Facebook & Co – Suchtpotenzial?

Facebook wird 20, und ich bin auch schon 15 Jahre da drin

Von Henning Hirsch

Obwohl Facebook kaum (gar keinen?) positiven Nutzen stiftet, tummeln sich viele Menschen täglich darin. Warum stellen wir uns in diesem digitalen Jahrmarkt der Eitelkeiten zur Schau? Gibt es wirklich sowas wie eine Social-Media-Sucht? Ein Blick in die dunklen Ecken unserer zunehmend virtuellen Zwängen gehorchenden Psyche.

Facebook feierte in diesem Februar seinen 20sten Geburtstag [1]. Ein guter Anlass, sich mit der Deutschen zehntliebster Freizeitbeschäftigung [2] zu befassen = dem überwiegend sinnbefreiten Rumscrollen und Posten in sozialen Netzwerken.

Was Facebook und Heroin gemeinsam haben

Die Erfindung von Facebook im Jahre 2003 war für die Menschheit von ebensolcher Bedeutung wie die Entdeckung des Alkohols in der Mittelsteinzeit, die Idee, den kürzeren Knochen zu ziehen [markiert den Beginn des gewerblichen Glücksspiels; ebenfalls Mittelsteinzeit] und die Erfindung des Heroins am Ausgang des 19. Jahrhunderts. Kann man jetzt nicht 1 zu 1 vergleichen, wenden Sie ein? Klar kann man es nicht 1 zu 1 miteinander vergleichen – was kann man überhaupt wissenschaftlich sauber 1 zu 1 miteinander vergleichen? –; aber vergleichen kann man es. Alle vier hier genannten Stoffe und Aktivitäten führen bei längerem Gebrauch zu Abhängigkeit, die bei dafür prädisponierten Menschen in Sucht gipfelt. Was soll denn eine Facebook-Sucht sein, noch nie gehört, sagen Sie jetzt? Gedulden Sie sich noch ein paar Absätze. Ich erkläre es. Und zwar so, bis auch der letzte Zweifler versteht, dass es sich bei exzessiver Anwendung von Facebook bloß um die krankhafte Befriedigung von drei menschlichen Grundbedürfnissen dreht:

(1) sich die tägliche Dosis Klatsch & Tratsch reinziehen (Voyeurismus),

(2) gefahrfrei pöbeln (Aggressionsbewältigung),

(3) 24/7 mit Menschen kommunizieren (Einsamkeit entfliehen).

Es gibt weitere Motivatoren wie bspw. (politische, religiöse, ernährungstechnische) Überzeugungsarbeit leisten, Sexpartner finden, Produkte verkaufen; aber die sind Nebenkriegsschauplätze.

Es handelt sich also v.a. um die drei o.g. triebgesteuerten Bedürfnisbefriedigungen, die unserem exzessiven Facebook-Verhalten zugrunde liegen. Die sich zwar nicht sofort auf unsere seelische und geistige Gesundheit ausbreiten; eher wie ein langsames Gift wirken. Mit jedem Tag, an dem wir die Droge konsumieren, schleicht sie sich tiefer in unser Unterbewusstsein ein, bis wir eines Tages das bunte Paralleluniversum für die bessere der beiden Welten ansehen und uns weitgehend aus der Realität ausklinken. Endphase: 24/7 online – NICHTS mehr verpassen, ALLES kommentieren, NICHTS mehr glauben, was wir nicht in Facebook sehen, ALLE anderen Informationen anzweifeln oder gar als Lügen deklarieren. So schlimm ist es doch gar nicht, sagen Sie? Doch, es ist bei einigen schon so schlimm, und es wird mit jedem Tag, an dem Facebook nahezu unreglementiert weitermachen darf, ständig schlimmer werden, antworte ich Ihnen.

Hohes Suchtpotenzial

Sie übertreiben maßlos, Herr Hirsch. Nicht jeder, der Facebook nutzt, ist süchtig. Ich zum Beispiel bin ganz und gar nicht süchtig, meinen Sie? Selbstverständlich übertreibe ich, denn so funktioniert nun mal das Geschäft mit dem Erheischen von Aufmerksamkeit = plakative Überschrift, reißerische Anmoderation, und schon klappt es mit Klicks und Reichweite. Habe ich übrigens in Facebook gelernt. Die Überspitzung der These bedeutet allerdings nicht, dass sie verkehrt ist. Sie bedeutet bloß, dass es stärker Süchtige (bspw. mich) und weniger Süchtige (bspw. Sie) gibt. D.h., ich pfeife mir täglich eine höhere Dosis rein als Sie, der Sie jedoch ebenfalls jeden Tag aufs Neue in dieser Plattform unterwegs sind. ICH kann JEDERZEIT damit aufhören, entgegnen Sie empört? Mag sein, aber 99,9 Prozent derjenigen, die in Facebook schreiben, dass sie aufhören, sind nach spätestens einer Woche zurück und posten und kommentieren dann mehr als vorher. Komplettaussteiger trifft man SEHR selten. Und bisher weitgehend unerforscht ist die finale Destination. Verlassen Sie tatsächlich ein für alle Mal den digitalen Zirkus, kehren verkatert & reumütig in die analoge Welt zurück, oder wandern Sie von Facebook zu Twitter, Telegram, Instagram, TikTok, Bluesky oder Mastodon? Wechseln also nur die Plattform [die Wissenschaft spricht in solchen Fällen von Suchtverlagerung]?

Kontrollierter Konsum ist die kleine Schwester von Sucht

Ich habe FESTE Zeiten, in denen ich in Facebook unterwegs bin, an denen richte ich mich aus. Das ist Lichtjahre entfernt von Sucht, sagen Sie jetzt? Na ja, wenn man erst mal feste Zeiten etablieren muss, dann ist das nichts anderes als Sucht, der man ein Korsett verpasst. Bei Alkoholikern nennt man das Trinkmuster. Und glauben Sie mir: Mit Alkohol und Mustern kenne ich mich aus. Das Problem mit den Mustern besteht darin, dass man sie eines Tages nicht mehr erfüllen kann und sowohl die Frequenz verkürzen als auch die Dosis erhöhen muss, um das Glückslevel zu halten. Auch ich habe übrigens ein Muster, man kann es sogar eine Regel nennen: Niemals in der Nacht! Ich klappe Facebook um 23 Uhr zu und mache es erst um 7 Uhr morgens wieder auf. Dann aber gehört der sofortige Blick in die Kommentarspalten genauso zu meiner Morgenroutine wie Kaffeekochen, auf dem Klo den Sportteil der Tageszeitung lesen und Zähneputzen. Und im Laufe der folgenden 16 Stunden schaue ich so oft nach, ob eventuell was „Interessantes“ in meiner Bubble passiert ist, dass ich mich um 23.01 Uhr manchmal frage, warum ich das getan habe. Ich kann’s mir bloß mit Sucht erklären.

Natürlich existieren Unterschiede bei den oben genannten Süchten. So hängen weltweit weniger Junkies an der Nadel, als sich User sekündlich in Facebook einloggen. Bei Black Jack, Texas Hold’em, auf der Pferderennbahn und am Roulettetisch kann man in einer Nacht Haus und Hof verzocken, während man nach einem nächtlichen Kommentar-Marathon in einer digitalen Kloake bloß todmüde ins Bett fällt. Für Alkohol gibt’s Spezialkliniken und Entwöhnungsprogramme. Welcher Arzt hilft mir beim Ausstieg aus Facebook? Hat irgendwer schon mal Kontakt mit einer Facebook-Selbsthilfegruppe gehabt oder existieren die Anonymen Facebookies?

Warum ich, der ich das Problem (angeblich) erkannt habe, immer noch drin bin, fragen Sie mich völlig zurecht? Weil es von der Krankheitseinsicht bis zur Überwindung oft lange dauert. Viele schaffen den Ausstieg nie, obwohl sie sich ihrer Abhängigkeit schon seit Jahren bewusst sind. Ich persönlich finde die Abschiednahme von Facebook [weitere Foren nutze ich nicht] mittlerweile als schwieriger als vom Alkohol, tröste mich aber damit, dass Social Media bei mir keine körperlichen Schäden anrichtet. Auf meine Psyche wirkt sich das tägliche Geschnatter hingegen schon aus. Passiert nicht selten, dass ich Stunden später panisch kontrolliere, ob ich meinen vorvorletzten Kommentar auch im dazu passenden Thread hochgeladen oder versehentlich an einer Stelle, wo er nicht hingehört, platziert habe. Oder die ständige Sorge, alte/falsche Wörter zu verwenden, durch die sich ein anderer User (m/w/d) angegriffen fühlt, obwohl ich gar nicht vorhatte, ihn durch deren Gebrauch zu attackieren. Das sind temporäre Schweißausbrüche & Tachykardie-Schübe, die mir vor Social Media fremd waren.

Lassen Sie uns am Ende dieser Kolumne festhalten:

(A) Facebooks konkreter Nutzen für den privaten Nutzer bewegt sich gegen Null [3],

(B) die Plattform dient uns v.a. zwecks Triebbefriedigung,

(C) obwohl wir das wissen, bleiben wir trotzdem alle hier [von Kurzzeitabwanderungen zu Bluesky mal abgesehen],

(D) um das böse Wort „Sucht“ zu vermeiden, reden wir stattdessen lieber von lebenslanger Kundenbindung.

PS, kleiner Test zum Schluss: Wie lange schaffen Sie es, nicht in Social Media reinzugucken, ohne Symptome wie Unruhe, Appetitlosigkeit und gestörten Schlaf zu spüren? Ich tippe mal, spätestens nach 24 Stunden werden die meisten schwach und tun es wieder [sinnlos posten u kommentieren].

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[1] Genau genommen handelt es sich um den 20. Jahrestag der weltweiten (kommerziellen) Online-Schaltung. Die ersten, lokal eingegrenzten Gehversuche mit der Plattform wurden bereits 2003 unternommen.

[2] Auf Platz 1 steht übrigens „das Internet nutzen“.

[3] Natürlich nutzt Facebook jemand. Nämlich dem Mutterkonzern Meta als immerwährende Gelddruckmaschine.