AnDi: Gedanken zur Zeit

AnDi und seine Gedanken zur Zeit:

Nur für an Abhängigkeit erkrankte Menschen verständlich (?)

Haben Sie noch Erinnerungen an die Zeit, in der Sie sich damit beschäftigt haben, wie Sie vermeiden können, als Trinkerin oder Trinker oder gar als süchtig angesehen zu werden? Erinnern Sie sich an das Leben, in dem Sie zwei Existenzen auf einmal geführt haben? Die Zeit, in der Sie sagten, bei Ihnen sei es etwas anderes als bei den Säufern, die sich nicht unter Kontrolle haben. Die Zeit, in der Sie ein Doppelleben geführt haben? Das war die Zeit, in der Sie dachten, Sie hätten alles im Griff und nicht wussten, dass Sie krank sind. Wissen Sie noch, wie lange Sie gebraucht haben, um zu akzeptieren, dass Sie eine organische, eine seelische und eine soziale Erkrankung haben – so wie die anderen süchtigen Menschen auch!?

Wissen Sie heute, was Sie daran gehindert hat, es einzusehen? Mir hat (nicht nur) ein lange abstinent lebender Betroffener berichtet, dass die Einsicht neben den anderen Problemen deshalb so schwer war, weil er seinerseits zügellos konsumierende Menschen verachtet hat. Solche wie er, die sich lange nicht vorstellen konnten, über längere Zeit drogenfrei leben zu können. Und in der Therapie war es für manche ähnlich: Solche, die die Abstinenz nicht halten konnten, wurden nicht mit intensiverer Therapie versorgt, sondern entlassen(!). Einer erfuhr von einer weiteren Erkrankung und ganz schlechten Aussichten und seine Therapierende zischte sogleich, dass diese Krankheit natürlich mit dem Drogenkonsum zusammenhängt. Und jemand anderes berichtete, man habe ihm während der Therapie den Führerschein mit dem Hinweis abgenommen, er müsse Eigenverantwortung lernen. Mich fragte er: „Wie soll das gehen, wenn man ohne Pappe in der Tasche mit dem Blick auf die Bullen durch die Stadt kutschieren muss!!“ Ich konnte es ihm auch nicht so recht erklären, weil seine Doppelbödigkeit damals noch so tief saß. Sowohl die Rehabilitanden als auch manche Therapeuten agieren so, als sei süchtiges Verhalten nicht Ausdruck der Verzweiflung, dass es scheinbar keinen Ausweg aus der Erkrankung gibt, sondern ein bewusstes und besonders trickreiches Schauspiel. Selbstkritische Insider sagen, dass es auch in der Selbsthilfe so etwas gibt wie die Vorstellung, nur wer ganz „unten“ war, könne trocken werden.

Betroffene, das Umfeld und leider manchmal auch die therapierenden Helfer stigmatisieren die Krankheit zur bösen Tat. Es wird dem Süchtigen zugeschrieben, ja, er wird verdächtigt, doch nur konsumieren zu wollen und einen schlechten Charakter zu haben, weil er lügt, aggressiv wird und Dinge verspricht, die er nicht einhält. Bei genauerem Hinsehen aber halten sie oder er die äußere und innere Wirklichkeit nicht aus und glauben mit der Zeit, die Rettung könne nur ein stoffliches Mittel sein – aber eben ohne die hässlichen Nebenwirkungen. Auf unterschiedlichen Erkenntniswegen gelangt der später abstinente Mensch auf den steinigen, aber lebensrettenden Pfad der Anerkennung seiner realen Situation.

Natürlich gibt es das Phänomen der Zuschreibung auch auf anderen Lebensfeldern. Was den Migranten, den Polizisten, den Bürgergeldempfängern, den Politikern, den „Proleten“ und den „Stinkreichen“ alles zugeschrieben wird, ist schon toll. Und nicht ganz selten merke ich so etwas auch bei mir: den Wunsch, die Politik müsse es lösen, die EU oder sonst wer, vielleicht eine wahnsinnig starke Frau oder ein tollkühner Mann. Neid und Missgunst regen sich in mir – all die Dinge, die ich bei anderen nicht mag. Das Wunder steckt (nicht nur) bei der Sucht in der Selbsterkenntnis, der Anerkennung der eigenen Situation und der Mitarbeit an meiner kleinen Welt des gesunden Lebens. Da fällt mir ein Lied ein: Viele kleine Leute an vielen kleinen Orten, die viele kleine Schritte tun, können das Gesicht der Welt verändern, können nur zusammen das Leben besteh‘n. Gottes Segen soll sie begleiten, wenn sie ihre Wege geh‘n.

In der Politik wollen viele Menschen vorwiegend ihre Macht bewahren. Von dort geht selten etwas Gutes aus, wenn die Dinge kompliziert oder nicht sofort wirksam sind. Kultur, Wertevermittlung und die Erkenntnis, dass es mir nur gut gehen kann, reifen nur langsam. Sie und ich, unsere Unterschiede und Gemeinsamkeiten sind die Motoren der Vielfalt unseres Lebens, wenn wir aufeinander zugehen – vielleicht mit einer Furcht wie damals vor der Abstinenz und dem Versagen. Wenn wir immer wieder aufstehen, uns dabei gegenseitig unterstützen und uns dabei kennenlernen in der wunderbaren Verschiedenheit, brauchen wir keine Buhmänner und -frauen mehr, schon gar keine, die ihnen unliebsame Menschen vertreiben wollen (womöglich gehören du und ich dazu).

Gehen wir besonnen und etwas weniger ängstlich durch das Jahr 2024!