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Titelthema 3/17: Wellenreiten mit dem Suchtdruck

Vorgestellt: MBRP als neues Rückfalltraining

Wellenreiten mit dem Sucht-Druck

Wie kann ich einen Rückfall vermeiden?

Diese Frage ist für jeden Alkoholkranken eine Überlebensfrage.

Inzwischen gibt es Trainingsprogramme in Suchtkliniken und Ambulanzen, um zu lernen, gar nicht erst in Rückfallsituationen zu geraten – oder besser mit ihnen umgehen zu können. Seit vielen Jahren wird dafür das Rückfallpräventionstraining S.T.A.R. genutzt. Es bietet u.a. Übungen zum Erkennen und Bewältigen von persönlichen Risikosituationen an, zum Umgang mit Gefühlen und Verlangen.

Seit einiger Zeit aber verbreitet sich auch eine weitere Methode: Die Achtsamkeitsbasierte Rückfallprävention, MBRP (Mindfulness-based relapse prevention). Genutzt wird sie, oder Elemente daraus, in immer mehr Kliniken, wie zum Beispiel den salus-Kliniken, der AHG Klinik Tönisstein, den Helios Kliniken, der Asklepios Klinik Hamburg u.a. Bisher gibt es zwar nur empirische Erkenntnisse über die Wirksamkeit, die aber lassen vorsichtig daraufhin deuten, dass die Rückfallquoten der Teilnehmer niedriger seien als bei Nichtteilnehmern, das Craving (Verlangen) reduziert sei und im Verlaufe eines Jahres weniger Tage mit Substanzkonsum stattfänden.
Entwickelt von Marlatt (Bowen, Chawla, Marlatt, 2012), verbindet MBRP bisherige Ansätze zur Rückfallprävention mit Meditationspraktiken. Laut Marlatt sei meditative Achtsamkeit eine der nützlichsten Bewältigungsfertigkeiten bei Suchtmittelverlangen. Die Teilnehmer lernen verschiedene Übungen kennen, z.B. die Rosinen-Übung, Geh-Meditation, Sitzmeditation, body-Scan, sober space, urge surfing (Erläuterungen ab S. 3). Das Ziel: Zunächst einmal den Körper bewusst wahrnehmen zu lernen. Weshalb? Die TrokkenPresse wollte genauer wissen, was MBRP bedeutet und bringen kann. Wir haben dazu mit Christiane Bock gesprochen. Sie arbeitet bei vista (Verbund für integrative soziale und therapeutische Arbeit) als Heilpädagogin in der Suchtberatung Pankow. Und als zertifizierte MBSR-Lehrerin gibt sie auch MBRP-Kurse und Achtsamkeitsworkshops in der KBS Mitte von StadtRand gGmbH in Moabit. Ihr Projekt heißt „Berlin Sucht Achtsamkeit“.

Draußen vorm Café „Frau Krüger“, am Mauerpark in Berlin Prenzlauer Berg. Amseln singen heiter aus ihren Straßenbäumen. Der Tee kommt, in hohen Gläsern. Und schon nähern wir uns dem Thema MBRP an. Denn Christiane Bock bittet zu einer kleinen Übung. Eigentlich würde ich jetzt einfach die Tasse nehmen und einen Schluck nehmen … aber halt: Einmal bitte mit der Hand das Glas umfassen. Kannst du Glas und Wärme fühlen? Jeden Finger einzeln spüren? An manchen Stellen ist es vielleicht ein bisschen heißer? Und welche Farbe hat der Tee? Meiner ist golden. Und dann mal dran riechen …

Achtsamkeitserfahrungen fangen ja bei den Sinnen an, sagt Christiane Bock. Sich Zeit zu nehmen, die Sinne zu benutzen, das Schmecken, Riechen, Hören, Fühlen, Sehen … sich das erstmal überhaupt bewusst zu machen. „Und das setzt sich den Kurs über – einmal zwei Stunden jede der acht Wochen – fort, diese Sinne stehen im Vordergrund, dazu gibt es bestimmte Übungen, Meditationen.“

Hmm. Was hat diese Tee-Übung nun mit Rückfallprävention zu tun?

Achtsamkeit (mindfulness) ist ja, den Fokus darauf zu richten, was eigentlich gerade los ist mit mir. Gedanken, Körperempfindungen, Gefühle wahrzunehmen, mitzukriegen. Wie fühle ich mich gerade in meinem Körper, welche Gedanken beschäftigen mich gerade. Und das ist der entscheidende Moment für die Rückfallprophylaxe: rechtzeitig mitzubekommen, wenn etwas kippt, wenn ich anfange, mich unwohl zu fühlen, in Situationen reinschlittere, die eine Gefährdung für mich sein könnten. Da reagiert der Körper schon, ohne dass uns das manchmal bewusst ist, Gefühle manifestieren sich häufig zuerst über den Körper. Da kann ich, bevor meine Gedanken –  wenn ich das Fühlen mehr trainiere – ein Unwohlsein früher bemerken. Durch bestimmte Übungen wie z.B. den Bodyscan, die das Körperempfinden schulen, kann ich früher bemerken, wenn etwas nicht stimmt.

Bodyscan?

Bodyscan ist eine formale Übung, kurz gesagt, geht man mit der Aufmerksamkeit, angefangen bei den Zehen, durch den ganzen Körper. Es geht darum, meine Aufmerksamket, meine Konzentration zu schulen, indem ich meine Aufmerksamkeit immer wieder auf den Körper richte, mich immer wieder neu fokussiere. Der andere Aspekt ist, vom Kopf/Verstand in den Körper zu kommen und all dem, was sich zeigt, mit einer offenen, freundlichen Haltung gegenüberzutreten, es anzunehmen, denn es ist ja schon da.

Was könnte man denn beim Bodyscan so fühlen, wahrnehmen?

Genau das, was du wahrnimmst …

Weshalb ist das so wichtig für Suchtkranke?

Menschen mit Suchterkrankungen haben meist ein sehr gespanntes Verhältnis zum Körper. Er wird stiefmütterlich behandelt oder vernachlässigt. Der Körper ist der Austragungsort, das Schlachtfeld. Ein Ort, wo Trauma, Verletzungen geschehen sind. Viele gehen deshalb lieber weg von ihrem Körper, weil das so ein schwieriger Ort für sie ist. Aber um vollständig zu sein, brauche ich ihn, er ist unsere Heimstatt, ich kann ihn nicht vollständig abspalten. Der Bodyscan ist eine Möglichkeit, den Körper wieder neu zu erfahren, eine Möglichkeit der Integration von schwierigen Empfindungen. Ganz wichtig: meine Haltung von Freundlichkeit mir gegenüber. Das müssen viele erst lernen. Und auch das: Alles darf sein, es gibt kein richtig und kein falsch beim Bodyscan, es gibt das, was da ist, und das anzunehmen wird geübt.

Im Vergleich zum klassischen Rückfallpräventionstraining (RPT), in dem mögliche gefährliche Situationen durchgespielt werden: Was ist anders bei MBRP?

Die meisten wissen, was ihnen nicht gut tut, was sie in Notsituationen tun müssen. Der Punkt ist nur, dass sie trotzdem manchmal schnell in solch eine Situation reinrutschen können, also den Moment mehr oder weniger verpassen, wo es vielleichtes sinnvoll gewesen wäre, anders zu handeln. Denn man kann immer noch handeln. Das ist ganz wichtig für mich in dem Programm zu vermitteln: Ich habe immer die Möglichkeit, es ist nie zu spät … auch im Rückfall kann ich mich entscheiden, den Rückfall zu beenden. Der Rückfall muss nicht die Katastrophe sein, ich kann immer wieder neu anfangen, jeden Tag kann ich wieder neu anfangen. Das ist etwas, was auch mit der Meditation so geübt wird: Ich schweife immer wieder ab, das ist ganz normal, verliere ich mich in Gedanken und gehe immer zurück wieder auf meinen bodyscan. Ich kann mich immer wieder neu fokussieren. Oder bei der Atemmeditation: Verliere ich den Fokus auf meinen Atem, gehe ich immer wieder hin, ich kann immer wieder zurückkehren. Das ist das, was bei diesem Programm sehr gestärkt wird. Ich kann neu beginnen.

Was ist noch anders?

Ein anderer wichtiger Punkt ist dieser Raum, dieser Entscheidungsraum zwischen Reiz und Reaktion, der sich erweitert. Wir gleiten ja oft in unsere alten Muster hinein, ohne bewusst zu entscheiden. Aber es gibt diesen Raum. Wir haben nur das Gefühl, dass Auslöser/Reiz und Reaktion zusammenkleben. Diesen Entscheidungsraum zu erweitern übt z.B. sober space, eine Kernübung im Programm. Da übe ich, Raum zu schaffen, indem ich mich erst mal entscheide: Ich halte jetzt inne. Ich mache jetzt mal ne Pause, einen Stop. Ich schaue, wie geht es mir gerade, checke Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen. Dann wende ich meine Aufmerksamkeit auf meinen Atem, um ihn zu beobachten, ein paar Mal durchzuatmen. Damit bin ich schon mal im Hier und Jetzt, raus aus den Gedanken, die ich gerade habe. Dann wende mich dem ganzen Körper zu, und schau mal, ob ich alles, was sich da jetzt so zeigt, in dieser offenen Art halten kann … und ob ich in der Lage bin, aus diesem Halten heraus eine Entscheidung zu treffen, die für mich im Moment gerade richtig ist. Eine Minute, fünf Minuten, wann und wo immer man möchte, kann man das tun. Ich habe einen Raum zwischen dem anfänglichen Unbehagen, wo ich merke, irgendwas stimmt hier nicht, und der Reaktion. Das wird geübt und dann erweitert auf Risikosituationen.

Und noch etwas: Es geht bei MBRP nicht um Vermeidung von Suchtdruck oder Situationen. Das ist zwar für viele ein sehr wertvoller Ansatz, damit können sie umgehen. Das kann aber auch die Lebensqualität einschränken, wenn ich immer wieder etwas vermeiden muss, den Sachen aus dem Weg gehen muss. MBRP lehrt, wie ich damit umgehen kann, lehrt, mich hinzuwenden, mit Neugier …

Dem Suchtdruck hinwenden, wie geht das denn?

Eine Übung dazu ist das Wellenreiten (urge surfing). Alles wird mit einer Art Neugier betrachtet, auch mein Verlangen, das auftaucht: Ah, da ist Verlangen! Wie fühlt sich das an …? Welche körperlichen Erfahrungen mache ich, welche Gedanken sind da. Ich führe dann die Kursbesucher durch eine Imaginationsübung. Sie stellen sich vor, sie befinden sich auf einer Welle. Und der Atem ist mein Surfbrett. Das Suchtverlangen ist die Welle und diese Welle läuft irgendwann auch wieder aus. Die Angst von vielen ist ja, dass sich der Suchtdruck steigert und steigert und sie nicht wieder runterkommen. Aber die Realität sieht anders aus. Das Craving kann abebben, wenn ich es nicht nähre mit Gedanken und Ängsten – sondern stattdessen versuche, eine Beobachterposition einzunehmen, eine andere Perspektive. Ich bleibe auf der Welle mit Hilfe meines Atems, gehe NICHT unter und die Welle ebbt ab. Das wird geübt. Das zu verstehen, hilft vielleicht dieses Bild: Ich setze mich v o r die rotierende Waschmaschine, die voll mit meinen wirbelnden Gefühlen ist. Ich sitze nicht mit drinnen. Sondern davor und gucke hin … Praxis hilft, sich das immer wieder anzuschauen, was passiert mit mir, mit meinem Atem, dem Körperempfindungen und das aus einer Beobachterposition heraus – und trotzdem in der Beziehung mit meiner Erfahrung zu bleiben.

Nach und nach wird man feststellen: Ich muss eigentlich weniger machen. Ich muss eigentlich nichts tun. Wir sind ja alle so konditioniert, wir müssen immer was tun, mehr, besser werden und wenn ich mich mehr anstrenge, gelingt es mir, abstinent zu bleiben, ich muss mich nur noch mehr anstrengen. Nee, für mich ist es umgekehrt. Loslassen, Weniger-machen, mich dem zuwenden und mal nix machen. Und dann kann die Welle auslaufen. Eine Emotion dauert normalerweise, wenn ich nix damit tue, sie sein lasse, zwischen einer bis zwei Minuten, dann geht sie wieder …und dann ist Raum da für eine neue Erfahrung.

Das könnte ja auch helfen, wenn schwierige Situationen auftauchen, in denen ich früher trinken „musste“ – zum Beispiel, wenn ein gelber oder ein Behördenbrief kam?

Ja. Aus der o.g. Beobachterposition heraus kann ich betrachten: Oh, da ist jetzt der Brief da. Was macht es mit mir, da steigt vielleicht Panik auf, kommen Gedanken wie Sorgen, Angst, ich spinne die Geschichte weiter, grübele. Ich bemerke: Ah, das ist ein Muster, ist eine alte Geschichte. Ich hab aber die Möglichkeit, anders zu reagieren und muss nicht automatisch saufen, um das zu bewältigen, weil ich ja schon die Erfahrung gemacht habe, dass es anders geht.

Womit wir uns auch beschäftigen, sind alte Muster, Glaubenssätze, denen wir auf die Schliche kommen, Selbstbilder von mir, die ich habe, z.B. „Ich kann das nicht, das schaffe ich nie, das war schon immer so“. Das taucht oft in der Reflektion zu den Übungen auf.

Wem bringt MBRP etwas? Wirkt es bei jedem?

Das Entscheidende ist die Eigenmotivation und die Bereitschaft, auch wirklich hingucken zu wollen, und auch das Interesse an Achtsamkeitsmeditation und dem Abenteuer, dem eigenen Geist zu begegnen. Besonders zu empfehelen als Nachsorgebehandlung. Nicht zu empfehlen ist MBRP bei aktuellem Konsum, Psychosen und unbehandelter PTBS.

Gerade jetzt, nach fast zwei Stunden bei Tee und ohne Zigarette, habe ich „Rauch-Druck“! Was tun?

Wo ist die Körperempfindung zum Gedanken: Ich möchte rauchen? Bei mir saß sie früher hier, unter dem Brustbein …

 Ja, Moment … so ähnlich, ein leichter Druck … ich nehme jetzt nur das wahr, lass es so … nicht nachdenken … es vergeht gerade wieder langsam … Jedenfalls für den Moment jetzt.

Das ist genau d a s: Wenn ich keine Energie hineingebe … ist das nur ein Gedanke, eine Körperempfindung, ich nehme es zur Kenntnis, das ist der Moment vorm Loslassen, und dann lass ich es gehen.

Das Interview führte Anja Wilhelm

 

Nächste Termine:

„Wie wir uns trotzdem wohlfühlen können“, Workshop für Frauen mit achtsamer und trauma-sensibler Körperarbeit

  1. September 2017, 10-15 Uhr, Selbsthilfe- Beratungs-und Kontaktstelle Mitte, Perleberger Straße 44, Berlin-Moabit: In Bewegung kommen – uns spüren – genießen und in Stille sein – annehmend und akzeptierend mit unserer ganzen Verletzlichkeit und unserem unerschöpflichen Potential

Auf Spendenbasis – Erlös geht an die Frauenrechts- und Hilfsorganisation Medica mondiale e.V.

Infoabend MBRP

  1. Oktober 2017, 18-19.30 Uhr, Selbsthilfe-Kontakt-und Beratungsstelle Mitte s.o.

Berlin

Neuer Kurs MBRP

  1. Oktober bis 18. Dezember, montags 17-19.15 Uhr

Anmeldung für alle Termine:

Tel.: 030/ 3946364

Mail: kontakt@stadtrand-berlin.de

www.berlinsuchtachtsamkeit.de