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Titelthema 6/15: Spiritualität und Alkoholismus

TBILD 6Wonach suchen Süchtige wirklich?

„Alkoholsucht ist nicht der Durst der Kehle, sondern der Durst der Seele.“
Das stellte Pfarrer und Hospizgründer Friedrich von Bodelschwingh schon vor über 100 Jahren fest.

Wonach dürstet denn Ihre Seele, liebe LeserInnen, was wünschen Sie sich?

Das neue Smartphone, Auto oder Kleid machen glücklich, natürlich – aber wie alles äußere Hab und Gut nur für den Moment, wie wir ja alle wissen. Ist es nicht eher so, dass wir nach etwas suchen, das uns jeden Morgen in kindlicher Vorfreude erwachen lässt, neugierig auf den neuen Tag im Leben? Wünschen wir uns nicht etwas, dass uns dauerhaft einen inneren Frieden bringt, Liebe, Vertrauen, Orientierung?

Ich glaube auch – aus eigener Erfahrung – dass wir Alkoholkranken verzweifelt und über Jahre hinweg in Bier, Wein und Schnaps danach suchen. Und kurzfristig wird es dem Trinker auch vergönnt: Im scheinbar glücklichen Dahindämmern des Gehirns sind unangenehme Gedanken und Gefühle so weit, weit weg … und bald darauf dann doch wieder da. Verstärkt sogar.

„Der Alkoholdurst entspricht auf einer niedrigen Stufe dem geistigen Durst unseres Wesens nach Ganzheit, die man in der Sprache des Mittelalters ,Vereinigung mit Gott‘ nannte“, schrieb 1961 der bekannte Psychiater Carl Gustav Jung.

Aber was mag er mit „Ganzheit“ meinen?

Den Sinn unseres Lebens, das Gefühl von Erfüllung? Das Erkennen eines göttlichen Ursprungs des Daseins, der uns alle verbindet, wovon wir ein Teil sein könnten? Werte, die der Orientierung im Alltag dienen?

Diese Suche danach und das letztliche Erkennen der Antworten für sich selbst, das ist, vereinfacht zusammengefasst, Spiritualität. Definitionen gibt es viele, die Wissenschaft ist sich noch uneins. Kein Wunder, geht es doch um die Suche nach Dingen, die man nicht anfassen oder berechnen kann, sondern nur fühlen und erleben.

Was bleibt, scheint zu sein:

Ob wir für uns eine Verbindung zu einem christlichen Gott erkennen, mit Buddha meditieren, keltische Feiertage begehen oder achtsam das Hier und Jetzt würdigen: Wir leben damit spirituell, haben entweder unseren inneren Frieden bereits gefunden oder sind noch auf der Suche.

Ob wir Gottvertrauen und Geborgenheit, Weisheit und Einsicht, Mitgefühl und Toleranz, Dankbarkeit und Gleichmut schon erleben oder noch erstreben: All das bedeutet auf jeden Fall, dass wir bewusster mit uns selbst, mit anderen und der Umwelt umgehen. Es kann Herz und Seele wärmen und die innere Leere füllen, wie Marion M. auf Seite… beschreibt.

Ja, Alkohol kann auf diese Weise sogar seine Bedeutung für uns verlieren …

Lesen Sie zu diesem Thema bitte auf den folgenden Seiten die Gedanken von Pfarrer Christian Wossidlo, Dr. Andreas Dieckmann und die persönlichen Erfahrungen der trockenen Alkoholiker Klaus, Andreas und Marion.

Anja Wilhelm

Spiritus und Spiritualität – die Suche nach dem Glück

Von Christian Wossidlo, Theologe und evangelischer Pfarrer im Ruhestand

Das Wort „suchen“ ist zweifellos die sprachliche Grundlage für „Sucht“. Wenn ich Sucht inhaltlich als die Suche nach Glück oder Erfüllung oder Überwindung der menschlichen Alltagsschwierigkeiten beschreibe, ist also das, was wir als Sucht bezeichnen, ein Weg, den Menschen gehen, um das Genannte zu finden und zu erreichen.

Es gibt vermutlich auch andere Wege, um zu diesem Ziel zu kommen, die nur ganz anders heißen und scheinbar nichts mit Sucht zu tun haben. Nur scheinbar?

„Spiritus“ ist das Grundwort für Spiritualität. Es ist lateinisch und bedeutet schlicht „Geist“ oder „Hauch“. Heute ist es die Bezeichnung von Alkohol.

Spiritualität ist die Suche nach dem Geistigen, nach dem, das unseren fleischlichen, irdischen, vergänglichen Körper adelt, das uns in Verbindung bringen kann mit dem Jenseitigen, dem Transzendenten, wie es die Philosophen nennen. Die Theologen reden vom Göttlichen, von Gott. Dabei meine ich hier mit dem Begriff „Theologen“ alle, die im religiösen Bereich arbeiten und denken , vom Pfarrer bis hin zur Schamanin.

Vom Wort her könnte Spiritualität auch ein Sammelbegriff für Alkoholismus sein.

Offenbart das einen tiefen inneren Zusammenhang zwischen Sucht und geistigem Suchen? Und, wenn ja, wäre das fatal?

In vino veritas

In der Bibel, also im Christentum, genießt der Wein eine hohe Wertschätzung. Schließlich ist oder symbolisiert er in der Feier des Abendmahls die Einheit mit Jesus und die Nähe Gottes.

Im religiösen Zentrum der griechischen Antike, dem Orakel von Delphi, versetzte sich die Pythia, die Sprecherin des Orakels, durch Dämpfe, die aus einer Felspalte drangen, in Trance.

Indianer- oder Südseefreaks wissen, dass der Rausch, erzeugt durch vergorene Säfte oder bestimmte Pilze oder Musik und Tanz, in den religiösen Praktiken eine wichtige Rolle spielt.

Die Sehnsucht nach der Einheit mit dem Göttlichen, mit den Ahnen, mit den übernatürlichen Kräften treiben die Menschen an, Grenzen zu überschreiten. Letztlich ist es die Suche nach Glück, Wahrheit und Lebenssinn. Spiritualität hat mit Rausch zu tun und damit mit Sucht. Oder ist es umgekehrt?

Die alltägliche Rede

Die Sprache ist die Kleidung der Gedanken, sagt man. So ist die Sucht in unserem Alltag weit verbreitet. Wir reden von Eifersucht, Rachsucht und Herrschsucht. Da gibt es die Putzsucht, die Genusssucht, die Habsucht und die Magersucht. Eigensucht, Schwindsucht, Trunksucht, Spielsucht und Sehnsucht seien auch noch genannt. Sie, die Sucht, ist in allen Lebensbereichen zu Hause.

Die Spiritualität tut sich da etwas schwerer. Sie ist häufig mit Stille und Nachdenken verbunden. Das mögen oder können viele nicht. Sie ist im religiösen Raum zu Hause und in diesem Haus wollen viele nicht mehr wohnen. Aber die Suche nach ihr ist offenbar da. Wie sonst gäbe es in der Esoterikszene so viele Angebote, wie sonst taucht sie inzwischen sogar in der Werbung für Wellnesshotels und Thaimassage auf?

Top und Flop

Werfen wir noch einen Blick auf die Sprache. Sie offenbart, dass vernünftige und sogar notwendige Verhaltensweisen in ihrer Übersteigerung zur Sucht werden und damit krank machen und letztlich tödlich sind. Aus dem lebensnotwendigen Trinken wird Trunksucht, aus dem das Leben schön machenden Spielen wird Spielsucht, aus dem manchmal wichtigem Fasten wird die Magersucht, aus dem lobenswerten Trieb, das Geld zusammen zu halten wird die Habsucht. Das kann ich beliebig fortsetzen. Nur bei der Schwindsucht, wie im Volksmund früher die Tuberkulose hieß, geht das nicht, aber die Eifersucht kann schon wieder jede Liebe zerstören.

Ist das in der Spiritualität auch so? Ganz gewiss. Eine Frömmigkeit, die dazu führt, sich täglich auszupeitschen, wie es die Flagellanten im Mittelalter taten, ist krank und ein Fundamentalismus, der selbst angebliche göttliche Strafgerichte vollzieht, wie die Hexenverbrennung in der christlichen Vergangenheit und die Gottesstaatverfechter ISIS in der Gegenwart, ist tödlich für alle. Es sei auch der Hinweis gestattet, dass Sekten der verschiedensten Art, allen voran Scientology, Menschen in religiöse Abhängigkeit locken und bringen, also in eine Sucht führen und halten.

Ein Glück, dass wir nicht (mehr) saufen

Da gibt es noch eine Ebene, auf der sich Sucht und Geistiges treffen. Für die Sucht ist es die Abstinenz, für die Religion, die Spiritualität also, der Glaube.

Beides ist eine Sache des Kopfes. Abstinenz fängt im Kopf an und der Glaube auch. Der Kopf muss sagen: ich will das. Nur dann hat beides eine Chance.

Natürlich muss der „Bauch“ oder das Herz oder das Gemüt, wo auch immer die Gefühle zu Hause sind, ein deutliches Ja sagen. Kopf gegen Bauch geht nicht, in der Abstinenz nicht, im Glauben an Gott auch nicht. Umgekehrt Bauch gegen Kopf reicht auch nicht. Dann artet alles schnell in Gefühlsduselei aus oder eben, schlimmsten Falls, zur Sucht. Wir müssen, um erfolgreich und auch noch glücklich dabei zu sein, schon Kopf und Bauch unter einen Hut bringen.

Auch sonst wäre es gut, wenn es so ist.

Mehrwert

Meine Gedankenspielerei, die ich allerdings nicht als oberflächliche Spielerei verstehe, sondern als Spiel des Geistes mit den Gedanken, die mir spontan gekommen sind, ergibt, dass Sucht genauso viel mit unserem Kopf, also unserem Denken zu tun hat wie Spiritualität. Beides sind zwar Phänomenen, die sehr viel mit den Gefühlen zu tun haben, aber ihr Ursprung liegt in den Gedanken. Sie sind wichtig. In ihnen ist wichtig, was sie enthalten, wonach sie ausgerichtet sind. Damit sind wir bei dem, was heute allgemein „die Werte“ genannt wird und es eröffnet sich ein neues weites Feld. Das werde ich jetzt nicht auch noch beackern, ich sage nur für mich: meine zentralen Werte sind aufgeschrieben, einmal vor rund dreitausend Jahren in den Zehn Geboten, dann nach weiteren Tausend Jahren mit der Bergpredigt von Jesus, ich sehe sie verkörpert in dem Tun von Menschen wie Mutter Theresa, Mahatma Gandhi oder Martin Luther King und den Menschen, die sich heute für die Flüchtlinge, die zu uns kommen, einsetzen und aufopfern.

Fazit

Sucht und Spiritualität sind auf derselben Ebene in uns angesiedelt, sie stehen sich gewissermaßen gegenüber, sie können auch ganz schnell in einander übergehen. Die Gedanken sind frei, sie kommen und gehen, wie sie es wollen, aber wir haben die Aufgabe und die Gabe, sie zu kontrollieren und zu leiten. Also tun wir das.

 

Spiritualität – der Geist, der bestimmt nicht aus der Flasche kommt

 Von Dr. med. Andreas Dieckmann, Neurologe und Psychotherapeut, ehemaliger Chefarzt der Hartmut-Spittler-Fachklinik Berlin

Der Genuss von Substanzen zur Bewusstseinsveränderung ist ein Phänomen, das in der Menschheitsgeschichte nicht vorwiegend mit Krankheit verbunden war. Die Römer und mehr noch die Germanen kannten rituelle Gelage, während derer Friedensverhandlungen geführt wurden, die gelegentlich jedoch auch blutig endeten. Im Rausch von Kräutern nahmen Medizinmänner indigener Stämme Kontakt zu den Ahnen auf. Kaum eine Kultur verzichtete auf das Erreichen ekstatischer Zustände mittels entrückender Drogen. Substanzungebundene Entrückung findet sich übrigens bereits in der Bibel bei der „Ausgießung“ des Heiligen Geistes, der mit Brausen über die Jünger kam, die in fremden Sprachen sprechen konnten und Visionen und Träume erlebten (Apg. 2).

Auch heute suchen die Menschen in verschiedenen Subkulturen nach Zuständen außerhalb der erlebten Realität – häufig auch ohne religiösen Bezug. Nicht immer spielen Substanzen die wesentliche Rolle. Pseudoreligiöse Kirchen und Ideologien bieten bewusstseinserweiternde Techniken an. Evangelikal fundamentalistische Kreise finden im Gottesdienst Dimensionen der Transzendenz über Gesang, Gebete, religiöse Suggestion und charismatische Prediger.

Siegmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, hat seine kritische Auseinandersetzung mit Religiosität „Die Zukunft einer Illusion“ dem Schriftsteller Romain Rolland vorgelegt. Dieser macht ihn darauf aufmerksam, dass er sich der „eigentlichen Quelle der Religiosität“ nicht gewidmet hatte. Dabei handele es sich um ein Gefühl des unbegrenzt Schrankenlosen, gleichsam Ozeanischen. Dies sei die eigentliche Quelle der Religiosität. „Ich kann dieses ozeanische Gefühl im mir nicht entdecken“, muss Freud sich in seiner Antwort eingestehen und fährt fort, es gehe wohl um „ein Gefühl der unauflösbaren Verbundenheit, der Zusammengehörigkeit mit dem Ganzen der Außenwelt [… Darum darf ich aber ein tatsächliches Vorkommen bei anderen nicht bestreiten“.

Unzweifelhaft gibt es Bedürfnisse der Erweiterung der eigenen Existenz in bedeutungsvolle Sphären außerhalb des eigenen Lebens. Dazu gibt es Theorien in fast allen Weltanschauungen. Jeder Mensch hat entweder ausformulierte Grundhaltungen oder solche, nach denen er lebt, die ihm aber nicht bewusst sind.

In der religiösen Sicht handelt es sich um die Suche nach dem Göttlichen, der Antwort nach der Frage, was diese Welt zusammen hält. Ekstase und Rausch sind Erscheinungsformen innerer Gelüste jenseits üblicher Lebensgefühle. Sie sind Ausdruck des Versuchs, sich von einer unerklärbaren höheren Instanz getragen zu wissen, die über den scheinbar realen naturwissenschaftlichen Ordnungen steht und den im Leben nicht zu findenden Sinn doch zu erreichen. Viele Menschen spüren eine solche spirituelle Dimension als Bestandteil ihrer Persönlichkeit, die über ihre Alltagswirklichkeit hinausweist. Das Erleben und Zulassen einer solchen Spiritualität wird zu einem Aspekt ihres Selbstverständnisses.

Der amerikanische Psychologe R. A. Emmons sieht in der Spiritualität die Fähigkeiten zu Transzendenz, in höhere spirituelle Bewusstseinszustände einzutreten, alltägliche Gefühle, Ereignisse und Beziehungen mit einem Gefühl des Heiligen auszustatten, spirituelle Ressourcen für die Bewältigung von Lebensproblemen zu nutzen, ferner zu wertorientiertem Verhalten. Er hält diese Gaben für Intelligenzfaktoren, man könnte auch sagen, Faktoren der stabilen Persönlichkeit.

Spiritualität ist als gezielter gefühlsmäßiger Bezug auf das Bedürfnis zu verstehen, mit der Welt und der Transzendenz verbunden zu sein. Ein so empfindender Mensch lebt neben dem Gefühl und der relativen Gewissheit der Unverletzlichkeit der Person in der Vorstellung der Verbundenheit mit einem nicht vollständig vorstellbaren Ganzen, das getragen wird von einer Institution des umfassenden „Göttlichen“. Die Fähigkeit zur Spiritualität kann also in einem gereiften Menschen angelegt sein, aber auch in einer Lebenseinstellung als neuer belebender Faktor gewonnen und „erarbeitet“ werden.

Gefühlsgetragene Ausdrucksformen können gemeinsames Singen und Beten, Meditieren, sich den Gedanken hingeben, rituelle Formen wie Abendmahl oder andere Betätigungen sein, die dem Menschen helfen, sich vom Alltagserleben zu lösen und – im wohlverstandenen Sinn des Begriffs – in „höheren Sphären“ zu schweben.

Süchtige Menschen sprechen dagegen oft vom „Kick“ und wirken wie ständig auf der Suche nach dem hinter dem schnöden Alltag stehenden Besonderen. Aber Ekstase im toxischen Rausch knüpft eben nicht an die stabilen Strukturen einer inneren seelischen Sicherheit und gewissen Ordnung im Erleben aus einer stabilen Lebenserfahrung an, sondern entrückt ihn in eine andere, oft als Ersatz für die Wirklichkeit erlebte irreale Welt, die ihm nach der Entgiftung vom Rauschmittel wieder verloren geht. Verloren auch in dem Sinne, dass er sich im weiteren Verlauf nicht darauf beziehen, davon profitieren und die Erfahrung aus der Erinnerung zur Selbsttröstung verwenden kann.

Die Umgebung ist oft von der schlagartigen Wesensveränderung eines Berauschten ebenso erstaunt wie der Betroffene, wenn er nach der schalen Ernüchterung über sein ihm fremd erscheinendes Verhalten hört. Erst ein neuer „Kick“ bringt die abermalige Regression. Damit ist die gleichzeitige Existenz des In-sich-Gehens und die daraus sich entwickelnde Vervollständigung innerer Verantwortung aus der Spiritualitätserfahrung angesprochen. Der toxische Rausch ist jedoch beim Süchtigen keine auch aus seinem Inneren kommende emotionale Erfahrung, sondern unterliegt der Manipulation des gezielten Einsatzes eines Wirkstoffes. Der Süchtige überlässt die bewusstseinserweiternde Erfahrung aus der Spiritualität also nicht der Erwartung neuer Erfahrungen, sondern steuert die ständig gleiche künstliche Wirkung.

Genuss und seine Nachhaltigkeit ist dem süchtig Konsumierenden kaum erlebbar und wird häufig gemieden, um Kontrollverluste zu umgehen („Mir darf es nicht zu gut gehen.“). Wenn hier von Abhängigkeitskranken die Rede ist, so beziehen wir uns auf solche Kranke, bei denen die multifaktorielle Genese ihren Schwerpunkt in psychischen Funktionsstörungen zu haben scheint.

Möglicherweise löst der Umgang mit Spiritualität und seinen Zusammenhängen mit Ekstase eine Art Faszination des Verlassens der Realität aus und ist damit dem süchtigen Erleben nicht fern. Sie ist aber, wie auch wohltuender Genuss, in der Therapie in Raum und Zeit begrenzt und entfaltet ihre Wirkung im günstigen Fall in einer neuen Sicht des Alltags und einer angemesseneren Beziehungsgestaltung.

Ein Modell gelenkter Spiritualität sind die Gewohnheiten der Anonymen Alkoholiker mit ihren klaren Vereinbarungen, den zwölf Schritten und zwölf Traditionen, dem „24-Stunden-Buch“ und den „Gedanken zum Tag“. Mit den „Schritten“ verordnet sich der Alkoholiker die Einordnung in einen von einer Macht gelenkten Kosmos. Ihr kann man sich anvertrauen und sie wird Gott genannt, so wie jeder ihn versteht. Die Gruppen aus dem religiösen Umfeld haben Rahmen der haltgebenden Glaubensgewissheiten. Die Guttempler rekrutieren ihre Rituale aus humanistischen Vorstellungen, mit denen geistige und geistliche Erfahrungen vereinbar sind. Diese Verbände eint ihre lange Tradition, die über die Spiritualität vermittelt wird. Spiritualität ist nicht der Ersatz für das Wohlbefinden in der Trunkenheit, sondern eine Erlebenswelt, zu der erst die Nüchternheit den Zugang gewährt. Deshalb ist die hilfreiche Funktion der Gemeinsamkeit in der Gruppe, das Dazugehören, ein hilfreiches Tor in die Erfahrungswelt von Spiritualität.

Natürlich gibt es auch Gefahren. Spiritualität kann heilsam wirken, es gibt aber auch Irrwege. Auf der Suche nach verankernden inneren Vorstellungen werden Abhängigkeitskranke anfällig für „Heilsbringer“ und sektenähnliche Gemeinschaften, die aus unterschiedlichen Motiven in oft die Integrität verletzenden Art und Weise ihre Wahrheiten verkünden. Solchen Systemen immanent ist die rasche Einbindung in die Ideen mit Heilsversprechen und Verkündung von Unheil bei Abkehr.

Es entstehen rasch Abhängigkeitsverhältnisse, die durchaus befriedigenden Charakter in dem Sinne entwickeln können, dass der „Gläubige“ sich in einer herausgehobenen Gruppe von besonders erwählten Menschen aufgehoben weiß. Damit werden nicht nur Abhängigkeitsbedürfnisse, sondern auch narzisstische Fantasien befriedigt. Auch in der Zugehörigkeit zu politischen Gruppierungen mit einem Eliteanspruch finden sich nicht selten solche seelische Hintergründe, in der dann auch die die Unfähigkeit, das Anderssein anderer zu ertragen, eine moralische Kategorie erhält.

Menschen, die mit ihrer Spiritualität aktiv leben und umgehen und sie nicht zu einem Ersatz für andere wichtige Lebensfunktionen machen, erweitern ihre Möglichkeiten, sich in ihren Werten und sinnlichen Erfahrungen zu orientieren, zu besinnen und Alternativlosigkeiten zu überwinden.

(Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine leicht veränderte und verkürzte Fassung eines Buchbeitrages für den im September 2015 erschienenen Band „Geistesgegenwärtig beraten“ – Existenzielle Kommunikation, Spiritualität und Selbstsorge in der Beratung, Seelsorge und Suchthilfe, Hg. Astrid Giebel, Ulrich Lilie, Michael Utsch, Dieter Wentzeck, Theo Wessel; Neukirchener Verlagsgesellschaft, Neukirchen-Vluyn)

Lesererfahrungen:

Marion M.„Heute vertraue ich meiner höheren Macht“

Schon als Kind und später als Jugendliche habe ich mich gern mal in eine Kirche gesetzt, bin dort zur Ruhe gekommen, wenn es mir schlecht ging zuhause. In diesen heiligen Räumen war es so friedlich, so still, ich fühlte mich total sicher und geborgen. Einen direkten Bezug zu Kirche und Bibel hatte ich damals noch nicht.
Heute weiß ich, ich habe schon damals versucht, eine Leere in mir, ein großes Loch, zu füllen.
Später dann, in überschwänglicher Geselligkeit, bei Partys und Disco-Besuchen, verbunden mit übermäßigem Alkoholkonsum, wurde dieses schwarze Loch auch nicht gefüllt.
Weiter auf der Suche, in einer buddhistischen Gruppe und während eines Klosteraufenthaltes, erfuhr ich: „In jedem von uns wohnt die Kraft des Universums“, konnte das jedoch noch nicht wirklich ganz erfassen.
Erst während meiner 6-wöchigen Tagestherapie im AKB und in den Selbsthilfegruppen, als von einer „höheren Macht außerhalb von uns“ gesprochen wurde, die stärker sei als ich, der ich vertrauen könne und die auch in mir selbst sei, habe ich begonnen, das zu verstehen und ganz langsam auch zu erleben. Und das tut mir gut, da ich durch die 40 Jahre Sauferei das Vertrauen in mich und in alles um mich herum total verloren hatte.
Heute bettle oder kämpfe ich auch nicht mehr, ich bitte heute meine höhere Macht einfach um Eingebung, Erkenntnis oder eine Entscheidung, ich lese die Bibel und bete. Ich zweifele nicht, ob ich gehört werde, ich frage ja im Versandhaus auch nicht x-mal nach.
Heute lebe ich bewusster – ich lebe im Heute, beginne jeden Tag mit einer Meditation, bitte um Lenkung, überdenke abends den Tag und schreibe meine Dankbarkeitsliste, auf der ich all die guten Dinge des Tages festhalte.
Meine innere Leere habe ich gefüllt: Mit den Menschen aus meinen Gruppen, die ebenso wie ich glücklich und zufrieden leben wollen, als Mensch unter Menschen, ohne eine Droge dafür zu brauchen. Und gefüllt mit der höheren Macht, der ich vertraue. Überall auf der Welt, egal wo ich bin, kann ich sie einfach um etwas bitten …und sie hat mir schon mehr Wünsche erfüllt, als ich mir erträumt habe.

Andreas Sch.:„Ich gebe jetzt meine Leben in DEINE Hände …“

Gesoffen habe ich seit meinem 14. Lebensjahr, mal mehr, mal weniger.
Mal glaubte ich mehr an Gott, mal weniger.
Ich wuchs durch die Tätigkeit meiner Eltern im Johannes-Stift in Spandau auf. Ich habe damals an Gott über die Institution Kirche geglaubt, stellte mir Gott als weisen alten Vater auf seinem Thron im Himmel vor. Mit meinem Auszug aus dem Stift nach meinem 18. Geburtstag änderte sich das, ich hatte den großen Traum von Freiheit und einem völlig anderen Lebensstil. Ich besuchte keine Kirchen und keine Gottesdienste mehr.
Als ich ca. 34 Jahre alt war, beschäftigte ich mich mit der keltischen Mythologie und dieser anderen Glaubensform. Ich war fasziniert von dieser „freien Kirche“, fand zum Glauben zurück. Ich glaubte nun an den altehrwürdigen Vater im Himmel als EIN GOTT mit seinen vielen Helfern. Ich entdeckte Gott neu für mich.
Während meiner Alkohol-Entwöhnungsbehandlung 2014, nach einigen Rückfällen, erlebte ich eine großartige Veränderung meines Glaubens: Ich begann, die Bibel neu zu lesen. Dieses Wissen nahm ich mit in die nachfolgende mehrmonatige Adaption in einer Einrichtung der Diakonie und begann, wieder Gottesdienste zu besuchen.
Als Anfang 2015 nach einer gescheiterten Beziehung mein Kampf gegen den Saufdruck erneut aufloderte und ich in Ängsten, Selbstzweifeln, Scham, Schuldgefühlen, Minderwertigkeit und Hilflosigkeit zu ersticken drohte, setzte ich eines Tages alles auf eine Karte und betete: „Ich gebe jetzt meine Leben in DEINE Hände …“ Ab diesem Tag begann ich intensiver und täglich zu beten, das Vater-Unser; Psalm 23 usw. und hoffte aus diesem Beten auf Kraft für mich selber. Im Gebet teilte ich all meine Sorgen und Ängste mit. Gab es spürbar positive Veränderungen in mir oder um mich herum, drückte ich meine Dankbarkeit dafür auch im Gebet aus.
All dies hält bis zum heutigen Tage an. Mein Glaube ist nun gefestigt ohne feste Konfession, ich glaube an eine Kraft außerhalb mir selber, die stärker ist als ich und die mir beisteht.
Dieser Gott, wie ich ihn verstehe, führte mich am 6.09.2015 in eine ganz besondere Kirche und ich durfte an diesem Tag gleich mehrfach wahrnehmen, dass ich nun den für mich richtigen Weg gehe: Diese Kirche mit all ihren Bildern, ihre Architektur und die Begegnungen mit den Menschen in ihr faszinierten mich, ich entdeckte sogar meinen Taufspruch vom heiligen Andreas auf einem Bildnis. Ich ging in den dortigen Gemeinderaum, um mir einen Kaffee zu holen und ging hinaus mit 2 Kaffee und einer tollen Frau an meiner Seite. Seit diesem Tag gehe ich mit dieser Frau Hand in Hand den Weg der Trockenheit und unser beider Glaube an eine höhere Macht trägt und begleitet uns.
Darüber hinaus unterstützt mich die Teilnahme an Selbsthilfe-Gruppen verschiedener Prägung mit gemeinsamen Ritualen ebenfalls in meinem Glauben. Überall erfahre ich Hilfe zur Selbsthilfe; ich beginne, mich selbst und mein Umfeld anders wahrzunehmen, bekomme die Ermutigung, Gott so zu sehen, wie ich ihn sehen möchte und meinen NEUEN WEG weiterzugehen, getragen von einer

Klaus Wehmeier: „Mir fällt es schwer, an ein höheres Wesen zu glauben …“

Im „Blauen Buch“ der Anonymen Alkoholiker las ich während meiner Therapie, dass Genesung vom Alkoholismus nur möglich sei, wenn ich bereit wäre, den Glauben an eine Höhere Macht zuzulassen. Dieser Satz machte mir damals große Angst, glaubte ich doch, dass ich somit niemals von meiner Krankheit genesen könne.
Ich las viel zum Thema und stellte mir immer wieder die Frage: Warum ist dir der Glaube nicht möglich? Ich wollte ja glauben, aber irgendetwas in mir sträubte sich. Im Konfirmanden-Unterricht war mir der Glaube an einen „guten Gott“ verloren gegangen. Zu scheinheilig erschien mir das Verhalten meiner Lehrer. Sie sprachen von Liebe und Achtung und praktizierten Hass. Und ein Vater, der seinen Sohn für uns Menschen am Kreuz sterben ließ, erschien mir nicht liebevoll. Einige Geschichten der Bibel aber fand und finde ich schön und bedenkenswert.
Diese Geschichten gelten mir als Parabeln und bieten mir die Möglichkeit, Dinge, die mir geschehen, erklären zu können. Die Geschichte vom verlorenen Sohn ist eine wunderbare Erzählung zum Thema Vergebung und ich finde in vielen dieser Geschichten einen gewissen Trost. Ich würde mich deshalb aber nicht als Christ oder als gläubigen Menschen bezeichnen. Ich nutze die Worte der Bibel für mich und interpretiere sie. Sie bieten mir Orientierung. Das Gelassenheitsgebet hilft mir, über Ereignisse nachzudenken und erleichtert mir die Entscheidungsfindung.
Lange Phasen meines Lebens habe ich mich an der buddhistischen Lehre orientiert. Ist doch das Hauptanliegen des Buddhismus die Erkenntnis des Selbst. In dem Gedanken an die Reinkarnation finde ich eine gewisse Ruhe.
Religionen helfen mir dabei, über menschliche Werte und Moral zu reflektieren. Ich halte Werte wie Liebe, gegenseitige Achtung und Anerkennung für erstrebenswert. Bin mir aber sicher, dass diese auch ohne Religion und ohne Glaube erreichbar sind. Menschliches Leiden rührt meine Seele an, auch ohne einen Glauben an Gott.
Ich bin der Auffassung, dass in der Gemeinschaft der Selbsthilfegruppen, in meiner treffe ich fast ausschließlich auf Atheisten, mehr christliche Nächstenliebe als in den Gemeinden praktiziert wird.