Rückkehr in …

Rückkehr in die raue Wirklichkeit, Teil 3: Ein Rest Skepsis bleibt

Von Henning Hirsch

 Sobald der trockengelegte Alkoholiker an seinen alten Arbeitsplatz zurückkehrt, wird er von den Kollegen erfahrungsgemäß freundlich empfangen. Ein Rest Misstrauen bleibt natürlich und verschwindet nur Schritt für Schritt mit zunehmender Zeitdauer der Abstinenz. Weshalb es für den Betrieb durchaus sinnvoll sein kann, den genesenen Meier-Doornkaat zum Personaler umzuschulen – das wird in diesem dritten und letzten Teil der „Rückkehr in die raue Wirklichkeit“ aufgezeigt.

Um nicht missverstanden zu werden – bei aller Freundlichkeit des Empfangs verbleibt natürlich eine gewisse Skepsis. Kollegin Blumenschön wird ein paar Wochen lang Meier-Doornkaats Schubladen untersuchen, Müller übernimmt derweil die Aufgabe des Probeschnüffelns auf der Herrentoilette, und Tofuberger, den der Gedanke seines baldigen Outings als Kuhmilchtrinker plagt, überprüft die Konnossemente seines Untergebenen auf Rechen- und Tippfehler. Entwarnung im Sinne von „Misstrauen wird auf null runtergefahren“ tritt erst nach Monaten ein. Irgendwann ist es der Blumenschön zu langweilig, in leere Schubladen zu schauen, Müller hat keine Lust mehr, immer sofort im Anschluss an Meier-Doornkaat aufs Klo zu rennen, und Tofuberger nimmt erfreut zur Kenntnis, dass die Fehlerquote in seiner Abteilung seit einem halben Jahr konstant niedrig ausfällt. Und Meier-Doornkaat scheint wie ausgetauscht zu sein. Dort, wo früher ein rotgesichtiger, schnell reizbarer Exportmitarbeiter ein gerade noch geduldetes Bürodasein fristete, sitzt heute ein gut gelaunter Mensch mit rosigem Teint, der ohne zu murren die doppelte Arbeit in der halben Zeit schafft. Ein echter Glücksfall für den Export, der genesene Meier-Doornkaat; gut, dass wir den nicht anderswohin versetzt haben, denkt Tofuberger und macht sich seufzend auf den Weg zum Oberabteilungsleiter, um dem die Kuhmilch-in-Mandelmilch-Verpackung-Geschichte zu beichten.

Trockene Alkoholiker sind gute Zuhörer

Hier wird mal wieder ein kleiner Exkurs fällig. Sie mögen keine Exkurse? Wer von uns mag schon Exkurse? Trotzdem muss es sein.

Den neugeborenen Meier-Doornkaat bis zur Rente in der Exportabteilung zu belassen, wo er es in ein paar Jahren zum Vize-Abteilungsleiter bringen wird – kann man machen. Meines Erachtens fällt diese Fantasielosigkeit jedoch in die Rubrik „Fehlallokation von Humankapital“. Klingt sehr gestelzt? Ja, tut es. Ich will bloß demonstrieren, dass ich vor langer Zeit mal was Solides studiert habe, wo es immer gut ankam, solche komplizierten Begrifflichkeiten in Klausuren und Seminararbeiten einzustreuen. Weniger verschwurbelt ausgedrückt: Meier-Doornkaat dauerhaft im Export mit stinklangweiligen Konnossementen versauern zu lassen, bringt der Firma weniger Nutzen, als ihn zum Personaler umzuschulen. Den Ex-Schluckspecht Meier-Doornkaat zum Personaler umschulen – was für eine Schnapsidee ist das denn?, fragen Sie mich. Gemach, gemach – ich erkläre es Ihnen.

Wir müssen dafür ein paar Monate zurückspringen: Meier-Doornkaat an Tag 1 in der Reha. Eingeteilt in eine Gruppe – die von Klinik zu Klinik unterschiedlich groß dimensioniert ist und im Mittelwert zwischen acht und zehn Teilnehmern variiert – und aufmerksam das Programm studierend. Das sind ja acht Stunden Therapie am Tag. Das an fünf Tagen die Woche und wiederum drei Monate lang. Ergibt in der Summe knapp 500 Psycho-Einheiten. (Im Eifer des Gefechts hatte Meier-Doornkaat versehentlich Sport und Ergo ebenfalls hinzuaddiert. Wenn wir diese Stunden wieder abziehen, verbleiben aber immer noch locker 300 Psycho-Stunden). Wer das hinter sich gebracht hat und im Anschluss ein- bis zweimal pro Woche eine Selbsthilfegruppe besucht, ist fürs Leben psychologisch geschult. Nicht theoretisch geschult wie die diplomierten Psychologen, die das ja auch zehn bis zwölf Semester lang an der Uni studieren, aber praktisch geschult.

Warum nicht zum Personaler umschulen?

Weil einem nirgendwo so viele Märchen aufgetischt werden wie in Politikerlebensläufen, bei der Wirtschaftsprognose fürs kommende Jahr und in Alkoholiker-Stuhlkreisen, lernt der aufmerksame Zuhörer hier viel fürs Leben. Zum einen lernt er ruhiges Zuhören (den anderen bei dessen Vortrag nicht zu unterbrechen, egal wie lange der Monolog auch dauern mag), zum anderen lernt er, Wahrheit, geschönte Wahrheit und Lüge voneinander zu unterscheiden. Beides Gaben, die in der betrieblichen Praxis von unschätzbarem Wert sind. Und da man nicht zwanghaft ein studierter Psychologe sein muss, um in der Personalabteilung eines Unternehmens zu arbeiten, stellt sich mir seit Langem die Frage, warum man nicht das Potenzial trockener Alkoholiker dahingehend ausschöpft, sie verstärkt in diesem Bereich einzusetzen. Da, wo sie ihre neu erworbenen Fähigkeiten sinnvoll einbringen können, anstatt bis zur Rente im Export Zahlenkolonne an Zahlenkolonne zu reihen.

Niemand möchte, dass einem beim turnusmäßigen Personalgespräch ein Alkoholiker gegenübersitzt, meinen Sie? Niemand wird Sie und Ihre Märchen so schnell durchschauen wie ein therapieerprobter Alkoholiker, antworte ich. Das ist es, was Ihnen in Wahrheit Sorge bereitet, oder? Und damit soll es an dieser Stelle auch schon wieder genug sein mit dem Alkoholiker-zu-Personalern-Umschul-Exkurs.

Um auf den herbeigesehnten und gleichzeitig herbeigefürchteten Tag 1 am alten Arbeitsplatz zurückzukommen: In der Mehrzahl der mir bekannten Fälle wird der Heimkehrer freudig in Empfang genommen. Firmen, die sich vom trinkenden Mitarbeiter trennen wollen, ziehen die Reißleine erfahrungsgemäß frühzeitig und schicken den Mann (oder die Frau) nicht erst in die Reha. Da die Kosten für Entzug und Entwöhnung überwiegend von Krankenkasse und Rentenversicherung getragen werden, geht’s den Betrieben auch nicht ans Portemonnaie, wenn ein Exportsachbearbeiter drei Monate ausfällt. Dessen Arbeit wird dann solange auf die anderen Kollegen verteilt. Es ist eher die Ausnahme, dass für diese kurze Vakanz jemand Neues eingestellt wird. Daher stellt ein gesund zurückkehrender Mitarbeiter aus Unternehmenssicht einen Gewinn dar, für den auf der Sollseite kaum Kosten anfallen. Die Angst vor Tag 1 mag deshalb emotional verständlich sein, ist aber zumeist unbegründet.