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Titelthema 4/17: Trockene Freizeit: Was tun?

Trockene haben plötzlich mehr Zeit, aber wie die Leere füllen?

Was wollten Sie denn schon immer mal tun?

Neue Freiräume aktiv zu nutzen hilft, abstinent zu bleiben

Plötzlich ohne den Alkohol zu sein –  das heißt für die meisten Suchtkranken erst einmal, ü b e r leben zu lernen ohne ihn. Wie aber geht es weiter? Wie lernt man wieder, auch zu l e b e n ohne ihn? Und wenn es geht, auch noch zufrieden, gar fröhlich!

In meiner ersten Therapiewoche in der Fontaneklinik fand, wie jeden vierten Samstag, ein Treffen mit Ehemaligen statt. Da stand nun dieser oder jener von ihnen auf und beantwortete Fragen der Patienten. Eine davon lautete: Ist das dann nicht ein sehr, sehr langweiliges Leben, ganz ohne Alkohol? Ein älterer Herr, seit zehn Jahren trocken, schwang sich daraufhin sportlich von seinem Stuhl hoch und begann, diese Frage mit vielen Beispielen enthusiastisch zu verneinen: Er besuche mit seiner Frau einen Tanzkurs, das würde so viel Freude bereiten, das hätte er nie gedacht vorher. Er verbringe viel fröhliche Zeit mit seinen Enkeln und könne das endlich genießen. Er habe begonnen, wieder zu lesen, ins Kino zu gehen und zu radeln … Ungläubige Blicke meiner Mitpatienten rundum. Echt jetzt? Kann man an all sowas Spaß haben ganz ohne Pegel?

Die unzähligen Beispiele langjährig Trockener beweisen es. Natürlich können wir wieder lernen, freudig zu leben. Wenn wir die viele Zeit, die wir einst mit dem Alkohol verbrachten, ob trinkend daheim oder in der Kneipe, dumpf schlafend oder dahindämmernd – als neue Freiräume betrachten. Als Freie-Zeit-Geschenk. Und etwas damit anstellen. Einfach etwas T u n. Uns aktiv beteiligen am Dasein, im Umfeld, mit unseren Fähigkeiten und Talenten. Zwei Beispiele dafür finden Sie in unseren folgenden Textbeiträgen. Und vielleicht für sich auch die Antwort darauf, weshalb aktives Tun – egal ob Stricken, Englischlernen, Schwimmen oder Malen – uns Süchtigen helfen kann, zufrieden trocken zu bleiben …

Anja Wilhhelm


Finden Sie etwas, das Sie richtig gerne machen, denn:

„Sinnvolles Tun“ ist Bedürfnis jedes Menschen

Von Astrid Rave, Ergotherapeutin

Wer ein Hobby oder eine befriedigende Beschäftigung gefunden hat, ist auf dem Weg zu psychischer Stabilität und Zufriedenheit klar im Vorteil. Weshalb?
Kennen Sie das trostlose Gefühl, die Zeit „totzuschlagen“? Langeweile, nichts zu tun, die Uhrzeiger bewegen sich im Zeitlupentempo? Wenn der abendliche Rückblick auf den Tag „eigentlich nichts“ zeigt? Nichts gemacht, nichts passiert – Sie blicken auf „nichts Besonderes“ zurück und fühlen sich unzufrieden?
Oft passiert das Menschen, die mit einem neuen, trockenen Lebensabschnitt beginnen. Der Alltag ist ungewohnt und der Ablauf jedes einzelnen alkoholfreien Tages erscheint zunächst ereignisarm und gleichförmig. Soziale und berufliche Bindungen sind oft zerrüttet, alte Fähigkeiten vergessen und die zentrale Bedeutung einer befriedigenden Beschäftigung ist vielen Menschen nicht bekannt.

Ich bin Ergotherapeutin und erfahre dadurch jeden Tag mehr über die heilsamen Auswirkungen von Tätigkeiten. Ergotherapeuten treten vor allem durch gemeinsames Tun mit anderen Menschen in Kontakt. Sie ergründen gemeinsam mit Ihren Klient*innen deren Fähigkeiten und Interessen, sie informieren, leiten an oder geben praktische und theoretische Hilfen.

Tätigkeiten helfen, den eigenen Selbstwert zu erleben und zu erhöhen.

„Ich kann’s immer noch“, staunt eine Frau in der Beschäftigungs-Tagesstätte, die ewig nicht genäht hat und nun an der Nähmaschine sitzt. Mit anderen zusammen stellt sie Taschen her, die später ausgestellt und verkauft werden. Das macht stolz, denn das eigene Selbstbild hat in den Jahren des massiven Alkoholkonsums sehr gelitten.

Erfolgserlebnisse sind sehr wichtig, wenn die suchtgebeutelte Psyche sich wieder erholen soll. „Ich kann anderen helfen, wenn ich sie zu schwierigen Terminen begleite“ – diese Erfahrung ist ebenfalls ungewohnt. Herr K. fühlt sich selbst als suchterfahrene Person „schwach“ und kann trotzdem durch die unterstützende Begleitungstätigkeit anderen helfen, die sich den Gang allein zum Arzt oder zu Behörden etc. nicht zutrauen. So etwas stärkt das Vertrauen in die eigenen Kräfte.

In meinem Berufsalltag lerne ich immer wieder Menschen kennen, in denen erstaunliche Fähigkeiten „schlummern“: alte berufliche Kenntnisse, besondere Interessen und Talente, Hobbys oder besondere Wünsche, etwas „immer schon mal“ machen zu wollen. Viele entdecken beim praktischen Tun ihre Freude an den unterschiedlichen Tätigkeiten. So entwickelt ein älterer Herr mit umfangreichen Bahn- und BVG-Kenntnissen Freude beim Planen von Gruppenausflügen. Ein künstlerisch begabter Mann initiiert die Gründung einer kleinen Musikgruppe gemeinsam mit anderen interessierten Leuten. Eine Klientin baut begeistert ein Vogelhäuschen, andere kochen gern Marmelade und ein Tagesstätten-Besucher wollte „immer schon“ Mosaike legen – das macht er jetzt seit einiger Zeit mit sehr hübschen Ergebnissen.

Wichtig ist das Aktivsein an sich – der Inhalt der Tätigkeit sollte für die Akteure möglichst befriedigend sein, ist aber zweitrangig

Wer etwas tut, kann eigene Kompetenzen erleben. Manche Beschäftigungen finden „im stillen Kämmerlein“ statt, da sammelt jemand Teddybären oder schöne Steine, andere fotografieren gern oder sind täglich mit dem Fahrrad unterwegs. Ich kenne eine Frau, die bei nächtlicher Schlaflosigkeit stundenlang Mandalas ausmalt. Inzwischen hat sie viele mit sorgfältig ausgemalten kleinen Mustern gefüllte Ordner zuhause, es haben sich mehrere hundert Bilder angesammelt. Auch bei diesen Tätigkeiten erlebe ich, dass ich etwas leiste, etwas lernen oder etwas erschaffen kann.

Viele Beschäftigungen bringen mich mit anderen Menschen zusammen: Sammler*innen stellen aus, tauschen oder verkaufen die Objekte. Auch Fotos können ausgestellt werden, es gibt Fotowettbewerbe und Kurse zum Erlernen neuer Techniken. Radausflüge in Gruppen werden auch im alkoholfreien Selbsthilfebereich gemeinsam unternommen, da können sich Interessierte anschließen. Der Kontakt zu anderen Leuten ist ein wichtiges Bedürfnis, hier helfen gemeinsame Tätigkeiten oder Interessen beim Kontaktaufbau. Wenn Sie zu den Menschen gehören, denen es schwerfällt, andere kennen zu lernen, ist der Weg über gemeinsames praktisches Tun wesentlich erleichtert. Wer zusammen kocht oder gärtnert oder Vogelspinnen züchtet, kommt leicht ins Gespräch. Versuchen Sie es mal.

Jeder Mensch hat das Bedürfnis nach Anerkennung

Gerade die positive Rückmeldung anderer Menschen macht die eigene Tätigkeit besonders wertvoll. „Du hast wirklich sehr lecker gekocht“ oder „ich höre dir sehr gern beim Vorlesen zu“ – das sind Komplimente, die das Selbstwertgefühl wachsen lassen. Oft bemerken Andere Fähigkeiten, die den Akteuren noch gar nicht aufgefallen sind. „Du hättest Schauspieler werden sollen“ hören manche Laiendarsteller plötzlich. „In diesem Bereich hast du wirklich besondere Fähigkeiten.“

Viele Beschäftigungen finden in Gruppen statt, es gibt Theatergruppen, Spielegruppen, Schachvereine, Sportangebote, Kurse zu unterschiedlichsten Themen, Freizeitgruppen, und … und … und. Für viele Menschen ist es wichtig, einer Gemeinschaft anzugehören und sich im Kreis Gleichgesinnter regelmäßig zu beschäftigen. So können sich Talente und Interessen ergänzen, es gibt Kooperationen und Hilfen untereinander. Ein gemeinsames Interesse erleichtert es Neuankömmlingen, in die Gruppe hineinzufinden. Und besonders engagierte Menschen können ja auch selbst eine Gruppe gründen, wenn sie ein besonders seltenes Hobby haben oder für sich keine geeignete Gruppe finden konnten.

Es stimmt, manche Tätigkeiten kosten Geld. Vereine erheben Beiträge, Kurse sind oft kostenpflichtig und zum Ausüben vieler Beschäftigungen muss Material gekauft werden. Die Möglichkeiten einer individuell befriedigenden Beschäftigung sind allerdings derartig vielfältig, dass sich ganz bestimmt für jede und jeden auch ohne finanziellen Einsatz etwas findet. Es gibt die Möglichkeit, kostenlose Kleinanzeigen in kleineren Bezirkszeitungen oder auch hier in der TrokkenPresse aufzugeben. Dort könnten Sie gleichgesinnte „Mittäter*innen“ suchen, nach Räumlichkeiten (z.B. für eine Spielerunde, Entspannungsgruppe, …) fragen oder Menschen suchen, die Materialien (Farben, Wolle, Holz, Stoffe, Werkzeug,…) preiswert oder kostenlos abgeben. Vielleicht findet sich auf diesem Weg ein „Leihhund“ in der Nachbarschaft, der gern regelmäßig mit Ihnen Gassi geht. Oder ein soziales Projekt, welches Unterstützer*innen gebrauchen kann.

Das Gefühl, anderen mit einer Tätigkeit zu helfen, kann besonders zufriedenstellend sein. Der große Bereich der Ehrenämter bietet hier zahlreiche Möglichkeiten, für alle Interessierten eine geeignete Beschäftigung zu finden: Manchmal sind es nur ein oder zwei Termine in der Woche, die eine Struktur in Ihren Alltag bringen und das erfüllende Gefühl, „etwas helfen zu können“, mit den eigenen Fähigkeiten gebraucht zu werden. Über Ehrenämter in Ihrer Nähe informieren Ehrenamts-Börsen, Freiwilligenagenturen, das Internet, viele Netzwerke in den Bezirken und berlinweit der „Tag des Ehrenamtes“ mit großer Börse am Roten Rathaus.

Wir alle sind neugierig und können auch im höheren Alter noch Neues erlernen

Mit meinem Artikel möchte ich Ihnen Mut machen, entweder alte Fähigkeiten wieder „auszugraben“, sich auf Ihre Neigungen und Talente zu besinnen oder sich eine für Sie geeignete ganz neue Beschäftigung zu suchen. Was haben Sie früher gern gemacht? Was wollten Sie immer schon mal ausprobieren? Welches Hobby könnte Ihnen Freude machen?

Es geht darum, dass Sie etwas tun. Befriedigende Beschäftigungen helfen jedem Menschen dabei, sich psychisch stabil zu fühlen und sich selbst als aktiv zu erleben. Probieren Sie es aus, unbedingt auch regelmäßig über einen längeren Zeitraum – Sie werden sehen, dass sich eine erfüllende Tätigkeit positiv auf Sie auswirkt.


ADV-Elefanten-Cup 2017 – und noch mehr

„Wir sitzen alle im selben Boot“

Diese Redewendung passt wortwörtlich. Klitschnass fühlt sie sich auch noch an in diesem Falle. Nach Drachenboot eben … Seit 18 Jahren findet in Berlin der Elefanten-Cup statt, der Drachenbootwettkampf des Anti-Drogen-Vereins e.V. Ein großes Fest, an dem ca. 30 Teams teilnehmen. Sie nennen sich Lagonauten, Fontanisten, Spittler, Fit ohne Sprit usw.. Allen gemeinsam ist: Sie treten abstinent an (und beenden so natürlich auch den Tag!) und starten für Suchtkliniken, Suchthilfevereine, Gesundheitsämter. Die meisten Teilnehmer sind trockene und cleane Menschen. Jeder kann mitmachen, ob dick oder dünn, jung oder älter, Liegestützheld oder nicht.TrokkenPresse-Redakteurin Anja Wilhelm wollte diesmal genauer wissen, was da so los ist. Und, eingeladen ins Team von Klärwerk e.V. zum Training, auch herausfinden: Was macht gemeinsamer Sport mit einem Suchtkranken? Kann er irgendwie vielleicht sogar dabei helfen, trocken zu bleiben?

Bisschen paddeln. Aaach, das werde ich schon schaffen. Dachte ich zumindest v o r dem ersten Training …

Regattastrecke Grünau. Hier dürfen sich die Klärwerker seit drei Jahren vorbereiten auf den Cup. Jeweils sechs Mal ab Juni für eine Stunde. Ohne Hilfe wäre das nicht möglich, zu teuer. Aber: Die event-Agentur „Starke Teams“ stellt das Boot. Und ehrenamtlicher Trainer ist seitdem „Hase“ Karsten Haseloff von den Wann-Sea-Dragons, die mehrfach Vizewelt- und Europameistertitel gewannen.
Wir sind 14 Leute. Regina, Nina, Susanne, drei Andreasse, Frank, Holger … ich kann mir nicht alle neuen Namen und Gesichter merken. Aber das wird später noch. Und: Alle sind wir trocken und clean.

Wie steigt man in ein 12-Meter Boot, ohne dass es kentert? Wir beginnen vorne, besetzen Bank für Bank. Zuerst die Erfahrenen, hinten dann die Neulinge wie ich. Es kippelt, schwankt. Die Sitzbänke sind schmal und hart. Und wohin nur mit den Füßen? Paddeleinweisung von Zweimeter-Mann „Hase“: Wie hält man das Stechpaddel? Wie bewegt man es durchs Wasser? Wie bewegt man sich selbst mit?

Dann legen wir ab. Die Kommandos kommen von hinten geröhrt. Da steht Hüne Hase am Steuerruder, seine Stimme schallt bis zur ersten Bank vorne. Die dort sitzen, sind die Schlagleute. Wir, alle hinter ihnen, machen, was sie tun. Gemeinsamen Schlag zu halten sei das A und O.

Nach den ersten 1000 Metern denke ich das erste Mal, ich kann jetzt nicht mehr weiter … Puste raus, Arme zittern. Aber ich sehe 12 Rücken vor mir, die sich im Takt nach vorne biegen. 24 Arme, die Paddel einstechen, durchziehen. Das Wasser platscht, spritzt, gluckst dazu. Ich höre Stöhner zwischen dem gemeinsam gebrüllten Takt Eins! Zwei! Drei! … Pausieren, wenn andere schuften? Das wäre unfair. Also Zähne zusammenbeißen. Ich kann an nichts anderes mehr denken. Nur an Paddel und Wasser und ziehn. Immer weiter. Plötzlich Kommando: Boot stoppen! Hase steigt bis zu mir über Bänke: „Guck mal, so gehts: Hintern ganz an den Bootsrand, Paddel nicht drehen, und nur bis in Hüfthöhe durchs Wasser ziehen. Nach vorne gucken, zum Schlagmann, nicht aufs Paddel!“ Aha. Danke!

Und weiter. Eins. Zwei. Drei … Im Takt der Schlagmänner vorne. Sehr ungewohnt für mich, eigentlich würde ich lieber meinen eigenen Rhythmus nehmen. Aber wo kämen wir dahin allesamt? Wasserkreisel auf der Dahme … Ich begreife langsam: Darauf kommt es an. Es kommen nur alle gemeinsam mit dem Boot voran, wenn man sich dem gemeinsamen Takt beugt. Zeitweise Freiheitsberaubung zugunsten aller sozusagen.

Über die ganze Regattastrecke hallt unser Takt-Schlachtruf. Andere Paddler zeigen Daumen hoch und grinsen. Heiser werde ich langsam. Schweiß mischt sich mit ausgiebig Dahme-Wasser.

In den kurzen Verschnaufpausen einen Blick für die Götter haschen: Rundum sonne-glitzerndes Wasser, Fischreiher über unseren Köpfen, weit hinten taucht das Ufer-Grün in den hohen blauen Himmel ein. Durchatmen … Bis zum wie immer markigen Hase-Spruch: „So Leute, jetzt noch die 500 Meter bis nach Hause! Los, damit uns nicht die Eierstöcke abfriern … Und wer morgen keinen Muskelkater hat, hat heute was falsch gemacht!“

Ersticktes, stöhnendes Kichern. Gemächliches Paddeln zum Steg. Ich schaue rundum, alle sind erschöpft. Die Shirts kleben klatschnass am Körper, die Haare wirr und feucht, und die Augen leuchten. Gegenseitig helfen wir uns aus dem Boot. Alle scheinen glücklich und zufrieden. Fröhliche Auswertung des Trainings, Sprüche, Lachen. Adrenalin und Endorphine wirken. Bei mir auch. Fast schwebe ich zur Straßenbahn, trotz weicher Knie und Arme. Erfrischt von grüner Luft, Wasser, Bewegung, Sonne und – Gemeinschaft. Wir haben zusammen etwas geschafft … dasselbe Boot 3000 m über die Dahme bewegt. Ohne zu kentern.

Nur zusammen seid ihr stark!

Die nächsten Trainings verlaufen ähnlich. Zusätzlich üben wir das schnelle Paddeln, das wir für die Sprintlänge 250 Meter beim Wettkampf brauchen. Und den Start. Immer kommandiert von Hase, er hält uns im Takt und bei mentalen Kräften: „Mal alle her hörn: Das internationale Startzeichen ist All your ready? Attention: GO! Und wir machen los, und das nicht erst beim O! Der Start ist das Wichtigste, sonst schaut ihr nur noch hinterher. Ach ja: Gegner gibt’s nicht! Es gibt nur Opfer!!!“ Motivation a la Hase.

Natürlich haben wir nicht immer nur Friede-Freude-Eierkuchen an Bord … Mal ein Aua für das versehentliche Paddel des Hintermannes im Rücken. Mal ein Sorry für einen Wasserschwall Richtung Vorderfrau. Und mal überlege ich, wie weit der Teamgeist geht: Meine Vorderfrau zieht ihr Paddel zu weit nach hinten zu mir. Es ist mir oft im Weg, deshalb kann ich den Takt nicht halten. Sag ich es ihr? Und wenn ja, wie? Grübel grübel. Ich bitte sie dann wirklich, das zu verändern, ganz lieb und vorsichtig. Im Interesse des ganzen Teams, denke ich mir. Sie ist tatsächlich nicht sauer und achtet dann darauf.

„Nur zusammen seid ihr stark!“ Das hören wir so oft, das geht ins Blut über. Karsten Haseloff, für den dieses Training sein persönliches Charity-Projekt ist, wie er sagt, meint: „Beim Drachenbootsport lernt man, dass man nur im Team was erreicht, wenn alle mitziehen.“

 Der Cup 2017

Wassersportheim Gatow an der Havel. Auf der großen Wiese bis hinunter an Wasser und Steg blitzt kaum mehr ein Stück Grün: Mannschaften haben ihre Pavillons aufgebaut. Darunter Ausruh-Decken, Handtücher, Getränkekisten (alkoholfrei!), Kühlboxen mit Obst, Stullen, Hackbällchen, Salaten. Familienangehörige sind da, Kinder lachen, Hunde bellen. Das Haus Lenné brutzelt und kocht Leckeres wie Champignonpfanne, Asianudeln, Würste, Fleisch – preiswert verkauft zum Selbstkostenpreis. Vom Wasser schallen Anfeuerungschöre von Mannschaftsfreunden. Und über allem hallt die Stimme des Diskjockeys, der nicht nur die Teams zum Start bittet, sondern auch die Mugge aufgelegt: Für jeden Geschmack etwas dabei. Getanzt wird, wo gerade Platz ist. Einfach so. In purer Freude. Ohne jeglichen Alk. Wohl aber mit Vorglühen: Von der ab Mittag endlich strahlenden Sonne und Wettkampf-Fieber. Teams stecken die Köpfe zusammen, werten aus, vergleichen Zeiten. Im Klärwerk-Team werde ich heute eine Position nach hinten platziert, weil ich beim Training am Vortag unkonzentriert war. Das knabbert mir etwas am Selbstwert, aber ich lasse das Ego ziehen: Es geht ums Team. Und Nina, Co-Organisatorin, ruft nochmal alle auf: „Haltet diese paar Minuten zusammen. Egal ob ihr euch gerade lieb habt oder nicht!“

Nach drei 250 Meter-Zweikämpfen dann unser Ergebnis: Mittelfeld. 16. Platz.

Traurig kann darüber niemand recht sein, am Ende dieses sportlichen, ausgelassenen Tages: Es war ein wundervolles Fest, das alle Beteiligten klaren Geistes und mit allen Sinnen genießend verlebt haben: Unter Gleichgesinnten.

Ach so, ja, die Frage eingangs …

Mein Fazit: Sich zu bewegen, aktiv zu sein, kann Freude bringen. Das Gefühl von Lebendigsein. Und wenn man dies noch in einer Gruppe tut mit einem gemeinsamen Ziel, verstärkt sich dieser Effekt anscheinend. Das Tun wird zum sogenannten Flow (Mihaly Csikszentmihalyi, „Flow-Das Geheimnis des Glücks“), in dem für Gedanken an Gestern, Morgen, an Job oder familiäre Sorgen gar keine Zeit und Gelegenheit ist. Das Selbst ist ausgeschaltet. Man geht ganz auf in dem, was man gerade tut. Das kann auch Abstand schaffen von Problemen. Und so neue Lösungen ermöglichen. Und wenn man eigene Fähigkeiten entdeckt und nutzt – und auch durch die Anerkennung in der Gruppe wächst das Selbstwertgefühl. Wir entdecken die Freude am alkoholfreien Dasein. So zumindest hab ich es erlebt …

Anja Wilhelm