Von der Angst
Von Andreas Sänger
Ich wache auf. Fühle mich matschig. Fünf Minuten nach sechs. Anstrengender Morgen. Habe Darm. Habe immer noch Rücken, meine Ohren jucken seit Tagen und jetzt läuft auch noch die Nase. Habe keine Zeit und keine Nerven für Ärzte.
Selbst ist der Mann.
Krankheit ist auch so ein Phänomen der Menschen. Niemand leidet so sehr wie ich an einem Schnupfen. Andere Menschen haben mit einer Erkältung nicht das geringste Problem. Für den einen ist Durchfall das Schlimmste, für den anderen Rücken.
Ich teile die Ansicht, dass der Mensch grundsätzlich krank ist. Von Hause aus. Im wahrsten Sinne des Wortes. Wir bekommen von unserem Zuhause unsere Störungen mit. Egal, ob wir im Heim aufgewachsen sind, bei Oma und Opa oder tatsächlich bei Mami und Papi. Uns wurde beigebracht, so zu sein, wie wir heute sind. Entweder direkt oder indirekt.
Speziell in der … also wir Süchtigen … entweder wurde uns die Sucht vorgelebt und wir haben diesem „Vorbild“ unbewusst nachgeeifert oder uns wurde eine Welt ohne Drogen vorgegaukelt und wir haben dagegen rebelliert. Natürlich auch unbewusst.
Gestern ging es in der Gruppe u. a. um Angst. Es ist unglaublich, wie viele Ängste es gibt. Pantophobie, auf dieses Wort bin ich gestern leider nicht gekommen, ist wohl die „Königin“ der Ängste und Anatidaephobie ist wohl die Angst, die am deutlichsten zeigt, wie absurd unsere Ängste sind.
Vorgestern, spät abends, ich war noch aufgekratzt von einem ereignisreichen Tag in Charlottenburg, zwang ich mich quasi ins Bett. Auf meinem weißen Kopfkissen thronte eine große, schwarze Spinne. Die meisten von euch werden vermutlich meine Angst teilen, meine Angst verstehen können, obwohl sie bar jeglicher Grundlage ist. Ich brauche in Deutschland vor keinem Krabbeltier Angst zu haben und doch musste dieses Vieh aus der Wohnung!
Ich kenne nicht allzu viele Menschen, die sich über Spinnen, Mäuse oder Ratten in ihrer Wohnung freuen. Ich werde in meiner Angst von euch bestätigt. Ihr habt auch Angst davor, dass Ratten euch eine todbringende Krankheit ins Haus schleppen, nicht wahr?
Diese Angst ist nicht real, nicht akut. Eine deutsche Spinne beschert mir im schlimmsten Fall, wenn ich allergisch reagiere, eine Schwellung, die jedoch gut und schnell behandelt werden kann.
Kurzum, Angst vor Spinnen kann so ziemlich jeder nachvollziehen. Wenn jemand jedoch Angst davor hat, von einer Ente beobachtet zu werden, zweifeln wir ernsthaft an dessen Gesundheitszustand, nicht wahr?
Ich sitze im Bett und habe Angst davor, dass ich, wenn ich rausgehe, von einem Auto überfahren werde oder mir ein Blumentopf von irgendeinem Balkon auf den Kopf fällt oder gar der komplette Himmel auf mich niederstürzt.
All das ist genauso irreal wie die Angst davor, einen Rückfall in die Sucht zu haben, wenn ich doch aktuell mit einer Tasse Kaffee in meinem warmen Bettchen sitze und aus dem Fenster auf die laubbedeckte Wiese schaue.
Ich werde nicht rückfällig, Punkt.
Ich lasse die erste Line, den ersten Joint, das erste Glas stehen und liegen. Ich habe keine Angst.
Angst ist keine gute Begleiterin. Nie.
In einer wirklich bedrohlichen Situation ist Angst eine gute Besucherin. Sie, die Angst, löst eine natürliche Reaktion aus. Fernab jeden Denkens.
Ein Auto rast auf mich zu, ich springe zur Seite. Ein ausgewachsener, hungriger Löwe ist aus dem Zoo ausgebrochen und steht plötzlich auf der Wiese im Innenhof und schaut mich mit gierigen Augen an. Ich verstecke mich im Haus. Oder ich setze dank meiner asiatischen Kampfkünste einen kleinen Kerl außer Gefecht, der wild um sich schlägt. Aus Angst davor, von seinen Fäusten getroffen und verletzt zu werden. Das sind akute, reale Ängste.
Alles andere ist Kopfkino, wie meine Freundin Rita sagen würde. Einzig und allein verrücktes Denken auf der Grundlage unserer Sozialisierung.
Da wo die Angst ist, ist der Weg, bedeutet, Angst ist die Möglichkeit zu erkennen, wie sehr mich mein Ego regiert. Ich bin Sklave meiner Konditionierung.
„Ja, ich weiß das schon lange, aber ich kann das einfach nicht kontrollieren. Ich will keine Angst haben, ich kämpfe tagtäglich dagegen an und es funktioniert nicht. Ich habe einfach vor allem und Jedem Angst und wenn nicht, dann habe ich Angst, dass die Angst schon bald wieder da ist“, höre ich jemanden sagen.
Du weißt das schon lange. Soso. Ich war 30 Jahre lang abhängig von Bier und Schnaps und Wein und allem, was mich betäubt hat. Ich hing in den Seilen der Sucht und ich habe 10000-mal gesagt, ich will das nicht mehr. Ich habe gekämpft wie ein Rummelboxer und ich habe jeden einzelnen Kampf verloren.
Es geht nur über das Loslassen.
Du bist vermutlich seit deiner frühesten Kindheit abhängig von der Angst. Da kannst du nicht erwarten, dass dein Verstand von heute auf morgen damit aufhört, ängstlich zu sein. Es ist wie ein Entzug, wie eine Entgiftung.
Ich lasse los. Ich schenke der Angst nicht mehr so viel Energie. Ich nehme sie wahr, erkenne, dass sie nicht real ist und lasse sie gehen.
Ich habe immer wieder die Idee, dass ein Glas Sekt mich nicht umbringen würde, aber nein, es ist nur eine Projektion meines Verstandes, meines Suchtgedächtnisses. Und so existiert ein Angstgedächtnis, ein Wutgedächtnis, ein Trauergedächtnis usw.
Ich glaube nicht mal mehr die Hälfte von dem, was ich denke. Meine Gedanken sind vorwiegend in der Vergangenheit zuhause und schon allein deshalb absolut irreal. Ich bin ich selbst im Hier und Jetzt. Ich bin nicht das, was ich denke, ich bin nicht, das, was ich fühle. Ich bin reines Bewusstsein und ich kann mich trainieren. Ich kann Bewusstwerdung trainieren. Jeden Tag ein Stückchen mehr kann ich erkennen, dass mir meine Wahrnehmung in Verbindung mit den Geschichten aus meiner Vergangenheit eine Riesenshow bietet und ich bestenfalls der Hauptdarsteller bin, aber keinesfalls …
Ich spiele die Rolle, die mein Ego für mich ersonnen hat. Nichts weiter. Wenn ich das erkenne, wenn ich die klitzekleine Bereitschaft aufbringe, das erkennen zu wollen und es dann noch schaffe, diese Rolle loszulassen, bin ich meinem wahren Ich ganz dicht auf den Fersen.