Gedanklicher Dreisprung

Mein gedanklicher Dreisprung

Von Cornelia Ludwig

Ich baue meinen Text heute mal in zeitlich umgekehrter Reihenfolge auf.
Das heißt: Ich beginne mit der Gegenwart.

Olympiade Paris 2024. Ich bin von jeher sportbegeistert. Als Jugendliche übte ich Leistungssport aus und auch als junge Erwachsene nahm die sportliche Betätigung großen Raum in meinem Leben ein. Aus dieser persönlichen Vergangenheit im Rucksack ist auch heute mein Interesse an sportlichen Großereignissen herzuleiten. Daher gehörte ich im vergangenen Sommer zu jenen Menschen, die zwar nicht selbst auf den Rängen von sportlichen Veranstaltungsstätten in Paris Platz genommen haben, aber, wenn es meine Zeit erlaubte, verfolgte ich sämtliches Geschehen am heimischen Fernseher. Und selbstverständlich galt dies auch für die Entwicklungen in der Leichtathletik.

Als ich mich mal wieder im Zustand „meiner persönlichen sportlichen Spannung“ befand, befasste sich die Berichterstattung mit dem laufenden Wettkampf im Dreisprung.

Anfangs verfolgte ich die Sprünge ausschließlich mit sportlichem Interesse, bis sich in mir die Überlegung ausdehnte, dass ich selbst nach exakt diesem Dreisprung-Prinzip lebe und zwar immer, wenn ich es für mich für richtig und gut halte.

Wie meine ich das?

Nun, da ist die einleitende Phase vom Absprung bis zur ersten „Zwischenlandung“, die ich als jenen Abschnitt bezeichnen möchte, in dem ich mir zum Beispiel eine Situation bewusst mache. Ich entscheide mich sozusagen dafür, den entstandenen Eindruck zuzulassen.

Diese Entscheidung des Zulassens führt mich in die zweite Phase meines gedanklichen Dreisprungs: Ich verschaffe mir Klarheit. Das bedeutet, dass ich mir Fragen stelle wie „… was möchtest du wirklich? oder „… wie willst du dich verhalten?“ und ich gebe mir selbst darauf innerhalb dieses Abschnitts die Antwort auf meine an mich selbst gerichteten Fragen.

Die beantworteten Fragen leiten mich in die dritte und abschließende Phase: Ich erhalte so das Werkzeug, um mit der Situation in meinem Sinne umzugehen.

Entschuldigt. Das war jetzt alles sehr theoretisch und es ist an der Zeit, mit einem praktischen Beispiel aus meinem Leben dieses Vorgehen zu erläutern:

Es ist noch gar nicht lange her, da hatte ich einen Termin in einer mir völlig unbekannten Gegend.
Da es mir tatsächlich ein Graus ist, mich zu verspäten, suchte ich im Vorfeld die optimale Verbindung mit den Öffis heraus. Ich musste von der S-Bahn in die U-Bahn und dann weiter mit der Tram.
Ich war mit meiner vorausschauenden Planung zufrieden und machte mich zu gegebenem Zeitpunkt auf den Weg.
Naiverweise hatte ich Zugverspätungen bzw. ganze Zugausfälle nicht einkalkuliert. Die S-Bahn kam viel zu spät und der U-Bahnzug fiel komplett aus. Was dazu führte, dass ich meinem persönlichen Pünktlichkeitswahn zum Opfer fiel und in einer völligen inneren Aufgelöstheit sowie einer mir absolut fremden Umgebung die U-Bahnstation verließ.
Jetzt stand mir noch der Umstieg in die Tram bevor. Wie das in derartigen Situationen häufig der Fall ist, wählte ich den falschen Ausgang aus der U-Bahn und von einer Tram-Haltestelle war weit und breit nichts zu sehen.

Ich bemerkte, wie sich allmählich Panik in mir ausbreitete und das war für mich genau der Moment, um meinen gedanklichen Dreisprung anzuwenden.

Ich machte mir die Situation bewusst: Ich war zu spät dran und ich fand mich nicht zurecht. Ich ließ in diesem Moment Gefühle wie Hilflosigkeit und Ängstlichkeit zu.
Daraus resultierte die Erkenntnis, dass es besser ist, wenn ich mich erst einmal ruhig orientiere, wo ich mich überhaupt befinde und dass ich mir weitere Klarheit dadurch verschaffen kann, indem ich vorübergehende Passanten nach dem Weg frage. Ich werde zu spät kommen, das war mir ebenfalls klar, aber ebenso klar war es mir dann auch, dass das keinen Weltuntergang bedeutete.

… und dieses Vorgehen ermöglichte es mir, mit der gesamten Situation umzugehen.
Ähnlich einem PC, der heruntergefahren werden muss, um neu sortiert korrekt seine Arbeit wieder aufnehmen zu können, fuhr ich mich mit meiner Dreisprung-Methode in besagtem Beispiel ebenfalls herunter, sortierte mich neu und ging der Situation entgegen.

Was mein Verhalten in der Vergangenheit angeht, da erinnere ich mich an die Zeit, in der ich noch nicht meine persönliche Dreisprung-Krücke für mich entdeckt hatte.

Mein stationärer Krankenhausaufenthalt lag noch nicht lange zurück, ich befand mich am Anfang meiner trockenen Lebensführung, jede anstehende Erfahrung war neu und unbekannt und ich empfand ein Gefühl andauernder Unsicherheit, als ich just zu einer Geburtstagsfeier eingeladen wurde.
Anstatt diese Einladung abzulehnen, was in meiner verunsicherten Verfassung nach meiner heutigen Einschätzung das einzig richtige Verhalten ist, ging ich zu der Feier.
Unsicherheit und Ängstlichkeit führten sofort dazu, dass sich Kopf- und Hilflosigkeit in innere Panik verwandelten. Ein persönliches Sortieren war mir nicht möglich. Ich war grenzenlos mit der Situation überfordert und verließ innerlich aufgewühlt und äußerlich konfus die Feier.

Zusammenfassend:
Mein gedanklicher Dreisprung ist für mich ein deutlicher Entwicklungsprozess und möglicherweise füge ich irgendwann, wenn ich es für richtig halte, meiner Anschauung eine weitere Sprungphase hinzu oder ich ersetze einen vorhandenen Abschnitt durch eine bisher noch nicht aufgetauchte Etappe.
Auf jeden Fall kann ich die Rahmenbedingungen oder die Grenzen individuell auf mich und meine Persönlichkeit abstimmen.

… und was bedeutet der Dreisprung für mich? Für Cornelia, die trockene Alkoholikerin, in meiner trockenen Lebensführung?
Ich besuche meine Selbsthilfegruppe und mache mir dadurch immer wieder erneut bewusst, dass ich alkoholkrank bin. Dadurch erlange ich die Klarheit, dass ich lebenslänglich alkoholkrank bleiben werde und ich darf so das Instrument entgegennehmen, dass es mir ermöglicht, mit mir selbst umzugehen.

Ich heiße Cornelia. Ich bin Alkoholikerin. Heute trocken und dafür bin ich dankbar.