Titelthema 3/20: Hundedoc Jenny

Zum Termin beim „HundeDoc“:

 „Die Tiere können ja nichts dafür …

… bei wem oder wo sie gelandet sind. Jemand muss sich um sie kümmern.“ Und das tut sie: Tierärztin Jeanette Klemmt hilft seit 20 Jahren kostenlos den Hunden, Katzen oder Kaninchen sehr bedürftiger Menschen in Berlin. Und zwar als Tierärztin im Projekt „HundeDoc“ der Stiftung SPI*.

Warten auf das weiße HundeDoc-Mobil. Bald müsste es um die Straßenecke biegen. Es ist Dienstag und gleich 13 Uhr. Vor dem Kontaktladen „Enterprise“ in Berlin-Lichtenberg, direkt neben dem Bahnhof, beschnuppern und bebellen sich die ersten Tier-Patienten schon neugierig: Vier Hunde, groß, klein, schwarz, weiß-gefleckt. Die Hundebesitzer dagegen halten den geforderten Abstand, denn noch sind wir mitten in der Corona-Krise.
Owe (63) sitzt sogar noch etwas weiter abseits von den anderen, denn sein Akita-Mischling namens YiGuai (chines.: Kumpel) ist nicht so besonders gut zu sprechen auf jeden, der seinem Herrchen zu nahekommt. Und jetzt gerade sowieso nicht, denn er hat Angst. Große Angst. Das Tierarzt-Auto, ein umgebauter Rettungswagen, parkt nämlich gerade ein. Das weckt wohl keine so guten Erinnerungen. Zum Beispiel an die jährlichen Impfungen.
Heute ist er da, weil sich Herrchen Owe sorgt. YiGuai wird immer dünner, obwohl er so frisst wie immer …

Jenny, wie die Tierärztin von allen genannt wird, öffnet nun ihre Praxis – die Schiebetür des Wagens. Der erste Tierhalter auf der Warteliste ist dran. Er hat einige Fragen und braucht weitere Ohrentropfen für seinen Hund. Wegen Corona berät Jenny ihn über den nötigen Abstand hinweg nach draußen, zwischen Tür und Angel sozusagen.
Owe und YiGuai sind die dritten auf der Liste und nun dran, nach dem weißen Kaninchen in einem Transportkäfig.
YiGuai aber sträubt sich. Weil er untersucht werden soll, muss er nämlich in den Wagen hinein. Auf den Untersuchungstisch. Aber das will er nicht. Er zittert am ganzen Körper und wird beherzt gehoben. Vorsichtshalber bekommt er einen Maulkorb. Jenny tastet und knetet seine Bauchgegend ab, während Herrchen „assistiert“ und ihn festhält. Jenny kann aber nichts Ungewöhnliches finden. Auch die Fragen nach seinem Verhalten in den letzten Wochen erbringen keine Lösung. „Also, Owe, um ganz sicher zu gehen, wäre das Blut zu untersuchen.“
Blutabnahme bei dem zappelnden, zitternden YiGuai? Und: Auch wenn die Allgemeinversorgung kostenlos ist, das Labor muss bezahlt werden: 39 Euro …
Owe ist hin- und hergerissen. Wägt ab und rechnet im Kopf. Denn für ihn als derzeitigen ALG2-Empfänger ist das eine Unsumme. Auch, wenn er nach Entgiftung und Therapie kein Geld für Alkohol mehr braucht. Er stottert gerade noch die Mietkaution ab und versorgt noch seinen zweiten Hund. Beide Tiere hatte er vor über zehn Jahren, als er noch in Arbeit als Schiffsbauingenieur war, in Asien vor dem Tod gerettet. Seitdem sind alle drei unzertrennlich. Brauchen einander. Und auch jetzt, mit schmerzhafter Arthrose in den Knien, einer Lungenkrankheit, einem Tumor am Kopf denkt Owe nicht daran, die beiden wegzugeben. Niemals. Lieber würde er selber hungern. Und deshalb siegen jetzt auch Sorge und Herz über seinen fast leeren Geldbeutel. Und Jenny zapft YiGuai an einer Pfote Blut ab, während Herrchen ihn gegen seinen Willen ganz fest im Griff hält und beruhigend mit ihm spricht.
Danach gibt’s gleich noch die Wurmkur für beide Hunde mit.
Sichtlich aufatmend, besonders YiGuai, verlassen die beiden das Doc-Mobil. Geschafft. Vorerst jedenfalls. Noch steht ja die Laboranalyse aus …

Aber um hier kein falsches Bild zu erwecken: Nicht jeder ALG2-Empfänger Berlins bekommt einen Platz auf der Warteliste. Owe gehört zu den Ausnahmen. Die Sozialarbeiter in den kooperierenden Kontaktläden (s. Liste Anhang) prüfen die individuelle Bedürftigkeit der Menschen genau. Man muss also vorher Kontakt zu ihnen aufnehmen. Das war und ist immer noch ein Ziel des Projekts „HundeDoc“: Menschen, die auf der Straße leben müssen, oder/und suchtmittelabhängig sind, über ihre Tiere zu motivieren, mit sozialen Hilfeangeboten und Trägern in Kontakt zu kommen. „HundeDoc“ als Brücke zwischen Sozialarbeitenden und Tierhalterinnen und Tierhaltern und als Beitrag zum Tierschutz.

Seit 20 Jahren nun schon ist Jenny „der“ HundeDoc. Und jeden Werktag, in Teilzeit angestellt bei der SPI, kreuz und quer durch Berlin unterwegs.

Aber weshalb? Wenn Du doch mit einer eigenen netten Praxis sicher und ruhiger mehr Geld verdienen könntest?

Jenny: Direkt nach dem Studium wurde ich gefragt, ob ich mir vorstellen könne, mich um diese Tiere zu kümmern. Ich dachte: Zum Ausprobieren nicht schlecht. Es war ja unklar, wie lange das finanziert würde, denn das Projekt lebt ausschließlich von Spenden. Und dann fand ich das total spannend, weil ich mit Menschen von der Straße vorher überhaupt nichts zu tun hatte. Was mir klar war und ist: Dass sich jemand um diese Tiere kümmern muss, weil die ja nix dafür können, bei wem und wo sie gelandet sind.

Mit welchen Problemen kommen die Tiere zu Dir?

Ich mache vor allem die Grundversorgung, also Allgemeinuntersuchungen, Impfen und auch mal Kastrieren, natürlich Wurmkur und Flöhe behandeln, was nicht weiter aufwändig ist, aber totale Probleme bereiten kann und wichtig ist. Ich behandle kleinere Verletzungen. Schlimm wird es, wenn die großen Sachen kommen, Frakturen durch Autounfälle und so weiter. Oder Inneres, was dramatisch verlaufen kann. Das ist manchmal ganz bitter, weil meine chirurgischen und auch diagnostischen Möglichkeiten begrenzt sind.
Vor allem aber berate ich unheimlich viel, ich kläre auf, erzähle, was man machen muss, um Erkrankungen und damit auch weitere Kosten zu vermeiden. Das ist schon eine große Hilfe und trägt auf lange Sicht zu einer positiven Entwicklung bei – und zwar bei beiden, beim Tier genauso wie beim Besitzer. Alleine schon deshalb, weil der Besitzer sich überlegen kann, ob er mal mit dem Sparen anfangen sollte oder ob er das alles überhaupt so gewuppt kriegt. Und wenn nicht bei diesem Tier, dann vielleicht beim nächsten, was er sich vielleicht gar nicht erst anschafft.

Anfangs warst Du vor allem bei Jugendlichen auf der Straße unterwegs …

Ja, aber das hat sich jetzt gewandelt, weil es diese Brennpunkte so kaum noch gibt. 2000 hatten wir einen noch hässlicheren Alexanderplatz, da gab es die Baustellen Friedrichstraße und Potsdamer Platz noch, alles war noch nicht so touristisch. Es gab noch kaum Handys und Facebook gar nicht. Inzwischen hat eine Verdrängung aus dem öffentlichen Raum stattgefunden und diese Menschen bleiben häufig über die sozialen Medien in Kontakt, sie müssen sich nicht mehr live treffen. Punk sein ist nicht mehr in Mode und die Drogen haben sich geändert. Alkohol ist zwar nach wie vor die Einstiegsdroge, aber wir haben nun noch die ganze Chemie dazu, die noch viel, viel schlimmer ist, was die Suchtverläufe angeht. Und die Jugendlichen sind halt auch anders drauf heute …

Deswegen hat sich unsere Arbeit etwas verlagert zu den Erwachsenen hin. Ich kooperiere mit sozialen Einrichtungen wie „enterprise“, Klik, KuB und Drugstop, und sie führen mir die Leute zu. Ich mache selbst keine Streetwork, aber bei den Jugendlichen ist zurzeit der Bedarf an Tierarzt weniger geworden. Also haben wir jetzt auch die älteren Menschen, die auch einsam sind, die auch ein asoziales Leben führen mitunter, die krank sind, die nicht von der Sucht wegkommen.

Wie im Kontaktladen „enterprise“?

Ja, hier gibt es keine Beschränkung, weder im Alter, noch Geschlecht noch Bezirk noch Erkrankung. Hier können sich auch nur einfach alte einsame Menschen treffen, um mal wieder Sozialkontakt zu haben oder welche, die gar kein Drogenproblem haben. Deshalb kann ich meine älteren Klienten dahin lotsen, weil das enterprise mit seinem Konzept keine Schwierigkeiten bekommt, wenn die Menschen sich kurzfristig dort aufhalten.

Weshalb geht Behandlung aber nur über Termin?

Um dem Chaos etwas vorzubeugen … wenn es voll ist, sitzen ja alle draußen, der eine kommt später, der andere pünktlich, einer gar nicht. Gleich zu Beginn am Alex war der Andrang so groß, dass wir Wartelisten beschlossen. Und dann wollen wir natürlich auch, dass sich die Tierbesitzer ein bisschen an Verbindlichkeiten zu halten lernen, denn das klappt häufig nicht. Sie erscheinen nicht und dann Wochen später heißt es, die Telefonkarte war leer oder sorry, hab verschlafen. Da muss ich drauf drängen, dass sie mir gegenüber und anderen Leuten eine Verpflichtung haben. Und wenn jemand zu oft einen Termin ausfallen lässt, müssen wir sowieso ein ernstes Wörtchen miteinander reden.
Mit Warteliste weiß ich auch genauer, worauf ich mich einzustellen habe. Aber ansonsten kann wirklich jeder jederzeit kommen, wenn es akut ist.

Ist ein Termin an Bedingungen geknüpft?

Nein, aber die Menschen sollen sich anmelden bei den jeweiligen Sozialarbeitern, damit auch immer sichergestellt ist, dass es sich hier wirklich um Bedürftige handelt. Darauf achten wir und nur für diese Menschen habe ich auch die Ausnahmegenehmigung der Tierärztekammer. Denn Tierärzte dürfen ja nicht einfach irgendwo kostenlos behandeln.
Es kann durchaus sein, dass ich Hartz4-Empfänger dabei habe, aber es ist nicht so, dass ich sämtliche Hartz4-Empfänger Berlins behandeln kann. Erstens sieht es die Gebührenordnung nicht vor und zweitens muss es nicht sein, dass ich, wenn ich im Hartz4 bin, mir auch noch Tiere anschaffe.
Wenn ich allerdings jemand bin, der krank ist, einsam, gerade von der Straße gekommen im Hartz4 gelandet ist, wäre es blöd, ihn dafür abzustrafen. Ich muss das immer auch von Fall zu Fall auch beleuchten. Und da ich das nicht alleine bewältigen kann, ist es wichtig, dass die Sozialarbeiter das vorher schon gemacht haben.

Wie geht es den Tieren von Bedürftigen im Allgemeinen?

Im Allgemeinen auch nicht schlechter, als wenn sie bei Leuten wären, die „normal“ sind. Die „normalen“ machen auch viel falsch mit ihren Tieren. Und sind auch nicht immer nett zu ihnen. Ich erlebe den breiten Durchschnitt: Manche kommen super gut mit ihren Tieren aus, weil sie `ne ruhige Art haben oder das Tier gut zu ihnen passt, oder weil sie eben nicht doof sind und sich mit der Erziehung des Tieres gut beschäftigt haben. Und manche sind eben eine Katastrophe. Aber das ist genau das, was ich auch beobachte, wenn ich privat mit meinen Hunden in den Wald gehe.

Was meinst Du: Weshalb brauchen Menschen, die zum Teil auf der Straße leben, abhängig von Suchtmitteln sind, ihre Tiere?

Tiere sind prinzipiell die einfacheren Sozialpartner. Sie stellen weniger Forderungen an dich.
Dein Partner möchte, dass du die Wohnung aufräumst, schön kochst und möglichst treu bist, dich hübsch machst und dann sollen vielleicht auch noch berauschende Gespräche geführt werden. Das ist dem Tier alles egal, dem ist es sogar egal, ob du dir die Zähne putzt oder nicht. Hauptsache, du bist gut zu ihm und gibst ihm Zuwendung. Das macht es natürlich viel, viel leichter. Sich mit anderen Menschen auseinanderzusetzen kann ja furchtbar anstrengend sein. Und weil ihnen oft die Grundregeln des sozialen Lebens abhandengekommen sind oder nie beigebracht wurden – viele kommen ja tatsächlich aus desolaten Familien – schaffen sie es dann eher, sich mit einem Tier in eine dauerhafte Beziehung zu begeben. Oder eben die einzige dauerhafte Beziehung überhaupt zu führen. Irgendeine Form der Wärme und der Nähe und auch der Bestätigung braucht jeder. Dein Partner erzählt dir vielleicht die ganze Zeit, du bist ne dumme Kuh oder du bist n fauler Sack, aber das Tier findet dich ja immer toll. Und das braucht ja jeder Mensch. Sonst fühlt man sich wertlos und das macht eben den Hund oder die Katze oder das Kaninchen so attraktiv als „Lebenspartner“.

Hattest du anfangs Berührungsängste?

Bisschen nervös war ich schon, zumal mich die Sozialarbeiter sehr bildhaft gebrieft hatten, dass es zum Teil auch unangenehm sein kann mit den Kunden. Aber Tierärzte sind da nicht so etepetete. Und dann war ja auch klar, dass sie mich nicht alleine lassen, weil Gewalt auch ein Thema sein kann. Es ist immer ein Sozialarbeiter dabei, ich fühle mich gut aufgehoben.

Weshalb hast Du nicht aufgehört und eine eigene Praxis eröffnet?

Ich hab mal versucht, einen Praxis-Partner zu finden, aber das hat nie geklappt. Und alleine eine Praxis neben HundeDoc zu führen, das hätte ich nicht geschafft. HundeDoc ist mir aber sehr wichtig. Weil der Bedarf einfach da ist in der Stadt, das sieht man ja.
Das kann ich aber auch nur machen, weil ich mich darauf verlassen kann, dass meine Familie mich unterstützt, auch später, weil ich von dem Teilzeit-Verdienst keine Altersvorsorge betreiben kann. Die Rente würde nicht reichen.

Du erlebst viele menschliche und tierische Schicksale. Wie hältst Du das seit 20 Jahren durch?

Es liegt auch daran, dass ich mich auf die Tiermedizin zurückziehen kann. Ich muss mir nicht wie die Sozialarbeiter jedes Leben, jede Biographie „reinziehen“, ich hab ja die Tiere und die Erfolge, die ich bei den Tieren erziele. Und auch privat geht es mir besser als meinen Klienten, ich hab ein gesundes, schönes Umfeld. Das heißt, die Rahmenbedingungen für mich, Gutes zu tun, die sind einfach gut und da. Das trägt zum Erfolg von mir und HundeDoc bei, das darf man nicht vergessen.
Ich habe häufig Momente, wenn ich aus dem Leben meiner Kunden näheres erfahre, in denen ich demütig werde: Was bin ich zum Beispiel froh, dass ich nicht wohnungslos bin, dass ich keiner Sucht verfallen bin! Das sind ja alles Kämpfe, die ausgestanden werden müssen. Ich bin so herrlich normal und muss nichts ausfechten. Ich muss „nur“ versuchen, bei meiner Arbeit die Nerven zu behalten und alles gut zu machen. Ja, manchmal überfällt mich da Demut …

Anja Wilhelm

Weitere Infos:
www.hundedoc-berlin.de

 Spendenkonto:

Stiftung SPI
Bank für Sozialwirtschaft
IBAN: DE65100205000003112105
BIC: BFSWDE33BER
Bitte geben Sie unbedingt als Verwendungszweck „Spende HundeDoc” an.

 Termin machen?

-KLIK e. V.
Kontakt- und Beratungsstelle (Wohnungslosigkeit/soziale Schwierigkeiten, bis 30 Jahre)
Tel: 030 40752573

-„enterprise“
Kontaktladen für Abhängige/Gefährdete von Suchtmitteln und Menschen jeden Alters in Krisensituationen
Tel: +49 1622806099

-Drugstop
Beratung und Tageseinrichtung für drogenkonsumierende Menschen im Alter von 13 bis 27 Jahren
Tel: 030 515898500

KuB
Kontakt- und Beratungsstelle für junge Menschen bis 21 Jahre in Not
Tel: 030 61006800

*Die Stiftung Sozialpädagogisches Institut Berlin »Walter May«, eine Stiftung des Landesverbandes der Arbeiterwohlfahrt Berlin e. V., verfolgt die Ziele der Arbeiterwohlfahrt und soll mit dazu beitragen, eine Gesellschaft zu entwickeln, in der sich jeder Mensch in Verantwortung für sich und das Gemeinwesen frei entfalten kann. Dabei orientiert sich die Stiftung SPI vornehmlich an den Lebenswelten betroffener Bürger und Bürgerinnen und fördert im Rahmen seiner sozialen Arbeit besonders die Hilfe zur Selbsthilfe.

Titelthema 6/20: Wie Reittherapie auch Suchtkranken helfen kann

Wie Reittherapie auch Suchtkranken helfen kann:

Manchmal macht schon das Streicheln glücklich …

Sie erfüllt sich gerade einen Traum: Rebecca Böde, Mitarbeiterin eines Berliner Bezirksamtes, bringt Menschen und Pferde heilsam zusammen. Menschen mit psychischen Problemen und ihr Therapiepferd Snowy. Sie ist, neben ihrem Hauptberuf, inzwischen auch Reittherapeutin, Heilpraktikerin, Pferdekundlerin – und betriebliche Suchtberaterin. Da sie künftig auch suchtkranken Menschen mit ihrem Pferd helfen will, meldete sie sich Ende des Sommers bei uns. Sie möchte gerne drei TrokkenPresse-LeserInnen eine Erstberatung spendieren. Natürlich mit Snowy, ihrem Therapiepferd, gemeinsam. Das war ein Grund für uns, sie einmal zu besuchen …

Liebe Rebecca, es war ein wundervoller Ausflug zu Dir auf den „Pferdehof Müller“ bei Nauen! Den Großstadtlärm von Millionen Autos und Menschen noch in Ohr und Gemüt – dann plötzlicher Frieden inmitten der Felder und Bäume. Aaaah! Reine Luft. Nur Hühnergackern. Blätterwispern. Pferdeschnauben. Quer über den weiten Acker stapfen bis hin zur Sommerweide, Snowy zurück zum Hof führen. Striegeln, streicheln, fühlen. Weiche Pferdelippen und warmer Atem neugierig an meiner Hand. Anlehnen an das große, starke, warme Tier. Mein Herz geht auf. Es gibt nur das Jetzt, jedes „Muss-noch-dies“ und „Soll-ja-das“ ist verschwunden aus meinem Kopf. Es liegt wohl nicht nur AUF dem Rücken der Pferde, das Glück dieser Erde … Nähe reicht auch schon. Die Reittherapie, die Rebecca Böde anbietet, könnte auch einfach Pferdetherapie heißen. Denn es geht ihr gar nicht darum, dass ein Klient unbedingt hinauf muss in den Sattel. Mit dem Tier zusammen zu sein in der Natur genüge manchem schon, sagt sie. Deshalb bekommt jeder Mensch, der bei ihr Hilfe sucht, ganz individuell genau das, was er gerade braucht. Ihr Motto: „Ängste, Probleme und psychische Erkrankungen aller Art sind nicht in Stein gemeißelt. Das Gehirn ist fähig, neue und gesunde Strukturen zu entwickeln.“ Wie das mit einem Tier gelingen kann? Dazu später im Interview mehr.

Wie bist Du als Nichtabhängige zum Thema Sucht gekommen?

Mein Vater war Alkoholiker. Er hat sein halbes Leben lang viel getrunken, ist irgendwann in der Klinik gelandet, auch mit Korsakow-Symptomen und Diabetes. Er konnte nicht mehr selbst für sich sorgen, starb vor drei Jahren. Ich hatte zwar seit der Scheidung meiner Eltern fast keinen Kontakt mehr, aber ich habe mich oft gefragt, warum konnte ihm keiner helfen? Denn manche Menschen schaffen es ja, machen eine Entwöhnung, finden wieder Perspektiven für ihr Leben. Die Frage hat mich immer begleitet.

Nun bist Du kollegiale Suchtberaterin, was heißt das?

Ich arbeite im Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf. Kollegen, die Suchtprobleme haben, kommen zu mir und fragen um Rat: ich kann so nicht mehr weitermachen, was kann ich machen … Ich hatte mich dafür beworben und eine einjährige Ausbildung am Institut für betriebliche Suchtprävention gemacht.

Wenn ich als Suchtkranke heute eine Therapie bei Dir beginnen würde …

Wir würden ein Erstgespräch führen. Klären, was möchtest du erreichen, was versprichst du dir von der Reittherapie? Geht es für dich mehr ums Streicheln, Liebhaben, Pflegen, um eine schöne Zeit in der Natur, mit dem Pferd? Oder geht’s dir nur ums Reiten, willst du nur aufs Pferd rauf, willst du nur von oben die Welt erkunden? Oder möchtest du dein Selbstbewusstsein stärken und Snowy durch einen Parcours führen, das nennt man Bodenarbeit. Man kann lernen, durch Gassen zu gehen, eine Führposition zu übernehmen und das Pferd folgt einem. Oder magst du geführtes Reiten im Schritt und von oben einfach genießen? Vielleicht hast du Reiterfahrung, du könntest den Snowy selbst reiten, auf der Reitbahn durch kleine Parcours … so würde ich erstmal rangehen und dann gucken, wie man in den nächsten Stunden Bedürfnisse und Kompetenzen weiter ausbaut.

Ich muss als Klient also noch nicht reiten können?

Bei mir musst du nichts können, nicht reiten, nicht die Zügel festhalten, du darfst einfach nur genießen. Obendrauf sitzen, dich führen lassen. Du kannst dich natürlich ranarbeiten: Ich möchte jetzt selbst ein bisschen die Führung übernehmen. Mich weiterentwickeln mit dem Pferd bis dahin, dass ich selbst reiten oder führen kann. Ich achte schon sehr genau drauf, ob meine Klienten überfordert damit sind oder ver/erschreckt, dann kann man darauf eingehen und einen Schritt zurückgehen. Und ich sage meinen Menschen da oben immer, dass sie auch sagen können, wie es ihnen damit geht.

Apropos „oben“: Wie „sicher“ ist Dein Therapiepferd für Unerfahrene?

Snowy ist ein ruhiger, ausgeglichener Trabermix, Traber haben ein großes Herz, auch im übertragenen Sinne. Er ist ein sehr soziales Tier, vielleicht auch, weil er als Fohlen fast verhungert wäre, wenn Herr Müller ihn nicht hierhergeholt und aufgepäppelt hätte. In der Herde, als Rangmittlerer, nimmt er sich eher anderer an, als jemanden wegzubeißen. Auch allen anderen Tieren hier begegnet er freundlich, den Hühnern, den Hunden, dem Ganter. Ich habe ihn zum Beispiel auch an fremde Gegenstände gewöhnt, an große Bälle, Plastikplanen auf Wegen und viele Schrecksituationen geübt. Snowy ist zwar noch jung, aber ich kann mich zu 100 Prozent auf ihn verlassen. Er passt auf den Reiter auf, der auf ihm sitzt.

Wie kann Deine Therapie süchtigen Menschen helfen?

Suchtkranke, die trocken sind, eine Entgiftung hinter sich haben, sitzen vielleicht nun Zuhause, in der Wohnung und fragen sich, was sie jetzt mit der ganzen Zeit anfangen wollen, mit dem Leben. Vielleicht  fange ich ja doch wieder an zu trinken, weil alles so sinnlos ist? Sich bewegen, in der Natur zu sein und gerade das Zusammensein mit Tieren setzt ganz viele positive Gefühle frei, die derjenige braucht, der sich innerlich leer fühlt oder Saufdruck hat. Ein Tier lenkt ab, die Nähe, das Streicheln senken den Cholesterinspiegel, den Blutdruck, den Herzschlag, und zwar bei beiden, beim Pferd und bei demjenigen, der es zum Beispiel putzt. Und man kann vielleicht auch seine Zukunft klarer sehen: Ok, es gibt also nicht nur meine vier Wände, den Alkohol, die Selbsthilfegruppe – ich muss vielleicht auch wieder was für mich tun und kann in der Natur neue Ressourcen für mich finden, Freude, ich fühl mich da wohl … Das Pferd kann lehren, eigene Bedürfnisse wieder wahrzunehmen, eigene Gefühle, das Reiten kann helfen, die eigene Stärke, den Selbstwert wieder zu entdecken.

Du arbeitest momentan viel mit Kindern. Weshalb kommen sie zu Dir und Snowy?

Bei Kindern soll meist das Sprechen gefördert werden oder der Gleichgewichtssinn geschult. Oder das soziale Verhalten, um überhaupt wieder eine Bindung eingehen zu können zu einem verlässlichen Partner – zur Therapeutin, zum Pferd. Vieles geschieht nebenbei. Es ist so spielerisch, Pferde haben einen so hohen Aufforderungscharakter, dass die Kinder gar nicht merken, in welchen Bereichen sie gefordert werden, die Feinmotorik durchs Putzen zum Beispiel.

Was brauchen die erwachsenen Klienten?

Erwachsene kommen meist zu mir, weil sie Depressionen haben und die herkömmlichen Gesprächstherapien in irgendwelchen Büros sie gar nicht weitergebracht haben. Sie sagen immer: „Ja, er sagt mir, ich soll dieses und jenes machen, aber irgendwie ändert sich nichts für mich, ich habe immer noch Ängste, immer noch Depressionen.“ Da ist für mich schlüssiger: Geht raus in die Natur, macht was, setzt dem Gehirn neue Bilder, neue Eindrücke, geht in die Sonne, bewegt euch, kommt auf andere Gedanken, dann kommt der Rest vielleicht von ganz alleine. Oder: Denkt überhaupt mal gar nicht an Probleme. Wenn man hier und jetzt sein muss mit dem Pferd, gelingt das.

Viele wollen sich auch nur einfach mal Anlehnen ans Pferd. Oder wenn sie Berührungsängste mit Menschen haben, können sie sich mit dem Pferd langsam rantasten. Manche bleiben einfach eine halbe Stunde beim Pferd, putzen es, schnuppern am Pferd, die riechen so wunderbar, spüren das warme Fell, genießen die Zeit mit so einem großen Tier, dem Therapiepartner.

Also eine andere Herangehensweise an Depressionen ?

Ich rate jedem, macht was draußen, fahrt Fahrrad, lernt Menschen kennen, setzt euch in die Sonne … bleibt nicht zuhause, auch wenn es schwerfällt, sich aufzuraffen. Holt euch positive Dinge ins Leben, die Spaß machen, probiert Dinge aus, macht einen Zeichenkurs, nehmt ein heißes Bad, kocht einen tollen Tee, Hauptsache, ihr bewegt euch, holt euch neue Eindrücke. Das trifft auch auf Suchtkranke zu.

Das Besondere an Deiner Therapie ist, dass sie heilpraktisch stattfindet, ganzheitlich?

Ja, ich nutze zum Beispiel die euthyme Therapie, in der man bewusst alle fünf Sinne benutzt. Statt nur in einem Zimmer zu sitzen und mit einem Therapeuten zu sprechen, spüren wir Wind und Sonne auf der Haut, nehmen Gerüche wahr, wie riecht eigentlich Heu, das Pferd, die Tanne neben mir, wir hören Vögel zwitschern, Pferde schnauben … Diese Freude kann man mit in den Alltag nehmen … oder in ein Schatzkästchen packen: Das holst du dir vielleicht mal raus, wenn es dir mal nicht so gut geht. Es ist eine Genuss-Therapie, bei der es einem schon von sich aus besser geht.

Man kann auch tolle Entspannungsübungen machen auf dem Pferderücken, durch Atmung Stress abbauen. Dieses Getragenwerden, diese Schaukelbewegung kann auffangen, nachsorgen, was man vielleicht all die Jahre vermisst hat in einer nicht so guten Kindheit.

Woher weißt Du, dass Deine Therapie etwas bewirkt?

Ich frage meine Klienten vorher, wie es ihnen geht auf einer Skala von 1 bis 10 und danach auch. In der Ausbildung hatten wir 50 Klienten aus psychotherapeutischen Einrichtungen, 90 Prozent ging es vorher 2, sie hatten einen schlechten Tag, waren traurig. Und nach der Therapie waren sie auf 8, auf 9. Sie haben sich immer auf die Reittherapie gefreut, da wollten immer alle hin.

Wie viel Therapie braucht man?

Ich biete einmal wöchentlich eine Stunde an. Etwa 5-10 Stunden sollte man ausprobieren, ob und bis eine Verbesserung stattfindet.

Die 65 Euro pro Stunde zahlen die Krankenkassen aber nicht?

Die gesetzlichen leider nicht. Private bezahlen es ab und an, wenn man nachweisen kann, dass man innerhalb von drei Monaten keine passende Psychotherapie gefunden hat. Manchmal gibt es auch Zusatzversicherungen für heilpraktische Behandlungen. Einige meiner Klientinnen haben bei Stiftungen um einen Zuschuss für eine Reittherapie gebeten. Stiftungen, die eventuell spenden würden, sind unter vielen anderen z.B. die Uwe–Seeler–Stiftung und die Deutsche Bank Stiftung. Der Bedürftige muss genau begründen, warum er dringend eine Reittherapie benötigt. Bei Kindern gibt es noch viel mehr Förderung …

Liebe Leserinnen und Leser, haben Sie Interesse an einer Erstberatung bei Rebecca Böde? Dann melden Sie sich bitte. Wir verlosen dann aus allen Teilnehmern drei GewinnerInnen.

Weitere Infos zur Reittherapie unter:

www.meinereittherapie.de

Titelthema 6/19: Trinkteufel

Serie: Trocken bleiben – aber wie?

Der Trinkteufel sitzt immer auf der Schulter

Seit unserer ersten Ausgabe 2019 stellen wir Menschen vor, die seit einiger Zeit trocken leben. Wir wollen wissen, wie sie das geschafft haben, jeden Tag aufs Neue, bis daraus Monate und Jahre wurden. Ihre Erfahrungen können vielleicht dem einen oder anderen Betroffenen auch hilfreich sein.
Heute sprechen wir mit Eva (72) aus Berlin. Vor ihrem Rückfall 2017, aus dem sie viel gelernt hat, wie sie sagt, war sie schon einmal drei Jahre trocken. Nun sind es schon wieder zwei Jahre – und zwar einer tagtäglich glücklichen, lebensfrohen Abstinenz! Wie gelang und gelingt ihr das?

Hast Du heutzutage noch Suchtdruck?
Manchmal schon. Aber ich habe mir fest vorgenommen, trocken zu bleiben. Der letzte Rückfall war der Horror, das habe ich immer vor Augen, wenn mal „was kommt“.

Wenn „was kommt“?
Wenn ich merke, dass ich unruhig werde, rumtigere … Nicht mal so, dass ich Appetit auf Alkohol hätte oder dass ich loslaufen müsste, mir was zu holen. Es ist so ein allgemeines Unwohlsein. Es kommt aus … ich weiß nicht, woher, es ist einfach da. Früher habe ich zwar auch versucht, dagegen anzugehen, aber da war es meist schon zu spät. So dass ich dann wegen der Brötchen runtergegangen bin, aber im Hinterkopf schon die Flasche hatte. Und heute, da denke ich aber sofort: Halt, Eva! Alarm! Es ist gut, dass ich das jetzt erkennen kann. Aber das kann ich nur, weil ich heute in mich reingucke. Gefühle angucke und zulasse. Was ich früher gar nicht konnte.

Was sind für Dich noch kritische Momente – und wie meisterst Du sie heute?
Da ist immer noch meine frühere „Sangria-Zeit“, der Monat, in dem mein Mann gestorben war. Heute spreche ich darüber, wie es mir gerade geht. Nicht nur in der Gruppe, ich bitte dann auch um Einzelgespräche in der Tagesstätte, in der ich drei Tage die Woche bin. Ich rede drüber und das tut mir gut. Das habe ich ja früher nie.
Oder solche Momente wie letzten Samstag. Wenn ich nach einem Besuch der Familie ganz plötzlich wieder alleine bin. Da muss ich mich wieder einkriegen – und das schaffe ich, wenn ich mich beschäftige, zum Beispiel den Abwasch mache. Dann fällt das so langsam von mir ab. Wir telefonieren, sie sind gut angekommen, alles ist in Ordnung. Oder ich suche mir dann jemanden, mit dem ich reden kann. Ganz, ganz wichtig! Bei mir im Haus habe ich jetzt auch eine Freundin gefunden, ich hatte niemals vorher eine, und wenn mal was ist, kann ich sie auch jederzeit anrufen.
Ich versuche heute, mit dem Saufdruck umzugehen, statt ihm nachzugeben. Früher bin ich losgelaufen ohne Überlegung. Zack, es ist soweit und du läufst los. Ich bekam manchmal gar nicht mit, dass es soweit ist – und hatte die Flasche schon im Wagen.

Du sagtest vorhin, Du konntest früher nicht über Gefühle sprechen?
Gar nicht! Und da hatte ich ja auch mal diesen Schmerz in der Brust. Ich dachte eines Tages, ich hab Herzschmerzen, ich platze. Ich bin rausgegangen aus der Gruppe, habe geheult, bin wieder zurück. In den Einzelgesprächen danach ist so viel aus mir rausgekommen, da hab ich gemerkt, aaaha! Danach habe ich mich nämlich viel besser gefühlt. Ich meine, 47 Jahre Ehe sind ja kein Pappenstiel und da war ja auch nicht immer alles …

Es ging um Deine Ehe, Deinen Mann, der vor 8 Jahren starb?
Naja, da war ja nicht alles so … und das kam da hoch. Ich habe endlich drüber gesprochen. Im Innersten hatte das so gebrodelt, tat ja weh, war eine Jauchengrube, die musste raus. Als ich mich danach wohler fühlte, hatte ich begriffen, dass es hilft, zu reden.

War es das Thema Ehe, was Du früher betäubt hast mit Sangria?
… und mit Schnaps, Bier allem. Ja, das war es auch. Ich trank schon, als mein Mann bettlägerig war und ich ihn pflegte, sonst hätte ich das gar nicht geschafft. Als er gestorben war, da habe ich dann richtig getrunken. Aber es gab auch andere Dinge … ich war immer zu streng mit mir. Ich nahm nie ernst, dass Alkoholismus eine Krankheit ist. Für mich selbst war ich charakterschwach, ein Schwächling, der sich gehen lässt. Diese Schuldgefühle habe ich auch betäubt. Und Gedanken und Ängste, dass ich nichts auf die Reihe kriege, etwas wieder nicht geschafft hatte, andere mich lebensuntüchtig fanden. Angst. Ich hatte mein ganzes Leben lang Angst. Dass ich etwas falsch mache, weil ich ja immer alles falsch gemacht habe. Das war der Schmerz in meiner Brust.

Weshalb wolltest Du vor sechs Jahren aufhören zu trinken?
Ich hatte schon Polyneuropathie, konnte nicht mehr laufen. Mein Hausarzt hatte gesagt, ich soll diese Langzeittherapie machen. Ich hab da in Bad Liebenwerda sogar wieder laufen gelernt. Es hat mir gut getan. Und dann kam ich zurück – und, weil ich vorher umgezogen war – in eine neue Umgebung. Meine Wohnung war neu, alles war neu … ich habe nochmal angefangen zu trinken. Das habe ich dann wieder mit einer Woche Entgiftung hingekriegt. Als ich mich zuhause eingerichtet hatte, eingelebt – wieder Rückfall. Wieder Entgiftung. Da in der Klinik hat mich jemand an die Hand genommen und gesagt: „Ich möchte Ihnen mal die PBAM-Beschäftigungstagesstätte in Schöneberg vorstellen.“ Hmmm, naja …, dachte ich so. Heute weiß ich, das ist genau das Richtige für mich gewesen. Ist es heute noch.

Wie half und hilft Dir die Tagesstätte, trocken zu bleiben?
Ich habe hier eine Tagesstruktur. Und musste lernen, mit anderen umzugehen: die Leute mit mir, ich mit den Leuten. Was ich überhaupt nicht kannte. Ich hatte sehr jung geheiratet und war immer nur mit meinem Mann und der Familie zusammen. Mal zu einer Veranstaltung, mit einer Freundin, das habe ich gar nicht gehabt. Das habe ich mir jetzt erst aufgebaut. Ich habe erst in der Tagesstätte gelernt, auf Menschen offen zuzugehen. Heute gehe ich auch mal alleine Kaffee trinken, in die Philharmonie, Bowlen, mache Ausflüge mit. Das ist ein ganz anderes Leben! Mein Leben hat sich so zum Guten gewendet!

Was durftest Du noch dort lernen?
Mich selber kennenzulernen. Gefühle zuzulassen. Darüber auch zu reden. Ich habe da wirklich zu kämpfen gehabt, es war nicht einfach, aber ich wusste: Sonst hast du nie Ruhe, kriegst nie den Frieden in dir.
Ich habe jetzt keine Angst mehr, in mich reinzugucken. Oder andere Leute anzusprechen. Anfangs konnte ja nicht einen Ton in der Gruppe rausbringen, ich wollte ja gar nicht erst hin. Ich saß da und hab gehofft, mich fragt niemand etwas. Und heute höre ich den anderen zu und erzähle selbst. Ich merke jetzt, dass ich etwas gebe und auch etwas mitnehme aus der Gruppe. Ich sehe, ach, da kannst du was ändern, Eva, das könntest du so und so machen. Ich nehme Dinge an und versuche, das umzusetzen. Und das geht gut. Was ich früher nicht für möglich gehalten habe: Überleg mal, in meinem Alter, ich werde 73, was ich noch annehmen kann! Ich bin den Mitarbeitern der Tagesstätte so unendlich dankbar! Ohne sie hätte man mich wohl irgendwann mal irgendwo in der Gosse gefunden …

Was hält Dich noch tagtäglich trocken?
Die Familie, die glaubt an mich. Mein Enkel Nico, der findet das toll, wie seine Oma jetzt ist. Ich merke, sie gehen jetzt anders mit mir um, ich gehe ja auch mit ihnen anders um. Ich werde wieder voll akzeptiert, meine Meinung wird angehört, ich werde wieder mit einbezogen in ihr Leben. Früher fühlte ich mich immer wie ein Anhängsel, war ich wahrscheinlich auch: Na, wir müssen sie ja einladen … Ich fühle mich wieder aufgenommen. So ein schönes Gefühl für mich!
Und das auch: Ob wir nun einen Ausflug machen mit der Tagesstätte, eine Dampferfahrt, zum Bowling gehen – ich sehe was anderes, mache was anderes, habe Spaß dran. Ich muss nicht der Weltmeister da werden, aber ich bin dabei und mach mit, das ist ein herrliches Gefühl. Auch in der Tagesstätte, wenn ich meine Blumen gieße oder was ich sonst für Aufgaben habe.

Was hast Du da noch für Aufgaben?
Meistens Tische abwischen nach den gemeinsamen Essen, Toilette putzen, eben die Pflanzen in allen Räumen gießen. Das macht mir auch Spaß. Ich kann ja nun nicht mehr so, stehe deshalb nur noch in der Küche, wenn Not am Mann ist. Und das Häkeln und Stricken in der Ergo-Zeit. Das macht mich auch glücklich. Sehr sogar, das mache ich oft auch Zuhause, wenn ich denke, du musst mal runterkommen. Es beruhigt mich. Für den Kieztreff nebenan häkeln und stricken wir gerade für die Kinder. Wenn man dann hört, dass es anderen Freude macht, was man tut, da bin ich immer ganz happy. Ich muss nicht nach „Weeßickwohin“ hinfahren, damit ich Freude hab. Mein Herz geht auf … auch bei so einfachen Dingen.


Du erlebst also täglich, dass Abstinenz Sinn macht?
Ja! Die Freude, die man haben kann, wenn man trocken ist …
Trocken kann man ganz anders denken. Sonst war ja fast nur der Gedanke an Alkohol da. Wie kommst du an den nächsten Stoff. Jetzt bin ich ja wieder mitten im Leben. Man kriegt doch alles ganz anders mit. Intensiver. Zum Beispiel, als ich aus der Philharmonie kam … ich kam da raus wie auf Wolke 7. Ich habe drei volle Busse weg fahren lassen, weil ich nicht in dieses Gedrängel rein wollte, ich wollte mir dieses Gefühl nicht kaputt machen lassen. Ich hab gewartet und bin dann ganz in Ruhe eingestiegen.
Ich achte heute auf mich, und auf meine Freizeit, mit der weiß ich heute umzugehen.

Du achtest auf Dich, was bedeutet das?
Na, dass ich das mache, was mir gut tut.
Früher habe ich nur funktioniert. Jetzt schaue ich erstmal auf mich selbst. Was tut dir gut, Eva? Ach, heute könntest du das machen – und wenn ich dann doch keine Lust habe, kann ich inzwischen auch schön zuhause bleiben, mal einen Tag Ruhe haben und fühle mich wohl dabei. Früher war ich unruhig, bin dahin, dorthin, rumgetigert. Heute kann ich auch mal auf der Couch liegen und ein Buch lesen. Mich ganz bewusst ausruhen.


Der Rückfall war Dir dabei auch eine Lehre?
Ja, ich seh das jetzt so. Ich fühlte mich damals überfordert. Heute passe ich besser auf. Ich gucke immer, dass ich nicht zwei Sachen an einem Tag habe, also wenn ich einen Arztbesuch habe, dann nicht mehr zur Bank gehe oder einholen. Ich mache eins. Und das reicht. Das ist mit dem Saubermachen genau dasselbe. Den einen Tag sauge ich, den anderen wische ich.

Für viele ist das Nichttrinken noch ein täglicher Kampf …
Bei mir war das auch noch lange so. Der Trinkteufel, wie aus unserem Tagesstätten-Film „Reingerauscht“: Der ist doch erst groß, wird immer kleiner und sitzt dann auf der Schulter. Und so war es bei mir. Ich bin zur Tagesstätte, zur Nachsorge, dahin und dahin, zur Gruppe, nicht an das Regal im Supermarkt, du gehst da lang … das ist das mit dem Stress. Ich habe immer nur dran gedacht, du darfst nicht trinken. Das hatte mich fertig gemacht. Da hab ich mir eines Tages gesagt, Eva, du machst dich irre. Irgendwas stimmt mit dir nicht. Du kannst doch so nicht leben. So nicht. Geh mal anders damit um. Und … der Trinkteufel wurde immer kleiner! Nicht dass er weg ist, im Gegenteil, er wurde immer kleiner, aber bleibt immer so präsent, dass er mich in solchen Situationen, wenn ich merke, halt, erinnert: da ist doch wieder der Teufel am Werk, da muss du jetzt gegensteuern.
Dieses andere umgehen damit. Er ist immer da, er wird kleiner, aber er ist da und gehört zu mir. Ich muss ihn nicht vorne auf der Stirn haben, damit ihn jeder sieht. Aber er ist immer bei mir. Der soll auch bleiben, bis ich die Augen zumache.

Aber bis dahin …
… will ich noch etwas von meinem Lebensabend haben. Es ist ein Unterschied wie Tag und Nacht, früher und heute. Dieses bewusste Leben heute! Ich habe früher auch alles gemacht, Haushalt, Arbeit, Kind, Enkel versorgt. Aber das läuft vor mir jetzt alles so ab wie ein Film, ich habe funktioniert. Ich habe gar nicht gewusst, wer ich bin, was ich will. Erschreckend, da lebst du ein ganzes Leben und jetzt merkst du sowas … Ich sehe die Blumen wieder, das Grün. An den kleinsten Knospen kann ich mich erfreuen. Aber ich will auch nicht sagen, dass ich etwas versäumt habe. Ich habe eben nur ein anderes Leben gelebt.
Ich bin heute so dankbar. Ich kann es nicht in Worte kleiden.

Dieses Leben möchte ich nie wieder aufgeben.

Das Gespräch führte Anja Wilhelm