Als trockener Alkoholiker zum Pauschalurlaub in Spanien

Als trockener Alkoholiker zum Pauschalurlaub in Spanien

 So viel Suchtthematik hatte ich nicht erwartet …

Sommer, Sonne, Strand und Palmen – ohne ein Glas Wein in der Hand? So manch trocken Gewordener kann sich das (noch) nicht vorstellen. Und verzichtet – oder steigt unsicher mit wackligen Knien ins Flugzeug. Leser und Autor Andreas Sänger hat es letztes Jahr das erste Mal gewagt und teilt heute für alle, die den Urlaub noch vor sich haben, seine Erfahrungen mit uns …

Es ist Juni 23. Endlich Urlaub. Nach 12 Jahren Trockenheit das erste Mal alleine. Ab in den Flieger. Eine Pauschalreise. In den letzten Jahren war ich mit meiner Partnerin im Urlaub. Ebenfalls eine clean lebende Suchtpersönlichkeit. Es waren Familienurlaube. Wir besuchten wahlweise mal ihre im Ausland lebenden, erwachsenen Kinder, mal ihre Mutter in NRW und ab und an machten wir Kurztrips an die deutschen Küsten und an die Havel. Ich hatte bei diesen Reisen nicht einen, oder sagen wir, so gut wie keinen Gedanken an Alkohol verschwendet.

Jetzt war es aber plötzlich Thema. „Sei vorsichtig“, dachte ich. „Du darfst der Sucht niemals trauen“ und ich buchte … Ich achtete bei der Buchung peinlich darauf: Keine all-inclusive-Regelung und keine kinderfreundliche Anlage. Ich wollte Ruhe. Einfach mal Ruhe.

Natürlich hielt ein großer Teil in mir diese Vorsichtsmaßnahmen bezüglich all incl. für völlig übertrieben. „Hey, du bist jetzt 12 Jahre trocken, was soll dir schon passieren? Du hast alles unter Kontrolle.“

„Aber ja, sicher ist sicher“, dachte eine andere Stimme in mir und dann war der große Tag, gefühlt ganz plötzlich, gekommen. Morgens um 9 Uhr stand ich auf dem Flughafen BER. Beziehungsweise vor dem Flughafengebäude. Alles gesperrt. Kein Einlass. Hunderte von Menschen vor den Glastüren. Eine Sirene heulte monoton vor sich her und ich, der generell eine Phobie bezüglich des Reisens hat, nicht zu verwechseln mit der Angst vor dem Fliegen, stehe da und meine Nerven sind aufs Äußerste gereizt. Das Unschöne an der Nüchternheit ist, dass ich im Laufe der Zeit Störungen an mir entdeckte, von denen ich zuvor nie gehört hatte. Hodophobie, Sozialphobien, Entwicklungstrauma … Doch das ist ein anderes Thema.

Ich stehe also da, mit meinem Koffer und meinem Rucksack und ich schnappe die Worte eines Polizisten auf, der zwei alte Omas, die vermutlich wie ich in die Sonne Spaniens wollen, beruhigt. „Es ist ein Feueralarm, meine Damen. Mit 99-prozentiger Sicherheit ein Fehlalarm. Die Türen werden sicher gleich geöffnet.“

Es ist mir unmöglich, still stehenzubleiben. Ich laufe zehn Schritte nach links, zehn nach rechts. Hin und her. Irgendwann schweigt die Sirene, die Türen öffnen sich, die erste Hürde ist genommen. Das Einchecken übernimmt mein Smartphone. Wie ein dressierter Delphin im Aquarium schwimme ich durch die hässlichen, riesigen Hallen des Flughafens meinem Smartphone hinterher und plötzlich bin ich im Paradies. Schöne Geschäfte, angenehme Düfte, weiches Licht, Zigaretten und jede Menge Alkohol. Ein Paradies für Nichtsüchtige. Ich also durch, durch die Duty-free-Abteilung, an eine „Bar“. Kaffee, ich brauchte Kaffee. Ein Tässchen, unwesentlich größer als ein Espresso, vier Euro neunzig. Ich gucke auf die Preistafel und ich schwöre, dass mache ich sonst nie, mein Blick fällt auf den Bierpreis. Fünf Euro dreißig für einen halben Liter Pils. Frisch gezapft. Gegen den Kaffee ein Schnäppchen, würde ich sagen und mir gegenüber sitzt ein Pärchen und beide haben ein volles Henkelglas vor der Nase. Kurz vor zehn Uhr morgens. Ich muss lächeln. So beruhigt der Nichtsüchtige seine Nerven.

Einige Zeit später sitze ich im Flieger. Fensterplatz. Neben mir wieder ein Pärchen. Knapp unter dreißig, würde ich sagen. Schwarze Klamotten, schwarz gefärbte Haare, wie nennt man diese Richtung? Gothic? Egal. Sie unterhalten sich über die Drogenexzesse ihrer Jugend und bestellen im Dreißig-Minuten-Rhythmus Bier. Sie wollen in diesem Urlaub nicht ganz so hart zuschlagen wie sonst. Sie wollen brav beim Alk bleiben, versprechen sie sich gegenseitig. Und wieder muss ich lächeln.

Nach ca. fünf Stunden Flug und ca. zwei Stunden Busfahrt bin ich im Hotel. Nächste „Hürde“, es gibt Sekt zur Begrüßung.

Ich sage lächelnd „No, grazias“, nehme meine Schlüsselkarte in Empfang und endlich bin ich barfuß und oben ohne. Es ist herrlich warm.

Abendbrot im Speisesaal. Buffet. Alles fein, alles lecker. Ich sitze mit zwei netten Frauen aus Deutschland am Tisch. Sie sind schon seit ein paar Tagen vor Ort. Ein weiterer Mann wird erwartet, sagt die nette Kellnerin in gebrochenem Deutsch. Und tatsächlich kommt wenig später ein junger Kerl aus Hamburg angetorkelt. Wie ich auch heute erst angekommen. Er lallt kaum verständliches Zeug. Zusammengefasst: „Ich bin hier, um mich eine Woche lang auf dem Balkon mit billigem Schnaps und Bier volllaufen zu lassen. Ich habe zuhause keinen Balkon und Sonne gibt’s in Hamburg auch nicht.“

Und es geht weiter. Am nächsten Tag spricht mich ein Kerl in der Lobby an. Ich sitze da auf einem breiten Sofa im WiFi Bereich und checke meine Emails und er sagt, er findet, ich sehe interessant aus und ob ich was mit Musik mache. Er selbst ist in der Frankfurter Techno-Szene zuhause und ist dabei, vom Ecstasy runterzukommen. Wir unterhalten uns über die Vorteile von Selbsthilfegruppen. Netter Kerl aber … Das Thema Sucht scheint mich zu verfolgen wie Inspektor Clouseau den rosaroten Panther.

Tagsüber seile ich mich ab. Mache alleine lange Spaziergänge am endlos langen Strand, aber morgens und abends, also zu den Fütterungszeiten … An einem Morgen Konfetti auf dem runden Sechs-Personen-Tisch. Eine der Frauen, mit denen ich jetzt regelmäßig frühstücke, hat Geburtstag. Das Personal singt. Und natürlich wird mit Sekt angestoßen. Ein volles Glas steht vor mir und ich halte mich fast krampfhaft an meiner Kaffeetasse fest. Ich schiebe meiner Sitznachbarin das kühle Glas zu. Ausgelassene Stimmung allenthalben und ich erinnere mich, wie sehr ich Sekt am Morgen nach einer durchzechten Nacht liebte … Herr im Himmel.

Dann ist da noch die Story von dem Typen, der versuchte, mit Gin Tonic vom Heroin runterzukommen. Seine Lebensgefährtin war kurz zuvor an einer Überdosis gestorben. Und ein anderer Typ kommt eines schönen Abends an die Hotelbar, wo ich nur schnell vor dem Zu-Bett-gehen einen O-Saft trinken und ein bisschen Live-Musik hören wollte, und er setzt sich neben mich und nach einem kurzen Smalltalk bestellt er zwei Bier und zwei Schnäpse und natürlich bin ich davon ausgegangen, er will mit mir ordentlich auf die Ka… hauen. Ich in Erklärungsnot, keine Lust auf die üblichen Fragen, wenn ich mich oute. Doch weit gefehlt! Der Typ säuft wie ich früher! Das erste Bier für den Durst, das zweite für den Geschmack und die Schnäpse als Kompott.

Na klar gab es in dem Hotel auch 101 „Normalos“ und überhaupt, in Costa Calma sind mir keine großartigen Exzesse, anders als am Ballermann, aufgefallen, aber irgendwie kam es mir vor, als hätte ich einen Magneten in der Badehose. Den Suchti-Magneten. Vielleicht sieht man mir an, dass ich etwas mit Sucht zu tun habe, dachte ich. Vielleicht ist es eine Ausstrahlung, die man hat, wenn man zwölf Jahre clean ist und regelmäßig Gruppen besucht.

Im Grunde ist es bedeutungslos, warum ich mit so vielen Süchtigen zu tun hatte. Ich will stabil bleiben, Punkt! Gelernt habe ich allerdings und weitergeben will ich, dass ich so viel Suchtthematik nicht erwartet hatte und ich möchte dringend davon abraten, direkt nach einer Entwöhnungstherapie alleine einen Pauschalurlaub zu buchen. Vielleicht zu zweit, mit einer abstinent lebenden Person, aber was weiß ich schon. Am Ende entscheidest du das selber, liebe Leserin. Aber … sei wachsam, sei wachsam. Manchmal bringt sich der, der sich in Gefahr begibt, um.

Andreas Sänger