Cornelia Ludwig
Trocken leben: Aber wie?
Weshalb es nicht genügt, „nur“ mit dem Trinken aufzuhören
Nie wieder ein Glas Sekt, eine Weinbrand-Praline oder die Roulade in Rotweinsoße … wie soll mir das gelingen?
Vor dieser bangen Frage steht jeder alkoholabhängige Mensch, der seine Krankheit Sucht endlich stoppen will. Spätestens dann, wenn sich nach einer Therapie die Krankenhaustüren hinter ihm wieder schließen und die ersten Schritte zurück in den Alltag gegangen werden müssen. Entlang gut bekannter Kioske, vorbei an trinkenden Passanten …
Cornelia Ludwig beschreibt ihre ängstliche, unsichere Ankunft im neuen Leben ohne Alkohol eindrucksvoll aus eigenem Erleben. Dass es nicht genügt, einfach nichts mehr zu trinken, hat sie bald erkannt. Sie muss sich ändern. Verändern. Ihr Denken. Ihr Handeln. Ihr Verhalten. „Ich erkannte, dass sich ein Leben ohne Alkohol nicht automatisch daraus ergab, dass ich keinen Alkohol trank, sondern dass Veränderungen nötig waren, die eine abstinente Lebensführung erst möglich machten.“
Auf diese Reise nimmt sie uns Leser/innen mit. Sie legt uns all ihre Erfahrungen auf einen imaginären Tisch – und jeder kann sich, wenn er es will, daran bedienen. Das ist ihr Anliegen dieses Buches.
Broschur
Inhaltsverzeichnis:
Weshalb ich dieses Buch schrieb
Schritt für Schritt in eine unbekannte Welt
-Lebenslang Alkoholikerin? ICH?
-Ich brauche Hilfe!
-Das erste Mal in einer Selbsthilfegruppe
-Panik vorm ersten Supermarkt-Einkauf
-Welpe Centa lehrt mich Verantwortung
-Die erste Party als Trockene
-Fisch in Weißwein, Likör im Dressing? Hilfe!
-Erster Urlaub: Mit Biertrinkern am Tisch
Meine Sucht und die Menschen um mich herum
-Mein Weg in die Abhängigkeit
-Wie mein Sohn seine Mutter erlebte – und heute sieht
-Mein Ehemann erinnert sich …
-Wie werde ich ehrlich? Wie gradlinig?
-So reagieren Mitmenschen auf mich
Ich verändere mich weiter und weiter
-Gesunder Geist in gesundem Körper
-Lernprozesse ohne Ende
-Strukturen schaffen hilft
Was mich im Heute bewegt …
-Trink-Träume
-Weshalb ich andere Wörter benutze als früher
-„Hausgemachte“ Probleme
Schlussgedanken
Leseprobe:
Aus dem Kapitel: Panik vor dem ersten Supermarkt-Einkauf
… Seit meiner Entlassung hatte ich noch nie ohne Begleitung die Wohnung verlassen. Ich hatte nicht einmal alleine den Müll hinuntergebracht. Einerseits fürchtete ich mich vor der Welt, die da draußen auf mich wartete. Ich fürchtete mich vor den Ablenkungen, den Versuchungen und Verlockungen, die mir in Form von Alkohol begegnen würden. Andererseits wollte ich diesen Schritt gehen. Ich war hin- und hergerissen. Wieder erinnerte ich mich daran, was ich in einer Gruppe im Krankenhaus gehört hatte … und holte mir einen Stift, einen Zettel und schrieb eine Einkaufsliste. Ich notierte die allernötigsten Lebensmittel, die ich einkaufen wollte und hatte vor, mich strikt an diese Liste zu halten. Dann nahm ich mir mein Portemonnaie, einen Einkaufsbeutel und einen Kugelschreiber. Mit dem Kugelschreiber wollte ich die einzelnen Positionen auf meiner Liste bewusst ausstreichen, sobald diese in meinem Einkaufswagen lagen. Ich wollte mir deutlich vor Augen führen, wie meine Liste zusammenschrumpfte.
Nun war ich zwar zufrieden mit meiner Planung, aber meine Angst blieb und nahm auch noch zu. Ich hatte Angst davor, der Realität und fremden Menschen zu begegnen. Ich hatte Angst davor, die Situation nicht zu bewältigen und zu versagen.
Ich ging in den Supermarkt, der sich im Erdgeschoss meines Wohnhauses befand – und das aus gutem Grund. Hier kannte ich den Aufbau des Geschäfts, die Anordnung der Regale und sogar flüchtig einzelne Angestellte. Allerdings verstärkte letzteres meine Angst, denn ich hatte vor meinem Entzug häufig in diesem Geschäft meinen Alkohol gekauft und war sicher, dass das nicht in Vergessenheit geraten war.
In erster Linie wusste ich aber, an welcher Stelle sich die Regale mit den Spirituosen befanden, denn diese Abteilung des Geschäftes kannte ich schließlich am besten und genau diesen Abschnitt wollte ich jetzt bewusst umgehen.
Bevor ich den Supermarkt betrat, blieb ich vor dem Geschäft stehen und erinnerte mich daran, was ich zum Thema „einkaufen“ gehört hatte:
Erstens: Nicht ziellos im Laden herumlaufen, sondern anhand der Einkaufsliste kontrolliert die Waren zusammensuchen.
Zweitens: Bevor die Ware in meinem Einkaufskorb landet, nicht vergessen, die Zutatenliste zu lesen, die sich auf der Rückseite jedes Produktes befindet, um nichts zu kaufen, das mit alkoholischen Geschmacksverstärkern versehen war.
Drittens: Alle Plakate, die alkoholische Getränke bewerben, ignorieren und Durchsagen, die Spirituosen anpreisen, überhören.
Mit diesen theoretischen Hinweisen in meinem Gedächtnis betrat ich das Geschäft mit weichen Knien. Meine Aufregung wuchs mit jedem Schritt. Ich nahm mir einen Einkaufswagen. Hauptsächlich deshalb, um mich irgendwo festzuhalten.
Ich schaute auf meine Einkaufliste, las das Wort „Kekse“ und steuerte zielsicher die entsprechenden Regale an. Ich nahm an, dass ich damit in eine „alkoholfreie Zone“ gehen würde. Schnell bemerkte ich meinen Irrtum. Gleich in Augenhöhe fiel mein Blick auf Pralinen mit Schnapsfüllung. Daneben stand Schokolade mit Whiskygeschmack und in der Regalreihe darunter sah ich eine Vielzahl verschiedener Angebote von Cognacbohnen unterschiedlicher Hersteller. Meine innere Unruhe nahm zu und ich suchte nach Gebäck. Als ich es fand, sprang mir als erstes die Beschriftung einer Verpackung ins Auge „Mürbegebäck verfeinert mit Jamaikarum“.
Jetzt wollte ich auch keine Kekse mehr kaufen und auch nicht nach weiteren Keksen suchen. Ich kritzelte diesen Punkt auf meiner Liste aus und ging zu den Kühlregalen. Mein Süßwarenerlebnis hatte mich sehr aufgewühlt und meine Konzentration, mit der ich meinen Einkauf abwickeln wollte, ließ stark nach. Anstatt die Butter zu kaufen, die ich auf meinem Zettel notiert hatte, griff ich wahllos ins Kühlregal und hielt eine Schale Geflügelsalat in meiner Hand. Ich drehte die Ware um und inmitten der angegebenen Inhaltsstoffe las ich das Wort „Weißwein“. Als hätte die Schale in meiner Hand Feuer gefangen, stellte ich sie schnell ins Regal zurück. Direkt neben die Krebsschwänze in cognac-haltiger Hummersauce. Meine Gedanken überschlugen sich. Ich fühlte, wie hektische Angst in mir aufstieg. Warum war ich nicht konsequent nach meiner Liste vorgegangen? Warum hatte ich mich ablenken lassen?
Vielleicht war es Dummheit.
Vielleicht war es Neugier.
Vielleicht wollte ich herausfinden, wie ich reagieren würde?
Ich wusste es nicht und es war mir jetzt auch gleichgültig, Antworten auf diese Fragen zu finden.
Ich fühlte, wie sich meine Kehle langsam zuzog. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr schlucken zu können und spürte, wie sich immer mehr Speichel in meinem Mund sammelte. Die anfängliche Angst vor dem Einkauf verwandelte sich jetzt bei mir in Panik. Meine Atemzüge folgten aufeinander in kurzen Stößen. Ich wollte schnell dieses Geschäft verlassen, aber nicht ohne meinen persönlichen Einkaufserfolg. Mit einem Tunnelblick suchte ich das Kühlregal nach Butter ab. Ich fand sie, legte sie in meinen Einkaufswagen und fuhr ohne Umwege an die Kasse. Zu meiner Erleichterung stellte ich fest, dass ich mich nicht in eine Warteschlange einreihen musste. Ich konnte gleich bezahlen und verließ fluchtartig den Supermarkt.
Wie ein gehetztes Tier rannte ich zurück in meine Wohnung und knallte die Tür hinter mir zu. Mein erster Einkauf hatte mich völlig erschöpft. Aber heute, mit dem nötigen Abstand zu meinem Erlebnis, gelingt es mir, meine Gesamterfahrung gedanklich in einzelne Schritte zu teilen.
Mein erster Schritt war der Entschluss selbst, einkaufen zu gehen.
Mein zweiter Schritt bestand in der Organisation meines Vorhabens, indem ich eine Einkaufliste schrieb.
Mein dritter Schritt beinhaltete die Wahl eines mir bekannten Supermarkts, wodurch ich gezielt die Spirituosenabteilung umgehen konnte.
In meinem vierten Schritt wollte ich mich konsequent an meine Einkaufsliste halten (was mir bekanntlich nicht vollständig gelungen war) und die Zutatenangaben auf der Rückseite der Produkte lesen.
An meinem fünften Schritt, ein positives Endergebnis zu erzielen, wäre ich beinahe gescheitert. Durch den Panikkauf eines Butterstücks gelang es mir im letzten Moment, meinen ersten Einkauf erfolgreich abzuschließen.
Ich hatte meinen ersten Einkauf genau geplant. Ich hatte mich jedoch ablenken lassen und meinen ersten Einkauf überhastet bzw. panisch beendet, und obwohl ich mit meiner eingekauften Butter nur einen kleinen Teilerfolg erzielt hatte, war ich sehr stolz. Es war das erste Mal seit vielen Jahren, dass ich keinen Alkohol in der Tasche hatte, als ich das Geschäft verließ.
In den Wochen meines Krankenhausaufenthaltes und in den Selbsthilfegruppen hatte ich immer wieder gehört, dass das Leben als trockene Alkoholikerin nicht leicht werden würde. Aber dieser Einkauf war meine erste praktische Lebenserfahrung und allmählich bekam ich eine vage Vorstellung von dem, was ab jetzt vor mir lag …