Der geschützte Raum
Von Cornelia Ludwig
„Niemand soll und wird es schauen, was einander wir vertraut: Denn auf Schweigen und Vertrauen ist unser hier aufgebaut“ (frei nach Johann Wolfgang von Goethe).
Während Goethe sich bei seinen Worten auf die Räumlichkeiten seiner eigenen geistigen Gesinnung bezog, möchte ich meine persönlichen Gedanken auf den Raum der Selbsthilfegruppe lenken. Denn ein solcher Raum ist für mich der geschützte Raum, auf den ich mich in meiner Überschrift beziehe.
Doch erst einmal zurück auf Anfang.
In der Zeit meines stationären Krankenhausaufenthaltes auf der Suchtstation sah ich in keiner Hinsicht den Gruppenraum als etwas Besonderes an. Für mich war dieser Raum ein Zimmer mit vier Wänden, einer Tür und kreisförmig angeordneten Stühlen, auf denen meine Mitpatienten und ich Platz nehmen mussten. Dann wurde geredet über Dinge, die mich entweder nicht interessierten oder die ich prinzipiell langweilig fand oder die mich überhaupt nicht berührten, weil sie mich persönlich gar nicht ansprachen und ich dieses belanglose Gerede konsequent zu überhören bemüht war.
… und dann gab es den Samstag, an dem das krankenhausbedingte Behandlungskonzept Pause hatte und an welchem den ganzen Tag Ruhe herrschte. Bis auf den Abend. Nicht genug, dass an jedem Samstagabend Gruppen stattfanden, die ich als Patientin aufsuchen musste. Es nahmen ehemalige Patienten teil, deren Entlassung aus dem Krankenhaus teilweise längere Zeit zurücklag.
… und das war ein Umstand, den ich so überhaupt nicht verstand.
Ich fragte mich, was diese Menschen dazu trieb, an einem Samstagabend freiwillig eine Selbsthilfegruppe zu besuchen? Warum setzt sich ein Mensch in einen Raum mit anderen Menschen und hört einfach nur zu oder spricht selbst? Dieses Verhalten erschien mir mysteriös.
Was mich aber wirklich fassungslos sein ließ, das waren die Ehrlichkeit und die Offenheit, die den Aussagen zu Grunde lagen und ebendiese Ehrlichkeit und Offenheit ließen mich anfangs verstummen.
Ich traute mich nicht, den Mund aufzumachen.
Ich wollte nicht sagen, was sich in meinem tiefsten Innern abspielte.
Ich machte mir meine ureigenen Gedanken, aber die gingen niemanden etwas an.
Das war meine Sache!
Im Vorfeld hatte ich immer gehört, dass die Gruppen in einem geschützten Raum stattfanden und gesprochen wurde in einem geschützten Rahmen. Aber ich konnte mit dieser Formulierung nichts anfangen.
… und irgendwann begann auch ich, in den Gruppen zu teilen, was mich bewegte, was mich bedrückte oder worüber ich mir Gedanken machte.
Ich begann, meine stillen Gedankengänge laut auszusprechen.
Ich begann, mir selbst zuzuhören, was ich bisher für mich behalten hatte.
Ich begann, Gefühle zuzulassen.
Ich begann, Dinge, an denen ich bisher krampfhaft festgehalten hatte, loszulassen.
Ich begann, mich uneingeschränkt zu öffnen.
Ich bemerkte, wie hilfreich es ist, zu sprechen und wie ich mich durch dieses Sprechen frei redete und zwar innerhalb einer Gemeinschaft von Betroffenen.
In mir entwickelte sich das Gefühl des Angenommen-Werdens, es wuchs das Empfinden der Zugehörigkeit, Vertrauen baute sich auf, es entstand das Bewusstsein, dass meine Gefühle und Gedanken nachvollzogen werden können.
Dieses ehrliche Teilen in dem geschützten Raum wirkte auf mich befreiend.
Umstände wurden mir bewusst, ich erlangte dadurch Klarheit und so erhielt ich die Unterstützung, damit zukünftig umgehen zu können.
Das Wissen darum, dass alles, was ich innerhalb dieser Wände teilte, diesen Raum nicht verlassen würde, vermittelte mir ein Grundvertrauen, das ich andernorts bis heute nicht vorfinde.
Der geschützte Raum ermöglichte es mir, mich zu öffnen und als ich begann, mich zu öffnen, begann ich mich zu verändern.
Auch heute noch trifft das Beschriebene auf mich und mein Empfinden zu.
Die Auf- und Annahme meiner selbst findet in dem geschützten Raum der Selbsthilfegruppe statt.
Die Geschlossenheit der Anwesenden vermittelt mir das Gefühl, dass ich mich hier der Gemeinschaft bedenkenlos anvertrauen kann.
Die Existenz dieses geschützten Raumes, in dem die Gruppe zusammenkommt, ist einer der zentralen Aspekte bei der Gestaltung meiner trockenen Lebensführung und für mich steht die Bedeutung, die ich persönlich diesem Raum zuspreche, im Vordergrund.
Ein solcher geschützter Raum ist keine Selbstverständlichkeit.
Es handelt sich um einen Raum, in dem ich mich öffnen und von mir preisgeben kann, was ich andernorts zurückhalte.
Es handelt sich um einen Raum, in dem das Anvertraute auch vertraulich bleibt.
Es handelt sich um einen Raum, den ich persönlich als großes Geschenk auffasse. Ein Geschenk, in dessen Umfeld ich mich bewegen darf, in dem im Laufe der Zeit zwischenmenschliche Vertrautheit und Wertschätzung in unbekanntem Maße entstehen.
Es handelt sich um einen Raum, in dem ich die Möglichkeit erhalte, mich immer wieder selbst zu erkennen und in dem immer wieder erneut die Ergründung meines eigenen Ichs erfolgen kann.
Ich muss diesen Raum selbst erkennen.
Ich darf diesen Raum durch mein aktives Teilen mit Leben füllen.
Danke, dass mir meine Selbsthilfegruppe diesen geschützten Raum bereitet.
Ich heiße Cornelia. Ich bin Alkoholikerin. Heute trocken und dafür bin ich dankbar.