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Titelthema 6/17: Sexualität und Sucht

Sexualität und Sucht

Ein Tabubruch

Von Dr. Andreas Dieckmann

Über die wichtigen Dinge im Leben redet man nicht: Einkommen, Wahlen, Glauben und – natürlich – Sexualität. Dabei sind das spannende Themen des Lebens. Dagegen ist der Austausch über den ausgebliebenen Sommer ein Dauerthema. Wir sprechen nicht gern über Intimes. Auch in Therapien vermeiden Betroffene nicht selten das Thema ebenso wie deren Therapeuten. Vermutlich fürchten wir verletzliche Situationen.

Nur für Erwachsene

Ein Erlebnis mit einem alkoholkranken Patienten hat den Eindruck bestärkt: Im Zusammenhang mit der Frage der Rückfallvermeidung suchten die Teilnehmer an der Informationsstunde nach Alternativen zum Rückfall. Kontakt aufnehmen, in eine Gruppe gehen, sich ein gutes Buch nehmen und einige andere Vorschläge veranlassten einen der Betroffenen zu der Bemerkung: „Wenn ich so unter Druck stehe, dann suche ich nach etwas geil Entspannendem, nicht nach dem erwartbaren drögen Rat, ich solle mir Gedanken machen, was bei einem Rückfall am Ende herauskommt. Das weiß ich selber.“

Was denn „geil entspannend“ sein könnte, wurde erfragt. Es begann ein Kichern und Murmeln wie unter pubertierenden Jugendlichen unter den Anwesenden. Der Gruppenleiter sprach dann die Sexualität direkt an und es setzte eine Diskussion ein, dass man in solchen Situationen ja wohl nicht immer einen Partner oder eine Partnerin zur „Verfügung“ habe und „das Puff kann ich mir nicht leisten“. Im weiteren Verlauf deutete ein Teilnehmer sehr vorsichtig die Möglichkeit zur Selbstbefriedigung an. Wieder musste der Moderator den „Fall“ beim Namen nennen. Während der gesamten Therapie ließ der Teilnehmer nur wenige Gelegenheiten aus, um zu bemerken, der Doktor selber habe gesagt, er solle sich „einen herunterholen“, wenn er „Durst“ habe.

Damit sei angedeutet, wie kompliziert es für viele – besonders männliche Menschen – ist, über Sexualität in angemessener Weise zu reden. Es hat ja auch sein Gutes, den Hauch des Besonderen zu wahren. Wenn wir aber jetzt über das Thema Sucht und Sexualität sprechen, dann ist Offenheit erforderlich. Und der Schutz derer, die mit diesem Thema noch nichts anfangen können. Also Weiterlesen: Nur für Erwachsene!

Der Stoff regt an

Wer sich mit der Funktion süchtigen Verhaltens auseinandersetzt, der stößt sehr bald auf die Wirkungen des Suchtmittels bei längerem Gebrauch. Der gelegentliche Nutzer von bewusstseinsverändernden Genussmitteln schätzt die stimmungsaufhellende Wirkung als Bereicherung der Lebensqualität. Ein nicht süchtiger Mensch kann Drogen sogar für eine zeitlich begrenzte Ekstase, also einen Rausch, nutzen. Dieses Verhalten kennen wir bei ritualisierten Festen wie Karneval oder auch in mystischen Religionen. Menschen mit einer entsprechenden Veranlagung schaffen es in religiösen Gemeinschaften sogar, auch ohne ein bewusstseinsveränderndes Mittel einzunehmen, sich über ihre Vorstellung der Nähe zu Gott in ekstatische Zustände zu bringen, aus denen sie nach der Zeremonie wieder „erwachen“. Ein glückseliges Erleben.

Manchmal beschreiben auch süchtige Menschen während ihrer aktiven Krankheitsphase ihre Erlebnisse in ähnlicher Weise. Manche Künstler haben ihre kreativen Phasen unter Einsatz von Substanzen, die das Erleben beeinflussen, optimieren können. Ich kenne aber auch einen ehemaligen Verkäufer von vielfältig nutzbaren Haushaltsgeräten, der mir berichtet hat, dass er in den ersten Jahren des Einsatzes von Alkohol mit seinen Verkaufsfähigkeiten über sich hinausgewachsen ist. Erst mit dem Einsatz der Entzugserscheinungen und der Unfähigkeit der selbstbestimmten Regulierung der Trinkmenge stellte er an seinem Umsatz fest, dass „die schöne Zeit vorbei“ war.

Befriedigung im Tran

Sehr viele Suchtkranke mussten aber die Erfahrung machen, dass angenehme Zeiten und Erlebnisse eng verbunden waren mit dem Rausch, anschließend indes als angenehme im Innern zu bewahrende Erlebnisse nicht mehr zur Verfügung standen. Sie müssen feststellen, dass wohltuendes Erleben überhaupt nur im Rausch möglich ist, hinterher aber nicht mehr für die nachhaltige Erinnerung als Befriedigungsmöglichkeit zur Verfügung steht. „Ich bin wie ein Sieb”, formulierte es einmal ein Betroffener. Deshalb, so meinte er, habe er stets im „Tran“ bleiben müssen, um sich einigermaßen wohl zu fühlen. Zuletzt ging es nur noch darum, Gefühle des Unwohlseins zu vermeiden – lange nicht mehr um Genuss.

Ein wesentliches Problem der Sucht ist der mehr oder weniger ausgeprägte Verlust der Genussfähigkeit, sollte sie denn zuvor bestanden haben. Genuss kann man vor allem in dem Wechsel von Spannung und Entspannung erfahren. Nehmen wir nun endlich die Sexualität als Beispiel: Sex ist wunderbar, wenn er sich langsam von der Freude darauf, über die flirtende Kontaktaufnahme und die allmähliche Annäherung mit zärtlicher Erotik zu einer Spannung aufbaut, die sich im günstigen Fall im gleichzeitigen Orgasmus entlädt. Anschließend kann es dann in den Armen des Partners zu dem wohligen Gefühl der Befriedigung, zärtlicher Berührung und sanftem Einschlafen kommen. War die Partnerin oder der Partner mit Bedacht gewählt, kommt nach dem süßen Schlaf statt der erschreckten Ernüchterung die wunderbare Erinnerung.

Die Lust versiegt in den Promille

Das ist ein Genuss, der sich anfänglich sogar mit Genussmitteln steigern lässt. Eine Nase Kokain soll die vielfache Stärke eines Orgasmusgefühls vermitteln. Längerfristiger Alkoholkonsum dagegen dämpft die sexuelle Lust auf Dauer. Das hängt mit einigen biologischen Faktoren zusammen. Insbesondere das im Limbischen System des Gehirns liegende Gebiet, in dem die angenehmen Empfindungen aus dem Körper zusammenfließen, wird durch viele Suchtstoffe „unempfindlich“ für Genüsse. Der unglückliche Begriff des „Belohnungssystems“ verschleiert die vielfältigen Genüsse, die etwa mit Erotik zusammenhängen, von den Schmetterlingen im Bauch über die anregende Wirkung von Blicken, die Zärtlichkeit, das Gefühl der Zusammengehörigkeit und natürlich die differenzierten Gefühle der Sexualität bis zum Orgasmus.

Wenn chronischer Alkoholkonsum das Limbische System verändert hat, kann die Freude an der Sexualität, die Libido, sehr eingeschränkt werden. Man könnte vielleicht sagen, dass der Alkohol und andere Drogen die Sensibilität des Empfindens verringern. Es braucht stärkere Reize, um Wohlbefinden auszulösen. Im Genusstraining haben sich die Rehabilitanden über Düfte oder feine Geschmacksnuancen häufig lustig gemacht, weil sie die Unterschiede nicht wahrnehmen konnten. Die feinen Signale sind es aber auch bei der Sexualität, die die Bereitschaft und Vorfreude über das Limbische System bahnen.

In der Abstinenz das Genießen neu erlernen

Es gibt Potenzprobleme, unter denen Männer oft sehr leiden, wenn sie einen nicht geringen Teil ihres Selbstwerterlebens aus der Stärke ihres Glieds beziehen. Das muss aber nicht so bleiben, wenn sich Betroffene darüber klar sind, dass mit der Abstinenz auch das Genießen wieder erfahren und gelernt werden muss. Dazu gehört auch die Bereitschaft, Genuss neu zu verstehen: Es gibt dann keine Dauerentlastung von unangenehmen Empfindungen, keinen giftigen „Dauerorgasmus“ mehr, sondern eher den Genuss aus den Gegensätzen: Nur wer das Gefühl des Hungers gespürt hat, kann den Genuss des Sattwerdens erleben. So paradox es klingt: Wer dauernd isst, wird nicht satt.

„Er steht wieder, jetzt fehlt nur noch `ne Frau“, sagte einmal ein Rehabilitand in der Klinik. Er lebt in der Erwartung, dass etwas passiert, auf ihn zukommt. Er hat nicht mehr das Gefühl der Selbstwirksamkeit, dass sich etwas ändert, wenn er etwas tut.

Die Funktionsfähigkeit des Limbischen Systems ist sehr komplex. Sie wird von biologischen und seelischen Komponenten beeinflusst. Deshalb lässt sich auch kein Zeitraum angeben, wann nach dem Abstinenzbeginn das Genießen wieder einigermaßen funktioniert. Die zur Sexualität gehörenden physiologischen Vorgänge unterliegen ohnehin noch vielen anderen Einflüssen des Körpers. Diesen ist man aber nicht völlig hilflos ausgesetzt, sondern kann sie positiv beeinflussen.

In partnerschaftlichen Beziehungen muss die Kommunikation über Sexualität nicht ausschließlich unter die Gürtellinie gehen. Vielleicht ist es ungewohnt, aber das Gespräch über die gegenseitigen (geheimen) Wunsche und Vorlieben kann Störungen des sexuellen Miteinanders auflösen oder mildern. Manche mögen auch den verbalen erotischen Austausch, andere Menschen bevorzugen „dirty speaking“, wieder andere belassen es bei Zärtlichkeiten und einigen sich über die Art und Weise des Beisammenseins.

Ja, es gibt auch potenzfördernde Medikamente, die viele Urologen den Männern rasch bei Erektionsproblemen verordnen. Solche Substanzen wirken dann häufig schnell, lösen aber das Problem nicht. Für Frauen gibt es ohnehin kaum ungefährliche Substanzen neben der Gabe von Hormonen. Das sind Lösungen, die auf Dauer nicht tragfähig bleiben. Zudem: Wollen wir wirklich Sexualität auf Abruf? Außerdem greifen die Nutzer solcher Möglichkeiten wieder in die Physiologie ihrer Sexualität ein und verhindern die Normalisierung des hormonellen Rhythmus.

Das sexuelle Sahnehäubchen musst du dir erspüren

In der nachsüchtigen Lebensgestaltung geht es auf vielen Gebieten eher um geduldige Aktivität. Die Zeit der passiven Wunscherfüllung ist dann vorbei. Die Hinwendung zur Realität umfasst auch die Akzeptanz der eigenen Empfindungen. Es gibt so viele Formen der Sexualität wie es Menschen gibt und keine Norm quantitativer Sexualität. Daher lohnt es sich, sich seiner eigenen sexuellen Orientierung, seiner Wünsche und Bedürfnisse bewusst zu werden. Wer mit wenig sexueller Aktivität zufrieden ist, lebt kein schlechteres Leben als jemand mit starken sexuellen Bedürfnissen.

Zum Wiedergewinnen sexueller Lust kann es gehören, sie sich allmählich wieder anzueignen. Das bedeutet praktisch, dass nicht jede erotische Situation zum Orgasmus führen „muss“. In einer Partnerschaft gibt es immer wieder gute Gelegenheiten, den anderen und sich selber zu erkunden, die Wünsche und Empfindungen kennen zu lernen. Man kann das Zusammensein, die Zärtlichkeit, eine gute erotische Atmosphäre und die Sexualität in den einzelnen Bereichen genießen und als Ganzes erleben, ja man kann es vielleicht als wohltuendes Erlebnis beim gegenseitigen Blick in die Augen wiederbeleben.

Manche Menschen, die das Gefühl haben, sie seien wie ein Sieb und können nichts (be-)halten, können so üben, sich zu erspüren und nachhaltig zu genießen: Die Erinnerung wird wach, wenn man sich Koseworte zuflüstert oder vielleicht sogar beim gemeinsamen Einkauf spürt, wir gehören zusammen. So kann Sexualität aus der Sonderrolle herauskommen und sich als Teil des umfassenden Lebensgefühls integrieren. Diese Entwicklung bedarf der Geduld, die man zu zweit leichter aufbringen kann, wenn man sich darüber immer wieder verständigt.

Das ist nicht suchtspezifisch. Insbesondere in Beziehungen zwischen Frau und Mann hilft das Reden über die gegenseitigen Bedürfnisse, weil die Geschlechter tatsächlich deutlich unterschiedlich empfinden. Generell kann man davon ausgehen, dass Frauen wechselnde Phasen von Lust und Zärtlichkeitsbedürfnis haben und Männer eher stets sexuell aktiv sind. Dazwischen gibt es jedoch äußerst differenzierte Variationen, weswegen auch gleichgeschlechtliche Partnerinnen und Partner nicht davon ausgehen können, dass die oder der andere ebenso empfindet wie sie oder er.

Die geheimen Wünsche

Beim gegenseitigen Entdecken wird man auch auf die Schätze der Vielfalt von Praktiken stoßen. Wenn die Art der Sexualität niemandem Schaden zufügt, kann sie die Lebensqualität wunderbar erhöhen. Mit wachsendem Vertrauen dürfen dann auch geheime Wünsche ausgetauscht werden. Hier kommt es wieder darauf an, sich gegenseitig zu respektieren. Gerade Süchtige haben gelegentlich die Vorstellung, andere Menschen empfinden ebenso wie sie. Deshalb müsse man gar nicht so viel reden. Wenn man es aber probiert, lernt man bereichernde andere Empfindungs- und Denkweisen kennen – nicht nur auf dem Feld der Sexualität.

Eine partnerschaftliche Beziehung ist ein guter Nährboden für befriedigende Sexualität. Der beschriebene Umgang mit gegenseitiger Sexualität ist eine Verbindung, mit der sich Beziehungen stabilisieren. Mit den Jahren entwickelt man sich in eine Phase, in der möglicherweise aktive Sexualität nicht mehr so eine entscheidende Bedeutung für die Lebensqualität hat wie das Gefühl der Zusammengehörigkeit, etwa in der Elternzeit, nach Operationen, aber auch manchmal mit zunehmendem Alter. Sexualität ist ja auch keine Pflichtleistung, sondern eine Lebensqualität, die durch andere Sinnesgenüsse abgelöst werden kann.

Sex an und für sich

Einige Menschen mit süchtigem Verhalten machen die Erfahrung, dass ihnen die Gestaltung und Erhaltung einer Partnerschaft nicht gelingt. Sie entscheiden sich für ein Leben in Eigenverantwortung, ohne die Verbindlichkeiten der Zweisamkeit. Das kann nach reiflicher Abwägung eine abstinenzerhaltende Entscheidung sein. Was machen diese Singles mit ihrer Sexualität?

Es würde das Thema erheblich erweitern, wenn wir hier erörtern würden, warum jemand diese Lebensweise wählt oder aber auch keine andere Wahl hat. Daher beschränken wir uns auf die Sexualität: Viele Aspekte entsprechen der Sexualität zwischen Partnern, insbesondere die beschriebenen Gedanken zur Genussfähigkeit.

Singles sind stärker als Paare mit dem Thema der Selbstbefriedigung konfrontiert. Auch bei dieser Art der Sexualität kann man sich kennenlernen, darauf achten, dass es ein Erlebnis wird und nicht lediglich eine notwendige gelegentliche Spannungsabfuhr. Auch dabei kann süchtiges Verhalten auftreten und den Spannungsbogen zerstören. Es gibt aber auch die Möglichkeit des liebevollen Umgangs mit sich selber, der Erzeugung einer guten Atmosphäre und des Genusses durch Schaffung einer Spannung. Zwischen dem Erleben des Bedürfnisses und der Sexualität selber gibt es Raum und Zeit für Vorfreude und Phantasie.

Manchen Menschen gelingt es auch, Sexualfreundschaften zu pflegen, also gemeinsamen Sex zu haben ohne umfassende Beziehung. Das „Pflegen“ spielt dabei eine besondere Rolle, weil wir in unseren Lebensvorstellungen fast alle die Sexualität mehr oder weniger intensiv mit umfassenderer Beziehung verbinden. Deshalb entstehen dann oft Erwartungshaltungen, deren Enttäuschung vorhersehbar ist. Aufmerksamkeit ist auch bei dieser Konstellation wichtig, wenn es nicht zu „abhängigen“ und eventuell missbrauchenden Beziehungsgestaltungen kommen soll.

Die Freunde des „One-night-stands“ verfügen häufig über eine gute Portion Annäherungsfähigkeit und klagen vermehrt über ein schales Gefühl. Ein solches Arrangement kann sexuell befriedigend sein, ist aber mit einem hohen Risiko der Enttäuschung und den Nebenwirkungen der Sexualfreundschaften verbunden.

Sex gegen Bares

Der Erwerb käuflicher Liebe ist nicht nur ein Singlethema. Auch hier entfallen bei unserer Beschäftigung mit Sexualität wichtige Aspekte, die wir wenigstens als Fragen benennen wollen: Wie denke ich ethisch über das (Ver-)Kaufen von Sexualität? Habe ich Achtung vor dem Sexarbeiter? Gibt es andere Möglichkeiten zu gemeinsamem Sex ohne die Verbindlichkeit einer Beziehung? Die Beschäftigung mit diesen und anderen Fragen hat Einfluss auf die Art und Weise, wie unsere Seele diesen Genuss verarbeitet. Dabei geht es tatsächlich mehr um die Sorgfalt – heute spricht man auch von Achtsamkeit (als wäre sie neu erfunden worden) – mit sich und anderen, als um eine allgemeine Moral.

Anregend wirkt für manchen Menschen auch die Beobachtung sexueller Aktivität und Erotik. Zeitgemäße Medien bieten dafür die Möglichkeit, leicht an Material zu kommen, um Sexualität zu sehen. Pornografie ist eine Erscheinungsform, von der behauptet wird, 80 Prozent der Männer würden sich ihrer „erektiv“ bedienen. Auch der Umgang mit diesem Angebot wirft einige Fragen auf: Tun die Akteure das freiwillig und selbstbestimmt? Wozu muss ich mich anregen? Warum warte ich nicht, bis mein eigener Wunsch oder ein möglicher Partner Anregung genug ist?

Sex mit Kontrollverlust und ohne Lust

Oder benötige ich immer mehr und mehr Sex, um zur Befriedigung zu gelangen? Es gibt Menschen, die sich ständig sexuell stimulieren müssen und ihr Verhalten wie in einer zweiten Welt abseits der Realität leben. Dann ist Sexualität selber zur Sucht geworden, manchmal auch im Sinne der Suchtverlagerung. In Fällen des Kontrollverlustes ist der Weg in die Selbsthilfe oder zu professioneller Behandlung dringend anzuraten.

Viele dieser Themenbereiche lassen sich schwer alleine klären. Deshalb ist es günstig, sich Menschen zu suchen, mit denen man vertrauensvoll in eine Auseinandersetzung mit diesen Themen kommen kann. Gelegentlich finden sich Selbsthilfegruppen, denen eine solche Gesprächskultur gelingt. Manchmal helfen auch Seelsorger, ein Arzt oder ein Psychotherapeut, um spezielle Fragestellungen zu klären wie hormonelle, andere biologische Störungen, seelische Belastungen wie sexuelle Wünsche, die gesellschaftliche oder ethische Tabuzonen betreffen oder die Unsicherheit über die eigene sexuelle Identität. Manche Menschen merken eine Parallelität zwischen sexueller Aktivität oder deren Versagen und ihrem Selbstwertgefühl.

Prävention und Sexualität

Haben Menschen mit süchtigen Verhaltensweisen generell eine andere Sexualität? Ja, weil Sucht und deren seelische und biologische Hintergründe den ganzen Menschen betreffen, wie wir sehen konnten. Und: Nein, weil die Aneignung einer befriedigenden und würdigen Sexualität Chance und Problem aller Menschen ist.

Sexualität als Teil der Lebensqualität scheint präventive Möglichkeiten im Umgang mit einer Krankheit zu bieten, die Betroffene lediglich zum Stillstand bringen können. Die offensive Gestaltung des abstinenten Lebens bietet Chancen, sein Leben so zu bewältigen und zu genießen, als habe man die Erkrankung nicht. Das betrifft eben auch den Umgang mit Sexualität.

Sex und Liebe – Liebe und Sucht

Kann man über Sexualität sprechen, ohne die Liebe zu erwähnen? Diese Perspektive auf die Sexualität eines süchtigen Menschen eröffnet ein neues Kapitel – des Zusammenhangs von Sucht und Liebe. „Was soll ich über die Liebe sagen, da ich mich selber fast zerstört habe“, äußerte ein kluger Betroffener, als es um Beziehungen ging. Er hielt sich nicht für fähig, sich einem anderen Menschen so zuzuwenden, dass dahinter sein Egoismus zurücktritt und seine starke Zuneigung aus der Selbstachtung kommt.

Sicher, er hat offensichtlich einen hohen Anspruch. Aber hat er nicht auch einen guten Blick darauf, dass seine Krankheit ein Beleg dafür ist, dass er zumindest sich selber nicht geliebt hat. Liebe ist sicher nicht die Dankbarkeit für die Zuwendung eines anderen. Für ein Kind mag das sogar stimmen, weil die Mutter oder eine andere enge Bezugsperson die Liebe bedingungslos schenkt.

Liebe und Sexualität haben sicher Überschneidungspunkte, sind aber wohl eher Themen, die nicht in einem direkten Zusammenhang stehen müssen.

Let’s talk about…

In diesem Artikel wird darauf verzichtet, die neurophysiologischen Zusammenhänge und die hormonellen Regelkreise wissenschaftlich korrekt zu beschreiben. Sie sind die körperlichen Begleiterscheinungen gelebter Sexualität. Es soll nicht der Anschein erweckt werden, Sexualität sei eine reine Funktion der Biologie. Das unterscheidet uns von den Tieren. Bei uns geht der Sex durch den Kopf. Oder anders formuliert: Die gewählte Sexualität ist eine Frage unserer Einstellung dazu. Der Tabubruch, den Mantel des Schweigens zu lüften, kann helfen, sich und andere zu finden. Dass Taktgefühl dabei hilfreicher ist als Exhibitionismus in der Kommunikation, versteht sich – wenn auch nicht von selbst.

Dieser Beitrag stellt keine wissenschaftliche Expertise zur Sexualität Süchtiger dar, sondern ist als Versuch zu verstehen, Menschen über Widerspruch und Zustimmung zum Nachdenken anzuregen. Vielleicht erfühlt sich der eine oder andere eine Haltung zu diesem Tabuthema, das längst keines mehr ist. Es gibt die Ehe für alle – vielleicht ein Signal für eine verantwortliche Freiheit. Auch für dieses Thema gilt: Es ist alles erlaubt, wenn die Grenzen der Würde des anderen und Deiner selbst gewahrt bleiben.

Die Kernsätze:

  • Genussfähigkeit braucht den Wechsel von Anspannung und Entspannung
  • Kurzfristig regt Alkohol an – auch die Sexualität
  • Langfristig hemmt Alkohol die Genussfähigkeit – auch die Sexualität
  • Genussfähigkeit lässt sich durch geduldiges Erspüren der eigenen Wünsche und die des Partners aneignen
  • Die geheimen Wünsche gehören in das intime Gespräch
  • Selbstbefriedigung kann eine Form individueller Sexualität sein – auch Rückfallprävention
  • Sexualität und Liebe haben (nicht immer) miteinander zu tun
  • Eine verantwortliche selbstbestimmte Sexualität ist frei(er als mancher denkt)
  • Die Würde des Menschen und seine Sexualität stehen in Verbindung