„Der gelbe Elefant“ von Heinz Strunk – 30 Miniaturen
Heinz Strunk geht steil
Der Sommer ist da, der neue Strunk erscheint. Dieses Mal bietet der 61-Jährige den Lesenden nicht einen Roman, sondern ein Potpourri aus 30 sehr kurzen und etwas längeren Texten an.
Wie in seinem vorhergehenden Roman „Ein Sommer in Niendorf“ beobachtet der Autor seine Mitmenschen scharf und berichtet darüber mit einem Sprachwitz, der das Markenzeichen seines literarischen Wirkens ist. Es geht bei ihm um Menschen wie Dich und mich. Da wird die Schilderung eines 90. Geburtstages oder ein Besuch „beim Griechen“ mit einem befreundeten Paar mit spitzer Feder seziert, bis nur noch Jammer bleibt, der aber mit einer kräftigen Prise untergründigem Humor gewürzt ist. Eine Fahrt von Düsseldorf über Mettmann nach Bochum erweist sich als überraschendes Abenteuer. Eine Dystopie über unser aller Zukunft halten die vier Seiten „Frivillig över klippan“ bereit. „Nachrichten von Carola“ zeichnen anhand eines SMS-Monologs den alkoholischen Verfall einer jungen Frau nach, recht humorlos. Der auch als Humorist und Titanic-Autor bekannte Strunk legt in diesem Buch seinen Schwerpunkt auf Verfall, Alter und Tod, denen er durchaus für die Leserin und den Leser etwas Komisches abgewinnen kann. „Der Goldene Handschuh“, ein Roman über einen Hamburger Frauenmörder, lässt grüßen. Bemerkenswert ist auch, wie er in den meisten Geschichten die wichtige Rolle des Alkohols in einer meist bürgerlichen Umgebung darstellt, und das nicht unbedingt im Positiven.
Die gut 200 Seiten sollte man nicht flüssig durchlesen, da die berührten Fragestellungen sich auch an die Lesenden richten. Die schwarzhumorige Wortakrobatik Strunks dämpft dann aber die Betroffenheit sehr.
Torsten Hübler
HEINZ STRUNK, Der gelbe Elefant, 208 Seiten, geb., Rowohlt, Hamburg, ISBN 978-3-498-00350-0, 22,00 Euro
„Rausch. Was wir über Drogen wissen müssen und wie ihr Konsum sicherer werden kann“,
Lesen, bis der Notarzt kommt
Der Rostocker Notfallmediziner, Anästhesist und ärztlicher Leiter des Fusion Festivals mit 80.000 Besuchern gibt sein Wissen als Experte für den Freizeitdrogenkonsum an Interessierte weiter.
Das Hauptanliegen des Autors ist die Neujustierung des deutschen Rauschmittelwesens. Dazu holt er weit aus und stellt die Fakten dar.
Begonnen wird mit der detailliert recherchierten Geschichte des Rauschmittels, er beginnt mit der vergorenen Frucht, die Tiere verzehren, erzählt von Hanffaserfunden, uralten Rauschpilzen, Opium der Phönizier, um dann zum Bierbrauen im alten Ägypten zu gelangen, auch der Weinanbau kommt nicht zu kurz. Rücker geht dann über das alkoholisch berauschte Mittelalter zum Zeitalter der Entdeckung der Welt, damit kam auch der internationale Drogenhandel in Schwung, Koka aus Amerika, Opium aus Asien, Tabak, Kaffee usw. Die industrielle Revolution revolutionierte auch die Alkoholherstellung und die Erschaffung neuer Drogen wie Heroin.
Weiter geht es mit dem medizinischen und chemischen Teil des Rausches. Es werden der Aufbau des Hirns erklärt und die Funktion der verschiedenen Teile. Die Chemie der einzelnen Substanzen und ihre Wirkung auf Nerven und Hirn. Angereichert ist das Ganze mit aussagekräftigen Grafiken.
Dem Alkohol, dem gefährlichsten Rauschmittel, ist ein umfangreiches eigenes Kapitel gewidmet, Kosten und Kriminalität werden ebenso thematisiert wie die Untersuchungen von David Nutt. Wenn man sich schon knapp 190 Seiten mit Rauschmitteln befasst hat, dann ist die logische Folge die Sucht, die im vorletzten Kapitel behandelt wird.
Im letzten Kapitel kommt der Verfasser zu seinem Anliegen, die überragende Gefährlichkeit von Alkohol im Vergleich mit anderen Rauschmitteln wie z.B, Cannabis herauszustellen. Als Konsequenz aus den vorausgehenden Ausführungen kristallisiert er einen Zehn-Punkte-Aktionsplan zur Verbesserung des Umgangs mit Alkohol. Es sind die auch in der TrokkenPresse und von anderen lange geforderten, leicht umzusetzenden und preiswerten Korrekturen: Null Promille im Straßenverkehr, Einschränkung der Verfügbarkeit, Preiserhöhung, Erhöhung des Abgabealters auf 18 Jahre usw. Neu und interessant ist die Forderung nach einer Angabe der Grammzahl von Alkohol auf jeder Flasche, damit man seinen individuellen Promillewert leichter berechnen kann. Die Forderung der Besetzung des Amtes der Drogenbeauftragten mit einer Fachkraft wird wohl dem Amt nicht gerecht, das ganz bewusst ein politisches Amt ist. Die Hauptforderung und der Kern der Abhandlung ist die Forderung zur Freigabe weiterer Drogen, insbesondere Cannabis.
Der vorliegende Titel gibt dem Laien einen sehr guten Überblick über Rauschmittel, deren medizinische und chemische Wirkung und Gefahren. Viele Informationen lassen sich auch dank des Sachregisters schnell finden, über 100 Endnoten laden zum Weiterrecherchieren ein. Sechs Seiten Anleitung zur Ersten Hilfe bei Rauschgift-Notfällen können hilfreich sein. Die solitäre Stellung des Alkohols im Rausch- und Suchtsystem wird sehr anschaulich herausgearbeitet.
Was das Anliegen des Autors angeht, ist der Titel des erfahrenen Mediziners eher kontraproduktiv, denn er geht von der Prämisse aus, dass Rausch für den Menschen notwendig ist. Hier schreibt ein Theoretiker ÜBER Sucht und Suchtmittel, wie es die medizinische und andere Literatur eben schildern, ein Drittel seiner Literaturhinweise sind Titel aus einem Verlag, der sich mit „Rauschkultur“ befasst. Ein von der Sucht betroffener Mensch wird seiner Prämisse evidenzbasiert widersprechen, denn jeder Rausch schadet dem Hirn. Das Eintreten für die Legalisierung von Cannabis und LSD fügt dem Kanon der sich heute schon legal in Umlauf befindlichen Rauschmittel, flüssig oder in Pillenform, weitere Gehirnlöscher hinzu. Ziel muss es sein, den Rausch zu entmythologisieren und die beiden Begriffe Genuss und Kultur vom Rausch zu entkoppeln. Wenn man dies im Hinterkopf hat, kann das Lesen dieser Abhandlung ein Gewinn sein.
Torsten Hübler
Dr. Gernot Rücker, Rausch, Was wir über Drogen wissen müssen und wie ihr Konsum sicherer werden kann, 272 Seiten, geb., Mosaik, München, ISBN 978-3-442-39404-3, 22,00 Euro
Zurück auf Los – zurück ins Leben
Und wieder ein Büchlein, das eigene Erfahrungen schildert und ermutigt: zum Trockenwerden, zum Trockenbleiben. Wie andere vorher auch, kann es unschätzbar wertvoll werden für jeden, der sich auf den Weg macht in die Abstinenz, denn solche Bücher können buchstäblich Leben retten und erhalten …
Autorin Monika Gerhards hatte fünf Jahre „Rumgehampel“, so nennt sie es, hinter sich: Sechs Entgiftungen, eine abgebrochene ambulante Therapie, zwei Jahre Kreuzbundgruppe, als sie in die Langzeittherapie in einer Klinik startet. Nach den für sie harten und lehrreichen Monaten unter der Käseglocke aber hat sie Angst vor dem Leben draußen. Sie will endlich für immer trocken bleiben, aber wie soll das denn gehen, zuhause im alten Leben? Davon handelt ihr erstes Kapitel.
Der Hauptteil dann besteht aus ihren damaligen Tagebucheinträgen zur Zeit der Nachsorgegruppe. Damit lässt sie uns lebendig teilhaben an ihren Ängsten und Sorgen, an Einsamkeitsgefühlen, an schweren Situationen wie der Krankheit ihres Vaters, die lebensbedrohliche Erkrankung einer der beiden Töchter, dem fast herzzerbrechenden Auszug der anderen, ihrer vorerst erfolglosen Suche nach einem Job, an Krisen in der Kreuzbundgruppe und so weiter. Authentisch, in damaliger Echtzeit für sich selbst niedergeschrieben. Viele, viele Situationen bringen sie in Rückfallgefahr – doch sie meistert alle trocken. Wie nur? „Ich lernte immer besser, mit schwierigen Situationen ohne Alkohol auszukommen. Ich konnte zum Telefonhörer greifen und um Hilfe schreien. Ich fuhr nicht zur Tanke. Ich schaltete den Kopf ein und bedachte die Konsequenzen. Entwickelte Strategien und Techniken, die mich trocken hielten …“ Und der Lesende erfährt hautnah und tagesgenau, welche das waren und sind.
Aber lesen Sie selbst, begleiten Sie Monika durch all die Fallen, die im normalen Alltag nach der Rückkehr für einen Betroffenen lauern können – und erkennen und meistern Sie gemeinsam mit ihr auf diese Weise vielleicht auch Ihre eigenen.
Und das ist es auch, was Monika möchte: Sie, ja, genau Sie unterstützen auf Ihrem abstinenten Weg.
Anja Wilhelm
Zurück auf Los – zurück ins Leben, Meine Integration nach der stationären Suchttherapie, MONIKA GERHARDS, TB, Geest Verlag, ISBN 978-3-86685-932-6, 11 Euro
Mo ist FAS(D) perfekt!
Wenn dieses Büchlein in den Frauenarzt-Praxen liegen würde für alle werdenden Mütter … wären vielleicht so einige Kinder wie Mo, die Titelfigur des bunten Bilderbuches, völlig gesund geboren worden. Und nicht mit dem Fetalen Alkoholsyndrom bzw. der Fetalen Alkoholspektrumsstörung, (FAS), mit der jedes Jahr in Deutschland mehr als 2000 Kinder auf die Welt kommen müssen. Und warum? Weil in der Schwangerschaft Alkohol getrunken wurde. Oft auch aus Unwissenheit. Erst seit den letzten Forschungen weiß man, dass sogar auch ein gelegentliches Glas Rotwein solche Schäden anrichten kann.
Was das Gift Alkohol vor allem im Gehirn eines Ungeborenen zerstört – aber auch z.B. am Skelett, am Äußeren, an inneren Organen – beschreibt das Buch im zweiten Teil, in dem für die Erwachsenen, genauer. Denn es richtet sich nicht nur an betroffene Kinder wie Mo, sondern auch an Eltern, Lehrer, Erzieher und Pflegekräfte. Anschaulich wird auf den letzten Seiten nicht nur die Geschichte der Forschung zu FASD erklärt, sondern vor allem auch, wie und warum FASD-Kinder so anders sind, um sie besser zu verstehen: Sie vergessen oft sehr schnell, von jetzt auf gleich – auch Regeln. Was oft als ungezogen und aufsässig verurteilt wird. Sie lernen schwer, und gelten deshalb oft als faul. Sie sitzen nicht gern still, sind arglos und naiv, können Folgen ihres Handelns nicht voraussehen und Gefahren nicht abschätzen, deshalb kennen sie kaum Furcht. Sie sind anders – und anders als pädagogische Erziehung benötigen sie vor allem Verständnis und sehr, sehr viel Geduld. Die Autoren appellieren an alle Betreuenden und das Umfeld, das Selbstwertgefühl dieser Kinder zu stärken und sie vor allem zu behüten, statt ihnen mit ständigen Vorhaltungen und Kritik oder gar Strafen zu begegnen. Und sie geben Alltagstipps dazu.
Der kleine Mo erzählt im ersten Teil zu schön gemalten Bildern seine Geschichte, wie es ihm oft schlecht ergeht in der Schule, wie er ungewollt Menschen ärgerlich macht, warum ihm neulich ein Zelt abgebrannt ist usw. – aber auch, wie ihn seine Pflegeeltern trotzdem sehr liebhaben und wie sehr er die Gesellschaft von Kindern, die so sind wie er, genießt. Und dass jeder von ihnen eben etwas anderes besonders gut kann. Mo z.B. ist der beste Baumkletterer weit und breit. Sein Fazit: „Ich wünsche allen FAS(D)-Kindern und mir, dass man uns versteht, hilft, beschützt und genauso liebhat, wie wir eben sind! Wir alle sind FAS/D) perfekt.“
Ich jedenfalls habe einen ganz besonderen Einblick bekommen: Menschenkinder, die etwas anders „ticken“, als das Umfeld es gerne hätte oder für normal hält, wollen damit nicht andere böse ärgern, auch wenn es so aussieht – sie sind eben einfach anders. Ich verstehe plötzlich besser, nicht nur FASD-Kinder. Jeder ist anders.
Also, wie schon gesagt, es wäre wundervoll, wenn das Büchlein in jede Frauenarztpraxis käme …
Anja Wilhelm
FAS(D) perfekt, REINHOLD FELDMANN/ANKE NOPPENBERGER, Ernst Reinhardt Verlag München, 2. Auflage, ISBN 978-3-497-02873-3, 24,90 Euro
Die Freiheit einer Frau
Édouard Louis, 1991 geboren, erzählt bereits in seinem 2015 erschienen autobiographischen Debütroman „Das Ende von Eddy“ von seiner Kindheit und Flucht aus prekärsten Verhältnissen in einem nordfranzösischen Dorf. Und auch in den nachfolgenden Erzählungen kehrt er in seine Vergangenheit zurück, die geprägt war von Gewalt, Armut, Erniedrigung, von Co-Abhängigkeit, psychischen Verletzungen, Verlassen-Werden, Ausgrenzung als Homosexueller. Louis Bücher sind Lebensberichte als auch politische Manifeste.
Das Schicksal der Mutter in „Die Freiheit einer Frau“ (2021) beschreibt er in fast zärtlichem Ton und versucht zugleich, eine Erklärung dafür zu finden, warum seine Mutter so viel vom Leben wollte, aber kaum etwas bekam …
Die Mutter hatte sich gerade von ihrem ersten Mann getrennt, einem Alkoholiker, der durch zwei Schwangerschaften versuchte, die Frau an sich zu ketten. Sklavisch zu allem Haushalt verurteilt, träumte sie von einer Ausbildung zur Köchin, idealerweise auf einer Hotelfachschule. Doch aus dem Traum wird nichts. Denn da ist der zweite Mann, auch ein Alkoholiker und ebenso darauf bedacht, sie nicht arbeiten gehen zu lassen, auf das sie zu Hause voll funktioniere und ihm gnadenlos diene. Für ihn war die Ehefrau nur „eine dumme Kuh“, ein „fettes Stück“. Hatten ihrem Ehemann die harte körperliche Arbeit und das unzureichende Sozialsystem „die Luft genommen“, so ist es nun er, der die Gewalt eine soziale Hierarchiestufe weiter nach unten reicht. Drei weitere Kinder werden geboren, unter ihnen auch der Erzähler.
Édouard entkommt diesen Verhältnissen, studiert Soziologie und wird ein erfolgreicher Schriftsteller. Und die Mutter inzwischen? Sie unternimmt einen zweiten Ausbruchsversuch: Sie packt die Sachen ihres Mannes in Müllsäcke, schmeißt sie vor die Haustür, schließt ab, und als der nach Hause kommt und gewaltig gegen die Wände schlägt, bleibt sie standhaft. „Er hat geweint, aber ich hab zu mir gesagt, Du gibst nicht nach. Du gibst nicht nach. Schluss mit dem Nachgeben.“ Und der Sohn ermutigt seine Mutter.
Louis wendet sich mal direkt an die Mutter, im nächsten Moment nimmt er ihre Perspektive ein, dann wieder schreibt er über sie in der dritten Person. Er entschuldigt sich bei ihr dafür, dass er sich ihrer schämte, dass er sich – als Gymnasiast – für etwas Besseres hielt und dafür, dass er sie aufgegeben hatte.
„Das Hin und Her zum und vom Lebensmittelladen des Dorfs, die Zubereitung der Mahlzeiten, dass ihre Kinder ihr eigenes Leben nachlebten, die Ödnis des Landlebens, die Gemeinheiten meines Vaters ihr gegenüber. Sie war erst um die vierzig, aber es sollte nichts Neues mehr kommen. Und genau in dem Moment, als ich innerlich diesen Gedanken formulierte, änderte sich alles.“
Die Mutter verlässt ihren zweiten Mann. Sie verdient ihr eigenes Geld, indem sie alten Leuten beim Putzen, Waschen und Anziehen hilft. „Ich bin keine Putzfrau, aufgepasst, ich bin Haushaltshilfe, das ist fast so gut wie Krankenschwester. (…) Da siehst du mal, wie gut ich zurechtkomme (…).“ Und der Autor kommentiert: „Es rührte mich, dich glücklich zu sehen.“ Die Selbstbefreiung der Mutter verändert auch seinen Blick auf die Kindheit.
Mich hat die emphatische Zärtlichkeit der Sprache, die der Autor seiner Klasse, denen, die ihn auch unterdrückt haben, in eindrücklichen Bildern entgegenbringt, sehr berührt. Es ist die treffsichere Wortauswahl, die das Geschehen so nachfühlbar macht. Es ist die Offenherzigkeit, mit der der Autor seine „Ratlosigkeit“ formuliert. Doch die Zeilen, mit denen sich Louis im Buch direkt an seine Mutter wendet, gehören zu den anrührendsten. Die gewachsene Freundschaft zu ihr hat für ihn, der ohne Fürsorge aufwuchs, einen existenziellen Wert. Dies ist es, was das kleine Bändchen zu einer großartigen Erzählung wachsen ließ.
Mit einer gnadenlos beschriebenen unschönen Realität eröffnet der Autor einen Blick in eine Welt, vor der immer noch viel zu viele Menschen lieber die Augen verschließen möchten. Schreiben ist Louis Kampf gegen soziale Gewalt.
Édouard Louis setzt sich mit der Literatengilde ebenso auseinander: „Man hat mir gesagt, die Literatur dürfe niemals einem politischen Manifest ähneln, aber schon schärfe ich jeden Satz, als wäre er eine Messerklinge. Denn jetzt weiß ich es, sie haben das, was sie Literatur nennen, gegen solche Leben und solche Körper wie den ihren, wie den meiner Mutter konstruiert. Denn jetzt weiß ich es, künftig über sie und über ihr Leben zu schreiben, das heißt, gegen die Literatur anzuschreiben.“
Mit diesem kleinen, stillen Buch tritt eine Frau aus der Unsichtbarkeit …
Hans-Jürgen Schwebke
ÉDOUARD LOUIS: Die Freiheit einer Frau, S. Fischer Verlage, Frankfurt/M. 2021, 96 S., 17,- €, ISBN: 978-3-10-000064-4
Immer noch kein Roman
Ahnes Autobiographie: Wie ich einmal lebte
Nach den vier Bänden „Zwiegespräche mit Gott“ und dem Titel „Wieder kein Roman“ und sieben weiteren Büchern legt hier der Berliner Surfpoet und Schriftsteller Ahne nun einen Versuch über die Beschreibung seines Lebens vor.
Es geht dieses Mal weniger um Gott als um Ahnes Kindheit, Jugend und Erwachsenwerden in Ostberlin, als es das noch gab, in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts.
Kindheit, Familie, zehn Jahre Wladimir-Lomonossow-Schule in Karlshorst, Druckerlehre beim Neuen Deutschland, Armeezeit, Arbeit und ein bisschen Subkultur sind die Themen, die der Leserin, dem Leser ein Panorama der ostdeutschen Realität und Befindlichkeiten liefern. Persönlich geht es um sein Hirngespinst eines von ihm entdeckten eigenen Kontinents, später auch um seine erste Liebe. Ahne stellt sein Leben als Mitläufer, weder Widerstandskämpfer noch Unterstützer des Systems, dar. Es passiert nichts Aufregendes in diesem Buch, ein graues Ostberlin in einer grauen DDR und darin die graue Maus Ahne, so war scheinbar die DDR.
Wer sich für das „normale“ Leben der Menschen in der DDR interessiert, der findet hier einen Zeitzeugen für die letzte Hälfte des Bestehens der Deutschen Demokratischen Republik. Die Lebensbeschreibung endet im Oktober 1989, kurz vor dem Fall der Mauer
Torsten Hübler
AHNE, Wie ich einmal lebte, 270S., 1. Aufl., Festeinband, Verlag Voland & Quist, Berlin, ISBN 978-3-86391-380-9, 26,00 EUR
In guten wie in schlechten Zeiten?
Eben dieses Ehe-Versprechen ist es, nur zum Beispiel, weswegen Laura (zu) vieles über lange Zeit erträgt: Die Schläge ihres alkoholkranken Mannes, die oft blutig enden. Gebrüll, Beleidigungen. Ihre zwei Kinder müssen alles mit ansehen und auch sie erleben Gewalt. Laura wird krank, leidet an Depressionen, die Kinder wissen nicht mehr, was Lachen und Spielfreude sind. Die drei leben in Angst …
Warum, warum nur lässt Laura das zu, möchte man als Leserin wissen? Weshalb geht sie nicht? Trennt sich nicht?
Ihr einst so liebevoller Ehemann Holger, sie glaubt, ihn trotz allem zu lieben, tut ihr immer wieder leid. Er würde doch ohne sie noch tiefer fallen? Und ohne Alkohol war er doch ihr lieber Mensch wie früher? Er brauchte doch ihre Hilfe? Sie schämt sich für ihren Mann, für die zerrüttete Ehe und redet nur mit ihrer Mutter und ihrem Chef darüber, beide haben ihre Erfahrungen nämlich einst auch gemacht. Schließlich bringt sie ihn dazu, zu entgiften, sogar bis zu einer 12-Wochentherapie. Danach aber reiht sich ein Rückfall an den nächsten, dazwischen liegen gute Zeiten, die ihr immer wieder Hoffnung geben.
Nach einem besonders grässlichen Vorfall, er wirft den kleinen Sohn zu Boden, der seine Mutter beschützen will, fasst Laura den Entschluss und beantragt die Scheidung.
Wie es für beide weitergeht? Das können Sie vielleicht selbst lesen …
Dieser dritte Band von Steffen Krumm beleuchtet diesmal nicht seine eigenen realen Erlebnisse und Erfahrungen als schwer Alkoholkranker. Sie fließen aber mit ein, wenn er Holgers süchtiges Verhalten beschreibt. Vielmehr hat der Autor zur Recherche mit vielen co-abhängigen Menschen gesprochen. Aus all dem entstand diese Erzählung, die eher ein bisschen an eine fiktive Dokumentation erinnert, vom Schreibstil her.
Die Antwort auf die Eingangsfrage, warum Laura so lange bei ihrem suchtkranken Mann blieb, erschließt sich dem Lesenden im Laufe des Buches. Am Ende erklärt der Autor noch ein bisschen mehr zur Co-Abhängigkeit. Und appelliert an die Verantwortlichen in diesem Land und auch an uns, gezielter darüber aufzuklären und die betroffenen Menschen nicht allein zu lassen.
Lieber Steffen, danke dafür, dass du den oft einsam über viele Jahre hinweg leidenden Frauen (und auch Männern) und Kindern eine „Bühne“ gebaut hast mit Deinem Buch. Da kann und sollte man dann über die oft deplatzierte Zeichensetzung mal hinwegschauen, sie wird ziemlich unwichtig (lächel).
Anja Wilhelm
STEFFEN KRUMM, Sucht ist stärker als Liebe, New Dreams Verlag, Independently published, TB, 158 Seiten, 8,90 Euro
Markus, glaubst Du an den lieben Gott?
Wenn ein Komödiant ein Buch schreibt, was erwarten Sie da, liebe LeserInnen? Ganz was Lustiges, oder nicht? Auf jeder Seite viel zum Lachen?
Aber Markus Majowski ist auch nur ein Mensch – ein Comedy-Star auf Bühne und im TV hat auch noch ein Leben hinter der Show. Ein „echtes“ Leben. Das fließt und floss mitnichten nur immer lustig und heiter dahin. Natürlich gibt’s auch viele, viele Anekdoten zum Grinsenmüssen, na klar beschreibt er auch Geschichten auf seine Weise, die die Mundwinkel unweigerlich nach oben ziehen. Ich habe jedenfalls sehr oft geschmunzelt im Verlauf der 200 Seiten. Schon am Anfang, als seine Frau Barbara in ihrem liebevollen Vorwort beschreibt: „Immer klappert oder scheppert etwas, wenn Markus in der Nähe ist …“ oder er fragt Dinge wie: „,Liebling, wo stehen bei uns die Gläser?‘, ,Was ist heute für ein Tag?‘, Wo bin ich?‘“. Ja, so ein bissel verschusselt ist er eben nicht nur auf Bühne und Bildschirm, sondern in echt. Verträumt. Mit den Gedanken ganz woanders. Und das ADHS tut seines noch dazu.
Außerdem ist er im echten Leben drogen- und alkoholkrank und bisexuell und sehr gläubig. Punkt. Dieses Buch, 2013 erschienen, ist sein damaliges Outcoming – und noch ganz vieles mehr …
Aufgewachsen als schon damals ein Wonneproppen, wie er schreibt, ist er in einer begüterten Westberliner Familie, der Vater war Cellist bei den Berliner Philharmonikern. Markus fehlt es an nichts. Auch nicht an absoluter Liebe. Und Harmonie. Aber dennoch oder deshalb … er hat nicht gelernt, mit Widerstand und widrigen Umständen umzugehen. Das bringt ihn viele Jahre, Jahrzehnte immer wieder in Schwierigkeiten. Bis hin zum Drogen- Alkoholmissbrauch.
Sein beruflicher Werdegang beginnt eher noch nicht so verheißungsvoll. Auf kleinen Bühnen. Er lebt in WGs, schuftet in einer Restaurantküche nebenher. Dann als Komiker und Schauspieler erst einmal entdeckt, startet er voll durch. Tourneen, Filme, Werbung. Aber auch das oft nicht ohne kleine und größere Missgeschicke, ob im Job und im Alltag. Von Rückschlägen oder Schicksalsschlägen bleibt auch er nicht verschont.
Woran er sich im Laufe seines kunterbunten Lebens bis 2012 (er lernt z.B. auch tauchen, findet die Liebe seines Lebens auf einer Tauchreise, wird Vater, schreibt ein Kinderbuch, gründet eine Firma, sorgt sich um trauernde Kinder, stellt seine Ernährung um, nimmt ab, lernt Qigong und, und, und …) wieder erinnert: Er glaubt an Gott. Nur hatte er inzwischen „den Draht“ zu ihm verloren. Markus nimmt ihn wieder auf. Spricht mit ihm, betet täglich. Hört zu. Und übt, in Resonanz zu gehen mit dem, was Gott für ihn vorgesehen hat. Jedenfalls habe ich das so verstanden als Leserin.
Markus Majowski schrieb das Buch, als er bereits einige Jahre trocken war. Diese Rückschau half ihm auch, weiter trocken zu bleiben, sagt er.
Und er sagt noch so, so, so viel!
Wissen Sie was, liebe LeserInnen? Ich werfe jetzt das Handtuch. Und zwar Ihnen zu (keine Sorge, es duftet nach Weichspüler). Sie sollten einfach selbst lesen. Vom prallen Leben, vom Hinfallen und Aufstehen, von Trauer und Schmerz, von Liebe und Glück, erzählt in unverwechselbarem, oft wirklich komischen Majowskisch. Und am Ende haben Sie dann sehr oft mitgefühlt, vor allem mitgegrinst. Und dies auch, kennen Sie diesen Zustand, wenn man lächelt und gleichzeitig aber „Pipi in den Augen“ hat vor Rührung?
Und vielleicht sind Sie dann sogar, wie ich auch, ein Stückchen weiser geworden, mit Markus auf seinem ureigenen Lebensweg …
Übrigens: Sein zweites Buch, erschienen 2021, stellen wir Ihnen in der nächsten Ausgabe vor: MARKUS, MACH MAL!
Anja Wilhelm
MARKUS MAJOWSKI, Markus, glaubst du an den lieben Gott? Verlag neukirchener aussaat, 2013, Geb., 200 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-7615-6035-8
Mein tödlicher Freund
Kein mahnend und lehrmeisterlich erhobener Zeigefinger, nirgendwo im Buch …
Auch darin unterscheidet sich dieses Erfahrungsbuch im Selbstverlag von einigen anderen Alkoholiker-Erfahrungsbüchern. Ja, es mahnt und erschüttert – und das teilweise bis ins Mark – aber einzig durch seine sachliche, undramatische Schilderung von hoch dramatischen Situationen und Fakten.
Was ich damit meine?
Steffen Krumm begann schon mit 15 seinen ersten „Selbstversuch“ mit einer kleinen Flasche Kirschlikör. Es war an einem Wochenende. Er wollte herausfinden, was seinen trinkenden Stiefvater oftmals aggressiv machte und andere Familienmitglieder wiederum ausgelassen … der Alkohol tat seine Wirkung. Vorerst positive. Und half auch gegen seine Ängste. Das kennen wir alle.
Mit 18 lernte er das erste Mal Entzugssymptome kennen. Mit 21 landete er zum ersten Mal auf einer Entgiftungsstation.
Unzählige weitere Entgiftungen folgten … Rückfälle, Arbeitsplatzverlust, Scheidung, Obdachlosigkeit und dazu die Abhängigkeit von Benzos. Irgendwann aber machte es klick und er blieb neun Jahre trocken. Bis zu einem Rückfall, der ihn fast das Leben kostete. Der Rettungsdienst konnte ihn reanimieren.
Seit einer Therapie und betreutem Wohnen ist er nun wieder trocken, clean und begann ein ganz neues Leben. Sein neu gefundener Glauben half ihm dabei. Er hat eine Wohnung, einen Job, und sogar mit seiner Exfrau ist er wieder zusammen. Das Schreiben des Buches war für ihn Teil seiner Therapie.
Vieles Geschilderte ist für trockene LeserInnen nicht ganz neu. Aber ob jemand von Ihnen sooo weit unten war? Steffen Krumm schildert detailliert, wie eine Party über Tage und Nächte verlief. Nachdem sich ein paar Leute, gerade aus der Entgiftungsstation gekommen, sofort wieder zudröhnten bei ihm Zuhause, als er noch eins hatte (nach der Party nicht mehr). Wie sie die letzten Tropfen aus den Flaschen zusammenkratzten, um ihr Zittern zu bekämpfen, After Shave tranken und Schlimmeres, kein Geld mehr hatten, Klauen gingen in den Supermarkt, wenn überhaupt noch jemand laufen konnte. Was mit seinem Körper geschah. Mit einer Psyche. Wie er sich selbst verdammte. Wie er Alkohol trinken MUSSTE … und am liebsten sterben wollte.
Die glasklare Schilderung seines Delirs erschütterte mich am meisten.
Am Ende beschreibt er mit eigenen, gut verständlichen Worten für einen Laien, was Sucht ist. Und dass die rote Linie zwischen Missbrauch und Sucht oft nicht sichtbar ist für den einzelnen.
Ich empfehle dieses Büchlein unbedingt!
Der noch Trinkende wird es nicht lesen wollen, es wäre wie ein Blick in den Spiegel, in den er nicht schauen will. Aber für den Trockenen kann es Erinnerung und Mahnung sein, es wirkt wie eine Art Rückfallprävention. Für Freunde und Angehörige von Abhängigen ist es fast Pflichtlektüre, wenn sie unbedingt verstehen wollen, warum Sucht keine Willens- oder Charakterfrage ist, sondern eine Krankheit ist …
Diesem Buch folgen noch zwei weitere Teile. Die lese ich für Sie gerne bis zur nächsten Ausgabe der TrokkenPresse.
Anja Wilhelm
STEFFEN KRUMM, Mein tödlicher Freund, NewDreams Verlag Steffen Krumm, (steffenk67@gmail.com), 196 S., 8,90 Euro, ISBN: 978-1695600911
Rückschau eines 83-Jährigen
Ein anderes „Wirtschafts“wunder
Der 1939 geborene Autor blickt zurück auf ein erst unglückliches, dann alkoholgetränktes und später abstinent-glückliches Leben.
Josef Schutzmeyer beginnt mit dem Leben seiner Eltern. Von seinem Vater Heinrich erfährt man, dass er Polizist und Parteimitglied der NSDAP war. Von seiner Mutter Maria erfährt man, dass sie aus Braunau (heute Broumov in der Tschechischen Republik) stammt und chemisch-technische Assistentin war. Die Familienverhältnisse der Mutter werden ausgebreitet, die Großtanten Hermine, Johanna und Marie, die Onkel Franz und Karl. Der Kurort, in dem der Vater die Mutter kennenlernte, wird beschrieben. Der Umzug nach dem Krieg nach Westdeutschland, Niedersachsen. Hier wird die Kindheit von Josef erzählt, dass er in der Schule keine Leuchte war und sein Vater des Öfteren sagte, dass er lebensunfähig wäre und es ein böses Ende mit ihm nähme. Er schildert seine Zeit als Heranwachsender im dörflichen und familiären Umfeld, die Schule, die Lehre, die Tanzschule, den ersten Alkohol. Hier ist schon fast die Hälfte des Buches durchschritten.
Zur neu gegründeten Bundeswehr meldet sich Josef freiwillig. Hier ist Bier ein normales Getränk, gerne auch in größeren Mengen getrunken. Nach seiner Dienstzeit nimmt er den erlernten Beruf in der Schuhhandelsbranche wieder auf, wechselt aber mehrfach den Arbeitgeber, wird Filialleiter eines großen Schuhhauses. Anschließend wechselt er in den Außendienst für einen Schuhhersteller. Nun kommt er richtig ins Saufen, fünf Tage in der Woche, alleine im Hotel und ständig Kundenkontakte erleichtern den Alkoholkonsum. Eine Trunkenheitsfahrt mit dem Geschäftswagen und 2,2 Promille endet im Graben und hat ein einjähriges Fahrverbot zur Folge und damit ist auch der Arbeitsplatz im Außendienst im Strudel des Alkohols untergegangen.
So kam er ins väterliche Geschäft, als Teilhaber und billige und willige Arbeitskraft. Diese Episode endete mit einem Zerwürfnis mit dem Vater, nachdem er seinen Führerschein zurückerhalten hatte. Er ging wieder in den Außendienst für eine Schuhfabrik. Mittlerweile hat Josef mit seiner Frau Gudrun zwei Kinder.
In der Erinnerung von Josef wurde in dieser Zeit immer und überall Alkohol getrunken, außer beim Frühstück, auch Josefs Frau Gudrun trinkt gerne mit. Josef bemerkt aber bei sich Abhängigkeitssymptome, weiß aber damit nicht anders umzugehen als weiter zu saufen. Dann versucht er, mittels kaltem Entzug dem Alkohol zu entfliehen, mit grausigen Entzugserscheinungen, deren Überwindung, einmal überstanden, mit „nur einem Korn und einem Pils“ belohnt werden.
Der Protagonist arbeitet nun als Fachberater in der Flachdachbranche, da die deutsche Schuhindustrie zu ihrem Ende kommt, und trinkt weiter, die Familie, die Kunden, die Vorgesetzten sehen über seine zitternden Hände und seine sich über den Tag steigernde Fahne hinweg, solange er funktioniert. Für ihn geht es aufwärts, bald steht das Eigenheim, er macht sich selbstständig, geht pleite und verliert aufs Neue bei einer Alkoholfahrt den Führerschein.
Ein Arzt verschreibt ihm Antabus, das aber nicht nachhaltig auf sein Suchtverhalten wirkt. Nach weiteren Eskapaden zieht sein Bruder, Psychologe, die Notbremse und schickt ihn in eine Selbsthilfegruppe.
Gruppe hilft, auch hier. Wie es weitergeht mit Josef, können Sie im Büchlein nachlesen.
JÜRGEN EICHMEYER, Innenansichten eines Alkoholikers, Leben ohne Alkohol, 96 Seiten, Softcover, novum Verlag, ISBN 978-3-99130-053-3, 15,50 Euro