewiesen zu sein, sind ebenso ein Beweis unserer inneren Selbständigkeit wie auch die klare Stellung zur Frage, ob wir an eine höhere Macht glauben oder als Agnostiker verstanden werden wollen.
Sehr wichtig sind im folgenden die Notizen von Klaus A. Der Name ist ein Pseudonym, wo­bei A. für ,,Alkoholiker“ steht; seine Frau ist mit der Veröffent­lichung einverstanden. Er will mit seinen Aufzeichnungen allen danken, die ihm und sei­ner Familie bei der Genesung geholfen haben.

Klaus A. schreibt:

Mit dem glücklichen Ende zu beginnen hat durchaus Traditi­on, besonders dann, wenn der Inhalt meiner Notizen überwie­gend ernst und traurig ist.

Diese Niederschrift habe ich in einem Moment besonderer Autonomie konzipiert: auf der Fahrt in die Komische Oper in Berlin-Mitte, es gab „Bohe­me“, die Geschichte von Liebe und Tod. Seit vielen Monaten war ich zur selben Stunde in meine Stammgruppe gegangen, und das war das erste Mal, dass ich zu einem gesellschaftlichen Ereignis ging und nicht dorthin. Ich war nüchtern und weit offen für das, was kommen sollte. Zu­nächst tranken wir eine Tasse Kaffee im Grand-Hotel neben an, und dann saß ich in dem mit Gold, Stuck und Spiegeln verzierten Saal, der noch ganz leer war. Karla und ich sahen den Menschen zu, die ihn lang­sam füllten, die sich kurz vor Beginn vorbeischlängelten und uns je nach ihrer Art den Hin­tern oder das Gesicht zuwand­ten; einige waren auch in die falsche Reihe geraten. Es war das alte, lange Ritual, das mei­ne Frau sagen ließ: Das ist ein Moment, in dem ich die Men­schen liebe.

Ich wartete auf das Löschen des Lichtes und die Musik, und bei den ersten Tönen spürte ich, wie mir die Tränen kamen. Ich sah mich in meinem Kranken­hausbett liegen, meine Seele war taub. Ich hatte mich zur Wand gedreht und las „Wind, Sand und Sterne“. Ich las es wohl dreimal in dieser Zeit. Der Rhythmus der Worte war mir wichtiger als der Inhalt, den ich kaum erfassen konnte: es war ein lange vergessenes Lied von Heimat und Gebor­genheit, das mit dazu beitrug, mich am Leben zu erhalten.

Glück läßt sich nicht planen, behaupte ich, und es war das zweite Mal in meiner Trocken­heit, daß ich wirklich glücklich war, zwei Jahre und 264 Tage nach Beginn meiner Abstinenz.

Der Verlust der Autonomie
Die chronische Vergiftung be­ginnt bei Suchtkranken schon sehr früh, und sie ist eng ver­bunden mit dem ganz beson­deren persönlichen Erfolg der Droge, mit der Wirkung, die sie hat, die ein bestimmter Mensch wohl braucht und die er dann erwartet. Diese Wirkung muss sehr wichtig sein, denn schließ­lich schmecken Drogen zu­nächst nicht. Wir müssen uns zu Beginn häufig anstrengen, sie zu nehmen oder sie uns ver­ordnen lassen. Und nicht selten finden Menschen, die abhängig werden, die Drogenwirkung angenehm und heilsam.
Und welche Persönlichkeits- oder Verhaltensstörungen man dem Süchtigen auch zumessen mag, ob zum Beispiel Defizi­te in der Ich-Entwicklung im Sinne einer frühen Störung*, pathologische Beziehungsmus­ter* oder ungünstige Problem­lösungsstrategien*, diese be­sondere Wirkung der Droge ist sozusagen der Fingerabdruck der persönlichen Abhängigkeit – wann immer sie dann offenbar wird. Wie in jeder Gruppe der Bevölkerung finden sich auch bei Alkoholkranken und Me­dikamentenabhängigen Men­schen mit mehr oder weniger schweren seelischen Störungen.
Es stimmt schon nachdenk­lich, dass bei der Mehrzahl aller Behandelten keine seelischen Störungen von einem Schwe­regrad gefunden wurden, der eine weitergehende stationäre oder ambulante Psychotherapie erforderlich gemacht hätte. So sehen wir eher eine „Vielfalt von Alkoholismen“ *, an deren Beginn diese persönliche Wir­kung stand.

Ich war 14 Jahre alt und trank am Tage meiner Konfirmation mein erstes Glas Wein. Heute noch, nach über dreißig Jahren, habe ich den verführerischen Geruch in der Nase, spüre den merkwürdigen Geschmack und das angenehm trunkene Gefühl, das mich nach dem opulenten Essen mit meiner neuen Armbanduhr in den Stadtgarten führte; ich fühlte mich ganz losgelöst und frei, es hätte ewig so weitergehen können.

Diese geheimgehaltenen seelischen Veränderungen, die Wünsche und Phantasien, also das persönliche Geheimnis der Drogenwirkung, machen den Süchtigen schon zu einem Zeit­punkt abhängig, an dem weder er noch die Umwelt es ver­muten. Die Trennung des Ef­fektes in eine ,,seelische“ und „körperliche“ Abhängigkeit ist wahrscheinlich ein Kunstpro­dukt. Die chronische Beein­flussung von Gehirnstrukturen wie dem Zwischenhirn, verant­wortlich für Fühlen und Ver­halten, durch potente Zellgifte, kann nicht ohne Folgen bleiben und hat auch Folgen, wenn wir zum Beispiel an die Änderun­gen von Opiatrezeptoren und im Opioidsystem bei Alko­holkranken denken*. Es sollte mich sehr wundern, wenn al­lein Menschen mit einer defizi­tären Persönlichkeitsentwick­lung der Drogenwirkung für immer anheimfallen, und das lässt sich auch nicht nachweisen. Neben dem Bedürfnis nach der Wirkung und der direkten Gift­wirkung auf die Zellen ist die veränderte Wahrnehmung der Wirklichkeit durch die Droge selbst verantwortlich für den unbemerkten Untergang.

Ich befand mich in der chro­nischen Phase einer Alkohol­krankheit und merkte es nicht. Es ist schon seltsam, wie wenig wir uns wirklich „bemerken“ können. Ich war immer schon jemand, der nicht gut und viel trinken konnte, aber sehr gerne trinken wollte: diese „breiten Schultern“, die ich dann hatte, diese schwebende Angstfreiheit, die muntere Farbigkeit des All­tags. Volltrunkenheit war nie mein Ziel. Aber als ich schon erhebliche Mengen trank und mich körperlich daran gewöhnt hatte, spürte ich von Zeit zu Zeit, daß ich mich vergiftete. Das bezeichnete ich zwar nicht so, aber ich hatte große Ängste vor allen möglichen Vergiftungen, Bakterien in Nahrungsmitteln und vor Gift in geöffneten Fla­schen, die herumstanden. Als Intellektueller hielt ich das für eine Marotte und manchmal für eine Neurose. Im übrigen teilte ich diese Ängste niemandem mit, und wenn ich angetrunken war, hatte ich sie ja kaum noch.

Die Angst

Angst wird die ständige treue Begleiterin der Süchtigen; sie ist, wie ich meine, nicht selten die gesunde Antwort einer See­le, die sich gegen ihre Vergif­tung wehrt.
Hier entsteht eine kreatür­liche Angst vor etwas, was unaufhaltsam weitergeht. Die typische Symptomatik einer Angstneurose mit Panikatta­cken ist einem Teil der Sucht­kranken wohlbekannt, während andere völlig verständnislos re­agieren, wenn sie darauf ange­sprochen werden. Aber auch sie spüren dieses tiefe kreatürliche Unbehagen und pfeifen wie ein Kind im dunklen Keller.

Bei Klaus war das so:

Es hat gar nicht lange gedau­ert, bis mein Trinken oft dazu diente, mir Angstfreiheit zu verschaffen. Ich habe das erst nicht gemerkt, später fiel mir die große Erleichterung auf, die sich als Alkoholwirkung einstellte, und die Häufigkeit, mit der ich trank. Eine Weile konnte ich mir noch vormachen, das gehöre zum Leben der Er­wachsenen, aber als ich dann selber erwachsen wurde und verheiratet war, war ich schon so verloren, dass ich Nüchtern­heit als Verlust empfand und Trinken als Erleichterung. Es ergab sich zunehmend, dass ich „nur“ etwas zu trinken brauchte, um zum Beispiel unbeschwert reisen und mit meiner Freun­din schlafen zu können. Wenn ich keinen Alkohol in mir hat­te, fand auch nichts statt, und es wurde enger: Später konnte ich dann zeitweilig nicht mehr auf die Straße und unter Men­schen gehen, und meine große Angst war, ich würde auf der Stadtautobahn im Stau einfach mein Auto stehenlassen und da­vonrennen.
Ich wurde ein treuer Besu­cher bemühter, aber hilfloser Ärzte, die mir zahlreiche Me­dikamente verschrieben. Die nahm ich aber nicht; ich hatte auch davor Angst. Sie waren nicht so gut steuerbar wie mein geliebter Alkohol, der mir – so glaubte ich – wirklich half, wäh­rend ich spüren konnte, wie unter der Decke der Medika­mente meine Unruhe, mein Misstrauen und meine Ängste weitertobten. Höhepunkt war ein Horrortrip nach der Ein­nahme eines Antidepressivums – ich sehe mich heute noch am Tisch der Gaststätte, als ich mir nach Einnahme der Tablette ein Pils bestellte. Dann rannte ich einen ganzen Nachmittag mit wahnsinnigen Angstzustän­den durch die Stadt.

,,Enge“ * und „Beklemmung“, die Eltern der Angst, gewinnen die Oberhand und lassen das Kind seine Autonomie verlie­ren, das mit dem Glas in der Hand seine Scheinfreiheit re­klamiert.

Die Trauer

Als mein Vater starb, war ich betrunken. Er hatte viele Mo­nate Krebs, weil ich aber immer mehr oder weniger getrunken hatte, war mir nur eine gewis­se liebevolle Versorgung mög­lich, aber kein Abschied. Wir haben nie darüber gesprochen, wie krank er war, wie wir über­haupt wenig Persönliches mit­einander reden konnten, denn er war auch suchtkrank. Als er gestorben war, stand ich dann am Tag vor der Beerdigung angetrunken in der Friedhofs­halle, um Abschied zu nehmen. In dem Wahnsinn meines trun­kenen Gehirns hatte ich unse­ren zweijährigen Sohn auf dem Arm, der seinem Großvater Le­bewohl sagen sollte. Ich fühlte nichts.
Im Grunde wurde ich trin­kend von Jahr zu Jahr trauri­ger: Ja, Angst und Traurigkeit bestimmten zunehmend mein Leben, so dass mir berufliche Erfolge und Bestätigung, auch eine Liebesbeziehung, schal vorkamen. Wohl als Ersatz da­für nahmen meine Phantasien, was ich alles tun würde, wenn ich könnte, stark zu, besonders wenn ich noch nicht sehr be­trunken war.

Natürlich sind Suchtkranke traurig, und natürlich ist auch jeder Suchtkranke im Sinne der Diagnostik depressiv, aber wer vermag bei einem nassen Alko­holiker oder einem Menschen mit 60 mg Valium im Gehirn zu differenzieren, ob eine Neurose die Ursache der Traurigkeit ist oder eine Erschöpfung oder ob die drogenlosen Momente, die antriebslose Eingeengtheit, damit zu tun haben? Nun sind Süchtige gute Schauspieler, die ihre Maske unter Aufbietung aller Kräfte aufrechterhalten, die mit aller Kraft den Deckel auf dem Topf halten, bis es zur Explosion kommt.

Am 14. Juni schien die Son­ne. Es war nicht zu warm, die Vögel sangen, und ich ging mir einen Pfirsich kaufen. Unter­wegs begegnete ich Kollegen, die zum Essen gingen, und wir wechselten ein freundliches Wort. Dann ging ich in mein Zimmer, setzte mich an den Schreibtisch und schrieb einen Abschiedsbrief. Weil ich ein genauer Mensch bin, las ich den Brief noch einmal durch. Da hatte ich den ersten ge­sunden Gedanken nach langer, langer Zeit: „Ich muss einen Arzt, und zwar einen Psychiater, anrufen. Ich bin sehr krank.“ Obwohl ich mich umbringen wollte, konnte ich das Wort Selbstmord in diesem Moment nicht denken.

Eine Selbstgefährdung, eine gegen die Existenz gerichtete Handlung – die über die Hälf­te aller Suchtkranken plant und etwa ein Drittel in die Tat umsetzt* – nennen wir Autoaggression. In der Regel wird sie geboren aus tiefer, hoff­nungsloser Traurigkeit, aber eben nicht selten auch aus einer schweren narzistischen Krän­kung, deren Folgen sich gegen das Selbst richten. Derart ge­fährliche Impulse können nicht zugelassen und müssen abge­wehrt werden. Kaufen und Es­sen sind neben Trinken häufig Ersatzhandlungen, mit denen Trauer und Wut gemildert und im Sinne des Wortes zugedeckt werden.

Die Wut

Wesentliche Merkmale einer Abhängigkeitserkrankung sind schon vor über 50 Jahren mit den einfachen Worten genau beschrieben worden: die Ab­nahme der Frustrationstoleranz und das Gefühl „grundlosen Unwillens“ zum Beispiel.

Im Rahmen der modernen psychoanalytischen Theorie­bildung sind besonders die frü­hen Beziehungen zu Menschen (Objekten) und unsere inneren Bilder davon bei Suchtkranken wichtig, wobei in diesem Mo­dell darauf hingewiesen wird, dass die „am häufigsten feststell­baren Symptome narzistischer Störungen, hohe Kränkbarkeit, Mangel an Liebesfähigkeit und echter Selbstliebe, Neigung zu wirklichkeitsfernen Zielen und Idealen, Unfähigkeit zur Freude über eigene Erfolge und Leistungen sowie Gefühle von Leere und Sinnlosigkeit sind.“*
Welcher Suchtkranke fände sich da nicht wieder! Ähnlich wie Angst und Traurigkeit nagt auch die ständige hintergründi­ge Wut an inneren und äußeren Beziehungen, gebändigt vor­dergründig nur durch die Ab­wehrmechanismen und durch das Suchtmittel selbst. Alles wird aber mit der Zeit durchläs­siger, vergeblicher: Den Kran­ken wird immer deutlicher, dass sie auf Kredit gelebt haben und nun nicht einmal mehr die Zin­sen aufbringen können, von ei­ner Tilgung ganz zu schweigen. Diese hohe Kränkbarkeit hat etwas mit einem „grandiosen Selbst“ zu tun, und so ist die zunehmende Erkenntnis, suchtabhängig zu sein, eine ebenso grandiose Kränkung an sich. Das ist wohl einer der Hinter­gründe bei Selbstmorden von Suchtkranken und neben der chronischen Vergiftung eine Wurzel von Gemeinheiten und aggressivem Verhalten.

Drei Jahre bevor ich mit dem Trinken aufhören durfte, wurde Karla schwanger. Wir hatten uns seit vielen Jahren noch ein Kind gewünscht, besonders im­mer dann, wenn wir uns sehr nahe waren. Als wir gar nicht mehr damit gerechnet hatten, passierte es. Mir ging es da­mals schon recht schlecht. Ich war zwar beruflich sehr erfolg­reich, spürte aber innerlich im­mer deutlicher meine Lebenslü­ge, auch wenn ich meine Rolle weiterspielen musste, denn ich arbeitete gut und war gerade zum Direktor einer Firma be­fördert worden. Die Schwan­gerschaft über konnte ich mich wohl noch leidlich verstellen; Karla konzentrierte sich immer mehr auf sich und das Kind. Ich liebte dieses kleine Wesen von Anfang an, und wieder auch nicht, denn ich fühlte mich müde, zu alt und irgendwie betrogen. Diese Gefühle bra­chen immer wieder über mich herein. Bei der Geburt war ich nüchtern und die ganze Zeit da­bei, ich beneidete Karla um die warme Liebe, mit der sie unse­re Tochter begrüßte, und liebte beide sehr.
Nach der Geburt war ich noch im Kreißsaal derart be­trunken, dass ich kaum nach Hause laufen konnte, deshalb fuhr ich mit dem Auto. Es begannen Monate der Unru­he, Schlaflosigkeit, Angst und Trunkenheit, viel vertragen konnte ich nicht mehr, und die Räusche, die ich hatte, waren überwiegend geprägt von Wut und Ekel. Heute wundert es mich nicht, dass unsere Tochter nie durchschlief:
Ich selbst meinte aber, unbe­dingt meinen Schlaf zu brau­chen, um arbeiten zu können, denn während der Woche trank ich selten. Nach einer gestörten Nacht tobte ich morgens herum und nölte Karla an: „Das ist ja unerträglich, dieses Kind ist ja wie ein Krebsgeschwür.“
Ich habe nie gefragt, aber das mag der Moment gewesen sein, als Karla beschloss, sich und den Kindern eine Wohnung zu suchen.

Diese narzistische Wut, diese Kränkungen und ihre Folgen werden den Patienten nur zum Teil bewusst, sie erleben be­stimmte Handlungen und Aus­sagen als ihnen eigentlich we­sensfremd, sie haben entweder eine ungerührte, starre Distanz dazu, richten eventuell den da­zugehörigen Affekt gegen sich selbst oder erleben als Kehrsei­te der Medaille ein überflutetes Schamgefühl, das die Suizidge­fahr weiter steigert.

Die Scham

Es hat immer und immer wie­der Momente in meinem Trin­kerleben gegeben, in denen ich genau wusste, dass mein Trinken nicht in Ordnung war. Dieses Gefühl hatte ich schon als jun­ger Abhängiger. Und manch­mal habe ich die Erinnerung an einen Morgen auf der Fahrt in die Uni. Es war ein warmer Sommertag, so zwischen neun und zehn Uhr, als ich spontan aus der S-Bahn stieg, um zu trinken. Ich hatte einen weiten Blick über das Tal, schaute auf den Fluss, auf dem die Morgen­sonne lag, und wandte mich dann der Trinkhalle zu, um mir ein Bier zu bestellen. In meiner Trockenheit hatte ich merkwür­digerweise oft die Phantasie, mein Leben wäre anders ver­laufen, wenn ich damals nicht aus dem Zug gestiegen wäre.

Jeder Suchtkranke kennt die­ses Gefühl, den Wunsch, alles ungeschehen machen zu kön­nen, die Phantasie, in einem bösen Traum gefangen zu sein, einem Alptraum: gleich kommt jemand und weckt ihn auf, und alles ist in Ordnung.

Klaus sagt dazu:

Als ich mich in meinem Bett um­drehte, war es immer noch das Krankenzimmer.

Wenige Seiten später lese ich:

Das ist der Punkt, vor dem ich mich gefürchtet habe. Ich kann fast nicht mehr weiterschreiben und habe mein Auto direkt vor der Tür geparkt, um fliehen zu können. Mir ist übel, und ich habe Herzrhythmusstörungen. Als ich mich langsam ordnen kann, wird mir klar: Es gibt kein schlechtes Gewissen, es gibt nur ein Gewissen, und wenn Gott mir nicht verzeihen kann und nicht verzeiht, wer dann? Natürlich habe ich mich schuldig gemacht und fühle mich auch so, gegenüber mei­nen Eltern, Karla und den Kin­dern, der Firma, aber zunächst einmal bin ich doch Alkoholiker, wohl unausweichlich und für immer. Wie habe ich mich und andere belogen.
Was mich am tiefsten nie­derdrückt, ist der unendliche Mist, den ich betrunken geredet habe; ich habe immer auf an­dere Leute eingeredet: Einmal im Flugzeug habe ich völlig betrunken mit dem Personal­chef einer großen Firma über Alkoholismus am Arbeitsplatz diskutiert, da werde ich heute noch rot. Und heute weiß ich auch, dass jede Fahne stinkt. In wievielen Taxis habe ich ge­trunken und gestunken und he­rumgeredet!

Kuiper schreibt in seinem Buch „Seelenfinsternis“, dass die Geschichte seiner Depres­sion zum Inhalt hat: ,,Scham ist ein schreckliches Gefühl… Scham ist ein Feuer, das sich selbst nährt.“ * Es ist wohl auch deshalb so schrecklich, weil es uns so überflutet und weil wir der Scham, wenn sie einmal von uns Besitz ergriffen hat, so hilflos ausgeliefert sind. Wir können sozusagen körperlich spüren, wie der Selbstwert schwindet. In einer Arbeit wird von der „stark destruktiven Dy­namik“ von Schuld und Scham­gefühlen gesprochen.*
Beide sind untrennbar mitei­nander verbunden, Schuld und Schuldgefühle sind aber vor­dergründig der Erklärung leich­ter zugänglich und so zu bear­beiten, sei es real oder durch die Abwehr. Die Scham gleicht einem Wasserrohrbruch: Zu­nächst ist ein kleines Fleckchen in der Decke sichtbar, bis nach einiger Zeit die ganze Decke herunterkommt.

Und ohne jeden Zweifel ha­ben wir ein Gewissen, das Fran­zen* „die Grundlage für auto­nomes Handeln“ nennt. Unsere Identität ist in hohem Maße von der Entwicklung des Ich, des Gewissens und der Fähigkeit, die Realität zu beurteilen, ab­hängig*. Während aber die Mehrheit der Untersucher dazu neigt, Persönlichkeitsdefekte bei Suchtkranken einer Ent­wicklungsstörung zuzuschreiben, die vor dem Suchtmittel­gebrauch liegt*, messen wir in unserer Arbeit der krankma­chenden ständigen Gewissens­schädigung durch die Sucht selbst einen ähnlich hohen Stellenwert zu. Ein Sucht­kranker ist nur vordergründig gewissensarm oder gewis­senlos, in Wirklichkeit ist er gewissenskrank. Das oben erwähnte Jellinek-Symptom des „grundlosen Unwillens“ ist Ausdruck dieser Gewis­senskrankheit, wie auch jeder Suchtkranke das Gefühl, dre­ckig zu sein und sich und an­dere ständig zu beschmutzen, genau kennt. Dafür gibt es dann auch nicht selten ein äußeres ungepflegtes Korrelat. War­um blicken viele Suchtkranke am Ende nicht mehr in einen Spiegel? Weil eine Voraus­setzung für die Scham die Er­kenntnis ist.

Das Ende

Ich weiß bis heute nicht, warum ich damals im April mit dem Trinken aufhören konnte. Ich war aber völlig fertig, und das hatte sich schon Monate vorher angekündigt. Ich war von Pon­tius zu Pilatus gerannt, es ging mir immer schlechter, und mei­ne Laborwerte waren sehr gute. Ein Arzt diagnostizierte eine Depression, womit er gar nicht so falsch lag, aber was besagt das Wort allein schon? Das Drama begann an einer ganz anderen Ecke, und niemals hätte ich das möglich gehalten: Der Alkohol verlor seine Wir­kung. Meine Räusche waren unangenehm, ich konnte trin­ken, was ich wollte, vertragen konnte ich fast nichts mehr, von einem Weizenbier war ich ziem­lich fertig – auch deshalb, weil ich schon seit Wochen nicht mehr essen konnte. Der Appetit war weg. Ich fühlte mich sehr krank. Und weil man mir das nicht ansah, gratulierte mir – so verstand ich es damals – fast jeder jeden Tag zu meiner hüb­schen Frau, den Kindern, der erfolgreichen Arbeit. Und wie ein Endlostonband redete in mir ständig – mal laut, mal lei­se – die Stimme: „Das kommt alles vom Trinken.“ Das war so furchtbar, dass ich einmal Karla weinend am Telefon anschrie: ,,Ich will nicht mehr trinken, ich will nicht mehr trinken.“ Und das ist die Wahrheit.

Diese einzelnen Aspekte der Autonomie – die Grundgefühle*, die Scham und das Gewissen, lassen sich, einzeln betrachtet, recht gut beschreiben. Aber auch sie sind nur Modellvor­stellungen, Punkte und Teile eines Bildes, das erst aus der Entfernung und in uns selbst zu einem Ganzen wird.

Und etwas anderes entgeht dem Leser bei der Fokussie­rung: dass all diese Gefühle und Instanzen zu gleicher Zeit, gemeinsam und gegensätzlich anwesend und tätig sind. We­sentliches Merkmal der Auto­nomie ist es, Gefühle auseinan­derhalten zu können und auch differenziert zu erleben. Und ein wesentliches Merkmal von Suchtkranken ist es, dass sie ge­nau das nicht im erforderlichen Maße können1*; wir halten das nicht nur für ein Zeichen von Entwicklungsdefiziten, son­dern auch für eine Folge der chronischen Vergiftung des Gehirns, des Gewissens, der Seele.
Suchtkranke erleben vor ih­rem Tiefpunkt ein ständiges ekelhaftes Unbehagen, eine undifferenzierbare Mischung der genannten Gefühle, dem zu entrinnen nur drei Möglich­keiten gegeben sind: Trinken als vermeintliche Hilfe, Selbst­mord oder Abstinenz. Wenn Autonomie in hohem Maße Identität – Ganzheit – bedeutet, und um was sonst bemühen wir uns im Leben bis zum Tode, ist der schleichende Verlust dieser Autonomie gleichzusetzen mit einer Erosion eben dieser Iden­tität und in letzter Konsequenz mit dem geistig-seelischen und körperlichen Tod.

Der Anfang

Die Genesung des Klaus A., der mühsame Aufbau seiner Auto­nomie, beginnt zunächst mit deren genauem Gegenteil: in einer geschlossenen psychiatri­schen Abteilung.

Ich lag weinend im Bett. Mir gegenüber saß die diensthaben­de Ärztin. Sie fragte: „Gibt es et­was, was ich für Sie tun kann?“ Ich hörte mich sagen: „Wenn Sie meine Hand halten könnten, bis ich eingeschlafen bin.“ Und sie antwortete: „Sie wissen, dass ich das nicht kann, aber wir werden jede Stunde nach Ihnen sehen und Sie aufwecken, damit Sie merken, dass Sie noch da sind.“ Besonders, wenn die Nacht kam, brauchte ich noch lange nach dem Beginn mei­ner Abstinenz die Versicherung, geborgen zu sein. Ich fand es nach dieser Zeit wichtig, den diensthabenden Therapeuten darum zu bitten, nach mir zu sehen, bevor er schlafen ging.

Das Erleben der Abhängig­keit von Menschen im Gegen­satz zur Droge, die für eine kurze Weile sogar totale Ab­hängigkeit von Menschen in der Regression ist, ist wohl eine sehr wichtige Vorausset­zung für die Genesung. Sucht­kranke haben auch den Be­griff der Freiheit über Jahre und Jahrzehnte missdeutet und missbraucht. Die Freiheit, im Bewusstsein der Abhängigkeit zu leben, bedarf der Fähigkeit, über sich in einem autonomen Maß zu verfügen.

An wen oder was sollte ich nun glauben? Meine Familie besuchte mich, aber allen stand der Schrecken im Gesicht ge­schrieben, und wir hatten uns nicht viel zu sagen. Ich hatte überhaupt nicht viel zu sagen. In den ersten Tagen weinte ich viel, was mir besonders auf dem Gang und im Schwestern­zimmer sehr peinlich war und gleichzeitig egal. Ich sollte in eine Suchtklinik verlegt werden und fügte mich, ich wollte nur weg, egal, wohin. Ich spürte aber auch, dass da Menschen waren, die mich ruhig und vor­behaltlos besuchen kamen: Zu meiner großen Verwunderung boten sich gleich drei an, mich fast 600 Kilometer mit dem Auto in die Klinik zu bringen, einfach so, was ich bis dahin im Leben nicht getan hätte, für wen auch?
Am Tag vor der Abreise fuhr mich ein Bekannter nach Hause, damit ich meine Sachen holen konnte. Wir hatten ausgemacht, dass Karla nicht zu Hause sein sollte, mein erwachsener Sohn war wohl da, so recht erinne­re ich das nicht mehr. Ich war ganz ruhig, draußen war es sehr warm, die Sonne schien, es war ein Frühsommermorgen in der Großstadt. Als wir etwa einen Kilometer vor unserer Wohnung waren, heulte ich wie selten in meinem Leben: Ich fühlte mich heimatlos und sehr allein. Das Krankenhaus war keine Heimat, die Wohnung war keine Heimat, die Suchtkli­nik würde keine sein.

Es hilft nicht, dieses Erleben einfach nur mit einem Begriff wie „Depression“ oder auch ,,Regression“ zu belegen. Dia­gnosen und Schlagworte ver­hindern Beziehungen, die, wie Klaus erleben musste, uns doch am Leben erhalten. Wenn Au­tonomie eine Beziehungsaufgabe ist*, darf auch geschrie­ben werden: Suchtkrankentherapie ist eine Beziehungs­aufgabe. Jede Therapie ist eine – was sonst?
Ein alter Konflikt entsteht zwischen Patienten und The­rapeuten bei der Einschätzung der Zeit, die für die Genesung benötigt wird. Abhängige und Angehörige, die viele Jahre nur auf die Abstinenz gestarrt haben, übersehen, dass Sucht­kranke Meister in schnellen Lösungen sind, Lösungen, die sich bei näherem Hinsehen als gutgemeinte Phantasieproduk­te erweisen. Das liegt neben der Sucht eben an der Drogenwir­kung selbst, die so etwas ja vor­spiegelt. Und fairerweise muss gesagt werden, daß Therapien mit einem vorgegebenen zeitli­chen Rahmen solche Phantasi­en unterstützen können.
Wie schnell ist jemand, der Jahre und Jahrzehnte vergiftet war, davon frei? Wann ist er, wie ich in der Gruppe jeman­den sagen hörte, “… ein alkoho­lunabhängiger Alkoholiker …“ ?

Die Zeit

In den ersten Wochen meiner Therapie muss ich Karla wahn­sinnig gemacht haben. In der Regel verkündete ich in der Wochenmitte, ich käme zum Wochenende für immer nach Hause; und das, als ich noch in einem Zustand war, dass ich mich kaum aus dem Hause traute und Angst vor persönli­chen Ansprachen in der Grup­pe hatte. Meine wirkliche Phan­tasie war aber: ich würde am Bahnhof mit einem Glas Bier in der Hand stehen, und wenn ich mir das ausmalte, packte mich ein tiefer Schrecken, dass das Schlimme, was ich in den letz­ten Wochen erlebt hatte, dann wieder von vorne beginnen würde, und das wollte ich auf keinen Fall. Beim Lösen von Kreuzworträtseln, beim Spie­len mit dem Schachcomputer, beim Zusammenrechnen der Telefoneinheiten spürte ich, dass mit meinem Kopf etwas nicht in Ordnung war: ich konnte mich kaum konzentrieren, und bestimmte Schachregeln hatte ich vergessen.
Die schlimmste Zeit war die halben Genesung, ich konnte zwar wieder rumlaufen, Skat spielen, fernsehen, in der Gruppe die unsicheren Neuen von oben herab betrachten, aber mehr nicht – es ging auch nicht merkbar voran.

Es entspricht dem Angehöri­genverhalten unseres Denkens, wenn wir jedem Neurotiker eine Psychotherapie von ei­nigen Jahren zubilligen, den Suchtkranken aber nur an der Abstinenz messen. Es dient wohl der Abwehr von Schuld- und Schamgefühl, dass wir Sucht zwar theoretisch in der Schwere mit einer Krebser­krankung vergleichen – in der Sterbe- und Besserungsrate zum Beispiel –, diesen Ver­gleich aber nur in Sonntags­reden gebrauchen, nicht im gelebten Alltag. Aber auch die Abhängigen machen da mit.

Mein vordringlichstes Ziel war es, wieder normal zu wer­den, und es dauerte deutlich über ein Jahr, bis ich begriff, dass ich gar nicht wusste, was „normal“ für mich war – ich hatte keine Ahnung von einem Leben mit einer verbindlichen Entscheidung gegen den Alko­hol, wie immer die auch ausse­hen sollte. „Normal“ – das war irgendwas aus meiner Jugend, irgendwas aus dem Fernsehen, Friede in der Ehe und am Ar­beitsplatz. Und im Grunde das genaue Gegenteil von dem, was ich in den ersten Monaten mei­ner Trockenheit erleben musste. Ich spürte: Lärm, Unruhe, inne­re Getriebenheit, Schlafstörun­gen, brennende Arme und Beine, Anfälle von Traurigkeit, Herzra­sen, Verdruss über die verdamm­ten Selbsthilfegruppen, Verdruss über die Menschen, die meine Sucht nicht glaubten, Verdruss über meine Familie, der ich mich so verpflichtet fühlte. Verdruss klingt nach Selbst­hass – und das war es wohl auch, aber auch etwas ande­res: Heute weiß ich, dass ich sehr überfordert war und mich selbst überforderte, um alles wiedergutzumachen – ich hätte einfach mehr Zeit in Ruhe ge­braucht.

Ein Leben ohne Drogen und Autonomie, auf der Suche nach der Identität, nennen wir doch wohl eine Lebenskrise. Mit der Zeit wird alles entlarvt, alles deutlich, alles spürbar. Der Ge­winn besteht in der Abstinenz, in der zunehmenden Sicherheit im Alltag und besonders darin, dass mit der Zeit ein eigenes, nüchternes Wertesystem ent­steht, in dem die Suchtkranken wieder selbst urteilen und dif­ferenzieren können. Das aber dauert in der Regel zwei bis drei Jahre.

Ich frage: In welchem The­rapieprogramm wird deutlich gemacht, dass das erste absti­nente Jahr nur schwer auszu­halten ist?

Die Beziehungen Suchtkranke und Therapeuten stellen sich also einer Bezie­hungsaufgabe, und es ist oft seltsam, woran die Therapeu­ten bei dieser gemeinsamen Arbeit gemessen werden: an der
Ehrlichkeit, an der Elternfunk­tion, an der Stabilität und an der Erfahrung mit Sucht oder an der Ausbildung? Orientie­rungslose, die eher unfreiwillig den Wunsch nach Abstinenz formulieren, suchen eine Ori­entierung, die Angehörigen sind ebenso unsicher.
In dieser Situation der trau­rigen Verstimmung, des Neu­beginns, der Unsicherheit und Verwirrung ist es doch ein­sehbar, daß Suchtkranke sich zunächst einmal zurückziehen, von allem und aus allem. Das schnelle Angebot eines soge­nannten normalen Lebens ohne Alkohol ist zu diesem Zeit­punkt ebenso realitätsfern wie die „Jetzt-wird-alles-gut-Men­talität“ mancher Familienmit­glieder und Mitarbeiter. Ein verständlicher Wunsch wird in der neuen Abstinenz wach: al­leine lebensfähig zu sein ohne die Droge. Ganz zart spüren auch ausgebuffte Süchtige, dass sie, wenn sie es mit der Abstinenz ernst meinen, wirklich allein bei sich beginnen müssen: Und so fängt die Beziehungsfähig­keit mit dem Aushalten von Einsamkeit an, kann die äußere Autonomie erst gelebt werden, wenn die innere trägt.

Ich weine, als der Pater das Zimmer betritt: „Pater, ich bin so allein“, und er antwortet: Ja, mein Sohn, so ist das – wir sind alle allein vor Gott.“ Um das zu erfahren, musste ich 30 Jahre trinken und 49 alt werden. Ich kannte nur von Beziehungen: klammernde und verschlin­gende oder distanzierte, auch wenn ich mich – Nähe vor­täuschend – freundlich stellte. Ich meine heute, dass ich wenige Menschen – immerhin – lieben konnte, ich hatte aber völ­lig übersehen, dass ich zu mir selbst überhaupt keine Bezie­hung hatte: ich nahm und ver­brauchte mich. So kann man nicht nur trinken, sondern auch Karriere machen.

Das Problem besteht dar­in, dass nur der wirklich allein leben kann, der tragfähige Beziehungen hat, und genau davon fühlen sich Suchtkran­ke im Tiefpunkt abgeschnitten. Ob bei einer ärztlichen Visite, einem Einzelgespräch oder in einer Therapiegruppe – es wird eine Beziehung aufgenommen und von beiden Seiten gestaltet. Die Beziehungen der Sucht­kranken sind geprägt von Unsi­cherheit und Misstrauen, Schuld- und Schamgefühlen, Angst und Traurigkeit.

Klaus schreibt:

Als es mir sehr schlecht ging und ich gar nicht mehr weiter­wusste, gab mir mein Therapeut, der mir sehr betroffen schien, einen Briefumschlag mit den Worten: „Ich möchte Ihnen einen Tröster geben, wenn Sie gar nicht mehr weiterkönnen, machen Sie den Umschlag auf.“ Es dauerte noch einige Tage, ich hatte diesen Moment immer weiter hinausgezögert; dann saß ich auf der Bettkante und öffnete unter Tränen den Brief. Es war eine Kopie der Begeben­heit von den „Spuren im Sand“, der alten Christophorus-Le­gende. Und wieder – wie bei der Begegnung mit dem Pries­ter – wurde ich im Moment der Not auf Gott verwiesen, wurde mir die Frage nach der Sinn­haftigkeit meines Unglücks gestellt und im Grunde nach­gefragt, ob ich wirklich bereit sei, die Verantwortlichkeit für mein Leiden zu übernehmen. Das ist ja etwas völlig anderes, als alles Scheiße zu finden und zu trinken.

Die banale Erkenntnis für die Patienten ist: Therapeuten und Eltern sind auch Menschen; mit Trinken aufhören müssen sie allein, und aushalten müssen sie das Ganze auch allein, wie eben jede andere Krankheit auch. Diese Wirklichkeit ist schmerzhaft, und erst dahinter wird die Wärme neuer Bezie­hungsformen spürbar.
Auf der Gratwanderung zwi­schen Einlassen und Abgren­zen ist der Mensch, der die Therapie verantwortet, täglich gefordert, identisch zu sein und darin ein Vorbild für die Suchenden. Wie diese Identität (vor)gelebt wird, ist letztlich egal – ein Abstinenzanspruch muss allerdings dahinterstehen. Der Trost, dass Genesung lan­ge dauert, vorbildhafte – nicht vorbildliche – Beziehungen und die stete Frage nach dem Sinn machen die Autonomie dann möglich.

Glauben

Es gibt ein Ausmaß des Elends, in dem die Hoffnung sehr klein wird und jeder Glaube schwin­det. Suchtkranke glauben ja zunächst einmal bedingungs­los nur der Wirkung ihrer Dro­ge, bis sich – und das kann der Moment des Todes sein – die­se Lebenslüge selbst entlarvt. Spittler* nennt Alkoholismus eine ,,Glaubenskrankheit“, die sich in der Praxis leicht be­weisen lässt, wenn rückfällige Patienten auf die Frage, warum sie wieder getrunken haben, antworten: „Weil ich nicht ge­glaubt habe, dass ich Alkoholi­ker bin.“
Es geht aber um mehr: Um „die Verwirklichung eines neu­en Lebens ohne Alkohol durch den Patienten“ *, und das – fährt Spittler fort –, „ … kann … sich nur dann … ereignen, wenn es zuvor im gemeinsamen Glau­ben von Arzt und Patient kon­zipiert wurde“. Er spricht von einem Glaubensakt und nennt Glauben eine schöpferische „gegenwärtige Lebensform, die auf die Zukunft weist“.

Die Unfähigkeit, zu glauben, geht bei den meisten Patienten sehr weit und mag – wie bei anderen Aspekten ihrer Sucht auch – den Hintergrund sowohl in einer Entwicklungsstörung haben, als auch sekundäre Folge der vielen gebrochenen Versprechungen, der Lügen, also Gewissensvergewaltigun­gen, auf dem Krankheitsweg sein. Diese Glaubenskrankheit beeinträchtigt alle Bereiche des Lebens, vom Wahn der körper­lichen Unverwundbarkeit unter Alkoholeinfluß bis zur Gott- und Liebelosigkeit.
Spittler nimmt den „Glauben im religiösen Sinn“ aus seinen Überlegungen heraus, ich folge hier aber Viktor Frankl*, der eine „zutiefst personalisierte Religiosität“ anspricht: aus der heraus jeder zu seiner persön­lichen, seiner eigenen, seiner ureigensten Sprache finden wird, „wenn er sich an Gott wendet.“ Und diese Sprache findet der Alkoholkranke zu­nächst einmal nicht. Zumindest war es bei Klaus so:

Ich habe in meiner Not vie­le Gebete gestammelt, mit und ohne Tränen; meistens gab mir das keinen Trost, weil ich da­mals noch nicht sehen konnte, was alles schon für mich berei­tet war. Eine große und konkre­te Hilfe war ein junger Pfarrer, der ehrlich auf mein Gestam­mel antwortete: „Ich weiß zwar nicht so ganz, was Sie meinen, Herr A., aber – wenn Sie möch­ten – kann ich Ihnen das Abend­mahl geben.“ Der plötzliche Gedanke, dass eine Macht, grö­ßer als ich selbst, mir verzeihen konnte, da ich es nicht konnte und nicht wusste, wer mir je verzeihen würde, war der erste wirkliche Trost. Dass Menschen mir je wieder glauben würden, habe ich gehofft, aber dass ich mir selbst glauben könnte, war kaum vorstellbar.

Der neue Glaube beginnt schlicht und klein, eher dort, wo die Patienten glauben ler­nen, dass eine Krankenschwes­ter es gut mit ihnen meint und nicht einfach ihre Arbeit macht. Und: ein Alkoholiker wird so lange trinken, bis er glauben kann – auch wenn er es schon lange müsste – dass sein Un­glück vom Trinken kommt.

Klaus schreibt:

Ich wurde mit dem Leiter der Suchtklinik verbunden, und es war seine Stimme, die Art, wie er einlud zu kommen, die mich ein ganz klein wenig hoffen ließ. Und ich begann zu glauben,
dass die dort ihre Arbeit schon verstehen würden. Der Glaube als das „schöpfe­rische Gegenteil von Wissen“ * kommt erst sehr viel später und hat einen direkten Bezug zu der wachsenden Autonomie.

Die Autonomie

In der Zeit der gemeinsamen Arbeit sind wir uns nahege­kommen. Klaus A. hat einen gleichwertigen Anteil an dieser Arbeit. Die Antwort auf mei­ne Frage, warum er nicht als Ko-Autor zeichnet, ist einfach: Er wollte nicht. So habe ich ihn gebeten, den Schlussabsatz zu schreiben, und das hat er getan:

Eben bin ich von der Arbeit gekommen und habe Tee ge­trunken. Wir haben im Moment viel zu tun, und ich würde ger­ne beides: meine ganze Kraft zu Hause und bei der Arbeit einsetzen. Aber ich habe müh­sam gelernt, dass ich mit den Kräften, dem Geld und man­chem mehr, haushalten muss.
In dieser Arbeit war oft die Rede von Gefühlen. Zu den Grundgefühlen Angst, Trauer und Wut gehört als viertes die Freude. Sie ist zu kurz gekom­men, weil es sie kaum gab oder ich sie, wenn es sie gab, nicht spüren konnte: zum Beispiel bei einem Scherz meiner Mit­patienten oder wenn mir etwas im Beruf gelang.
Ich habe ja zu Anfang dieses Berichtes beschrieben, dass ich wieder fühlen kann, in der Oper zum Beispiel Freude und Traurigkeit zugleich. Von Zeit zu Zeit schäme ich mich noch sehr, diese Scham wird sorg­fältig in einem Kästchen ver­borgen, das mit Samt ausge­schlagen ist.
Das hervorragende Gefühl ist Dankbarkeit und die Freude, dass ich lebe und die Trinkwün­sche deutlich nachgelassen ha­ben. Meine Beziehungen haben sich sehr verändert, ich kenne fast nur noch Menschen, die Alkohol und Medikamenten kri­tisch gegenüberstehen und un­befangen Kaffee und Kuchenzu sich nehmen können, ohne gleich nach einem Kognak oder Bier zu schreien. Hier gestehe ich, dass ich nie im Leben ge­dacht hätte, dass ich so lange ohne Alkohol überleben kann, und es wird von Tag zu Tag besser.
Oft habe ich immer noch zwei, wenn nicht mehrere See­len in meiner Brust: Eine da­von möchte gern normal sein inmitten dieser trinkenden Gesellschaft, die andere spürt, wie nahe mir der Alkohol im­mer ist, so dass ich erschrecke und die dritte spürt die Stabi­lität und zufriedene Nüchtern­heit. So wird es wohl noch lan­ge bleiben.
Salloch-Vogel hat nichts über Selbsthilfegruppen ge­schrieben, da hat er einen Feh­ler gemacht. Er meinte, das wisse doch jeder, wie wichtig die Gruppenarbeit für die Au­tonomie sei, und genau das zweifle ich an.
Allein der Weg in meine Gruppe zeigt mir wieder, dass ich Alkoholiker bin und nicht trinken kann, nur deshalb muss ich dahin. Als ich zum ersten Mal in meine Gruppe ging, war über die Hälfte der Mitglieder schon da, und sie sind es heute noch. Ich weiß, dass es Thera­peuten gibt, die von Autonomie sprechen, wenn ein Alkoholi­ker keine Gruppe mehr braucht und wieder „normal“ lebt, was immer das sein mag.
Ich habe 30 Jahre getrunken, mich belogen, gehofft und wie­der gelogen; ich habe derart auf mir herumgetrampelt, dass ich mich wundere, dass ich am Leben bin. Und ein Leben wie dieses habe ich noch nie führen können; ich fühle mich frei und identisch, wenn ich mit ande­ren Suchtkranken über mich reden kann. Zum ersten Mal in meinem Leben scheue ich keine Ehrlichkeit, ich lege allerdings Wert darauf, mir die Menschen zu suchen, mit denen ich über meine Sucht spreche: Wer kann das für mich entscheiden?

*Literatur beim Verfasser über Trokkenpresse