TrokkenPresse 06/23: Komm einfach her!

Die 6-Wochen-Therapie in der Anonyme Alkoholkrankenhilfe Berlin (AKB e.V.)

Komm einfach her!

Für alkoholkranke Menschen in Berlin ist der AKB ein fester Begriff. Ein Synonym für Hilfe in der größten Not. Für ein tägliches Zuhause, ob in der 6-Wochen-Therapie oder auch länger, wenn man will. Viele hunderte Menschen wurden dort in über 48 Jahren des Bestehens für immer trocken, weil sie neu zu leben lernten, in Gemeinschaft mit anderen Gleichgesinnten. Das Besondere und wohl bundesweit Einzigartige: Es ist ein reines Selbsthilfeprojekt. Es gibt weder Ärzte, Therapeuten noch Sozialarbeiter. Weder langwierige Antragstellungen noch monatelanges Warten auf einen Platz. Hier helfen Betroffene Betroffenen. Sofort. An sieben Tagen jeder Woche, von 9 bis 21 Uhr, ist jemand da …

Ein einfaches Einfamilienhaus in einer kleinen, ruhigen Straße, zwischen Botanischem Garten und Dahlem-Dorf. Der Garten grünt noch, durch die Bäume und Sträucher lugen ein Grillhäuschen und ein großer Gartentisch hervor. Auf der Terrasse sitzen und unterhalten sich Leute im Herbstsonnenschein, eine Mugge läuft von irgendwo. Durch die offene Tür Geschirrklappern.

So pirsche ich mich nämlich erstmal außen am Zaun entlang und gucke. Und das haben wohl vor mir schon viele Alkoholkranke so getan, vor diesem ersten großen Schritt dann hinein ins Haus und damit in einen Neustart des Lebens …

Die Gartenpforte ist unverschlossen, die Haustür mit Willkommensgruß ebenso. Man geht einfach hinein. So ist das hier. Ich stehe im Flur und alsbald spricht mich auch jemand sehr freundlich an: „Wie kann ich Dir helfen?“ Ich fühle mich wirklich willkommen. Sogar zum Mittagessen werde ich eingeladen, in den großen Raum mit den Tischen in U-Form. Als würde ich jetzt dazugehören. Heute gibt es Schnitzel. Heiner hat gekocht. Nach dem Essen und einem Dankeklopfen für den Koch räumen einige der Tagesgäste die Teller in die Küche, waschen ab, wischen die Tische wieder rein. Jeder weiß, was zu tun ist. Es erinnert ein bisschen an das Leben in einer Großfamilie. Und Manfred, er hat noch den Wischlappen in der Hand – er ist schon über sechs Wochen täglich hier seit einem Rückfall – sinnt nach und sagt: „Jedes Mal, wenn ich hier durch die Tür komme, ist es wie Magie für mich. Die ganzen schlechten Dinge bleiben irgendwie draußen. Ich werde freundlich begrüßt, von Leuten, die auch verstehen, was ich sage und meine …“

Heiner, seit sieben Jahren trocken, kocht und kauft aber nicht nur für alle Mahlzeiten ein: Er ist der Suchthilfekoordinator des Vereins. Meist der erste Ansprechpartner, ob ein Hilfesuchender anruft oder einfach vor der Tür steht. Er und Gaby vom Vorstand des Vereins, sie ist seit 23 Jahren abstinent, leiten mich für unser Interview die Treppe nach oben, in eins der zwei Zimmer, die den Tagesgästen in ihrer Freizeit zur Verfügung stehen …

Wenn ich jetzt zum Beispiel einen Rückfall hätte, also in Not wäre, weder ein noch aus wüsste …

Gaby: Einfach anrufen oder gleich herkommen!

Heiner: Wir sind von 9 bis 21 Uhr da, auch sonntags, feiertags. Wir warten auf Leute wie dich. Komm rein, setz dich hin, hör zu, sprich mit uns, wir schauen gemeinsam, welche Hilfe du brauchst. Und du kannst hier sofort anfangen mit der 6-Wochen-Therapie …

Sofort anfangen?

Heiner: Wenn du die sechs Wochen lang teilnehmen willst, lässt du dich zuerst von deinem Hausarzt krankschreiben. Du bist ja krank, du bist süchtig, du willst deine Sucht bekämpfen. Dann geht es los, Von morgens 9 Uhr bis 21 Uhr bist du dann täglich hier.

So lange, bis 21 Uhr?

Heiner: Ja, das ist gerade wichtig! Wir möchten dir einen Rahmen schaffen, indem du einen Schutzraum hast. Die meisten Betroffenen sitzen doch nach der Arbeit zuhause und trinken dann wieder.

Gaby: Und du sollst so auch wieder einen geregelten Tagesablauf finden. Schon durch die Mahlzeiten hier bei uns, Frühstück, Mittag, Abendbrot.

 Wie läuft denn so ein Tag ab?

Heiner: Wir decken morgens gemeinsam den Tisch, nach dem Frühstück wird das Haus erstmal ein bisschen saubergemacht, 10 Uhr beginnt die Morgengruppe. Mit einem Vereinsmitglied, der ein Thema mit den Leuten bearbeitet. Zum Beispiel „Alkohol am Arbeitsplatz“, „Rückfallprophylaxe“, „Alkohol und Beziehungen“ usw. Das geht bis 12 Uhr. In der Zeit mache ich Beratungen, Bürokram und Mittagessen. 12.30 Uhr ist Mittag, dann Freizeit. Ob mit Mittagsschlaf, Laub harken, malen, lesen, freiwilliger Gartenarbeit, mit Gesprächen untereinander oder nach einer Eingewöhnungszeit auch Spaziergängen im Botanischen Garten. Oder jemand hat Arzttermine oder anderes zu erledigen. Du lernst hier wieder, wie Leben ohne Alkohol funktioniert, entdeckst dich neu. 17 Uhr gibt’s Abendbrot. Um 19 Uhr die Abendgruppe, eine offene Selbsthilfegruppe, zu der jeder, der ins Haus kommen will, kommen kann.

Wer leitet die Gruppen?

Heiner: Langjährig trockene Vereinsmitglieder, wir haben sieben Gruppensprecher hier im Haus, aber auch noch 20 AKB-Gruppen in verschiedenen Stadtteilen. Die ersten zwei Wochen erwarten wir, dass sich die Therapie-Teilnehmer alle Gruppen hier angucken, und dann können sie auch Außengruppen besuchen.

Warum ist euch das mit den Gruppenbesuchen so wichtig?

Heiner: Mir als Süchtigem soll bewusstwerden, dass eine Selbsthilfegruppe für mich ein MUSS ist, weil ich dort über meine Probleme reden kann, statt sie zu ertränken.

Kann ich in den sechs Wochen auch mal wegbleiben, wenn ich mal keinen Bock habe oder einen Rückfall?

Heiner: Du unterschreibst zu Beginn unsere Teilnahmebedingungen. Darin verpflichtet sich der „Therapist“, sechs Wochen lang von 9-21 Uhr teilzunehmen, an sieben Tagen der Woche. Darin steht auch, dass wir bei einem Rückfall die Therapie beenden müssen. Wir sind zwar immer noch mit den Gruppen und mit Gesprächen für dich da, aber du musst ja erstmal wieder zu dir finden, entgiften. Wenn es dir wichtig ist, abstinent zu leben, dann kommst du wieder. Wenn wir Rückfälle nicht ausschließen würden, müssten wir andauernd mit Rückfällen leben, es wäre für die Leute egal, ob sie rückfällig werden. Ein Rückfall kann passieren, sollte aber nach Möglichkeit nicht stattfinden.

Gaby: Aber wenn du nicht kommen kannst, weil du Migräne oder sonst was hast, rufst du an, dann wissen wir Bescheid, gut wäre ein Nachweis vom Arzt. Man muss also auch nicht mit Schnupfen oder Husten herkommen.

Ist eine Entgiftung Voraussetzung?

Heiner: Das Suchtmittel sollte schon aus dem Körper ausgeschwemmt sein. Es kann sonst hier zu medizinischen Notfällen kommen, die wir nicht beherrschen können, ich bin kein Arzt. Dafür gibt es Entgiftungsstationen.

Gaby: Aber die Plätze sind weniger geworden. Wir wollten hier gerade zwei Leute ins Krankenhaus bringen, aber die kriegen keinen Platz. Sie müssen jeden Tag um 7 Uhr anrufen und wenn du eine Woche lang warten musst, dann ist das gefährlich, der Arzt rät dann meist zum Weitertrinken. Das ist so ein Ding, wenn ich mich schon dazu durchgerungen habe, nicht mehr zu trinken. So werden die Menschen in der Sucht gehalten. Wir versuchen zu helfen, aber uns sind da die Hände gebunden.

Wer genau findet den Weg hierher?

Gaby: Sie kommen aus ganz Berlin. Vom Professor, Arzt, Polizisten, Feuerwehrmann, Lehrer über Pfleger bis zum Straßenfeger. Ein ganz klarer Durchschnitt der Bevölkerung. Und die Leute sind jünger als früher, sogar schon mit Mitte 20 kommen sie her, meist polytox.

Heiner: Alkohol ist bei den Jüngeren eher das Begleitmittel von anderen Drogen heute. Es gibt wenig reine Alkoholiker.

Habt ihr eine Art Therapieziel, außer dem, dass jemand trocken bleibt?

Heiner: Ich möchte, dass es für die Leute selbst hier IHR Ziel wird, trocken zu leben. Und dass sie Hilfe zur Selbsthilfe anzunehmen lernen. Ich kann niemandem garantieren, wenn er nach den sechs Wochen geht, dass er geheilt ist. Aber ich kann jedem garantieren, dass, wenn er weiter in Gruppen geht, das Rückfallrisiko geringer ist. Weil er da die Möglichkeit hat, über das Problem, was ihn gerade triggert, zu sprechen.

Gaby: Ja, auch dass sie ein Zugehörigkeitsgefühl entwickeln …

Heiner: Wir wollen hier zeigen, wie wichtig es ist, im Kontakt mit anderen Betroffenen zu sein. Als Süchtiger habe ich gedacht, ich bin der Einzige, der zu blöd ist, mit der Sauferei aufzuhören. Jeder denkt, er sei alleine. Aber alleine kann man nicht aufhören. Gemeinsam aber stärken wir uns. Das ist Selbsthilfe. Man achtet aufeinander und sogar Freundschaften entstehen …

Gaby: … das ist wichtig, denn die alten Saufkumpane muss man vergessen. Es entwickelt sich hier so eine Art Heimatgefühl.

Heiner: Und wir versuchen, dass du hier begreifst: Selbsthilfe ist mein Anker im Leben. Wenn mal gar nichts mehr greift, ich mit niemandem reden kann, dann ist irgendwo eine Selbsthilfegruppe, wo ich mich zuhause fühlen kann.

Ich habe gehört, früher war der Ton hier sehr rau und deftig …

Gaby lacht: Wann haste denn das gehört, anno dutz? Aber das stimmt. Das war früher so, da hatten wir eine ganz andere Klientel als heute. Als ich hergekommen bin, saßen da so 100 Jahre alte Knastleute, der Ton war so herrschsüchtig, dass ich dachte, hier bleibe ich nicht. Da konnten die Neuen sagen, was sie wollten, die sind denen immer in die Parade gefahren und das verängstigt, man nimmt sich zurück und sagt gar nichts mehr. Aber das ist lange her. Im Laufe der Zeit haben wir daraufhin gearbeitet, dass sich der Ton ändert, dass man normaler miteinander umgeht.

Heiner: Ich denke, das war ein Spiegel der Gesellschaft, früher war der Ton generell rauer. Selbsthilfe ist immer ein Spiegel der Gesellschaft. Heute wird eher versucht, alles zu umschiffen. So, wie die Gesellschaft draußen weicher geworden ist, schlägt sich das auch im AKB nieder. Das geht heut nicht mehr: Ich geb dir eins auf die Fresse, wenn du mir blöd kommst …

Gaby: … in den Außengruppen kann das schon noch mal passieren …

Heiner: Wir finden es jedenfalls wenig hilfreich, angemotzt zu werden, wenn man trocken werden will, da muss man schon mal einen guten Mittelweg finden, denn zu liebevoll sein hilft auch nicht. Wir stellen uns heutzutage mehr auf die Klienten ein, mit mehr Empathie.

In Anonyme Alkoholikerhilfe stecken die Worte Anonyme Alkoholiker, AA, ist das Absicht?

Gaby: Vor 48 Jahren gründete sich der AKB aus einer Splittergruppe der AA, daher der Name.

Heiner: Bei uns geht es heute nicht um Religion, nicht um Politik oder Sport, sondern es geht um unsere Sucht hier. Und viele haben Probleme mit Gruppen, die religiöse Ansätze haben. Deshalb hatten wir uns als AKB zusammengefunden.

Kommen wir mal noch zum Geld: Was muss ich als Therapist bezahlen?

Heiner: 50 Euro Kostgeld pro Woche für die Mahlzeiten. Weiter nichts.

Und wie finanziert ihr dann das Haus, euch selbst usw.?

Heiner: Das Haus haben wir zu günstigen Konditionen als Selbsthilfegruppe angepachtet, es ist Erbpacht. Wir sind zurzeit durch Krankenkassenförderung und Pep-Zuwendungen (Psychiatrieentwicklungsprogramm, d.Red.) vom Bezirk finanziert, z.B. meine 30-Stundenstelle als Berater. Ansonsten ist das alles Eigenleistung, durch den Verein, den Förderverein und Spenden. Auch in den Außengruppen geht ein Hut rum. Gut betuchte Mitglieder kaufen auch mal ein, wenn etwas gebraucht wird. Aber es ist sehr viel ehrenamtliches Engagement dabei.

Gaby: Wir selbst sind in den Zeiten da, in denen der Ehrenamtler normal arbeitet und abends kommen dann die ehrenamtlichen Gruppensprecher. Bei uns guckt keiner auf die Uhr, von früh bis abends und ohne die Ehrenamtlichen könnten wir das alles gar nicht leisten. Ein großes Danke mal an alle!

 

Für das Gespräch bedankt sich Anja Wilhelm

TrokkenPresse 05/23: Angst und Sucht

Angst und Sucht

Trinke ich zu viel, weil ich unter Ängsten leide? Oder entwickle ich Ängste, eben weil ich zu viel trinke? Dass ein Zusammenhang zwischen beidem besteht, daran gibt es kaum Zweifel: Wie statistische Erhebungen belegen, leben etwa 14 Prozent der deutschen Erwachsenen mit einer Angststörung, ob mit Panikattacken, Furcht vor Menschen, engen Räumen oder in ständig überhöhter Sorge. Und bei zehn Prozent dieser Menschen wird auch eine Alkoholabhängigkeit festgestellt. Die TrokkenPresse wollte mehr über den Zusammenhang wissen und sprach mit Dr. med. Andreas Dieckmann, Arzt für Neurologie und Psychiatrie/Psychotherapie/Psychoanalyse/Sozialmedizin.

Aus Erfahrungen, Studien und eigenem Leid wissen wir, dass suchterkrankte Menschen oftmals auch unter verschiedenen Ängsten leiden …

Dr. Dieckmann: Das wundert mich nicht. Wer würde schon über das Maß des (V-)erträglichen hinaus auf Dauer ein Suchtmittel in sich aufnehmen, wenn er gleichzeitig feststellt, dass es ihm erheblichen Schaden zufügt – zwischenmenschlich, in der Leistungsfähigkeit und gesundheitlich? Forschende haben schon vor langer Zeit festgestellt, dass hinter einer Suchterkrankung fast regelmäßig ein seelisches Problem steht, das die Lebensqualität erheblich einschränkt. Wir nennen das eine „Grundstörung“. Alkohol etwa hat da oft die Wirkung eines allumfassenden Hilfsmittels. Das beruhigt den eher Aggressiven, aktiviert den Gehemmten, löst Ängste. Die Droge stabilisiert in der Zeit der aktuellen Wirkung sogar das Selbstwertgefühl. Trinkende Menschen lernen dann, wie und wann bei ihnen welche Wirkung eintritt. Das können sie dann (fast) perfekt steuern.

Betroffene haben eher den umgekehrten Eindruck: Erst kommt das Trinken. Und dann die Angst, als eine der biopsychosozialen Folgen …

So erleben viele suchtkranke Menschen das, weil sie schnell gelernt haben, dass manchmal kaum gespürte Unbehagen zu mildern. Der gescheiterte Versuch der Selbstheilung mit dem Wundermittel endet ja leider meist im Desaster: Die ideale Substanz hat die „Nebenwirkungen“ des geistigen, körperlichen und sozialen Zerfalls. Deshalb kann man sich außer den körperlichen und sozialen Problemen tatsächlich auch eine seelische Störung „antrinken“. Ausgangspunkt ist aber zumeist eine im Hintergrund schwelende psychische Problematik, die den Betroffenen gar nicht bewusst sein muss.

Das heißt, so wie bei mir beispielsweise: Ich wusste nichts von meiner Angststörung, sondern ich habe mich mit Alkohol nur einfach viel leichter und endlich mal ohne den ständigen Druck von Sorgen gefühlt?

Ja. Sie oder er beginnt mit dem „einen“ Entspannungsbier und landet in der Gewohnheit bis zum Kontrollverlust. Allerdings entwickeln nur etwa zwei bis drei Prozent der Bevölkerung eine manifeste Suchterkrankung. Da gibt es dann so etwas wie eine Spirale: Das Trinken lässt allmählich Schmerz, aber auch Angst und Konflikte verschwinden. Es kommt zur Gewöhnung und zur Dosissteigerung, um die volle Wirkung zu erhalten. Natürlich bleiben dann – meist für andere schneller – erkennbare dauerhafte Schäden nicht aus. Paradoxe, aber verständliche Folge ist der Versuch der weiteren Dosissteigerung. Er ist, wie wir wissen, zum Scheitern verurteilt. Die dauernde Verleugnung der eigenen Situation ist den meisten Abhängigen lange nicht einmal bewusst. Sie leben, wer weiß das besser als Ihre Leser, in einer anderen Welt und ein „unbelebter“ Stoff, wie es ein Kollege beschrieben hat, wird zum Partnerersatz, der scheinbar nur gibt und nichts fordert.

Aus all dem, was Sie Grundstörung genannt haben, interessiert uns aktuell vor allem die Angst.

Ich bin gelegentlich froh, mit Ängsten konfrontiert zu sein. Die Angst, auf der Straße überfahren oder in der Nacht Opfer eines Überfalls zu werden, ist mir nicht unangenehm. Sie hilft mir, aufmerksam zu bleiben und die notwendigen Maßnahmen zu treffen, mich vor einer Gefahr zu schützen. Ich durfte einmal einen alkoholkranken Patienten ein Stück des Weges seiner Genesung therapeutisch begleiten, der k e i n e Angst erleben konnte. Dafür wurde er von den Mitpatienten beneidet. Aber neben dem Genuss für die Bewunderung der anderen konnte er in ruhigen Stunden Geschichten erzählen, wie er in große Schwierigkeiten gekommen war, w e i l er keine Signalangst verspüren konnte. Angst ist also zunächst nicht krankhaft. Es gibt andererseits sogar die Lust an der Angst – im Sport, auf dem Jahrmarkt oder bei bestimmten sexuellen Praktiken.

Wie entsteht die Angst denn eigentlich?

Kleine Kinder gewinnen ihr Selbstbewusstsein durch eine verlässliche Bezugsperson, meist die bedingungslos liebende Mutter. Sie gibt dem Kind Sicherheit durch fast stetige Anwesenheit, bis das Kind die Gewissheit kennt, dass die Mutter immer wiederkommt. So können dann auch längere Phasen allein verbracht werden – ohne das Gefühl der Verlassenheit und der damit verbundenen Angst und Panik. Auch die Phase des „Fremdelns“ hat eine wichtige Funktion, nämlich bei jeder neuen Bekanntschaft zu prüfen, ob sie „gefährlich“ oder freundlich ist. Wovor das Kind sich fürchten sollte, lernt es ebenfalls von der Mutter. So dient die Angst dem Schutz des heranwachsenden Kindes. Not wendende Angst entsteht aus dem Erkennen des Unbekannten, um nicht in Gefahr zu geraten.

Dann wäre ja Angst gar nichts Krankhaftes?

Schön wär‘s. Aber Sie haben meiner Ansicht nach recht: Die Signalangst und die Furcht vor der Gefahr sind möglicherweise überlebenswichtig. Es gibt aber eben auch irrationale Ängste, etwa bei Menschen mit einer „generalisierten Angsterkrankung“, die zunächst Ängstlichkeiten entwickeln, die sich allmählich verstärken und verfestigen. Der Mensch wird zunehmend verunsichert und erlebt Angst und sogar die Angst vor der Angst bis in das Körperliche hinein. Solche Menschen haben in ihrer Entwicklung oft die innere Sicherheit nicht erlangen können, sich Schutz zu holen oder sich selbst zu beschützen. Solche Zustände treten auch auf, wenn es ein zunächst verdrängtes – also nicht bewusst erinnerbares – bedrohliches Trauma gab, dessen Angstgefühle dann im Erwachsenenalter erlebt, aber nicht verstanden werden, weil das Unbewusste die Erinnerung nicht freigibt. Spektakulär, aber in Gegenden mit zivilisierten Verhältnissen seltener sind akute Traumata, die ebenfalls das Grundgefühl einer eher inneren Sicherheit zerstören. Das kann entweder zu einer „Gefühllosigkeit“ oder einem Panikerleben führen.

Außerdem gibt es die Vermeidungsängste (Phobien). Wir kennen aber auch Zwangsängste, bei denen Furchtbares befürchtet wird, wenn man nicht bestimmte Handlungen vollführt. Weiterhin gibt es Ängste bei Depressionen, Schizophrenien und Borderlinestörungen und natürlich auch Ängste vor und bei körperlichen Erkrankungen und vor Schmerzen. Schließlich können auch Hirnerkrankungen große Ängste auslösen.

Viele Ängste kann man heute verstehend nachvollziehen wie im folgenden Beispiel die phobische Angst einer begüterten, aber nicht glücklichen Ehefrau und Mutter, die zuvor beruflich erfolgreich war, die aber nun das Haus nur noch in Begleitung ihres Mannes angstfrei verlassen konnte. Während einer Therapie stellte sich heraus, dass sie im Innern die ihr allein nicht zugängliche Befürchtung hegte, sie werde mit einem alleinigen Ausflug aus dem Haus den familiären Pflichten entfliehen und möglicherweise nicht wiederkommen. Sie fürchtete sich also vor den eigenen inneren Impulsen. Ihre Angst hielt sie im Zaum, genauer, im Haus, und verhinderte, dass sie sich ihrer Impulse bewusstwurde. Das Verlassen des Mannes und der Kinder lag außerhalb ihrer ihr zugänglichen moralischen Vorstellungen. Das Beispiel zeigt: Angst hat immer eine Funktion! Es ist nur die Frage, ob sie eine nützliche oder nicht nützliche, also dysfunktionale Bedeutung hat. Dieses Beispiel unterstreicht , wie wir komplementäre Seiten haben. Auch der gute Mensch hat egoistische Züge an sich und umgekehrt, der aggressive Mensch hat eine friedliche Seite und so weiter. Das gilt es zu erkennen und ohne Suchtstoffe miteinander in Einklang zu bringen, um die persönliche Individualität leben zu können.

 Eine Grundstörung, wie Sie sagen, ist also eine Art Auslöser für den Alkoholismus. Kann das Trinken nicht andersherum auch Ursache für psychische Störungen sein?

Da kommt es auf die Umstände an. Ein Mensch, der mit fünf Gläsern Bier durch die Woche geht, wird selten einen Schaden davontragen, wenn er nicht zu den wenigen Menschen zählt, die eine vererbte oder seelische Disposition haben. Natürlich ist es sinnvoll, deutlich weniger Alkohol zu sich zu nehmen. Wenn jemand aber mit seinem Drogenkonsum seine innere Orientierung verliert, dann sind psychische Symptome, also auch krankhafte Ängste und andere seelische Erkrankungen durchaus nicht auszuschließen.

 Alkoholentwöhnungs-Therapie und dann ab nach Hause … da nimmt man doch die Angststörung, gegen die man angetrunken hat, wieder mit und ist besonders rückfallgefährdet? Oder sollte erst eine Angststörung behandelt werden, bevor man entwöhnt?

Die Seele lässt sich nicht in kleine Module aufteilen und nacheinander abarbeiten. Manche sprechen sogar von „Doppeldiagnosen“, wenn von Sucht und einer zusätzlichen psychischen Störung ausgegangen wird. Diese Vorstellung ist mir fremd. In der Rehabilitation und der Psychotherapie besteht der Anspruch auf eine ganzheitliche – biopsychosoziale – Behandlung. Die Probleme hängen immer zusammen und sollten so auch behandelt werden, damit die Patientin oder der Patient sich (wieder)finden kann. Unser Selbstkonzept (das Kennen und Einordnen unserer Eigenschaften, zwischenmenschlichen und praktischen Fähigkeiten, aber auch Vorlieben) in die Eigenverantwortung zu nehmen, um kein selbstschädigendes Leben mehr zu führen. Das ist das Ziel jeder Behandlung. Ein Therapietourismus ist im Prinzip wenig hilfreich.

Wie wird einem Patienten mit Angststörungen psychotherapeutisch geholfen, welche Wege gibt es, wo finde ich Hilfe?

Zunächst gilt es, dass sich Menschen gesund entwickeln können. Dabei haben Eltern, Betreuer, Lehrer, ja, die ganze Gesellschaft eine hohe Verantwortung. Geliebte Kinder mit einer sicheren familiären Bindung und der Akzeptanz ihrer Persönlichkeit können mit Realängsten umgehen und leben in weniger ängstigenden Widersprüchen. Das ist die beste Vorsorge gegen Ängste und andere psychische Störungen. Da gibt es in unserer Gesellschaft noch viel zu tun. Ich nenne nur das Thema Inklusion: Das Schulsystem ist auf Anderssein nicht eingerichtet – und der Berliner Senat behauptet sogar wider besseren Wissens, die Inklusion sei verwirklicht. Das ist nur ein Beispiel gesellschaftlichen Versagens. Ein anderes ist die stets nur repressive Reaktion der Politik auf Gewalt. Sie entsteht aus Angst und braucht etwas anderes als staatliche Gegengewalt, nämlich Kultur im weitesten Sinn. Aber das weiß man eigentlich schon sehr lange. Und schließlich kann jeder einzelne Mensch mit einer freundlichen Beziehungsgestaltung dazu beitragen, seelische Konflikte bei sich und anderen zu vermeiden.

Auftretende Erkrankungen können stationär oder ambulant, teils medikamentös, aber wesentlich wichtiger, auch psychotherapeutisch behandelt werden. Da gibt es verschiedene Schulen mit vergleichbaren guten Ergebnissen. Verhaltenstherapeutinnen und -therapeuten bemühen sich darum, die Automatismen der Angstentwicklung zu unterbrechen und sie der eigenen Kontrolle zu unterwerfen. Psychodynamische Therapien unternehmen den Versuch, die Angstauslöser als bisher ungelebte Chance zu verstehen, die es künftig realistisch zu gestalten gilt.

Haben Sie dafür vielleicht ein Beispiel, ich kann es noch nicht verstehen. Ich habe Angst vor allem, was passieren könnte, das Haus brennt ab, oder es steht unter Wasser oder, oder … zum Beispiel die Spinnenphobie: Wie kann der Automatismus unterbrochen werden und wie es als Chance gesehen werden?

Die Tiefenpsychologie versucht mit der oder dem Betroffenen die Funktion der Angstentwicklung zu verstehen und deren zunehmende Dysfunktionalität, sodass die Psyche auf das Symptom verzichten kann. Das klingt, so kurz formuliert, sehr einfach, ist aber oft recht komplex, weil Verstehen noch nicht Heilung bedeutet. Das aufwendige Verfahren ist dafür nachhaltiger. Die Verhaltensmedizin setzt auf verschiedene, meist kognitive Verfahren. Bei der Spinnenphobie lässt die Therapeutin die Patientin etwa erleben, dass die Angst nicht nötig ist. Die Wirkung setzt so recht schnell ein.

Medikamente können ja auch eingesetzt werden und in anderen Staaten werden zum Teil schon Psychedelika wie Pilze oder LSD gegen Depressionen oder Ängste genutzt: Könnten sie Suchtkranken gefährlich werden?

Selbstverständlich sind Psychopharmaka auch im Einsatz und können unter der sorgfältigen Indikation eines suchterfahrenen Psychiaters eingesetzt werden. Anders ist es mit dem therapeutischen Einsatz von Psychedelika, also bewusstseinsverändernden Stoffen. Solche Stoffe werden bei Schmerzpatienten und in der Palliativmedizin eingesetzt. Für Menschen, die Erfahrungen mit der Sucht haben, sind sie – kurz gesagt – absolut ungeeignet.

Wie kann ein abhängiger Mensch mit Angststörung nun Hilfe finden?

Leider gibt es da große Probleme, weil es viel zu wenige Therapieplätze gibt und weil sowohl angst- als auch suchterkrankte Menschen oft mehr als einen Behandlungsanlauf brauchen. Psychotherapeuten rechnen ihre Leistung nach Sitzungsstunden ab. Wenn Patienten unzuverlässig sind, sinkt ihr Einkommen. Daher finden diese Patienten noch schwerer einen Therapieplatz.

Eine kompetente Anlaufstelle für Hilfe ist in Berlin die Angstambulanz an der Charité, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie | CCM – Charité – Universitätsmedizin Berlin (charite.de). Natürlich kann man auch mit dem Arzt seines Vertrauens über das Problem sprechen. Mit einer psychotherapeutischen Behandlung werden sehr gute Erfolge erzielt. Aus der Selbsthilfeszene weiß ich, dass suchtkranke Menschen aus verschiedenen Gründen oft der Therapie skeptisch gegenüberstehen. Ein sehr hilfreicher Anlaufpunkt ist dann die Selbsthilfe. Im Internet gibt es ein großes Angebot, vom „Selbsthilfe- und Stadtteilzentrum Neukölln“ bis zur „Mauerritze im Kulturhaus Spandau“. Krankenkassen, Caritas, die Diakonie und andere Verbände helfen bei der Suche nach lokalen Selbsthilfegruppen bundesweit. Wer nicht allein googlen kann, lässt sich helfen. Ein wenig Schutz vor unseriösen Angeboten bietet der Verzicht auf Nutzung von „Anzeigen“. Über die Wirksamkeit der Selbsthilfe brauche ich Ihrer Leserschaft keine Vorträge zu halten. Sie weiß, dass zwischenmenschliche Beziehungen zu neuen Erfahrungen führen, die die toxischen Illusionen chemischer Beziehungen weit übertreffen und haltbar bleiben.

Herzlichen Dank, lieber Dr. Dieckmann!

 

TrokkenPresse 04/23: Tiergestützte Therapie im Tannenhof

Tiergestützte Therapie* im Tannenhof e.V.:

Mit Esel Gustav zu mehr Selbstvertrauen …

Es versteckt sich verwunschen mitten im märkischen Wald, hier kommt kein Bus entlang: Man muss wandern von der kleinen Stadt Lindow aus. Etwa 1,5 km. Manchmal schimmert der Wutzsee durch die Bäume. Ziegen meckern. Birken stehen da eher weniger – aber es heißt dennoch „Haus Schönbirken“ und ist eine kleine Rehabilitationseinrichtung vom Tannenhof e.V. Berlin-Brandenburg. Für etwa 30 alkoholkranke Menschen für 12-15 Wochen die therapeutische „Käseglocke“. Viele der PatientInnen kommen hierher, weil sie genau hier sein wollen. In der Natur. Und bei den vielen Tieren der Einrichtung … Die tiergestützte Therapie ist nämlich gerade im Aufbau. Aber was können denn Hund, Schwein oder Hühner im Klinikalltag tatsächlich bewirken? Ein TrokkenPresse-Termin mit Ergotherapeutin Anne-Kathrin Melzer.

Ich bin zu früh. Warte in der kleinen Eingangsdiele des villenartigen Hauses. Wie immer vor einem Termin noch ziemlich angespannt von der ungewissen Bahn-Reise und sehr nervös. Und da kommt sie durch die Tür. Mit ihr ein mittelgroßer dreifarbiger Hund. Ich begrüße zuerst Anne Melzer, na klar, bin aber alsbald mit den Augen beim Hund. Und dann mit dem Herzen. Das merkt er und kommt freundlich auf mich zu, schnuppert und lässt sich gern streicheln. Weshalb er einen kleinen blauen Verband an der Vorderpfote trägt, frage ich. Und siehste, schon … sind wir zwei Menschen im Gespräch! Und plötzlich werde ich auch ruhiger. Komme an. Bin da. Hier – und nicht mehr in meinem Gedankenkarussell im Kopf. Weshalb ich diese erste Begegnung so ausführlich schildere, hat seinen Grund. Darauf kommen wir dann bald zurück …

 Anne, welche Tiere gibt es hier?

Außer meinem Therapiebegleithund Kalle noch Esel Gustav, der lebt seit 20 Jahren hier, zwei Ziegen, einen Schafbock, 20 Hühner, Meerschweinchen, Kaninchen und drei Schweine. In der Teichanlage im Innenhof Goldfische und Kois. Kalle und ich haben gemeinsam eine Ausbildung zum Therapiehundeteam hinter uns, er ist also das bisher einzige Therapietier, aber wir sind ja erst im Aufbau …

Was macht Kalle denn, als Therapiehund?

Kalle läuft frei herum und kann nach Belieben herangerufen, gekuschelt und gestreichelt werden.
Er ist dabei nicht aufdringlich, sondern abwartend. Je mehr man ausstrahlt, dass man ihm gutgesonnen ist, desto häufiger sucht er den Kontakt. Aber er bemerkt auch, wenn jemand in Ruhe gelassen werden will, das kann er gut akzeptieren. Das ist das eine …

Zwischenfrage, sein Wesen muss ja zu seinem Job passen?

Ja, er hat ein entspanntes Gemüt, kaum Aggressionspotential, ist so gut wie angstfrei und Menschen und anderen Tieren gegenüber wohlgesonnen. Als Mini-Australian-Shepard, als Hütehund, treibt er normalerweise seine Schafe, er braucht also immer eine Aufgabe. Das passt auch, wir machen hier viel Agility (Hindernisübungen, d. Red.), auch die PatientInnen mit ihm, er kann gut apportieren, geht über Hindernisse, läuft Slalom, dafür haben wir einen kleinen Parcours aufgebaut.

Wie kann Kalle den PatientInnen hier helfen?

Als bunter Hund sozusagen hat er schon mal einen Aufforderungscharakter … Du hast es vorhin selbst gemerkt, du hattest gleich das Bedürfnis, Kontakt aufzunehmen, ihn zu streicheln. Heute hat er zum Beispiel seinen Verband um eine Wunde und jeder hat sofort gefragt, was ist mit Kalle, was hat er gemacht? Du hast ja auch gleich reagiert. Hätte ich selbst ein Pflaster auf dem Arm, wäre da vielleicht nicht sofort jeder drauf eingegangen. Oder wenn ich ohne Kalle in die Einrichtung komme: Frau Melzer, wo ist den Kalle heute? Wenn er alleine um die Ecke kommt, fragt niemand, wo ist denn dein Frauchen heute. Ein Hund hilft, wieder Empathie zu entwickeln. Und Vertrauen. Zuerst zu ihm, später vielleicht auch wieder zu Menschen.

Weshalb ist das mit einem Hund leichter?

Er ist offen dir gegenüber, er ist nicht voreingenommen, egal, was du schon mal Doofes gemacht hast: Er gibt dir erstmal eine Chance, vorurteilsfrei. Kalle ist sozusagen ein bisschen die Brücke zwischen uns beiden jetzt, der Kontakt. Der Hund nimmt eine Vermittlerrolle zwischen uns ein. Was ich damit erreichen kann: Er kann bei den PatientInnen Ängste abbauen durch sein unvoreingenommenes Wesen, und wissenschaftlich erwiesen ist, dass das Streicheln Oxytocin freisetzt, ein sogenanntes Kuschel- oder Bindungshormon, ein Glückshormon. Es sorgt für Wohlbefinden. Durch die Berührung und durch das Kümmern, das Umsorgen. Das baut Stress ab und erhöht die Frustrationstoleranz.

Wie kann Agility nützen?

Ich mache den PatientInnen die kleinen Kunststückchen vor, zum Beispiel auf der Wippe, auf der Kalle bis zum Ende durchlaufen soll. Die PatientInnen können mich beobachten, auch die Körperhaltung und die Signalworte. Dann machen sie es mir nach mit Kalle. Das geht nur ganz in Ruhe, das Ziel klar im Kopf. Für viele ist das erstmal schwierig, wenn sie Einschränkungen haben, sich das alles zu merken, das ist fast eine Art Hirnleistungstraining. Und sie haben dann ein Erfolgserlebnis.

Aber wie können die anderen Tiere, die Nutztiere, für die PatientInnen hilfreich sein?

Die meisten PatientInnen haben einfach Freude im Umgang mit den Tieren. Das kann von Spannungszuständen ablenken, Depressionen für den Moment aufhellen. Sie können schöne Bindungen aufbauen. Dadurch entsteht bei vielen eine Empathiefähigkeit, die sie vorher vielleicht gar nicht hatten.

Was genau würde ich als Patientin denn tun mit den Tieren?

In meinem Bereich, ich bin für den Bereich Tiere/Garten/Handwerk zuständig, haben wir um 9 Uhr Arbeitsbesprechung. Wenn du für die Tiere zuständig bist, bereitest du das Futter zu, verteilst das in den Gehegen. Da muss auch geguckt werden, ob Reparaturen nötig sind. Wenn etwas stark verschmutzt ist, muss es gereinigt werden. Das Wasser wird gewechselt. Die Schweine brauchen jetzt im Sommer ihre Matschkuhle, das Gehege muss also bewässert werden. Und du sollst dir bitte viel Zeit nehmen, um den Esel oder die Schweine zu striegeln. Der Esel braucht manchmal noch eine Hufsäuberung und einen Spaziergang außerhalb. Und immer muss beobachtet werden, wie geht es den Tieren. Nachmittags können die PatientInnen einfach kommen und bei den Tieren Ruhe finden.

Wandern mit dem Esel?

Der Esel als Steppentier legt normalerweise viele Kilometer zurück, um Nahrung zu finden. Gustav ist aber schon 20, Tagestouren braucht er nicht mehr. Aber da er alleine lebt, er duldet keinen anderen Esel, braucht er Beschäftigung. Er wird draußen am Strick geführt, meist gehen zwei oder drei PatienInnen gemeinsam, falls doch mal Hilfe gerufen werden muss.

Und wenn er dann doch mal nicht weiterwill?

Der Esel bemerkt, ob er das mit dem Zweibeiner machen kann, ob er führt oder geführt wird.

Man muss sich also durchsetzen lernen?

Ja. Wir lassen auch nicht einfach jeden Patienten gleich ins Freiland mit ihm. Zuerst muss der Eselführerschein gemacht werden.

Eselführerschein?

Dafür müssen die PatientInnen, die das wollen, mehrmals in Begleitung Gustav am Strick führen, striegeln, die Hufe auskratzen … wenn er mal nach hinten ausschlägt und sie greifen trotzdem wieder hin und sagen, ok, ich mach jetzt aber weiter, er schlägt nur aus, weil er das Gleichgewicht verloren hat. Dann haben sie den Schein. Wenn da aber Angst ist, können sie gerne mitgehen, aber nicht der Eselführer sein.

Beim Esel müsste ich so selbstbewusst auftreten, dass ich die Führungsrolle habe. Das ist schon mal nicht ohne, wenn man fast ohne Selbstwert hier ankommt wie viele?

Aber sowas ergibt sich mit der Zeit, wenn man richtig hier angekommen ist. Und wer sich dann mit der Thematik auseinandersetzen möchte, kann das auch zum persönlichen Ziel machen: Ich möchte jetzt so viel Mut entwickeln, dass ich mir das traue und so viel Selbstbewusstsein, dass ich den Esel hier durch die Gegend führe.

Aber beim Hufesäubern hätte ich trotzdem ziemlich Angst …

Das hilft wiederum dabei, Gefühle zu erkennen und zuzulassen. Beim Striegeln oder Hufemachen haben viele erstmal Angst, die sich als Unsicherheit auf das Tier überträgt, das wird dann natürlich ein bisschen motorisch unruhig. Das besprechen wir dann gemeinsam und überlegen, was können wir verändern. Das ist sozusagen auch das Thema Beziehungsarbeit: Man muss sich halt erstmal kennenlernen, das passiert nicht von heut auf morgen. Aber in einigen Wochen sind sie dann meist schon eine Einheit, wenn es gut läuft, steigert das das Selbstwertgefühl.

Wer versorgt die Tiere am Wochenende, wenn Du nicht da bist?

Die PatientInnen. Wenn sie mir sagen, sie können die Verantwortung für die Tiere übernehmen, dann verlasse ich mich darauf. Ich sehe dann am Montag, wie es gelaufen ist. Meistens richtig gut. Natürlich passiert es, dass mal was vergessen wurde, aber nie so, dass ein Tier in eine Gefahrensituation gekommen wäre.

Gibt es auch PatientInnen, die nichts mit den Tieren am Hut haben?

Klar: Ich mag keine Tiere, ich wurde mal vom Hund gebissen, vom Pferd getreten, was auch immer – dann ist das so in Ordnung und wird ohne weiteres akzeptiert. Ich muss keinen bekehren.

Wie wird sich die tiergestützte Therapie hier noch weiterentwickeln?

Bis auf Kalle geht es zurzeit ja noch mehr so um die Versorgung der Tiere und den daraus entstehenden Nutzen für die PatientInnen. Ich möchte irgendwann noch mehr therapeutisch mit Nutztieren arbeiten. Mit den Ziegen haben wir zum Beispiel noch viel vor, sie brauchen auch Beschäftigung und wir wollen ihnen Kunststückchen beibringen, auch im Gelände mit ihnen laufen, Animal-Trekking, also Wandertouren mit Tieren machen. Um unser tiergestütztes Konzept noch weiter voranzubringen, den Patienten noch besser helfen zu können, möchte ich noch mehr fachliche Kompetenz erwerben. Deshalb strebe ich noch eine Zusatzqualifikation als Fachkraft für tiergestützte Intervention an …

Viel Erfolg und Danke für das Gespräch und die Führung, liebe Anne!

Anja Wilhelm

 * Die tiergestützte Therapie …

… entstand eher zufällig. Ein amerikanischer Therapeut hatte 1953-61 seinen Hund in die Sitzungen mitgebracht und erlebte, dass er durch ihn besseren Zugang zu den Kindern fand. Seitdem wird zum Thema fundiert geforscht. Bisher gilt diese Therapie mit zum Beispiel Therapietieren wie Hunden, Delfinen, Lamas Pferden usw. als alternativmedizinische Behandlung bei psychischen und psychiatrischen Erkrankungen. Die Studien ergaben z.B., dass das Streicheln eines Tieres den Blutdruck und die Herzfrequenz senkt, Endorphine freisetzt und die Dopaminausschüttung erhöht. Nachweislich reduziert der Umgang mit Tieren Stress, wirkt antidepressiv, entspannend, beruhigend und euphorisierend.

Bis jetzt bieten bundesweit zwar nur wenige, vor allem Rehakliniken diese Therapie an – oder zumindest die Mitnahme des eigenen Haustieres oder ein Nutztiergehege – aber es werden zunehmend mehr.

 

 

TrokkenPresse 03/23: Stiftung Welt der Versuchungen

Ganz neue Wege in der Suchtprävention mit der Stiftung Welt der Versuchungen

Kunst macht das Herz weich …

Einige Jahre lang grübelten die „Suchthilfe in Thüringen“, Landesstellen für Suchtfragen und viele andere darüber nach, wie Suchtprävention noch hilfreicher und zeitgemäßer gestaltet werden könnte. Angestoßen von der „Suchthilfe in Thüringen“ wurde 2021 die „Stiftung Welt der Versuchungen“ gegründet. Ein weltweit einzigartiges Ausstellungshaus soll entstehen. Inzwischen mit 15 Millionen Euro gefördert vom Bund ermöglicht dieser Betrag Bau und Einrichtung des Hauses; das Thüringer Gesundheitsministerium fördert das Projektbüro. Ziemlich viel Geld für eine Vision, könnte man denken, wenn auf der anderen Seite Projekte für Alkoholabhängige schließen, Suchtberatungsstellen um ihren Erhalt bangen und Kliniken ihre Suchtstation schließen müssen … Aber vielleicht sorgt eben dieses Haus dann sogar dafür, dass es weniger abhängige Menschen geben wird? Wir haben deshalb genauer nachgehakt, was da in Erfurt entstehen soll. Die TrokkenPresse im Gespräch mit Chef-Kuratorin Dr. Susanne Rockweiler.

Haben Sie persönlich etwas mit Sucht zu tun, vielleicht im Umfeld?

Ich dachte zuvor, dass ich keine Menschen in meinem Umfeld mit Suchtproblemen habe. Über die Tätigkeit hier wird mir öfter bewusst, dass manche Freunde und Freundinnen oder Bekannte einem Kippmoment nahe sind. Mir fällt häufiger auf, dass sie beispielsweise abends zu viel und generell zu oft Alkohol trinken. Über die Tätigkeit bei der Stiftung Welt der Versuchungen bin ich diesbezüglich sensibler geworden.

Warum haben Sie sich denn als Kuratorin (*) von Kunstausstellungen jetzt diesem Thema Suchtprävention gewidmet?

Ich arbeite seit vielen Jahren im Ausstellungswesen, habe aber in der Tat noch nie eine Ausstellung zum Thema Suchtprävention gemacht. Mir fiel auf, dass sich bei vielen KünstlerInnen das Thema Alkohol und andere Drogen wie ein roter Faden durch Leben und Werk ziehen. Nehmen wir zum Beispiel David Bowie: Er war abhängig und kam nach Berlin, um sich allem zu entziehen. Ein großer Teil seines Arbeitsantriebs war eine Verleugnung seines Lebens. Er hat von 1976 bis 1978 in Berlin gelebt, kaum mehr konsumiert und dann drei wunderbare Platten veröffentlich.

Es geht um eine ganz neue Art der Suchtprävention, von Wissenschaft und Kunst gemeinsam, weshalb braucht es denn so etwas?

In der Suchtprävention gibt es nicht DEN einen Ansatz. Und es wurde festgestellt, dass es eigentlich eines Zwischenschrittes bedarf. Denn wenn ich feststelle, dass ich eine Disposition habe, wenn ich merke, ich kann von etwas nicht mehr lassen, dann ist es für Prävention eigentlich schon zu spät. Wir sollten schon vorher zum Nachdenken animiert werden. Das Enttabuisieren und Entstigmatisieren sind Ziele unseres Hauses. Es gibt viele Mythen und Märchen um und über Drogen und es gibt zudem Verhaltensabhängigkeiten. Durch die Wissenschaft erfahre ich, was evidenzbasiert ist. Über Kunst komme ich ins Gespräch.

Wenn ich zum Beispiel meinen Kindern sage, trinkt auf gar keinen Fall Alkohol, raucht auf gar keinen Fall eine Zigarette, hilft das? Hilft es, wenn ich ihnen Bilder von Raucherlungen zeige? Die Wissenschaft kommt zu dem Ergebnis: Nein, das hilft nicht oder nur kurzfristig. Wir wollen in unserem Haus aufzeigen, was der aktuelle Forschungsstand ist. Wir wollen informieren, zum Nachdenken anregen und wir wollen emotionalisieren. Was passiert in Körper und im Kopf, wenn ich von etwas nicht lassen kann? Es geht nicht nur um Alkohol, Zigaretten oder andere Substanzen. Essen, Arbeit, Medienkonsum – vieles kann ein gesundheitsschädliches Ausmaß annehmen. Nehmen wir die Social Media: Wann bin ich gut informiert und gesellschaftlich eingebunden und wann ohne Internet wie auf Entzug? Das sind Fragen, die wir uns stellen.

Welche Rolle spielt die Kunst aber nun genau dabei?

Kunst kann uns berühren und unser Herz weich machen. Sie kann uns anregen und aufregen. Kunst ist eine Möglichkeit zu fühlen. Und wenn ich fühle, bin ich näher bei mir. Sind wir mit anderen in einer Ausstellung, werden die einen sagen, dieses Objekt ist wunderschön; anderen sagt es nichts. Beim Sprechen darüber sehen wir mehr und erfahren mehr über uns und andere. Wir kommen ins Nachdenken und ins Gespräch.

Aber WIE sollen die Kunst-Ausstellungsstücke aussehen, was erwartet mich?

Sie können ab 20. Oktober dieses Jahres in Erfurt in eine erste kleinere Ausstellung der Stiftung gehen. „On a Night Trip“ beschäftigt sich mit dem Nachtleben.

 Ich kann es mir nicht vorstellen …

Wir zeigen zum Beispiel eine große Holzschnittarbeit, auf der das Wort ‚Funktionieren‘ steht. Was erwarten wir denn vom Nachtleben? Wir möchten einen Kontrast zum Alltag. Das Nachtleben eröffnet einen Bereich, in dem ich mal nicht funktionieren muss. Zu sehen sind rund zwanzig Arbeiten, darunter eine Videoarbeit von Adrien Piper, einer amerikanischen Künstlerin: Sie tanzt bei Tageslicht auf einem Platz, ganz für sich allein. Wir wollen damit zeigen, dass Tanz etwas ist, was uns ganz zu uns bringen kann. Wir können uns Inseln in unserem Alltag schaffen. Wir brauchen nicht zwingend das fünfte Bier oder irgendeine andere Substanz, um zu uns zu kommen. Wenn ich zum Beispiel morgens zu einem Song, den ich mag, summe, singe oder mich bewege, dann hat der Tag schon eine ganz andere Fasson. Und dann brauche ich eben keine radikalen Kontrastbrüche, wie: Heute möchte ich etwas anderes erleben, möchte mich entspannen und dazu brauche ich etwas, was meinem Körper mittel- und langfristig nicht guttut.

Und wie werden die Kunstobjekte mit der Wissenschaft verknüpft?

Wir arbeiten unter anderem mit der Charité Berlin zusammen und zeigen ein Virtual Reality Spiel. Es ist an einer dänischen Universität in Zusammenarbeit mit jungen Leuten entstanden. Als Besucherin bestimmen Sie Ihre eigene Party-Geschichte. Das heißt beispielsweise, Sie treffen sich mit Freunden vielleicht zum „Vorglühen“ oder Sie können auch sagen: Liebe Freunde, heute bleibe ich bei Cola. In dieser VR-Brille sehen Sie, wie ihr Körper darauf reagiert und können Alternativen wählen: Sie sehen eine Person, die Sie attraktiv finden, und können entscheiden: Stellen Sie sich mit ihrer Cola dazu und flirten oder zu den anderen, die vielleicht sagen, Sie seien ein Spaßverderber, wenn Sie nicht mitzutrinken.

 Was kann das denn beim Besucher bewirken?

Wir wollen mit diesem Spiel Möglichkeiten aufzeigen und Menschen ertüchtigen, nein zu sagen und zeigen, dass trotz eines Neins Freunde Freunde bleiben. Das Nein ermöglicht vielleicht eine neue Freundschaft oder einen schönen Flirtabend, statt schlechtem Gewissen oder dickem Kopf am nächsten Morgen.

 Ah, jetzt wird es vorstellbar. Vorher war es eher etwas nebelig für mich…

Das kann ich sehr gut verstehen, das geht vielen so. Manchmal geht es uns auch so, denn das, was wir machen, gibt es noch nicht. Man könnte von hier bis Neuseeland reisen… es gibt kein Haus, das sich auf diese Art und Weise mit Gesundheitsförderung und Suchtprävention beschäftigt. Es gibt immer mal Ausstellungen zu einem Sonderthema, zum Gehirn, zu Substanzen, aber ein ganzes Haus, das sich mit der Thematik auseinandersetzt, gibt es noch nicht. Deshalb möchten wir vieles einfach ausprobieren.

Für wen ist das Haus gedacht?

Das Haus ist für alle da. Wir werden es niederschwellig gestalten. Abhängigkeit ist ein gesellschaftlich relevantes Thema und wir sind alle Teil der Gesellschaft. Versuchungen gibt es viele. Fast jeder hat einen dunklen Fleck, sei es der Zuckerkonsum, Alkohol, Zigaretten, Arbeit oder etwas anderes. Also kommen Sie in die Ausstellung, seien Sie neugierig, machen Sie eine Führung mit und am Ende sprechen wir darüber! Und wenn zum Beispiel eine Familie kommt, die dann abends am Tisch darüber diskutiert oder schon bei uns im Café der Sohn zur Mutter sagt, ey, du musst doch jetzt um 16 Uhr keinen Wein bestellen, bestell doch eine Cola, wir haben das doch gerade gelernt … Und die Mutter dann sagt, ja, wenn ich mir jetzt einen Cappuccino bestelle, dann möchte ich aber, dass du heute Abend nicht kiffst … dann ist ein kleiner Schritt getan und ein erstes Tabu gebrochen.

Ein Grundstück ist nun gefunden. Wie soll das Haus aussehen?

Das hängt vom architektonischen Siegerentwurf ab. Der Wettbewerb soll diesen Frühling starten. Wir wünschen uns einen modernen, nachhaltigen Bau, der, wie unsere Inhalte, überrascht und in dem sich die Menschen wohlfühlen.

Stellen Sie sich bitte vor, es ist 2026, irgendein Montag 10 Uhr. Was findet statt gerade?

Sie sehen in den Ausstellungsräumen junge Menschen, die auf dem Boden sitzen im Schneidersitz und ein Objekt abzeichnen. Im anderen Raum sehen Sie Objekte, in die Sie hineingehen können oder Musik hören. Sie können sich mit ihrer Playlist auf ihrem Handy einloggen oder klassische Musik anhören. Sie erleben Räume, in denen Sie sich viele Fragen stellen, dort laden wir Sie zum Gespräch ein. Eines der zentralen Objekte wird eine Gehirninstallation sein, an der Sie ausprobieren können, was in Gehirn und Körper passiert, wenn Sie einmal die Woche zwei Bier trinken. Sie können auch auswählen: jeden Tag fünf Biere, was passiert dann da, über die Dauer eines Monats? Oder was passiert in Kopf und Körper, wenn Sie flirten? Die Installation erklärt unser Belohnungssystem.

Ein Ziel des Hauses soll auch sein, innere Stärke, Resilienz wachsen zu lassen. Auf welche Weise?

Zum Beispiel mit Objekten wie der schon beschriebenen Videoarbeit: Sie ermutigt, sich zu trauen, zu Hause zu tanzen, im Badezimmer das Radio oder Handy anzumachen und sich beim Zähneputzen zum Beat der Musik zu bewegen. Musik wird eine große Rolle spielen, aber auch Kunstwerke, die einfach so bezaubernd schön sind, dass Sie aus diesem Raum gar nicht mehr weggehen möchten. Immer, wenn wir fühlen, verknüpfen sich in unserem Gehirn Nervenzellen. Sie verbinden sich mit dem Erinnern. Schöne Momente bleiben lange im Gedächtnis. Wir möchten Sie animieren, selbst bildnerisch-praktisch zu arbeiten oder einen eigenen Rap zu schreiben, gerne auch mit Ihren Freunden oder der Familie. Was suchen wir? Wie können wir uns ohne Blues belohnen?

Wenn ich als trockener Alkoholabhängiger ins Haus komme, könnte mich da irgendetwas triggern?

Das ist eine sehr gute Frage. Wir denken darüber nach, dass in Restaurant und Café kein Alkohol ausgeschenkt wird. Und wir möchten bei den kommenden Ausstellungen vorab Menschen wie Sie als Betroffene einladen, um sicherzugehen, dass es in der Tat keine Triggerpunkte gibt. Und wenn es welche gibt, müssen diese abgeschottet und mit Warnhinweisen versehen werden.

Also: Ich bin begeistert von dieser Vision. Viel Erfolg und herzlichen Dank für das Gespräch.

Das Gespräch führte Anja Wilhelm

(*) Der Kurator (latein. curare‚ sich sorgen um) oder Kustos (vom lateinischen custos ‚Wächter‘) gestaltet Ausstellungen oder betreut Sammlungen wie beispielsweise in Museen.

TrokkenPresse 02/23: Trauma und Sucht

Neue Erkenntnisse, neue Praxis-Erfahrungen:

Was hat Sucht mit Trauma zu tun?

Warum benutzt ein Mensch Suchtmittel, bis er letztlich abhängig davon wird? Die Faktoren, die dazu führen können, sind vielfältig: Umfeld, Verfügbarkeit, Gene usw. Die Behandlung besteht darin, zu entgiften und ein Leben ohne Suchtmittel zu erlernen. Aber was, wenn zum Beispiel auch, wie Forschungen der letzten Jahrzehnte ergaben, traumatische Erfahrungen eine der Ursachen sind und die Suchterkrankung eine Traumafolgestörung ist? Müsste das Trauma nicht ebenso „mitbehandelt“ werden – um zum Beispiel Rückfälle zu vermeiden? In vielen deutschen suchttherapeutischen Einrichtungen ist dies noch nicht oder nur unzureichend der Fall. Der ärztliche Leiter der Tannenhof-Tagesklinik in Berlin aber, Adrian Erben, hat dafür ein Konzept entwickelt und setzt es dort seit einem Jahr erfolgreich um. Und ab Mai übrigens dann ebenso auch in der Hartmut-Spittler-Klinik Berlin als neuer leitender Oberarzt.

Zur Person:

Adrian Erben, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Fachkunde Suchtmedizin, leitet seit über einem Jahr die Tagesklinik der Tannenhof Berlin-Brandenburg gGmbH. Ab 1. Mai wechselt er als neuer leitender Oberarzt in die Hartmut-Spittler-Klinik Berlin. Seit 25 Jahren ist er im Suchtbereich tätig, (u.a. an der Oberbergklinik Schwarzwald, im Gezeiten Haus Wendgräben). Er qualifiziert sich gerade auch zum Traumatherapeuten. Eins seiner Ziele: Traumatisierten Abhängigen Menschen im Rahmen einer Entwöhnungsbehandlung ein erstes Beziehungs- & Behandlungsangebot hinsichtlich ihrer Traumaerfahrung/PTBS zu machen.

 

Ein Trauma ist eine starke psychische Erschütterung, begleitet von großer Angst, Ohnmachtsgefühl, Hilflosigkeit – hervorgerufen durch bestimmte Ereignisse. Eine der Folgen kann z.B. eine posttraumatische Belastungsstörung sein, PTBS. Was genau ist das?

Die PTBS ist die Folge einerseits eines Monotraumas wie Kriegsausbruch, Flugzeugunglück, Zugunfall, Vergewaltigung, also eines einmaligen heftigen Ereignisses. Andererseits kann es aber auch ein sequenzielles Trauma sein, d.h. wenn zum Beispiel ein Kind von seinem Stiefvater über Jahre hinweg sexuell missbraucht wurde oder wenn man Mikrotraumatisierungen ausgesetzt war, vor allem in der Kindheit oder Jugend: Wenn der Vater, schwer alkoholkrank, nach Haus kommt und die Mutter jeden Abend schlägt. Solche Traumaereignisse führen auch dazu, dass sich im Gehirn fragmentarische Erinnerungsfetzen abbilden, die woanders abgespeichert werden als andere Erinnerungen. Wie in einem Spiegel, der zerbricht, setzen sich punktuell einzelne Teile, Bilder, im Gehirn fest, die auch Jahre später durch sogenannte Trigger plötzlich wieder auftauchen und kaum aushaltbar sind.

Kaum aushaltbar – kommen da die Suchtmittel ins Spiel?

Ja, denn Suchtmittel wie Alkohol, Benzodiazepine, THC zum Beispiel werden dann oft zur Selbstmedikation eingesetzt, um eben diese Bilder oder andere Trauma-Folgen wie eine Angststörung oder Depression aushalten zu können, zu verdrängen, um am Leben teilnehmen zu können. Denn die Menschen nehmen an der Umwelt oft gar nicht mehr teil, weil sie immer wieder Angst haben, re-traumatisiert zu werden. Außerdem sind sie enorm schnell übererregbar, was auch schwer aushaltbar ist und wobei das Suchtmittel dazu dienen kann, sich wieder herunterzubeamen. Ohne das Suchtmittel wären sie vielleicht schon längst völlig zerbrochen. Es ist wie eine Krücke, wie ein Medikament, ein Schutz.

Ein Trauma führt aber nicht immer in die Sucht?

Es gibt Menschen, die haben schwerste Erfahrungen gemacht und können ganz gut damit leben und überleben, sie hatten andere Strategien und Möglichkeiten. Das ist abhängig von Resilienzfaktoren, zum Beispiel vom Umfeld in der Kindheit, wie geschützt und sicher fühlte ich mich da … Wenn jemand z. B. vom Stiefvater missbraucht wurde, sich an seine Mutter wendet und die reagiert adäquat, beendet diese Beziehung und zeigt diesen Stiefvater an, dann erlebt das Kind, dass es beschützt wird und kann selbst mit der heftigen Missbrauchs-Erfahrung besser umgehen, als wenn die Mutter dem Kind nicht glaubt, es alles über sich ergehen lassen muss und niemanden hat, den es ansprechen kann. Diese Ohnmacht ist das A und O einer traumatischen Erfahrung.

Soweit ich das erlebt habe, spielte aber der Zusammenhang Trauma-Sucht bisher kaum eine große Rolle in der Suchtbehandlung?

Es wurde lange Zeit immer getrennt: Wenn Patienten mit einer Trauma-Erfahrung und zugleich einer Abhängigkeit eine Traumatherapie machen wollten, wurde ihnen gesagt, sie müssten vorher die Sucht behandeln. Und umgekehrt habe ich erlebt, dass immer dann, wenn in der Suchtbehandlung ein Trauma deutlich wurde, möglichst ein Bogen darum gemacht wurde: Wir behandeln hier nur die Sucht – die Büchse der Pandora öffnen wir hier nicht – und wenn das fertig ist, dann können Sie sich, wenn sie stabil und trocken sind, der Traumabehandlung zuwenden. Dabei ist es wahnsinnig schwierig, überhaupt einen Traumtherapeuten zu finden, erst recht als Suchtpatient, weil umgekehrt dieser natürlich im Traumabereich auch mit Glacéhandschuhen angefasst wird – weil er erstmal lange stabil sein soll, bis er behandelt werden kann. Und das heißt, diese Menschen stehen im Regen, egal, wo sie hingehen. Dann passiert es, dass sie bei Traumatherapeuten, damit sie die Therapie machen können, ihre Sucht verschweigen und umgekehrt im Suchtbereich ihr Trauma.

Wie viele der Suchtkranken haben traumatische Erfahrungen?

Es gibt diverse Studien. Bei 60-70 Prozent der suchtkranken Frauen liegt ein traumatischer Hintergrund vor, bei Männern sind es 40-50 Prozent. 10-20 Prozent aller Patienten haben eine ausgewachsene Posttraumatische Belastungsstörung, und 30-50 Prozent schwere traumatische Erfahrungen gemacht, die dann später auch zur Sucht führten.

So viele! Aber wenn nun das Trauma in der Sucht-Behandlung gar keinen Platz findet …

Ich habe mir mal genauer angeguckt, wer trotz guten Verlaufes der Entwöhnungsbehandlung dennoch schnell wieder rückfällig wird: Das sind zum größten Teil Trauma-Patienten. Menschen, die es zwar schaffen, eine Langzeittherapie durchzuhalten – aber kaum verlassen sie das geschützte Umfeld einer Einrichtung, gehen nach Hause, dann realisieren sie, dass sie für das, wofür sie das Suchtmittel eingesetzt hatten, gar kein Werkzeug haben, damit umzugehen. Dass es ihnen nichts nützt, gelernt zu haben, wie sie abstinent sein können, wenn die Bilder auftauchen, die sie in die frühere traumatische Erfahrung zurückbringen, die so schwer aushaltbar sind.

Was ist also zu tun?

Diesen Menschen müssen und wollen wir schon während der Entwöhnungsbehandlung bei uns etwas anbieten. Denn „nur“ mit Suchtbehandlung, ohne Handwerkszeug, diesen Bildern trocken zu begegnen, werden diese Menschen schnell wieder rückfällig. Da habe ich geguckt, gibt es überhaupt schon irgendwelche Konzepte? Ja, ich musste nichts Neues erfinden, es gibt ein Therapiemanual von Lisa M. Najavits, „Posttraumatische Belastungsstörung & Substanzmissbrauch/DD Abhängigkeit“, erschienen 2002 in englischer Sprache in 2. Auflage 2019 im Hogrefe-Verlag. Dieses Programm hat sich in den USA bewährt. Aus den 25 Sitzungen machen wir 12, mit zwei Terminen pro Woche, in denen wir mit den Patienten schauen, wie können sie gut für sich selber sorgen, wie können sie Hilfe einfordern und Strategien entwickeln.

Wer nimmt daran teil?

Wir haben immer zehn PatientInnen in einer Gruppe. Voraussetzung sind eine Abhängigkeitserkrankung plus posttraumatische Belastungsstörung oder schwere Traumafolgestörung, d.h., sie haben schwere traumatische Vorerfahrungen in Kindheit, Jugend oder im späteren Leben gemacht. Wir haben PateintInnen mit Entwicklungstraumata, wo schwere Vernachlässigung, Verwahrlosung, sexueller oder emotionaler Missbrauch schon in der Kindheit vorlagen. Wir haben aber auch Patienten wie den Sanitäter, der im Kosovo vor über 20 Jahren stationiert war. Er wurde Zeuge der Massenvergewaltigung eines 12-jährigen Mädchens, allen Beteiligten der Bundeswehr war nicht erlaubt, einzugreifen, weil es sonst zu einer Eskalation hätte kommen können. Ihm ging das total nahe, er war verzweifelt und diese Ohnmachtserfahrung erlebte er immer wieder neu, griff zu Suchtmitteln und entwickelte eine Abhängigkeit. Er kannte kein anderes Instrument, mit diesen Bildern umzugehen. Oder der Bundeswehrsoldat, der in Afghanistan war. Als Scharfschütze hatte er den Befehl, auch auf Kinder zu schießen, wenn Gefahr bestand, dass sie Selbstmordattentäter sind. Im Nachhinein hat sich aber häufig der Verdacht nicht bestätigt. Er hat seinen Dienst quittiert, er konnte nicht mehr. Er ist mit der Normalität in Deutschland dann kaum mehr zurechtgekommen, das hat auch zur Suchterkrankung geführt. Und da wird so deutlich, dass es einen Zusammenhang gibt! Deshalb ist es mir eine Herzensangelegenheit, diese Menschen nicht zu vertrösten, sondern mitzunehmen …

Ist Traumatherapie denn in vier Monaten machbar?

Nein, in den 3 oder 4 Monaten Suchttherapie kann man parallel kein Trauma aufarbeiten. Das ist ein Prozess, der Jahre dauert. Aber wir können hier was anstoßen! Mir ist viel mehr wichtig, dass die Menschen hier so sein dürfen, wie sie sind, auch mit ihrem Trauma, das darf hier Platz haben. Es gibt ihnen Hoffnung, zu erfahren, dass zwar die Sucht eine chronische, aber gut behandelbare Erkrankung ist, aber eine traumatische Erkrankung sogar im besten Sinne heilbar ist! Wir können hier die Saat legen, den Anfang der Therapie machen. Und dann leiten wir sie natürlich weiter, wenn sie stabil abstinent sind. Wenn sie das dann überhaupt noch wollen. Es gibt Menschen, die gehen hier raus und sagen herzlichen Dank, das hat mir was gegeben, aber ich glaube, das Trauma selbst muss ich gar nicht weiterbearbeiten, ich habe jetzt Handwerkszeug genug. Und es gibt Menschen, die sagen, das klingt spannend, es gibt Möglichkeiten, das Trauma in meine Geschichte zu integrieren als Teil meines Lebens, so dass es nicht meine Identität ist? Da ermuntere ich dann und versuche, ein Netzwerk herzustellen, mit der Charité, traumatherapeutischen Praxen, mit der Akademie für integrative Traumatherapie … Wir bringen etwas in Gang, womit sich die Menschen nicht mehr alleingelassen fühlen.

Nochmal zur Gruppe, was genau passiert da?

Wir nennen sie nicht Trauma-Gruppe, denn das wäre immer wieder eine Erinnerung daran, da ist was Schreckliches passiert, sondern „Sicherheit finden“.  In der ersten Woche wird erst mal erklärt, was hier überhaupt passiert, damit sie wissen, hier bin ich sicher, ich kann hier so sein, wie ich bin. Und dass sie zwar ihr Trauma erzählen dürfen, aber nicht müssen. Dann geht es darum, was eine PTBS ist, die PatientInnen kreuzen selbst die Kriterien der Klassifikation psychischer Erkrankungen an. Es ist nämlich dann gar nicht mehr so frustrierend für die PatientInnen, wenn sie realisieren, ich habe jetzt eine Idee, was mit mir los ist. Ich bin ja gar nicht bekloppt. Das ist eine Riesenentlastung, da fließen oft die Tränen.

Welche Strategien, mit dem Trauma zurechtzukommen, kann man lernen?

Eine Gruppensitzung beinhaltet zum Beispiel das Thema Mitgefühl mit sich selbst. Wie mache ich das? Eine nächste heißt, „Gefahren- und Sicherheitssignale“, also wo begebe ich mich in Trigger-Gefahr, woran könnte ich das erkennen? Es geht darum, ein Frühwarnsystem zu etablieren. Dann gibt es die spannende Stunde, „Um Hilfe bitten“. Denn oft stehen Scham und Ohnmachtserfahrung im Weg. Vielleicht hatte jemand um Hilfe geschrien, ausgeliefert an den Täter, und hat sich gemerkt, ich kann nur mir selber helfen. Aber das Bitten um Hilfe ist so notwendig, wir leben in einer Welt, in der wir nicht alleine überleben können, wir brauchen immer irgendwann einen anderen. Eine andere Stunde beschäftigt sich damit, gesunde Grenzen zu setzen und ein Baustein zum Beispiel sind auch unsere Erdungsübungen.

Erdungsübungen?

Was machen wir, wenn diese Bilder kommen? Uns verankern im Hier und Jetzt. Denn wenn die alten Bilder kommen, bin ich im Dort und Damals. Also Füße auf den Boden stemmen, auf die Atmung achten zum Beispiel. Wo bin ich gerade, den Wievielten haben wir heute, welches Wetter, welche Uhrzeit, warum bin ich hier. Denn wir können nur eins machen, nicht hier und dort zugleich sein. Spüren Sie mal, wie fühlt sich die Lehne des Sessels an … ich verankere mich mit dem, was jetzt gerade ist. Bei der gedanklichen Erdung lernen sie, ihre Bilder zum Beispiel in einen Container zu packen und eine Entfernung herzustellen, vielleicht so, dass er mit dem Schiff davonfährt. Die Patienten erfahren damit, dass sie ihrem Trauma-Material nicht ausgeliefert sind, sondern mit ihm spielen können. Sie lernen bei uns, dass es bessere Strategien gibt als zu trinken.

Wie finde ich heraus, ob ich eine Traumafolgestörung habe?

Wenn Sie alle Fragen nach den Kriterien der ICD-10 (International Classification of Diseases) der WHO, Code F43.1., ankreuzen können, haben Sie eine PTBS. Wenn nur einiges zutrifft, wenn Sie dieses Ereignis immer wiedererleben, Sie depressiv geworden sind, eine Angsterkrankung entwickelt haben oder gar nicht mehr das Haus verlassen, also Teilsymptome haben, dann liegt eine Trauma-Folgeerkrankung vor.

                                                                                               Das Gespräch führte Anja Wilhelm

Info:

Falls Sie Interesse haben an dieser Behandlung, melden Sie sich bitte hier:
-Therapeutische Leitung und Abteilungsleitung der Tagesklinik des THBB, Frau Sigrid Czajka: sigrid.czajka@tannenhof.de, telefonisch 030/863919039 bzw. (bis zum 30.04.2023) als Ärztlicher Leiter Herr Adrian Erben, adrian.erben@tannenhof.de, 030/863919037

-Ab Mai 2023 dann auch unter adrian.erben@vivantes.de, Tel.: Hartmut-Spittler-Klinik, 030/ 130208604.

TrokkenPresse 01/23: Markus Majowski

Im TrokkenPresse-Interview: Markus Majowski

Du bist doch der lustige TV-Markus, das kann doch gar nicht sein?

In der vergangenen Ausgabe stellten wir das Zirkuswagenprojekt des Trockenbau e.V. in Barth vor. Pate des Projekts, Sie erinnern sich, ist Markus Majowski. Wie kommt ein prominenter Schauspieler, Komödiant und Produzent dazu, alkoholkranke Menschen zu unterstützen? Ist er vielleicht selber …? Ja, ist er. Vor zehn Jahren outete er sich öffentlich als drogen- und alkoholkrank. Zuerst in einer Talkshow, später dann in seiner 2013 erschienenen Autobiographie: „Markus, glaubst Du an den lieben Gott?“ (Rezension S. XX). Seit 14 Jahren nun ist er trocken und clean. Wie er es wurde, was ihm dabei half, wie sich sein Outing damals auf seine Karriere auswirkte …

Zuerst zum Zirkuswagenprojekt, lieber Markus: Wie bist Du Pate geworden, warum und was genau machst Du da?

Die haben sich damals einfach ganz lieb bei mir gemeldet, das Projekt am Telefon vorgestellt und das hat mich überzeugt. Weil es eben die ersten Schritte aus der aktiven Sucht betrifft, ins betreute Wohnen. Die möchte ich unterstützen. Ich habe dort einen Literaturabend gegeben, Rilke-Gedichte gelesen, in denen es um Sehnsucht geht, Verzweiflung und im weitesten Sinne auch um Liebe, um dieses mehr hin zu einer höheren Macht, verstärkt mit Zitaten aus dem blauen Buch der AA. Es ging um das Annehmen der Krankheit und das Gottvertrauen. Es war so schön, so berührend für alle, auch für mich, dass wir beschlossen haben, wir machen das wieder.

Du bist auch zum Beispiel Botschafter des Deutschen Kinderhilfswerkes, hast in Bremen ein Zentrum für trauernde Kinder mit aufgebaut, machst gerade ein Theaterprojekt mit Kindern an einer Grundschule … Warum tust Du das alles?

Um weit wegzukommen von dem einst aufgeblasenen Markus, dem erfolgreichen Markus, der dann gescheitert ist. Und eben auch, um wieder etwas zurückzugeben an die Gesellschaft. Meine Umtriebigkeit, meine aktive Sucht … da wurde mir geholfen, mir der Arsch gerettet. Das Gesicht bestimmt noch nicht, vieles kann man auch nicht mehr rückgängig machen. Ich bin über jede Aktion dankbar, mit der ich bodenständiger werde. Einfach so normale Dinge tun und für andere ein bisschen da sein. Dafür habe ich auch mein Gebet: „Befreie mich von der Last meines übermäßigen Egos, gib mir die Chance, ein anständiger Kerl zu sein, nützlich und dienlich dieser Gesellschaft, damit dein Sieg über Narzissmus, Egoismus und Boshaftigkeit Zeugnis von deiner unendlichen Macht, Größe, Liebe und Führung ablegen möge vor den Menschen, denen ich helfen möchte. Möge ich immer deinen Willen tun.“ Das ist mein Gebet an die Higher Power, an die höhere Macht, für mich an Gott.

Den Buchtitel „Markus, glaubst Du an den lieben Gott?“ beantwortest Du also mit ja?

Ich wünschte manchmal, ich hätte den Titel mit einer Klammer versehen: Markus, glaubst du an den lieben(den) Gott? Aber „Markus, glaubst du an den lieben Gott?“ ist das, was meine Großmutter mich fragte. Sie hat mich beim Stibitzen erwischt und mancher kleinen anderen Unsäglichkeit. Sie wollte wissen, ob ich denn glaube, dass es einen Gott gibt, der alles sieht. Aus meinem kindlichen Verständnis heraus habe ich das so beantwortet: Ja, ich glaube an den lieben Gott, aber ich glaube nicht, dass er petzt … Ich dachte, der wird schon alles zulassen, was ich mache, der wird mir auch vergeben, wenn ich lüge und trickse. Er ist kein strafender, sondern ein lieber Gott, der alles verzeiht. Aber ich habe nicht gemerkt, dass ich mich damit selber und meine Umwelt schädige. Heute bin ich ganz glücklich, dass ich aus diesem kindlichen Verständnis heraus bin und weiß, dass es viel mehr ein liebender Gott ist. Ich habe festgestellt, wenn ich Zeiten hatte, in denen ich nicht mehr gebetet habe, weniger Fragen gestellt habe an Gott … da war das, wie als ob ein liebender Vater oder eine liebende Mutter – ich weiß ja nicht, ob es ein männliches oder weibliches Wesen ist – von seinem Kind nicht mehr beachtet wird. Und auch das hat er mir verziehen. Ja, ich glaube an einen liebenden Gott, der mich auf den Weg schickte in die Genesung und mir alles bereitet, dass ich ein von der aktiven Sucht befreites Leben führen kann.

Warum hast Du Dich 2013 mit dem Buch überhaupt öffentlich geoutet als drogen- und alkoholkranker und bisexueller Mensch?

Es gab ein Schlüsselerlebnis. Ich saß zum zweiten Mal bei „3nach9“ in einem Interview mit di Lorenzo, um etwas vorzustellen für „Die Dreisten Drei“. Und zum zweiten Mal bot er mir auch ganz stolz seinen selbstgezogenen Rotwein an und ich habe ihn zum zweiten Mal abgelehnt. Er hat dann etwas gebohrt, gesagt, das kann doch nicht sein! Ich habe erwidert, du, ich will einfach noch ein bisschen länger leben und erzählte ihm die Kurzfassung von meiner Sucht. Plötzlich, aus heiterem Himmel, in der Live-Sendung. So habe ich mich geoutet. Und dann dachte ich, wenn ich das mache, kann ich auch gleich ein Buch schreiben. Ich wollte ein bisschen Hoffnung unter die Leute bringen und bisschen von mir erzählen, wie ich es geschafft habe.

Hatte Dein Outing berufliche Auswirkungen?

Es war damals überhaupt noch nicht normal und es gehörte nicht zum guten Ton, sich so zu outen. Es gab, glaube ich, in der Branche einen Aufschrei. Ich habe weniger Aufträge bekommen, es wurde auch ein bisschen mit Fingern auf mich gezeigt, aber nicht schlimm. Das war so diese Anfangsphase. Heute ist es so, dass diese Outcomings Normalität erreicht haben, viele Kollegen reden darüber. Das hat aber bestimmt auch damit zu tun, dass wir uns alle ganz dolle an die Hand nehmen können, wenn wir wollen. Man kann miteinander darüber reden und das ist gar nicht mehr so tabu. Das wird immer besser, finde ich.

Du hast mit 15 schon Drogen genommen, später kam Alkoholmissbrauch dazu über Jahrzehnte … wie konntest Du aufhören damit?

Ich habe kalte Entzüge gemacht, mehrere, alleine. Ein Arzt hat mich auch zweimal in eine Klinik geschickt. Einmal in eine psychosomatische Klinik in Friesland und erst dort, das war 2008, habe ich es geschafft und bin in mein erstes AA-Meeting gegangen. Der Leiter der Klinik hatte mir auf den Kopf zugesagt, „Herr Majowski, Sie sind wahrscheinlich eher ein Säufer als jemand, der ein Burnout oder psychosomatische Probleme hat. Sie gehören eigentlich an die Tische, wo Leute sitzen, die dasselbe Problem haben wie Sie. Ich würde Ihnen empfehlen, das mal auszuprobieren.“ Dann bin ich in Oldenburg in Meetings gegangen, wo die alten Hasen saßen, und letztendlich habe ich mich dort sofort wohlgefühlt, es war wie eine mütterliche, väterliche Verbindung zu den Leuten. Ich habe mich allerdings anfangs nicht zugehörig gefühlt und tat so, als ob, weil ich noch dachte, dass ich das ja alles verdient habe – also dass ich ja unheimlich viel arbeite und ja unheimlich erfolgreich bin und mich ja auch entspannen muss und ja viel trinken darf, das kann doch gar nicht sein, nichts zu trinken. Aber ich fühlte mich trotzdem bei denen aufgehoben. Die haben mir keine Ratschläge gegeben, sondern das Gefühl, dass sie für mich da sind, wenn ich sie brauche. Und das hat sich auch bewahrheitet, ich habe den Kontakt zu ihnen nie verloren. Das war die Basis dafür, dass ich AA sehr, sehr doll vertraue. Ich habe das gleiche auch in jeder anderen Stadt erlebt – wenn ich zum Beispiel auf Tournee bin, bin ich immer in den Kontaktstellen der großen Städte – dass vieles über den Tisch geteilt wurde, richtig Tacheles geredet, und ich bin trotzdem sitzen geblieben, weil die mir einfach den Arsch gerettet haben. Und wenn ich in einer fremden Stadt kein Mittagsmeeting gefunden habe, dann habe ich eins gegründet, weil ich ja abends immer auf der Bühne stand.

Wie ist das, so als Prominenter an einem AA-Tisch?

Es kommt nie vor, dass die Frage nicht gestellt wird, wenn ich neu bin in einer Stadt: Du bist doch der Markus, der im Fernsehen so lustig ist, das kann doch gar nicht sein? Ich war am Anfang wahnsinnig traurig darüber, weil mir gesagt wurde, dass die Anonymität bewahrt wird und dass ich in Ruhe gelassen würde. Aber die Verbindung war dann doch so stark zu mir, weil ich die Menschen einfach zum Lachen gebracht hatte. Weil ich für viele die Kindheit bedeute oder die Jugend. Also viele haben mich bei den Dreisten Drei erlebt und deswegen ist immer die Freude größer als der Respekt. Die können ja in dem Moment nicht wissen, dass es mir weh tut, weil ich ja weg will von dem Ego, weg von der Popularität. Ich habe auch viele Jahre lang, während ich am Anfang bei den AA saß, aufgehört, meine Karriere voranzutreiben, ich bin in ein Riesenloch gefallen beruflich, aus dem ich nur sehr schwer wieder rausgekommen bin, weil ich mich nicht mehr bemüht habe um Jobs: Ich wollte einfach nur clean bleiben, trocken bleiben.

Wie bist Du dann trocken geblieben bis heute?

Mit Hilfe meines Sponsors. Mit Beten. Mit solchen Tricks wie in Hotels in fremden Städten die Minibars leerräumen lassen. Oder in jedem Supermarkt einen Umweg zu nehmen, um möglichst nicht in die Nähe von alkoholischen Getränken zu kommen, das war am Anfang bei mir immer ein unheimlicher Trigger, so bin ich nun mal gestrickt, das ist bei jedem anders. Ich habe viel telefoniert, viel AA-Service gemacht wie Kaffeekochen, Schlüsseldienst, Literaturdienst. So bin ich trocken geblieben. Vor allem auch durch dieses regelmäßige Meetinggehen jeden Sonntag und dann noch ein 2, 3 Mal in der Woche. Ich habe keine 90 Tage 90 Meetings geschafft, aber ich denke mal, 14 Jahre sind jetzt ins Land gegangen und ich habe keinen Suchtdruck.

Zum Trockenbleiben gehört noch mehr, im Buch steht, dass Du mehr das tust, was Dir gut tut, ob nun Sport, Yoga, Ernährungsumstellung …

Das kannst du gerne zitieren, das ist tatsächlich so, ich habe sehr viel für meinen Körper getan, mich mehr bewegt. Ich habe aber gerade wieder zugenommen, weil ich eine Knie-OP hatte und einen kleinen Herzkasper. Ich bin im Oktober auf der Bühne in Karlsruhe mit einer Herzrhythmusstörung ohnmächtig geworden. Im Krankenhaus haben sie mir in der Nacht noch einen Herzkatheter gesetzt und eine Thrombose herausgeholt. Sport ist also gerade für mich ein rotes Tuch, weil ich Knieschmerzen habe und leicht außer Atem komme. Ich mache im Frühjahr eine Kur in einer 12-Schritteklinik, um nochmal mehr Genesung in mein Leben zu lassen.

Inwiefern hat Dir Gott beim Aufhören und Trockenbleiben geholfen, wie kann ich mir das vorstellen?

Das ist schlicht und ergreifend ein Wunder. Ich hätte eigentlich viel öfter auf die Fresse fallen müssen. Aber Gott hat mir meine Grenze gezeigt. Er hat mich an den Ort geführt, an dem ich meine Kapitulation haben durfte und hat mir dann ein Leben gezeigt, was voller Wertschätzung ist, was alles etwas ruhiger angehen lässt, was mit Zuhören zusammenhängt, mit Selbstannahme und Selbstfürsorge. Ich nehme mich heute so, wie ich bin, weil ich merke, dass Gott mich liebt. Selbst, wenn es mal ganz, ganz schwierig ist – und das ist es oft in meinem Leben durch neue berufliche Herausforderungen, mangelnde Aufträge, Krankheit oder finanzielle Probleme –, bei aller Sorge bin ich gut aufgehoben und fühle mich geborgen und geliebt. Ich spüre ihn einfach. Ich spüre meine höhere Macht.

Hat Dich die Krankheit Alkoholismus etwas gelehrt?

Ja, generell hinzugucken auf das, was in der Welt schön ist, nicht dunkel und beängstigend ist. Die Sucht hat mich gelehrt, auf die kleinen Dingen zu achten, sie wertzuschätzen, so klein sie auch sind. Sie hat mich auch gelehrt, dass sie als Krankheit sehr gerissen ist, denn sie versteckt sich auch. Also ich kann meine Sucht verlagern und wenn es zu viel wird, ob das beim Arbeiten oder Essen ist, dann weiß ich sofort, das ist der Alkoholismus, der gerade woanders zuschlägt. Immer kann ich dann auf bewährte Werkzeuge zurückgreifen: Ich rufe jemanden an, bitte um Hilfe, gehe dahin, wo Leute sind, die mit der Krankheit Erfahrung haben, muss mit der Krankheit nicht alleine sein.

Jetzt sind mindestens noch eine Million Fragen offen, lieber Markus Zum Beispiel, wann, wo und weshalb hast Du getrunken oder wie hat Deine Ehe mit Barbara diese Zeit überstehen können oder … aber die Antworten darauf können die interessierten LeserInnen auf jeden Fall in Deinen beiden Büchern finden. Seit einem Jahr ist ja auch Dein aktuelles auf dem Markt: Markus, mach mal! Runter vom roten Teppich, rauf auf die Leiter“, Plassen-Verlag. Die Buchbesprechung dazu gibt es in der nächsten Ausgabe. Danke für das Gespräch!

 

Das Gespräch führte Anja Wilhelm

TrokkenPresse 6/22: Das Trockenbau – Zirkuswagenprojekt

Suchthilfe auf neuen Wegen

Der Trockenbau – Zirkuswagenprojekt e.V. in Vorpommern stellt sich vor:

Lütt Matten und … sein Heimathafen

Die Kleinstadt Barth am gleichnamigen Bodden war seit einigen Jahren fast ein Suchthilfe-Niemandsland. Aber genau das ändert sich gerade: Der Stralsunder Verein Trockenbau – Zirkuswagenprojekt e.V., vor zwei Jahren gegründet, durfte nämlich den großen städtischen Obstgarten in Barth pachten. Die Vision: Das Leben nüchtern und klar sinnvoll gemeinsam gestalten. Entstehen soll „Ein Zirkuswagendorf, klein und fein, an einem verwunschenen Ort, für Menschen, die Rückzug brauchen, gemeinsam werkeln und teilen!“ Wie das mit Suchthilfe zu tun hat und woher Idee, Kraft und das Geld dafür kommen …

Das Morgen: Das Meer duftet herüber, mitten in den alten Obstgarten herein. Der scheint riesig, fast ein halbes Fußballfeld weit. Äpfel, Birnen, Pflaumen wachsen hier. Und dazwischen leuchten bunte Zirkuswagen. Fröhliche Familien verbringen ihren preiswerten Urlaub darin. Aus einem riecht es nach Kaffee und Kuchen, er ist das mobile Café. Hie und da sägt und hämmert es: Ein alter Bauwagen wird gerade restauriert. Auf einem großen Grill brutzelt etwas, könnte Fisch sein. Auf einer kleinen Bühne trommelt sich jemand ein für sein Konzert am Abend, zu dem wie immer auch wieder Einwohner und Urlauber kommen werden … So, ja so ungefähr könnte es in den nächsten Jahren hier sein. Ein bunter Garten der fröhlichen Begegnung, offen für alle. Ein Heimathafen, so hat der Verein ihn genannt, nicht nur für Suchtkranke, sondern für alle Barther Bürgerinnen und Bürger. Das ist der große Plan, erklärt Dirk Steiniger, der stellvertretende Vereinsvorstand. Übrigens ist er auch selbst alkoholkrank – und Suchtberater.

Im Heute: Ein Zirkuswagen ist inzwischen fast fertiggestellt und steht noch auf dem Gelände des Strahlwerks in Stralsund. Fertig bedeutet: Von einem alten, typischen DDR-Bauwagen wurde das Oberteil abgerissen, das Untergestell entrostet, lackiert, dann das Oberteil mit Holz neu aufgebaut. Die alten Türen und Fenster erneuert und wieder eingesetzt. Aus alt mach neu. Da steht er nun und wird seinen endgültigen Stellplatz im Garten der Begegnung in Barth finden. Lütt Matten ist sein Name, liebevoll benannt nach der Hauptfigur eines Kinderbuches von Benno Pludra, „Lütt Matten und die weiße Muschel“. Jeder Wagen wird einen Namen bekommen, das steht fest. Das ist was Persönliches. Denn in Lütt Matten steckt viel mehr als die bloße Arbeit: Nämlich die neu gewonnene Lebensfreude und der wiederentdeckte Lebensmut der suchtkranken Menschen, die mithalfen. Ob beim Sägen, Schleifen, beim Sandstrahlen oder Lackieren – etwas zu tun, etwas Sinnvolles mit den eigenen Händen zu erschaffen, das erfüllt, schenkt Selbstwertgefühl und Zufriedenheit. Gedanken an Alkohol und Drogen sind dann ganz weit weg.

Das ist auch das besondere Ziel des Vereins?

Dirk: Ja. Ich war es leid, ich hatte das fünf Mal stationär in einer Therapie, dass ich in der Ergotherapie Körbe geflochten habe, meine Muddi hat heute noch den halben Keller voll damit. Ich habe damals gedacht, es muss doch andere Wege geben! Und dann entdeckte ich zufällig Ulliwood in Schleswig-Holstein. Das sind Leute, die nichts mit unserem Thema zu tun haben, sondern sich vor 30 Jahren fanden und einen Zirkuswagen nach dem anderen aufgebaut haben, wodurch eine richtige Dorfgemeinschaft entstanden ist. Ich habe sie besucht und dachte dann: Ok, das kann man vielleicht einnorden, um etwas für Menschen mit Sucht tun zu können. Meine Freunde fanden die Idee auch gut, und so haben wir gemeinsam den Verein gegründet.

Wer sind denn nun die Menschen, die hier mithelfen beim Bauen?

Vor allem alkoholkranke, polytoxe Menschen, auch mit Doppeldiagnose, also Angst, Depressionen. Sie kommen von den Nachsorgeeinrichtungen im Umfeld, die Arbeitstherapeuten sind mit dabei. Aber auch Leute aus dem Ort, Rentner, Flüchtlinge, Arbeitssuchende, die sich alleine fühlen oder langweilen, Menschen, denen das Projekt gefällt, schauen vorbei.

Aber es braucht doch auch Fachleute, Handwerker?

Das ist schwierig, Handwerker zu finden, denn sie sollen ja auch kaum Geld kosten. Deshalb ist es meist temporär. Für Lütt Matten hatten wir einen jungen Tischler hier für ein paar Monate, der uns angeleitet hat. Jetzt haben wir einen Frührentner da, der handwerklich sehr beschlagen ist und gerade eine mobile Bühne mit uns baut, solche Leute sind wie Goldstaub. Begeistert von der Idee, unserem Hintergrund. Der Bernd kommt aus Kiel, ist auch viele Jahre trocken und clean, und kennt das auch alles so wie ich, mit richtig runter, auf der Straße leben …

… und kann nebenbei seine Sucht-Erfahrungen ja auch weitergeben?

Ja, wenn die Leute fragen, Mensch, wie habt ihr denn das gemacht, das wär vielleicht ein Weg für mich, lass uns mal drüber reden? Solche interaktiven Gespräche, wir verbringen ja manchmal den ganzen Tag zusammen, beim Essen, bei der Arbeit, im Tagesablauf, gehören auch dazu. Und eine Tagesstruktur anzubieten übrigens sowieso, das ist das A und O, das wissen wir ja selber.

Wie haltet ihr die abhängigen Menschen noch interessiert und „dabei“?

Wir binden sie mit ein in die Planung zum Beispiel. Wir kaufen eben kein Untergestell neu, sondern machen es neu. Das heißt, wir machen uns mit den Klienten gemeinsam einen Kopf: Wir haben etwas Altes da, was können wir daraus machen? Wir entscheiden gemeinsam. Ich habe genügend eigene Therapieerfahrung, um zu wissen, wenn man was vordiktiert bekommt, dann hat man weniger Bock. Oder eben mit mal ganz anderen Ideen: Die alten Bauwagen, die schon dastehen, werden im Frühjahr von unseren Leuten besprayt, innerhalb einer Werkstattwoche, da kommt extra ein Sprayer aus Berlin her zum Anleiten. Wir wollen die KlientInnen für auch mal andere Dinge öffnen, denn in der Klinikstruktur ist der Ablauf ja immer der gleiche, aber wir können da ein bisschen innovativer sein und mehr auf die einzelnen eingehen. Zum Beispiel kann ich, als Entspannungstherapeut, auch mit Klangschalen arbeiten, das wollen wir einfach mal mit einbauen, wir nehmen zwei, drei Klangschalen und gehen zwischendurch an den Strand und klingen die an. Mal schauen, wie das wirkt auf die Jungs, vielleicht sagen die, da hab ich keinen Bock drauf, aber vielleicht ist jemand dabei, der sagt, ey cool!

Wie oft arbeitet ihr momentan zusammen?

Je nachdem, wie die Handwerker Zeit haben, da wird alles rundherum organisiert. Momentan ein bis zwei Mal die Woche. Im nächsten Jahr  soll es häufiger werden. Morgen wollen wir zum Beispiel gemeinsam bauen und grillen, übermorgen kochen wir hier zusammen eine Bohnensuppe.

Wie viele Menschen sind dann meist da?

Das könnten noch viel mehr sein. Fünf, sechs. Oder tagelang nur einer, da sind wir gerade in Barth im Aufbau. Wir wollen mehr Leute einbinden und nicht nur Süchtige. Im normalen Leben ist es ja auch so, dass die Süchtigen nicht nur unter sich sind oder sein sollen.

Woher kommt das Geld, das ihr benötigt?

Das ist der schwierige Punkt. Zum einen aus Fördertöpfen, z.B. der Kriminalprävention oder von der  Ehrenamtsstiftung. Zum anderen von Menschen, die dem Verein wohlgesonnen sind, die soziale Projekte unterstützen, z.B. der Lions Club, der Rotary Club. Wir klopfen an viele Türen. Da war eine Frau, deren Mutter war Alkoholikerin und als wir erzählten, was wir machen, zum Beispiel von den Bauwagen, die wir umsprayen wollen und dass da einer 1000 Euro kostet … da sagte sie, wisst ihr was, dafür gebe ich euch schon mal die 1000 Euro! Das ist Arbeit, immer wieder die Geschichte zu erzählen, die Leute vor allem mitzunehmen: an der und der Stelle brauchen wir eure Hilfe … Und der dritte Pfeiler, den wir langsam angehen, sind Benefizveranstaltungen, wie der Rilke-Abend mit Schauspieler Markus Majowski, auch lange Jahre trocken. Inzwischen ein guter Freund von uns und öfter hier. So ein Schirmherr pusht unsere Sache natürlich.

 Du bist ja Feuer und Flamme für euer Projekt …

Ja! Es ist meine Lebensaufgabe geworden. Die AA nennen es den zwölften Schritt. Die Erfahrung, Kraft und Hoffnung teilen. Also das weiterzugeben, was mir Gutes widerfahren ist vor vielen Jahren, als ich auf der Straße gelebt habe in Hamburg und mir da ein paar Leute die Hand gereicht haben und ich die gottseidank ergriffen habe … Und nun ist der Punkt gekommen, an dem ich das eins zu eins, und andere natürlich hier auch, weitergeben kann. Das hält mich auch selber nüchtern.

Schritt für Schritt für Schritt geht es nun nach Lütt Matten weiter. Der Vision entgegen. Gerade ist im Heimathafen eine mobile Bühne – aus einem restaurierten Untergestell und Holz-Planken – fertig geworden. Für Konzerte, Lesungen, Gesprächsrunden. Ab Januar 2023 wird, losgelöst vom Verein, ein Raum angemietet für eine neue Selbsthilfegruppe. Die erste seit drei Jahren in Barth. Und über den Winter werden die jetzigen Helfer nicht etwa gemeinsam nichts tun, sondern dies: Die einstigen Modellhäuser vom Rathaus, der Kirche u.a., die etwas verloddert im Obstgarten herumstanden, werden in den Nachsorgeeinrichtungen schick gewerkelt, damit sie wie frisch dann im Frühjahr wieder in den Heimathafen können …

Wenn Sie mitmachen wollen, Fördermitglied werden oder spenden möchten:

www.zirkuswagenprojekt.de
Email: trockenbau2020@gmx.de
Bankverbindung für Spenden:
TROCKENBAU – das Zirkuswagenprojekt e.V.
Sparkasse Vorpommern
IBAN: DE51 1505 0500 0102 1103 79
BIC: NOLADE21GRW

TrokkenPresse 5/22: Arbeiten u n d trinken wie die Männer?

Interview mit Autorin Eva Biringer über den steigenden Alkoholkonsum von Frauen

Arbeiten u n d trinken wie die Männer?

Ur-Omi nippte damals am Eierlikör, und das vielleicht einmal im Monat mit einer Bekannten. Derweil kippte Ur-Opa in der Kneipe gegenüber Bier und Schnaps – und das nicht nur einmal im Monat. Doch seit 25 Jahren, besagt eine weltweite Studie, hat sich das Trinkverhalten angeglichen. Männer trinken etwas weniger, Frauen inzwischen viel mehr Alkohol. In Deutschland ist inzwischen fast die Hälfte aller Alkoholkranken eine Frau, besagen aktuelle Statistiken. „Je emanzipierter ein Land ist, desto eher trinken die dort lebenden Frauen“, stellt Eva Biringer in ihrem Buch „Unabhängig“ fest, das wir in der vergangenen Ausgabe vorstellten. Die heute trockene Autorin gehört mit ihren 32 Jahren und ihrer Karriere als Food-Journalistin selbst der Generation Frauen an, die es normal findet, zu arbeiten u n d zu trinken wie die Männer.

Was hat das mit Emanzipation zu tun, wenn Frauen heute viel mehr trinken?

Eva Biringer: Einerseits hat Alkohol die Wirkung, die er hat: Er nimmt scheinbar die Sorgen, man fühlt sich leicht beschwingt und das ist natürlich ideal, wenn man den ganzen Tag nicht weiß, wo einem der Kopf steht als Frau, vielleicht auch noch als Mutter, aber auch als Frau, die einen Job hat, der sie fordert. Dann ist da das Glas Wein am Abend der erste Moment, in dem man sich mal was Gutes tut – mal durchatmen, mal Zeit für sich. Andererseits wird Alkohol für Frauen heute auch als Emanzipation verkauft. Sie können heute alles machen, denselben Job wie Männer, können sich selbst verwirklichen, ihr eigenes Lebensmodell wählen: Warum sollen sie dann nicht auch trinken wie die Männer? Dieses „Sex in the City“-Beispiel, das sind Frauen mit tollen Jobs, die sich ihre 15-Dollar-Martinis gönnen und in der Öffentlichkeit trinken. Natürlich nicht zu viel, das ist das Perfide daran, dass das weibliche Trinken sehr wohl reglementiert wird, nämlich dass eine besoffene Frau total abstoßend ist, noch viel abstoßender als ein Mann. Das heißt, man bewegt sich auf einem sehr schmalen Grat zwischen nicht trinken, was komisch ist, denn dann hat man ja ein Problem, und viel trinken, was auch nicht geht – aber eine Frau, die nicht sichtbar betrunken, aber maßvoll in der Öffentlichkeit trinkt, die hat schon was Glamouröses, wenn es nicht der Wodka direkt aus der Flasche ist. Ein Cocktail, ein besserer Wein oder Prosecco, das ist so: Okay, die gönnt sich was.

Trinken Frauen anders und aus anderen Gründen als Männer?

Ich habe eher getrunken, um was zu erleben, zu fühlen, weil ich gerne starke Empfindungen mag, aber ich bin damit eher ein Gegenbeispiel: Viele Frauen trinken, um Gefühle nicht fühlen zu müssen, um sich zu betäuben. Sie trinken auch gegen Ängste und Depressionen an, anders als Männer, die oft nach außen gehen, auch im wortwörtlichen Sinn, nämlich eher in der Öffentlichkeit trinken als Frauen, die, wenn sie problematisch trinken, eher Zuhause trinken … weil es etwas Schambehaftetes hat, das weibliche Trinken – und weil sie da auch einfach sicherer sind, denn eine betrunkene Frau kann eher Opfer einer Gewalttat werden als eine, die nicht betrunken ist. Mit dem Trinken neigen Männer dann eher zu aggressivem, gewaltbereitem Verhalten, bei Frauen dagegen verstärken sich Angstzustände und Depressionen meist.

Werden Frauen schneller abhängig?

Ja, der weibliche Körper kann Alkohol schlechter abbauen, verstoffwechseln. Frauen werden aber nicht nur schneller abhängig, auch die körperlichen und die psychischen Schäden wie Depressionen und Angstzustände durch Alkohol sind sehr viel ausgeprägter als bei Männern, bis hin zu einem mehr als doppelt so hohen Sterblichkeitsrisiko. Deswegen gibt es auch die Empfehlungen, dass Frauen viel weniger trinken sollten als Männer, maximal die Hälfte.

Müsste es dann für Frauen nicht eine spezielle Frauentherapie geben?

Ja, ich bin sehr dafür, dass es eine geschlechterspezifische Suchttherapie gibt, oder mehr, als es gerade der Fall ist: Weil Frauen viel mehr aufgebaut werden müssen. Deswegen lehne ich auch das AA-Konzept ab, bei dem man sich erst mal klein machen muss und sich entschuldigen bei allen, denen man Unrecht angetan hat. Denn das machen Frauen doch sowieso die ganze Zeit. Ich glaube, Frauen müssen bestärkt werden. Das funktioniert, denke ich, am besten in einer Frauengruppe, nicht in einer gemischten Gruppe, ich habe es selbst erlebt. In einer gemischten Gruppe reißen die Männer dann doch wieder das Wort an sich – aber in einer Frauengruppe fühlt man sich doch eher wie in einem geschützten Raum und kann besser auf die geschlechtsspezifischen Probleme eingehen.

Mir ging es selbst so, in der Therapie gab es gemischte Gruppen und ich konnte mich da nur schwer öffnen …

Ja, diese Erfahrung haben viele Frauen gemacht. Ich sage jetzt nicht, dass es keine erfolgreichen gemischten Therapien gibt, aber ich hatte den direkten Vergleich, meine Aufnahmegruppe in der ambulanten Therapie war gemischt, später war es eine Frauengruppe. Das war eine ganz andere Stimmung. Ich glaube, Frauen trauen sich dann mehr, offenbaren sich eher vor anderen Frauen und man kann auch von Seiten der Therapeuten anders herangehen, also eine speziell auf Frauen zugeschnittene Therapie anbieten.

Auch die Werbung trägt ja dazu bei, dass Frauen mehr trinken, sie spricht sie zielgerichtet an, Frauen als Absatzmarkt. Woran kann frau das erkennen?

Durch die Art der Getränke, denn wie alles in der Welt ist ja auch das Trinken gegendert. Also wird der Mann eher durch die Werbung mit einem Whisky oder Cognac angesprochen und die Frau eher mit einem Rosé, mit Sekt, mit Getränken, die weniger Alkohol enthalten, süßlich schmecken und auch niedlich daherkommen, so wie sie aufgemacht werden. Dann ist es natürlich die Mädels-Prosecco-Runde, die dargestellt wird in der Werbung, bei den Männern eher der Biergartenbesuch. Das Perfide ist aber auch die versteckte Werbung. So viele Serien, Filme, Bücher sind bildprägend. Oder Instagram, die sozialen Medien, es ist ja überall das Bild der elegant trinkenden Frau, die sich auf jeden Fall unter Kontrolle hat und nicht betrunken vom Barhocker kippt, aber die trinkt. Und die das als selbstverständlichen Teil ihrer Weiblichkeit betrachtet. Das finde ich fast noch gefährlicher, weil man es gar nicht als Werbung erkennt und es sich sofort abspeichert: ah ok, ne Frau, die im Leben steht, etwas aus sich macht, die trinkt – na dann trink ich doch auch.

Warum hast Du eigentlich Dein Buch geschrieben?

Weil ich in der Zeit, bevor ich aufgehört habe, super viel gelesen hatte, alles, was ich gefunden habe zum Thema Alkoholismus. Jedes dieser Bücher hat mir etwas gegeben, manches mehr, manches weniger, aber die Geschichten von anderen fand ich sehr, sehr hilfreich auf meinem eigenen Weg, gerade die Geschichten von Frauen. Mir war immer klar, wenn ich es mal schaffe, aufzuhören, dann wird es für mich so krass sein, so lebensumwandelnd, dass ich das irgendwann aufschreiben muss. Auch für andere.

Du bezeichnest Dich heute nicht mehr als Alkoholikerin, warum?

Nicht „nicht mehr“, ich habe mich auch früher nicht als Trinkerin bezeichnet, weil ich den Begriff nicht mag. Ich weiß, es ist ein heikles Thema, aber ich habe das für mich so entschieden. Ich habe auch mal geraucht, dann aufgehört und bin seitdem keine Raucherin mehr. Ich hatte ein Problem mit Alkohol, auch eine Abhängigkeit, aber Alkoholikerin … das definiert dich ein Leben lang als Person, und so sehe ich mich nicht. Dieses klassische „Ich bin Eva, ich bin Alkoholikerin“, das passt für mich einfach nicht. Weil es sofort ein Bild aufruft, das wieder Teil des Problems ist, weil viele dann sagen, „Na, ich bin aber nicht die Frau, die morgens schon ihren Wodka reinkippt, die ist Alkoholikerin, ja. Ich trinke ja einfach nur ein bisschen zu viel.“ Da muss man aufpassen, dass es nicht andersrum funktioniert, als Rechtfertigung zum Trinken. Ich mag den Begriff nicht und jetzt erst recht nicht mehr. Ich trinke keinen Alkohol mehr, da bin ich doch erst recht keine Alkoholikerin mehr.

 

TrokkenPresse 4/22: Mit Butterbrot und Bibel

Als Suchthelfer in der Ukraine:

Mit Butterbrot und Bibel

„Ihr“ Mariupol ist heute ein anderes … eine hungernde und dürstende Stadt in Trümmern. 18 Jahre lang war dieser Ort für die Suchthelfer Heinz und Martina Nitzsche aus Mecklenburg eine zweite Heimat. In der sie hunderten alkohol- und drogensüchtigen Menschen, ihren Kindern, vielen Obdachlosen und Kranken halfen, ein neues, besseres Leben beginnen zu können. Sie bauten eine Gemeinde auf, eine Gottesdiensthalle, Blaues-Kreuz-Gruppen, ein Kinderheim, ein Hospiz, unterstützten eine Obdachlosenzuflucht und kleine Reha-Zentren.

Kartoffelkäfer also. Martina steht in ihrem weiten Garten, von Ferne summt die Autobahn nach Rostock herüber. Sie beugt sich über eine Kartoffelpflanze. Aha! Ein Gelbbraungestreifter wird sachte ins Schraubglas gelegt. Aus dem Nachbarbeet blinzelt es rot, ein paar Erdbeerchen könnten gepflückt werden. Und Unkrauthacken wäre auch mal dran. Aber immer kommt was anderes dazwischen, das ihr viel wichtiger ist: „Menschen gehen immer vor!“ Ebenso ergeht es Heinz, der gerade über die vorlauten Gänse lächelt, die Hände voll mit frischen, braunen Hühnereiern.

Ein beschauliches Rentnerdasein könnten sie führen, hier in ihrem Linstow, während in ihrer einstigen Wahlheimat Menschen sterben. Aber das kommt ihnen nicht mal in den Sinn. Erst heute Morgen waren beide schon unterwegs ins Nachbardorf zu einer ukrainischer Flüchtlingsfamilie, der Herd war kaputt, ein Elektriker schnell organisiert. Und jetzt, auf dem Weg über die stille Dorfstraße in ihre kleine Wohnung im Haus der Tochter, tönt ein helles „Hallo, Martina“ aus einem anderen Haus, an dem gerade gebaut wird. Ein kleiner ukrainischer Blondschopf winkt fröhlich aus dem Fenster. Flucht-Ende bei einem von Nitzsches erwachsenen Kindern.

Martina und Heinz haben seit Kriegsbeginn immer wieder organisiert, dass diese Menschen hier in der Gegend eine erste Unterkunft finden. Vor allem Freunde, Bekannte und Mitarbeiter aus Mariupol mit ihren Familien. Darunter viele ihrer früheren Schützlinge, einst alkohol- oder drogensüchtig, heute frei Gewordene, wie beide es nennen. Nun freuen sie sich, dass die Gemeinde Kuchelmiß zehn Wohnungen in einem älteren Mietshaus zur Verfügung gestellt hat …

Während Martina daheim dann die Kartoffeln aufsetzt, eigene Ernte vom letzten Jahr, und den frischen Heringssalat umrührt, den Heinz so gerne mag, blubbert die Kaffeemaschine friedlich. Alles ist so friedlich hier. So sorgenfrei. Und Martina denkt an Mariupol in Trümmern. „Aber auch, wenn die Häuser, die wir mitaufgebaut haben, nun kaputt sind oder nicht mehr nutzbar – sie waren doch nur ein Instrument, damit wir arbeiten konnten. Das Eigentliche sind die Menschen. Die meisten sind heute noch trocken, trotz des Krieges! Dafür braucht man ein Fundament. Bei uns ist das der Glaube, und dieses Fundament durften wir ihnen damals weitergeben. Also hat es sich gelohnt, das Leben dort.“

Als Blaukreuz-Suchthelfer in die Ukraine

 Wieso wollten Sie 2001 dorthin, um zu helfen?

Martina: Die Geschichte geht viel früher los. Heinz hatte schon immer ein großes Herz für die Randgruppen der Gesellschaft. Und zu denen gehörten in der DDR eben auch die russischen Soldaten.

Heinz: Bei uns nahe Riesa sind sie immer die Straßen lang gekommen in ihren Panzern, wir haben uns draufgesetzt als Kinder, die Mützen aufprobiert und Abzeichen ausgetauscht.

Martina: Und als wir dann verheiratet waren, haben wir immer was verteilt an diese Leute, russische Bibel-Schriften, Schokolade, später sogar eine große Weihnachtsfeier organisiert. Nach der Wende sind wir sofort nach Russland gefahren, um unsere Freunde zu besuchen. Zweimal hatten wir da ein Erlebnis: Betrunkene lagen am Straßenrand, ein LKW fuhr vor, zwei Männer öffneten die hintere Ladetür, griffen die Menschen an Armen und Beinen und schmissen sie ins Auto. Was passiert jetzt mit ihnen?, fragte ich. Die kommen erst mal einen Tag in die Ausnüchterungszelle. Das nächste Mal für zwei Tage, dann für fünf und dann ins Arbeitslager … Ich sagte, aber das geht doch nicht! Die Menschen werden doch schlimmer davon. Die brauchen Liebe und dass jemand ihnen Wege aufzeigt, wie man rauskommt aus der Sucht!

 Und da mussten Sie etwas tun?

Martina: Ja. Wir haben immer in christlichen Gemeinden übernachtet auf unseren Wegen, auch durch die Ukraine. Und dort unser Anliegen geschildert, Alkoholikern zu helfen. Da war gar kein Verständnis da. Das seien Menschen dritter Klasse, Schweine. Und so haben wir erst mal angefangen, ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass das Menschen sind, die das gar nicht wollen, wie sie sind. Und Erbarmen brauchen von uns. So entwickelte sich das, bis hin zu Gruppenstunden. Aber immer, wenn wir in unserem Urlaub wieder dort waren, war es wieder eingeschlafen. Heinz meinte, es müsse jemand immer vor Ort sein. Aber als Mutter von fünf Kindern wollte ich nicht weg, solange sie mich brauchen. Als dann später aber unser jüngster Sohn tödlich verunglückte, der uns noch am meisten gebraucht hatte, wusste ich: Ich bin jetzt freigestellt. So sind wir 2001 aufgebrochen. Ohne zu wissen, was auf uns zukommt.

Und ohne Geld …

Heinz: Unser Antrag bei der EU auf Finanzhilfe für das Projekt wurde abgelehnt. Wir verließen uns nun auf Gott.

Martina: Und dann hat der riesige Freundeskreis uns hindurchgetragen. Ein Geschenk von Gott, dass er die Menschen dazu bewegt hat. Wir hatten viele und lange Durststrecken, aber wir haben immer wieder das Wunder erlebt, nicht hungern zu müssen und immer das zu haben, was wir zum Leben brauchten. Und dass wir bauen konnten, herrichten. Wir haben wirklich den lebendigen Gott erlebt: Dass er da ist und die Seinen nicht im Stich lässt.

Wo habt ihr gelebt?

Martina: Freunde hatten uns ein uraltes kleines Häusel gekauft. Und schon die verrotteten Fenster und Türen rausgerissen, um uns was Gutes zu tun. Aber wir hatten ja kein Geld. Der Müll war noch nicht abgefahren, also haben wir alles wieder eingebaut. Die Leute dort haben uns beobachtet und gesehen, dass wir nichts Besseres sind und genauso im Dreck sitzen müssen wie andere, die immer arbeiten und arbeiten und es reicht hinten und vorne nicht. Inzwischen hatten wir auch schon Straßenkinder angesprochen, bei denen Vater und Mutter tranken. Sie kamen dann regelmäßig zu uns zum Essen, weil es zuhause nichts gab.

Heinz: Bei einem der Kinder, einem sechsjährigen Mädchen, stellte sich bei einer ärztlichen Untersuchung Syphilis heraus – die Mutter hatte das Kind verkauft für Alkohol und Drogen …

Wie war damals die Suchtsituation dort?

Heinz: Schlimmer als in Deutschland, es gab mehr Alkoholiker …

Martina: Unsere Alkoholkranken wurden ja sozial aufgefangen seit der Wende. Und so war das dort nicht.

 Gab es Therapien?

Heinz: Nicht so wie hier. In Mariupol gab es eine Psychiatrie, wo Abhängige entgiftet wurden. Der Doktor sagte: Ich entgifte sie, dann kommen sie wieder. Da ist keine Perspektive da. Als einige seiner Drehtürpatienten später aber nicht mehr kamen, weil sie inzwischen unsere Gruppenstunden und Gottesdienste besuchten, wusste er, dass wir ihnen mit dem Glauben ein Fundament anbieten. Diese Chance sollen alle bekommen, sagte er – und so begann unsere Arbeit in der Klinik.

Aber was genau haben Sie nun gemacht?

Martina: Einfach das Leben geteilt. Zum Beispiel zu jedem Besuch in der Klinik einen großen Berg Butterbrote mitgebracht …

Butterbrote?

Martina: Ja, anders als bei uns mussten Kranke von ihren Verwandten mit Essen versorgt werden – aber diese wollten von den Trinkern ja nichts mehr wissen. Also hatten sie immer Hunger. Wir haben ihnen Bibeln gebracht, mit ihnen gesungen, Andachten gehalten oder einfach nur mit ihnen geredet. Sie sind dann in unsere Gottesdienste, zu Blaukreuzstunden gekommen, wieder gegangen, manche sind geblieben oder irgendwann wiedergekommen. Eine Sache über Jahre. Die, die „frei“ geworden sind, haben sich dann auch mit eingebracht und wieder etwas aufgebaut. Oder sind in eine Art Rehazentrum, kleine Häuser mit vier bis fünf Zimmern, pro Zimmer fünf Menschen. Da wird zusammen gelebt, gebetet, mit Garten und Vieh das Leben gemeinsam bestritten. Und wir waren zu Hausbesuchen unterwegs, wenn wir Hinweise bekommen haben, wer Hilfe braucht, haben eine Kleiderkammer aufgemacht, jeden Montag im Obdachlosenasyl Suppe ausgeteilt, später auch ein Hospiz gegründet …

Woher kam das Geld dafür?

Martina: Aus vielen Gemeinden und Kirchen, von vielen, vielen Freunden und Bekannten, die haben das alles mitgetragen, auch die Lebensmittel-, Kleider- und Möbelspenden, die Baumaterialien. Unmengen an humanitärer Hilfe in LKWs kamen an. Da sind wir sehr, sehr dankbar!

In welcher Sprache haben Sie sich ausgetauscht?

Martina: Ich habe jeden Tag mit Zetteln an der Wand acht neue Worte Russisch gelernt, mein Wortschatz wurde groß, nur reden konnte ich damit nicht. Die Dolmetscherin meines Mannes, er brauchte sie für die Behördengänge, sagte: Du musst einfach reden! Und je mehr ich mit den Menschen sprach, verstanden sie mich besser. Den Heinz haben seine Männer auch so verstanden, in seiner Gestik, Mimik, der Art des Umgangs – sie wussten genau, er wollte ihnen nur Gutes. Wir haben einfach Liebe ausgeteilt. Der Mantel der Liebe passt jedem – da brauchts nicht viele Worte.

Und wie ging Ihre Arbeit mit den Alkoholikerkindern, die zum Essen kamen, weiter?

Heinz: Im ärmsten Gebiet von Mariupol haben wir den Bau eines Kinderhauses organisiert …

Martina: … und was da passiert ist an den Kindern, kann man sich nicht vorstellen. Regelmäßiges Duschen, Hausaufgabenhilfe, Wäsche waschen, Spiele, zwei Mahlzeiten am Tag, sie waren ja immer hungrig, weil sich die suchtkranken Eltern nicht um sie kümmern konnten. Unsere Bedingung war, wenn sie in die Schule gehen, dürfen sie nachmittags in die Betreuung kommen, also sind sie in die Schule gegangen … wurden gute Schüler, fingen an, ihr Leben anders zu leben als die Eltern. Die Kinder haben dann ihre Eltern zu uns eingeladen, so sind wir an die Eltern gekommen – und so haben auch viele von ihnen dann ein neues Leben beginnen können. Als unser Sohn verunglückte, das war eine sehr harte Zeit, aber Gott hatte seinen Plan. Denn wie viele Kinder hätten keinen guten Weg gehabt, wie viele Mütter und Väter, wenn der Herrgottt Andreas nicht genommen hätte. Ich wäre sonst ja nicht dorthin gegangen. Und jetzt sind das alles meine Kinder …

Zum Beispiel Tanja

Eines Winters bat ein Mädchen aus dem Kinderheim darum, ihre Mutter suchen zu helfen, sie könnte sonst draußen erfrieren, alkohol- und drogensüchtig. Heinz und Martina machen sich mit Helfern auf den Weg durch die Stadt. Gefunden wurde sie in einem Krankenhaus, auf 33 kg ausgemergelt, an Aids erkrankt im letzten Stadium, der Arzt gab ihr nur noch wenige Monate … Sie wollte Nitzsches unbedingt sprechen, von denen sie zuvor gelesen hatte. „Ich muss mich bekehren“. Sie legte ihre Lebensbeichte ab, entschlossen, ab jetzt Gott zu leben. Später, aus dem Krankenhaus entlassen, wollte niemand die Obdachlose aufnehmen, aus Angst vor Ansteckung. Also nahmen Nitzsches sie in ihre eigene Enge mit auf, die Stube bekam eben ein Bett. Denn jemanden, der ein neues Leben angefangen hat, wollten sie nicht auf die Straße zurückschicken. Und heute? Sie lebt! Und zwar glücklich und fröhlich in Deutschland. Trocken und clean. „Und so hatten wir viele, viele Menschenschicksale, die wir mitbegleiten durften … ja, einfach durchs Leben teilen“, erinnert sich Martina.

Der Krieg

Das Dach des Hospizes ist heute zerbombt. Das Obdachlosenheim auch. Einiges steht noch, darunter die Gottesdiensthalle. Aber niemand ist mehr da, der sie nutzen könnte. Die meisten Mitarbeiter und Freunde sind geflohen. Viele in die Westukraine oder nach Deutschland – einige auch über große Umwege wie Schützling Dima, erzählt Martina. Er wurde in Mariupol in einem russischen Zug nach Kasachstan in ein Lager geschafft, entkam aber über Georgien bis nach Fulda. In die Sicherheit. Wenn er noch in seinem alten Leben gesteckt hätte, hätte er das nie geschafft, meint Heinz. Dima habe ein Fundament. Den Glauben. Wie viele der Geflüchteten, die bis hierher nach Linstow oder Kuchelmiß in die offenen Arme der Nitzsches fanden.

Während Martina die Mittagsteller spült und Heinz es sich mit seinen 78 im Sessel etwas bequemer macht, sind sie wie oft in Gedanken bei denen, die nicht hier sein können. Bekommt der eine überhaupt noch sein Insulin? Haben alle zu essen und zu trinken? Ein befreundetes Ehepaar meldet sich schon lange nicht mehr, niemand weiß etwas … Nitzsches telefonieren viel. Es soll kaum Trinkwasser geben, wenige und dann sehr teure Lebensmittel und nur mit einem russischen Pass zu erhalten, dafür täglich russische Propagandafilme per Bildschirmen auf Autos. Versuchte Gehirnwäsche. Und bei der 9. Mai-Kundgebung zwar jubelnde Mariupoler im russischen TV, aber mit Kalaschnikows im Rücken.

Heinz und Martina sind jedenfalls der Meinung, ihre Ukrainer werden sich niemals ergeben. Sie wollen nicht in die Knechtschaft zurück, nachdem sie das Leben in Freiheit kennengelernt haben, weiß Martina. Selbst die Russischstämmigen seien jetzt ukrainisch denkend. Ein Freund habe am Telefon gesagt: „Ich gehe keinen Schritt zurück. Wir verteidigen die Ukraine bis aufs Letzte.“

Auch und erst recht in großen Krisen wie dieser hilft ihnen und ihren Schützlingen der Glaube. „Ich darf immer wissen, er hält mich. Ich fühle mich getragen wie ein Kind,“ lächelt Martina.

Ob Kartoffelkäfer also oder Krieg. Ob Tod des Sohnes oder Errettung von Süchtigen – mit allem verfolge Gott einen Zweck, einen bestimmten Plan. Manchmal verstehe man ihn erst später und zweistimmig sind sich Nitzsches sicher: „Gott macht keine Fehler.“

Anja Wilhelm

Übrigens waren Martina und Heinz Nitzsche auch in Mecklenburg als Suchthelfer tätig: Sie haben vor über 50 Jahren die Suchthilfeeinrichtung der Diakonie in Serrahn aufgebaut (heute eine Reha-Klinik). Auf einem alten Pfarrhof, mit einer besonderen Therapiemethode. Dazu in der nächsten Ausgabe der TrokkenPresse mehr …

TrokkenPresse 3/22: Klaus – Alles ist möglich, wenn …

Serie: Trocken bleiben – aber wie?

Alles ist möglich, wenn man an sich glaubt

Seit unserer ersten Ausgabe 2019 stellen wir Menschen vor, die seit einiger Zeit trocken leben. Wir wollen wissen, wie sie das erreicht haben, jeden Tag aufs Neue, bis daraus Monate und Jahre wurden. Ihre Erfahrungen können vielleicht dem einen oder anderen Betroffenen auch hilfreich sein. Heute erzählt uns unser Leser Klaus-Dieter Wehmeier, wie er trocken wurde und blieb …

Als ich am 17.07.1986 zur Entgiftung ging, war nicht klar, welch spannender, aufregender und steiniger Weg vor mir lag.

Alkohol, Medikamente und Drogen hatten mein bisheriges Leben bestimmt. Hiermit sollte es zu Ende sein. Ich wollte mein Leben wieder in die eigene Hand nehmen. Aber wie, das war die Frage.
Ich liebte es, Pläne zu machen und traf mit einem Stapel Papieren, meinem Konzept, bei der Entgiftung ein.
Als ich am nächsten Tag erwachte, hatte der Entzug eingesetzt und mein Konzept war dahin. Die Realität meines Handelns, meines Missbrauchs hatte mich eingeholt.

Nach Beendigung der 3-wöchigen Entgiftung ging es dann zur Therapie nach Bad Tönisstein und mein Weg in ein nüchternes Leben begann.
In Bad Tönisstein beschäftigten mich viele Fragen, von denen ich einige aufzählen werde: Da ich ein bequemer Mensch war, beschäftigte mich die Frage, wie ich im weiteren Leben an mir arbeiten solle. Dieses erschien mir zu anstrengend. Meine Therapeutin antwortete mir, ich solle mir mein Leben als Glaskugel vorstellen. Diese Glaskugel müsse ich am Laufen halten. Dieses gelänge mir nicht, indem ich auf sie einschlüge. Meine Aufgabe bestünde lediglich darin, die Glaskugel am Laufen zu halten. Also keine Schwerstarbeit. Ich war erleichtert.
Zu Beginn der Therapie drückte mir meine Therapeutin Conny ein Buch in die Hand. Der Titel „Die Realitätstherapie“ von William Glasser. Glasser schreibt über die Grundbedürfnisse des Menschen und welche Dinge für ein zufriedenes Leben notwendig sind.
Meine Vorstellung von Grundbedürfnissen war eine völlig andere. Mir waren Dinge wichtig, welche Glasser als Luxus bezeichnete und ich war gezwungen, über mein bisheriges Weltbild, über Zufriedenheit und Notwendigkeiten, nachzudenken.
Der Sozialarbeiter bremste mich aus: Ich war schon während der Therapie mit der Zeit nach der Therapie beschäftigt. Wollte mich lieber mit Dingen beschäftigen, auf die ich noch keinen Einfluss hatte, um mich nicht mit meiner momentanen Situation auseinandersetzen zu müssen …
Immer wieder wurde ich mit meiner Realität konfrontiert, wurde mir aufgezeigt, wo meine Probleme lagen und ich begann, mich dieser Realität zu stellen.

Die tatsächliche Arbeit an mir begann allerdings erst, als ich nach 12 Wochen Bad Tönisstein verließ und wieder in meine gewohnte, noch immer konsumierende Umgebung zurückkam.

LichtBlick

In Tönisstein hatte ich erfahren, wie wichtig der Besuch einer Selbsthilfegruppe ist. Also machte ich mich auf die Suche nach einer für mich passenden Gruppe: In Bad Tönisstein wurde die Therapie nach den Regeln der AA (Anonyme Alkoholiker) durchgeführt, also versuchte ich es mit einer AA-Gruppe. Ich konnte aber mit den Erzählungen der „Gruppenfürsten“ nichts anfangen, die stetigen Wiederholungen ihrer Geschichten nervten mich.
Dann besuchte ich über Jahre eine Gruppe des deutschen Guttempler-Ordens. Gründete mit anderen Besuchern den LichtBlick, welcher sich Jahr 1995 aus dem Guttemplern-Orden verabschiedete und sich als e.V. selbstständig machte.
In den Jahren der Gruppenbesuche lernte ich mich, im Spiegel der anderen Gruppenbesucher, immer besser kennen. Ich erkannte meine Fehler und Schwächen, aber auch meine Stärken. Ich begann mich selbst zu achten und lernte mich als Gesamtpersönlichkeit zu akzeptieren. C. G. Jung schrieb sinngemäß: Erst wenn ich meine dunkle Seite akzeptiert habe, bin ich als Person ganz.

Ich lernte also meine Fehler und Schwächen kennen und akzeptierte diese.
Ich lernte meine Krankheit „Alkoholismus“ als Teil meiner Persönlichkeit zu akzeptieren. Ich söhnte mich mit dieser vermeintlichen Schwäche aus.

Heute beginne ich jede Gruppenstunde mit den Worten: Mein Name ist Klaus. Ich bin alkohol-, medikamenten- und drogenabhängig und damit einverstanden.
Ja, ich bin mit meiner Krankheit einverstanden. Mir fehlen weder der Alkohol noch irgendwelche anderen Drogen. Ich fühle mich befreit und habe das Gefühl, endlich im Rahmen meiner Möglichkeiten entscheiden zu können.
Hierbei hilft mir, dass ich kurz nach Beendigung der Therapie meine Ehefrau Ellen kennenlernte. Ellen brachte einen Sohn mit in die Beziehung und zwei Jahren später bekamen wir unsere Tochter Naima.
Innerhalb unserer Beziehung, unserer Ehe, lernte ich, Verantwortung zu übernehmen. Dieses war mir zu Zeiten meines Konsums nicht möglich und schreckte mich ab. Im Rückblick sehe ich, dass ich an dieser Verantwortung gewachsen bin.
Ich habe gelernt, mich und mein Lustprinzip nicht mehr so wichtig zu nehmen. Dieses hilft mir, entspannter mit mir und meinen Mitmenschen umzugehen.
Hohe, nicht erreichbare Maßstäbe sind in den Hintergrund getreten. Ich gehe liebevoller mit mir und meinen Mitmenschen um.

Meine Selbsthilfegruppe LichtBlick e.V. besuche ich auch nach 35 Jahren der Abstinenz immer noch wöchentlich. In den ersten Jahren war der LichtBlick mein Übungsfeld. Hier konnte ich wieder Vertrauen in mich und meine Mitmenschen fassen. Dieses Vertrauen war mir während der Jahre meiner Abhängigkeit verloren gegangen: Am Ende, kurz vor Beginn meiner Therapie, fühlte ich mich nicht mehr als Teil der menschlichen Gemeinschaft. Ich verachtete mich und meine Mitmenschen. Ich bin heute dankbar, die Verachtung überwunden zu haben, mich als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen.

Ich übernahm Verantwortung

… für den LichtBlick e.V. und bin seit 1995 Vereinsvorsitzender.

Die AA sagen: „Gib es weiter“: Dieses tue ich heute. Mit großer Freude berichte ich anderen Gruppenbesuchern über meinen Weg. Ich weiß, dass ich für viele ein Vorbild bin, bilde mir hierauf aber nichts ein. Jeder steht auf einer anderen Stufe seines Weges und kann von den anderen lernen. Ich hatte das Glück, dass ich meinen Weg ohne Suchtmittel gradlinig gehen kann. Ich baute keine Rückfälle und lebe nun 35 abstinent. Hierbei helfen mir meine Gruppe, meine Familie und vieles mehr.
Was soll ich sagen, ich habe mich nicht vom Saulus zum Paulus gewandelt. Ich besitze noch immer meine Fehler und meine Schwächen. Ich habe allerdings gelernt, dass diese Schwächen meine Menschlichkeit ausmachen. Wie gesagt, ich bin milder geworden.
Die Erziehung unserer Kinder stellte eine wichtige Erfahrung für mich dar. Als Familienmann habe ich die beiden erzogen. Ich lernte hierbei, mich nicht immer im Vordergrund befinden zu müssen.
Erziehung bedeutet Selbsterziehung und das Vorleben der geforderten Werte. In meiner Ursprungsfamilie erlebte ich keine Stabilität, keine Liebe oder Geborgenheit. Ich war bemüht, die Fehler meiner Eltern nicht zu wiederholen. Das bedeutete Selbstdisziplin und Arbeit an mir.

All die geschilderten Dinge, und vieles mehr, lassen mich heute zufrieden nüchtern sein.

Ich bin dankbar, diesen Weg gehen zu dürfen …

… und bereue nichts. Dieser, mein Weg, hat mich zu dem Menschen werden lassen, der ich heute bin.
Mit dem heutigen Klaus bin ich einverstanden und ich liebe mich.

Im Jahr 1992 begann ich mich mit meiner Lese- und Rechtschreibschwäche zu beschäftigen.
Schon in Bad Tönisstein hatte ich damit zu kämpfen, meinen täglichen Tagesbericht abzuliefern. Lag ein Blatt Papier vor mir, brach mir der Schweiß aus und ich hörte die Worte meines Deutschlehrers: „Rechtschreiben, das lernt der Junge nie!“
Ich setzte mich hin und schrieb einen Lebensbericht. Ich sammelte Lebensberichte anderer Abhängiger und stellte diese zusammen. Schrieb ein Vorwort und fand im Fischer Taschenbuch Verlag einen Verlag, der dieses Buch veröffentlichte. Titel des Buches: „Trocken und clean, Süchtige berichten“.
Ich fand Freude am Schreiben und stellte fest, wie gut es für mich ist, meine Gedanken und Gefühle schriftlich festzuhalten. Seit dieser Zeit schreibe ich immer wieder kleine Artikel für Suchtzeitschriften. Reichte einen Artikel zu dem Projekt „Stationen Alkohol: Wege in die Sucht, Wege aus der Sucht“ im TrokkenPresse Verlag ein, welcher unter der Überschrift: „Auch das tiefste Elend bietet eine Chance“ in das Buch aufgenommen wurde.
In etwa zur selben Zeit arbeitete ich an einem Film-Projekt des Medienprojektes Wuppertal mit. Unter dem Titel „Pillenlos“ berichte ich 33 Minuten über meine Abhängigkeitserkrankung.

All diese Projekte nahmen mir das Schamgefühl und ich begriff, du bist mit deiner Krankheit nicht allein und was viel wichtiger war, es ist keine Schande, krank zu sein, es ist nur eine Schande, nichts gegen diese Krankheit zu unternehmen.

Für die letzten Jahre meines Lebens wünsche ich mir, Zeit mit meinen Lieben verbringen zu können. Meinen Enkel aufwachsen zu sehen und noch viele Jahre an diesem spannenden Leben nüchtern teilnehmen zu dürfen.

Mein Name ist Klaus, ich bin alkohol-, medikamenten- und drogenabhängig und damit einverstanden.

 

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