Kräuterteegedanken
Von Andreas Sänger
Heute ist der zehnte Tag. Seit zehn Tagen nicht einen Schluck Kaffee mehr. Tee und Kakao sind die Ersatzgetränke am Morgen, bis ich dann mittags auf Säfte und kohlensäurehaltige Getränke umsteige. Es war Zeit. Mein Kaffeekonsum hatte bedrohliche Maße angenommen. Vor allem das absolut süchtige Gedankengut in mir sorgte mich. Morgens, noch bevor ich die Augen öffnete, dachte ich an Kaffee. So wie ich früher an die Zigarette dachte. „Muss raus aus dem Bett, um zu rauchen. Und wenn ich schon mal in der Küche stehe, kann ich mir auch gleich ein Bier aus dem Kühlschrank greifen.“
Diese beiden üblen Süchte, das Trinken und das Rauchen, habe ich seit einigen Jahren unter Kontrolle. Jetzt wurde es Zeit, den Kaffeekonsum zu kontrollieren. Wir wissen es alle, Kaffee ist nicht das gesündeste Getränk und trotzdem schütten wir es literweise in uns hinein. Gerade in der Suchtszene, sprich in den Selbsthilfegruppen, die ich besuche, wird Kaffee konsumiert, als gäbe es kein Morgen.
So weit, so gut. Die ersten Tage mit echten Entzugserscheinungen wie Kopfschmerzen und Magen-Darm-Geschichten und halt dem ewigen Gedanken an eine schöne Tasse Kaffee sind überstanden und ich sitze hier, an diesem wunderschönen Herbstmorgen, mit meinem Kräutertee im Bett und schaue aus dem Fenster. Und ich denke. Ich denke an Sucht und ich denke an Psychologie. Also welche psychischen Störungen haben mich in die Alkoholabhängigkeit und in die Nikotinsucht getrieben? All meine Süchte, mein süchtiges Verhaltensmuster, wo kommt das her? Mir fallen „Trinksprüche“ ein. Es gibt ja viele, auf den ersten Blick bescheuerte Trinksprüche, nicht wahr? Aber was, wenn die gar nicht so bescheuert sind, sondern vielleicht sogar Aufschluss darüber geben, wie sich die Trinker*in aktuell oder vielleicht sogar generell fühlt?
Ich habe nach einem durchzechten Wochenende meistens davon gesprochen, dass ich ordentlich satt war. Könnte das auf einen inneren Hunger schließen lassen? War ich hungrig nach Liebe, Zuneigung, Gesellschaft? Hungrig nach Vergnügen oder nach Ruhe? All das und noch viel mehr konnte mir der Alkohol eine gewisse Zeit lang vorgaukeln.
Was ist mit dem oder der, die davon reden, sich ordentlich abgeschossen oder weggeballert zu haben? Sind da unterdrückte Gewaltphantasien oder sogar Suizidgedanken diagnostizierbar? „Heute gebe ich mir die Kante“ hat entweder auch etwas Gewaltvolles oder, etwas tiefergehend, „… ich bin mit allem überfordert und gehe mit der Droge bis zum Abgrund, bis zur Kante des Planeten, um die endlose Weite, die unendliche Tiefe als Sinnbild der Freiheit von meinen Zwängen zu sehen.“ Möglich?
Fühlen sich Männer wie Frauen äußerlich und oder innerlich hässlich, wenn sie nach einer Zecherei davon sprechen, sich ordentlich zurechtgemacht zu haben? „Mann, war ich gestern wieder voll“, dokumentiert das die innere Leere, die durch das Trinken gefüllt werden soll? „Ich mach mich zu“ bedeutet doch nichts anderes, als: ich habe die Nase voll, von all den Anforderungen, die das Leben an mich stellt, oder?
Und so weiter und so fort. Ich nehme einen Schluck Kräutertee und denke, es lohnt mal, darüber nachzudenken. Studiere dich, lerne dein Selbst kennen, frag dich, ob an den Theorien etwas dran sein könnte und wenn ja, was war denn dein „Lieblingsspruch“ und wie hat sich dahingehend dein Leben seit deiner Abstinenz verändert? Ist da immer noch eine Sehnsucht nach Gemütlichkeit, wenn früher „mein Spruch“ war: „Ich hatte ordentlich einen im Tee“? „Einen in der Krone gehabt zu haben“ bedeutete vielleicht, dass man sich klein und arm fühlte. Ist das jetzt in der Abstinenz vielleicht noch immer so und nur die „Droge“ ist eine andere? Kaufsucht vielleicht? „Sich einen hinter die Binde kippen“ könnte von Krankheitsphantasien herrühren. Kommt jetzt, in der Abstinenz, die Hypochondrie durch?
Für mich ist es wirklich entscheidend, mein Ich kennenzulernen. „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“ Welche Anteile in mir veranlassten mich jahrzehntelang morgens, auf nüchternen Magen literweise Kaffee zu trinken. Durchweg. Ja, bei schlimmen Erkältungen habe ich mal ein, maximal zwei Tage Tee am Morgen getrunken, aber sonst … Einfach einfallslos, langweilig, unkreativ. Absolut beschränkt, sagte diese Stimme in mir: „Kaffee. Muss Kaffee trinken. Muss Kaffee trinken.“
Ich weiß nicht, wie es den geneigten LeserInnen geht, aber ich möchte meine Freiheit ausbauen. Ich möchte nicht nur frei sein von Alkohol, Nikotin und sonstigen Drogen, sondern einfach von allem, was mich abhängig macht. Dazu, glaube ich, darf ich mich immer wieder aufs Neue einladen. „Hey, lass uns mal kennen lernen“, sage ich mir immer wieder selbst und manchmal bin ich fast erschrocken über die Diversität, die mir das Leben bietet. Es gibt so viele Teesorten und ich beschränke mich auf Kaffee? Meinen Hunger nach Gesellschaft, Zuneigung und sogar nach Liebe zum Beispiel stille ich jetzt u. a. in der Selbsthilfegruppe anstatt in der Kneipe. Wenn ich mich selbst erkenne, eröffnen sich Möglichkeiten, die mein Selbst früher nicht für möglich gehalten hätte.
In diesem Sinne. Stay clean und sei achtsam. Mehr ist nicht zu tun.
… und glaube nicht alles was du denkst.