TrokkenPresse 01-23: Markus Majowski

Im TrokkenPresse-Interview: Markus Majowski

Du bist doch der lustige TV-Markus, das kann doch gar nicht sein?

In der vergangenen Ausgabe stellten wir das Zirkuswagenprojekt des Trockenbau e.V. in Barth vor. Pate des Projekts, Sie erinnern sich, ist Markus Majowski. Wie kommt ein prominenter Schauspieler, Komödiant und Produzent dazu, alkoholkranke Menschen zu unterstützen? Ist er vielleicht selber …? Ja, ist er. Vor zehn Jahren outete er sich öffentlich als drogen- und alkoholkrank. Zuerst in einer Talkshow, später dann in seiner 2013 erschienenen Autobiographie: „Markus, glaubst Du an den lieben Gott?“ (Rezension S. XX). Seit 14 Jahren nun ist er trocken und clean. Wie er es wurde, was ihm dabei half, wie sich sein Outing damals auf seine Karriere auswirkte …

Zuerst zum Zirkuswagenprojekt, lieber Markus: Wie bist Du Pate geworden, warum und was genau machst Du da?

Die haben sich damals einfach ganz lieb bei mir gemeldet, das Projekt am Telefon vorgestellt und das hat mich überzeugt. Weil es eben die ersten Schritte aus der aktiven Sucht betrifft, ins betreute Wohnen. Die möchte ich unterstützen. Ich habe dort einen Literaturabend gegeben, Rilke-Gedichte gelesen, in denen es um Sehnsucht geht, Verzweiflung und im weitesten Sinne auch um Liebe, um dieses mehr hin zu einer höheren Macht, verstärkt mit Zitaten aus dem blauen Buch der AA. Es ging um das Annehmen der Krankheit und das Gottvertrauen. Es war so schön, so berührend für alle, auch für mich, dass wir beschlossen haben, wir machen das wieder.

Du bist auch zum Beispiel Botschafter des Deutschen Kinderhilfswerkes, hast in Bremen ein Zentrum für trauernde Kinder mit aufgebaut, machst gerade ein Theaterprojekt mit Kindern an einer Grundschule … Warum tust Du das alles?

Um weit wegzukommen von dem einst aufgeblasenen Markus, dem erfolgreichen Markus, der dann gescheitert ist. Und eben auch, um wieder etwas zurückzugeben an die Gesellschaft. Meine Umtriebigkeit, meine aktive Sucht … da wurde mir geholfen, mir der Arsch gerettet. Das Gesicht bestimmt noch nicht, vieles kann man auch nicht mehr rückgängig machen. Ich bin über jede Aktion dankbar, mit der ich bodenständiger werde. Einfach so normale Dinge tun und für andere ein bisschen da sein. Dafür habe ich auch mein Gebet: „Befreie mich von der Last meines übermäßigen Egos, gib mir die Chance, ein anständiger Kerl zu sein, nützlich und dienlich dieser Gesellschaft, damit dein Sieg über Narzissmus, Egoismus und Boshaftigkeit Zeugnis von deiner unendlichen Macht, Größe, Liebe und Führung ablegen möge vor den Menschen, denen ich helfen möchte. Möge ich immer deinen Willen tun.“ Das ist mein Gebet an die Higher Power, an die höhere Macht, für mich an Gott.

Den Buchtitel „Markus, glaubst Du an den lieben Gott?“ beantwortest Du also mit ja?

Ich wünschte manchmal, ich hätte den Titel mit einer Klammer versehen: Markus, glaubst du an den lieben(den) Gott? Aber „Markus, glaubst du an den lieben Gott?“ ist das, was meine Großmutter mich fragte. Sie hat mich beim Stibitzen erwischt und mancher kleinen anderen Unsäglichkeit. Sie wollte wissen, ob ich denn glaube, dass es einen Gott gibt, der alles sieht. Aus meinem kindlichen Verständnis heraus habe ich das so beantwortet: Ja, ich glaube an den lieben Gott, aber ich glaube nicht, dass er petzt … Ich dachte, der wird schon alles zulassen, was ich mache, der wird mir auch vergeben, wenn ich lüge und trickse. Er ist kein strafender, sondern ein lieber Gott, der alles verzeiht. Aber ich habe nicht gemerkt, dass ich mich damit selber und meine Umwelt schädige. Heute bin ich ganz glücklich, dass ich aus diesem kindlichen Verständnis heraus bin und weiß, dass es viel mehr ein liebender Gott ist. Ich habe festgestellt, wenn ich Zeiten hatte, in denen ich nicht mehr gebetet habe, weniger Fragen gestellt habe an Gott … da war das, wie als ob ein liebender Vater oder eine liebende Mutter – ich weiß ja nicht, ob es ein männliches oder weibliches Wesen ist – von seinem Kind nicht mehr beachtet wird. Und auch das hat er mir verziehen. Ja, ich glaube an einen liebenden Gott, der mich auf den Weg schickte in die Genesung und mir alles bereitet, dass ich ein von der aktiven Sucht befreites Leben führen kann.

Warum hast Du Dich 2013 mit dem Buch überhaupt öffentlich geoutet als drogen- und alkoholkranker und bisexueller Mensch?

Es gab ein Schlüsselerlebnis. Ich saß zum zweiten Mal bei „3nach9“ in einem Interview mit di Lorenzo, um etwas vorzustellen für „Die Dreisten Drei“. Und zum zweiten Mal bot er mir auch ganz stolz seinen selbstgezogenen Rotwein an und ich habe ihn zum zweiten Mal abgelehnt. Er hat dann etwas gebohrt, gesagt, das kann doch nicht sein! Ich habe erwidert, du, ich will einfach noch ein bisschen länger leben und erzählte ihm die Kurzfassung von meiner Sucht. Plötzlich, aus heiterem Himmel, in der Live-Sendung. So habe ich mich geoutet. Und dann dachte ich, wenn ich das mache, kann ich auch gleich ein Buch schreiben. Ich wollte ein bisschen Hoffnung unter die Leute bringen und bisschen von mir erzählen, wie ich es geschafft habe.

Hatte Dein Outing berufliche Auswirkungen?

Es war damals überhaupt noch nicht normal und es gehörte nicht zum guten Ton, sich so zu outen. Es gab, glaube ich, in der Branche einen Aufschrei. Ich habe weniger Aufträge bekommen, es wurde auch ein bisschen mit Fingern auf mich gezeigt, aber nicht schlimm. Das war so diese Anfangsphase. Heute ist es so, dass diese Outcomings Normalität erreicht haben, viele Kollegen reden darüber. Das hat aber bestimmt auch damit zu tun, dass wir uns alle ganz dolle an die Hand nehmen können, wenn wir wollen. Man kann miteinander darüber reden und das ist gar nicht mehr so tabu. Das wird immer besser, finde ich.

Du hast mit 15 schon Drogen genommen, später kam Alkoholmissbrauch dazu über Jahrzehnte … wie konntest Du aufhören damit?

Ich habe kalte Entzüge gemacht, mehrere, alleine. Ein Arzt hat mich auch zweimal in eine Klinik geschickt. Einmal in eine psychosomatische Klinik in Friesland und erst dort, das war 2008, habe ich es geschafft und bin in mein erstes AA-Meeting gegangen. Der Leiter der Klinik hatte mir auf den Kopf zugesagt, „Herr Majowski, Sie sind wahrscheinlich eher ein Säufer als jemand, der ein Burnout oder psychosomatische Probleme hat. Sie gehören eigentlich an die Tische, wo Leute sitzen, die dasselbe Problem haben wie Sie. Ich würde Ihnen empfehlen, das mal auszuprobieren.“ Dann bin ich in Oldenburg in Meetings gegangen, wo die alten Hasen saßen, und letztendlich habe ich mich dort sofort wohlgefühlt, es war wie eine mütterliche, väterliche Verbindung zu den Leuten. Ich habe mich allerdings anfangs nicht zugehörig gefühlt und tat so, als ob, weil ich noch dachte, dass ich das ja alles verdient habe – also dass ich ja unheimlich viel arbeite und ja unheimlich erfolgreich bin und mich ja auch entspannen muss und ja viel trinken darf, das kann doch gar nicht sein, nichts zu trinken. Aber ich fühlte mich trotzdem bei denen aufgehoben. Die haben mir keine Ratschläge gegeben, sondern das Gefühl, dass sie für mich da sind, wenn ich sie brauche. Und das hat sich auch bewahrheitet, ich habe den Kontakt zu ihnen nie verloren. Das war die Basis dafür, dass ich AA sehr, sehr doll vertraue. Ich habe das gleiche auch in jeder anderen Stadt erlebt – wenn ich zum Beispiel auf Tournee bin, bin ich immer in den Kontaktstellen der großen Städte – dass vieles über den Tisch geteilt wurde, richtig Tacheles geredet, und ich bin trotzdem sitzen geblieben, weil die mir einfach den Arsch gerettet haben. Und wenn ich in einer fremden Stadt kein Mittagsmeeting gefunden habe, dann habe ich eins gegründet, weil ich ja abends immer auf der Bühne stand.

Wie ist das, so als Prominenter an einem AA-Tisch?

Es kommt nie vor, dass die Frage nicht gestellt wird, wenn ich neu bin in einer Stadt: Du bist doch der Markus, der im Fernsehen so lustig ist, das kann doch gar nicht sein? Ich war am Anfang wahnsinnig traurig darüber, weil mir gesagt wurde, dass die Anonymität bewahrt wird und dass ich in Ruhe gelassen würde. Aber die Verbindung war dann doch so stark zu mir, weil ich die Menschen einfach zum Lachen gebracht hatte. Weil ich für viele die Kindheit bedeute oder die Jugend. Also viele haben mich bei den Dreisten Drei erlebt und deswegen ist immer die Freude größer als der Respekt. Die können ja in dem Moment nicht wissen, dass es mir weh tut, weil ich ja weg will von dem Ego, weg von der Popularität. Ich habe auch viele Jahre lang, während ich am Anfang bei den AA saß, aufgehört, meine Karriere voranzutreiben, ich bin in ein Riesenloch gefallen beruflich, aus dem ich nur sehr schwer wieder rausgekommen bin, weil ich mich nicht mehr bemüht habe um Jobs: Ich wollte einfach nur clean bleiben, trocken bleiben.

Wie bist Du dann trocken geblieben bis heute?

Mit Hilfe meines Sponsors. Mit Beten. Mit solchen Tricks wie in Hotels in fremden Städten die Minibars leerräumen lassen. Oder in jedem Supermarkt einen Umweg zu nehmen, um möglichst nicht in die Nähe von alkoholischen Getränken zu kommen, das war am Anfang bei mir immer ein unheimlicher Trigger, so bin ich nun mal gestrickt, das ist bei jedem anders. Ich habe viel telefoniert, viel AA-Service gemacht wie Kaffeekochen, Schlüsseldienst, Literaturdienst. So bin ich trocken geblieben. Vor allem auch durch dieses regelmäßige Meetinggehen jeden Sonntag und dann noch ein 2, 3 Mal in der Woche. Ich habe keine 90 Tage 90 Meetings geschafft, aber ich denke mal, 14 Jahre sind jetzt ins Land gegangen und ich habe keinen Suchtdruck.

Zum Trockenbleiben gehört noch mehr, im Buch steht, dass Du mehr das tust, was Dir gut tut, ob nun Sport, Yoga, Ernährungsumstellung …

Das kannst du gerne zitieren, das ist tatsächlich so, ich habe sehr viel für meinen Körper getan, mich mehr bewegt. Ich habe aber gerade wieder zugenommen, weil ich eine Knie-OP hatte und einen kleinen Herzkasper. Ich bin im Oktober auf der Bühne in Karlsruhe mit einer Herzrhythmusstörung ohnmächtig geworden. Im Krankenhaus haben sie mir in der Nacht noch einen Herzkatheter gesetzt und eine Thrombose herausgeholt. Sport ist also gerade für mich ein rotes Tuch, weil ich Knieschmerzen habe und leicht außer Atem komme. Ich mache im Frühjahr eine Kur in einer 12-Schritteklinik, um nochmal mehr Genesung in mein Leben zu lassen.

Inwiefern hat Dir Gott beim Aufhören und Trockenbleiben geholfen, wie kann ich mir das vorstellen?

Das ist schlicht und ergreifend ein Wunder. Ich hätte eigentlich viel öfter auf die Fresse fallen müssen. Aber Gott hat mir meine Grenze gezeigt. Er hat mich an den Ort geführt, an dem ich meine Kapitulation haben durfte und hat mir dann ein Leben gezeigt, was voller Wertschätzung ist, was alles etwas ruhiger angehen lässt, was mit Zuhören zusammenhängt, mit Selbstannahme und Selbstfürsorge. Ich nehme mich heute so, wie ich bin, weil ich merke, dass Gott mich liebt. Selbst, wenn es mal ganz, ganz schwierig ist – und das ist es oft in meinem Leben durch neue berufliche Herausforderungen, mangelnde Aufträge, Krankheit oder finanzielle Probleme –, bei aller Sorge bin ich gut aufgehoben und fühle mich geborgen und geliebt. Ich spüre ihn einfach. Ich spüre meine höhere Macht.

Hat Dich die Krankheit Alkoholismus etwas gelehrt?

Ja, generell hinzugucken auf das, was in der Welt schön ist, nicht dunkel und beängstigend ist. Die Sucht hat mich gelehrt, auf die kleinen Dingen zu achten, sie wertzuschätzen, so klein sie auch sind. Sie hat mich auch gelehrt, dass sie als Krankheit sehr gerissen ist, denn sie versteckt sich auch. Also ich kann meine Sucht verlagern und wenn es zu viel wird, ob das beim Arbeiten oder Essen ist, dann weiß ich sofort, das ist der Alkoholismus, der gerade woanders zuschlägt. Immer kann ich dann auf bewährte Werkzeuge zurückgreifen: Ich rufe jemanden an, bitte um Hilfe, gehe dahin, wo Leute sind, die mit der Krankheit Erfahrung haben, muss mit der Krankheit nicht alleine sein.

Jetzt sind mindestens noch eine Million Fragen offen, lieber Markus Zum Beispiel, wann, wo und weshalb hast Du getrunken oder wie hat Deine Ehe mit Barbara diese Zeit überstehen können oder … aber die Antworten darauf können die interessierten LeserInnen auf jeden Fall in Deinen beiden Büchern finden. Seit einem Jahr ist ja auch Dein aktuelles auf dem Markt: Markus, mach mal! Runter vom roten Teppich, rauf auf die Leiter“, Plassen-Verlag. Die Buchbesprechung dazu gibt es in der nächsten Ausgabe. Danke für das Gespräch!

 

Das Gespräch führte Anja Wilhelm

TrokkenPresse 02/23

Die Ausgabe 02/23 der TrokkenPresse erscheint ab 15. April

+++ Inhalt: trokkenpresse.de/aktuelle-trokkenpresse/titelinhalt/.

+++ Aktuelle Leseproben:

-AnDi’s Gedanken zur Zeit: trokkenpresse.de/aktuelle-trokkenpresse/kolumne/,

-Sucht und Trauma: trokkenpresse.de/aktuelle-trokkenpresse/thema/,

-„Komm wieder !“, 70 Jahre AA: trokkenpresse.de/aktuelle-trokkenpresse/erfahrungen/.

+++ Zeitschrift erwerben: trokkenpresse.de/kaufen/



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TrokkenPresse 02-20

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TrokkenPresse 6/22: Das Trockenbau – Zirkuswagenprojekt

Suchthilfe auf neuen Wegen

Der Trockenbau – Zirkuswagenprojekt e.V. in Vorpommern stellt sich vor:

Lütt Matten und … sein Heimathafen

Die Kleinstadt Barth am gleichnamigen Bodden war seit einigen Jahren fast ein Suchthilfe-Niemandsland. Aber genau das ändert sich gerade: Der Stralsunder Verein Trockenbau – Zirkuswagenprojekt e.V., vor zwei Jahren gegründet, durfte nämlich den großen städtischen Obstgarten in Barth pachten. Die Vision: Das Leben nüchtern und klar sinnvoll gemeinsam gestalten. Entstehen soll „Ein Zirkuswagendorf, klein und fein, an einem verwunschenen Ort, für Menschen, die Rückzug brauchen, gemeinsam werkeln und teilen!“ Wie das mit Suchthilfe zu tun hat und woher Idee, Kraft und das Geld dafür kommen …

Das Morgen: Das Meer duftet herüber, mitten in den alten Obstgarten herein. Der scheint riesig, fast ein halbes Fußballfeld weit. Äpfel, Birnen, Pflaumen wachsen hier. Und dazwischen leuchten bunte Zirkuswagen. Fröhliche Familien verbringen ihren preiswerten Urlaub darin. Aus einem riecht es nach Kaffee und Kuchen, er ist das mobile Café. Hie und da sägt und hämmert es: Ein alter Bauwagen wird gerade restauriert. Auf einem großen Grill brutzelt etwas, könnte Fisch sein. Auf einer kleinen Bühne trommelt sich jemand ein für sein Konzert am Abend, zu dem wie immer auch wieder Einwohner und Urlauber kommen werden … So, ja so ungefähr könnte es in den nächsten Jahren hier sein. Ein bunter Garten der fröhlichen Begegnung, offen für alle. Ein Heimathafen, so hat der Verein ihn genannt, nicht nur für Suchtkranke, sondern für alle Barther Bürgerinnen und Bürger. Das ist der große Plan, erklärt Dirk Steiniger, der stellvertretende Vereinsvorstand. Übrigens ist er auch selbst alkoholkrank – und Suchtberater.

Im Heute: Ein Zirkuswagen ist inzwischen fast fertiggestellt und steht noch auf dem Gelände des Strahlwerks in Stralsund. Fertig bedeutet: Von einem alten, typischen DDR-Bauwagen wurde das Oberteil abgerissen, das Untergestell entrostet, lackiert, dann das Oberteil mit Holz neu aufgebaut. Die alten Türen und Fenster erneuert und wieder eingesetzt. Aus alt mach neu. Da steht er nun und wird seinen endgültigen Stellplatz im Garten der Begegnung in Barth finden. Lütt Matten ist sein Name, liebevoll benannt nach der Hauptfigur eines Kinderbuches von Benno Pludra, „Lütt Matten und die weiße Muschel“. Jeder Wagen wird einen Namen bekommen, das steht fest. Das ist was Persönliches. Denn in Lütt Matten steckt viel mehr als die bloße Arbeit: Nämlich die neu gewonnene Lebensfreude und der wiederentdeckte Lebensmut der suchtkranken Menschen, die mithalfen. Ob beim Sägen, Schleifen, beim Sandstrahlen oder Lackieren – etwas zu tun, etwas Sinnvolles mit den eigenen Händen zu erschaffen, das erfüllt, schenkt Selbstwertgefühl und Zufriedenheit. Gedanken an Alkohol und Drogen sind dann ganz weit weg.

Das ist auch das besondere Ziel des Vereins?

Dirk: Ja. Ich war es leid, ich hatte das fünf Mal stationär in einer Therapie, dass ich in der Ergotherapie Körbe geflochten habe, meine Muddi hat heute noch den halben Keller voll damit. Ich habe damals gedacht, es muss doch andere Wege geben! Und dann entdeckte ich zufällig Ulliwood in Schleswig-Holstein. Das sind Leute, die nichts mit unserem Thema zu tun haben, sondern sich vor 30 Jahren fanden und einen Zirkuswagen nach dem anderen aufgebaut haben, wodurch eine richtige Dorfgemeinschaft entstanden ist. Ich habe sie besucht und dachte dann: Ok, das kann man vielleicht einnorden, um etwas für Menschen mit Sucht tun zu können. Meine Freunde fanden die Idee auch gut, und so haben wir gemeinsam den Verein gegründet.

Wer sind denn nun die Menschen, die hier mithelfen beim Bauen?

Vor allem alkoholkranke, polytoxe Menschen, auch mit Doppeldiagnose, also Angst, Depressionen. Sie kommen von den Nachsorgeeinrichtungen im Umfeld, die Arbeitstherapeuten sind mit dabei. Aber auch Leute aus dem Ort, Rentner, Flüchtlinge, Arbeitssuchende, die sich alleine fühlen oder langweilen, Menschen, denen das Projekt gefällt, schauen vorbei.

Aber es braucht doch auch Fachleute, Handwerker?

Das ist schwierig, Handwerker zu finden, denn sie sollen ja auch kaum Geld kosten. Deshalb ist es meist temporär. Für Lütt Matten hatten wir einen jungen Tischler hier für ein paar Monate, der uns angeleitet hat. Jetzt haben wir einen Frührentner da, der handwerklich sehr beschlagen ist und gerade eine mobile Bühne mit uns baut, solche Leute sind wie Goldstaub. Begeistert von der Idee, unserem Hintergrund. Der Bernd kommt aus Kiel, ist auch viele Jahre trocken und clean, und kennt das auch alles so wie ich, mit richtig runter, auf der Straße leben …

… und kann nebenbei seine Sucht-Erfahrungen ja auch weitergeben?

Ja, wenn die Leute fragen, Mensch, wie habt ihr denn das gemacht, das wär vielleicht ein Weg für mich, lass uns mal drüber reden? Solche interaktiven Gespräche, wir verbringen ja manchmal den ganzen Tag zusammen, beim Essen, bei der Arbeit, im Tagesablauf, gehören auch dazu. Und eine Tagesstruktur anzubieten übrigens sowieso, das ist das A und O, das wissen wir ja selber.

Wie haltet ihr die abhängigen Menschen noch interessiert und „dabei“?

Wir binden sie mit ein in die Planung zum Beispiel. Wir kaufen eben kein Untergestell neu, sondern machen es neu. Das heißt, wir machen uns mit den Klienten gemeinsam einen Kopf: Wir haben etwas Altes da, was können wir daraus machen? Wir entscheiden gemeinsam. Ich habe genügend eigene Therapieerfahrung, um zu wissen, wenn man was vordiktiert bekommt, dann hat man weniger Bock. Oder eben mit mal ganz anderen Ideen: Die alten Bauwagen, die schon dastehen, werden im Frühjahr von unseren Leuten besprayt, innerhalb einer Werkstattwoche, da kommt extra ein Sprayer aus Berlin her zum Anleiten. Wir wollen die KlientInnen für auch mal andere Dinge öffnen, denn in der Klinikstruktur ist der Ablauf ja immer der gleiche, aber wir können da ein bisschen innovativer sein und mehr auf die einzelnen eingehen. Zum Beispiel kann ich, als Entspannungstherapeut, auch mit Klangschalen arbeiten, das wollen wir einfach mal mit einbauen, wir nehmen zwei, drei Klangschalen und gehen zwischendurch an den Strand und klingen die an. Mal schauen, wie das wirkt auf die Jungs, vielleicht sagen die, da hab ich keinen Bock drauf, aber vielleicht ist jemand dabei, der sagt, ey cool!

Wie oft arbeitet ihr momentan zusammen?

Je nachdem, wie die Handwerker Zeit haben, da wird alles rundherum organisiert. Momentan ein bis zwei Mal die Woche. Im nächsten Jahr  soll es häufiger werden. Morgen wollen wir zum Beispiel gemeinsam bauen und grillen, übermorgen kochen wir hier zusammen eine Bohnensuppe.

Wie viele Menschen sind dann meist da?

Das könnten noch viel mehr sein. Fünf, sechs. Oder tagelang nur einer, da sind wir gerade in Barth im Aufbau. Wir wollen mehr Leute einbinden und nicht nur Süchtige. Im normalen Leben ist es ja auch so, dass die Süchtigen nicht nur unter sich sind oder sein sollen.

Woher kommt das Geld, das ihr benötigt?

Das ist der schwierige Punkt. Zum einen aus Fördertöpfen, z.B. der Kriminalprävention oder von der  Ehrenamtsstiftung. Zum anderen von Menschen, die dem Verein wohlgesonnen sind, die soziale Projekte unterstützen, z.B. der Lions Club, der Rotary Club. Wir klopfen an viele Türen. Da war eine Frau, deren Mutter war Alkoholikerin und als wir erzählten, was wir machen, zum Beispiel von den Bauwagen, die wir umsprayen wollen und dass da einer 1000 Euro kostet … da sagte sie, wisst ihr was, dafür gebe ich euch schon mal die 1000 Euro! Das ist Arbeit, immer wieder die Geschichte zu erzählen, die Leute vor allem mitzunehmen: an der und der Stelle brauchen wir eure Hilfe … Und der dritte Pfeiler, den wir langsam angehen, sind Benefizveranstaltungen, wie der Rilke-Abend mit Schauspieler Markus Majowski, auch lange Jahre trocken. Inzwischen ein guter Freund von uns und öfter hier. So ein Schirmherr pusht unsere Sache natürlich.

 Du bist ja Feuer und Flamme für euer Projekt …

Ja! Es ist meine Lebensaufgabe geworden. Die AA nennen es den zwölften Schritt. Die Erfahrung, Kraft und Hoffnung teilen. Also das weiterzugeben, was mir Gutes widerfahren ist vor vielen Jahren, als ich auf der Straße gelebt habe in Hamburg und mir da ein paar Leute die Hand gereicht haben und ich die gottseidank ergriffen habe … Und nun ist der Punkt gekommen, an dem ich das eins zu eins, und andere natürlich hier auch, weitergeben kann. Das hält mich auch selber nüchtern.

Schritt für Schritt für Schritt geht es nun nach Lütt Matten weiter. Der Vision entgegen. Gerade ist im Heimathafen eine mobile Bühne – aus einem restaurierten Untergestell und Holz-Planken – fertig geworden. Für Konzerte, Lesungen, Gesprächsrunden. Ab Januar 2023 wird, losgelöst vom Verein, ein Raum angemietet für eine neue Selbsthilfegruppe. Die erste seit drei Jahren in Barth. Und über den Winter werden die jetzigen Helfer nicht etwa gemeinsam nichts tun, sondern dies: Die einstigen Modellhäuser vom Rathaus, der Kirche u.a., die etwas verloddert im Obstgarten herumstanden, werden in den Nachsorgeeinrichtungen schick gewerkelt, damit sie wie frisch dann im Frühjahr wieder in den Heimathafen können …

Wenn Sie mitmachen wollen, Fördermitglied werden oder spenden möchten:

www.zirkuswagenprojekt.de
Email: trockenbau2020@gmx.de
Bankverbindung für Spenden:
TROCKENBAU – das Zirkuswagenprojekt e.V.
Sparkasse Vorpommern
IBAN: DE51 1505 0500 0102 1103 79
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TrokkenPresse 5/22: Arbeiten u n d trinken wie die Männer?

Interview mit Autorin Eva Biringer über den steigenden Alkoholkonsum von Frauen

Arbeiten u n d trinken wie die Männer?

Ur-Omi nippte damals am Eierlikör, und das vielleicht einmal im Monat mit einer Bekannten. Derweil kippte Ur-Opa in der Kneipe gegenüber Bier und Schnaps – und das nicht nur einmal im Monat. Doch seit 25 Jahren, besagt eine weltweite Studie, hat sich das Trinkverhalten angeglichen. Männer trinken etwas weniger, Frauen inzwischen viel mehr Alkohol. In Deutschland ist inzwischen fast die Hälfte aller Alkoholkranken eine Frau, besagen aktuelle Statistiken. „Je emanzipierter ein Land ist, desto eher trinken die dort lebenden Frauen“, stellt Eva Biringer in ihrem Buch „Unabhängig“ fest, das wir in der vergangenen Ausgabe vorstellten. Die heute trockene Autorin gehört mit ihren 32 Jahren und ihrer Karriere als Food-Journalistin selbst der Generation Frauen an, die es normal findet, zu arbeiten u n d zu trinken wie die Männer.

Was hat das mit Emanzipation zu tun, wenn Frauen heute viel mehr trinken?

Eva Biringer: Einerseits hat Alkohol die Wirkung, die er hat: Er nimmt scheinbar die Sorgen, man fühlt sich leicht beschwingt und das ist natürlich ideal, wenn man den ganzen Tag nicht weiß, wo einem der Kopf steht als Frau, vielleicht auch noch als Mutter, aber auch als Frau, die einen Job hat, der sie fordert. Dann ist da das Glas Wein am Abend der erste Moment, in dem man sich mal was Gutes tut – mal durchatmen, mal Zeit für sich. Andererseits wird Alkohol für Frauen heute auch als Emanzipation verkauft. Sie können heute alles machen, denselben Job wie Männer, können sich selbst verwirklichen, ihr eigenes Lebensmodell wählen: Warum sollen sie dann nicht auch trinken wie die Männer? Dieses „Sex in the City“-Beispiel, das sind Frauen mit tollen Jobs, die sich ihre 15-Dollar-Martinis gönnen und in der Öffentlichkeit trinken. Natürlich nicht zu viel, das ist das Perfide daran, dass das weibliche Trinken sehr wohl reglementiert wird, nämlich dass eine besoffene Frau total abstoßend ist, noch viel abstoßender als ein Mann. Das heißt, man bewegt sich auf einem sehr schmalen Grat zwischen nicht trinken, was komisch ist, denn dann hat man ja ein Problem, und viel trinken, was auch nicht geht – aber eine Frau, die nicht sichtbar betrunken, aber maßvoll in der Öffentlichkeit trinkt, die hat schon was Glamouröses, wenn es nicht der Wodka direkt aus der Flasche ist. Ein Cocktail, ein besserer Wein oder Prosecco, das ist so: Okay, die gönnt sich was.

Trinken Frauen anders und aus anderen Gründen als Männer?

Ich habe eher getrunken, um was zu erleben, zu fühlen, weil ich gerne starke Empfindungen mag, aber ich bin damit eher ein Gegenbeispiel: Viele Frauen trinken, um Gefühle nicht fühlen zu müssen, um sich zu betäuben. Sie trinken auch gegen Ängste und Depressionen an, anders als Männer, die oft nach außen gehen, auch im wortwörtlichen Sinn, nämlich eher in der Öffentlichkeit trinken als Frauen, die, wenn sie problematisch trinken, eher Zuhause trinken … weil es etwas Schambehaftetes hat, das weibliche Trinken – und weil sie da auch einfach sicherer sind, denn eine betrunkene Frau kann eher Opfer einer Gewalttat werden als eine, die nicht betrunken ist. Mit dem Trinken neigen Männer dann eher zu aggressivem, gewaltbereitem Verhalten, bei Frauen dagegen verstärken sich Angstzustände und Depressionen meist.

Werden Frauen schneller abhängig?

Ja, der weibliche Körper kann Alkohol schlechter abbauen, verstoffwechseln. Frauen werden aber nicht nur schneller abhängig, auch die körperlichen und die psychischen Schäden wie Depressionen und Angstzustände durch Alkohol sind sehr viel ausgeprägter als bei Männern, bis hin zu einem mehr als doppelt so hohen Sterblichkeitsrisiko. Deswegen gibt es auch die Empfehlungen, dass Frauen viel weniger trinken sollten als Männer, maximal die Hälfte.

Müsste es dann für Frauen nicht eine spezielle Frauentherapie geben?

Ja, ich bin sehr dafür, dass es eine geschlechterspezifische Suchttherapie gibt, oder mehr, als es gerade der Fall ist: Weil Frauen viel mehr aufgebaut werden müssen. Deswegen lehne ich auch das AA-Konzept ab, bei dem man sich erst mal klein machen muss und sich entschuldigen bei allen, denen man Unrecht angetan hat. Denn das machen Frauen doch sowieso die ganze Zeit. Ich glaube, Frauen müssen bestärkt werden. Das funktioniert, denke ich, am besten in einer Frauengruppe, nicht in einer gemischten Gruppe, ich habe es selbst erlebt. In einer gemischten Gruppe reißen die Männer dann doch wieder das Wort an sich – aber in einer Frauengruppe fühlt man sich doch eher wie in einem geschützten Raum und kann besser auf die geschlechtsspezifischen Probleme eingehen.

Mir ging es selbst so, in der Therapie gab es gemischte Gruppen und ich konnte mich da nur schwer öffnen …

Ja, diese Erfahrung haben viele Frauen gemacht. Ich sage jetzt nicht, dass es keine erfolgreichen gemischten Therapien gibt, aber ich hatte den direkten Vergleich, meine Aufnahmegruppe in der ambulanten Therapie war gemischt, später war es eine Frauengruppe. Das war eine ganz andere Stimmung. Ich glaube, Frauen trauen sich dann mehr, offenbaren sich eher vor anderen Frauen und man kann auch von Seiten der Therapeuten anders herangehen, also eine speziell auf Frauen zugeschnittene Therapie anbieten.

Auch die Werbung trägt ja dazu bei, dass Frauen mehr trinken, sie spricht sie zielgerichtet an, Frauen als Absatzmarkt. Woran kann frau das erkennen?

Durch die Art der Getränke, denn wie alles in der Welt ist ja auch das Trinken gegendert. Also wird der Mann eher durch die Werbung mit einem Whisky oder Cognac angesprochen und die Frau eher mit einem Rosé, mit Sekt, mit Getränken, die weniger Alkohol enthalten, süßlich schmecken und auch niedlich daherkommen, so wie sie aufgemacht werden. Dann ist es natürlich die Mädels-Prosecco-Runde, die dargestellt wird in der Werbung, bei den Männern eher der Biergartenbesuch. Das Perfide ist aber auch die versteckte Werbung. So viele Serien, Filme, Bücher sind bildprägend. Oder Instagram, die sozialen Medien, es ist ja überall das Bild der elegant trinkenden Frau, die sich auf jeden Fall unter Kontrolle hat und nicht betrunken vom Barhocker kippt, aber die trinkt. Und die das als selbstverständlichen Teil ihrer Weiblichkeit betrachtet. Das finde ich fast noch gefährlicher, weil man es gar nicht als Werbung erkennt und es sich sofort abspeichert: ah ok, ne Frau, die im Leben steht, etwas aus sich macht, die trinkt – na dann trink ich doch auch.

Warum hast Du eigentlich Dein Buch geschrieben?

Weil ich in der Zeit, bevor ich aufgehört habe, super viel gelesen hatte, alles, was ich gefunden habe zum Thema Alkoholismus. Jedes dieser Bücher hat mir etwas gegeben, manches mehr, manches weniger, aber die Geschichten von anderen fand ich sehr, sehr hilfreich auf meinem eigenen Weg, gerade die Geschichten von Frauen. Mir war immer klar, wenn ich es mal schaffe, aufzuhören, dann wird es für mich so krass sein, so lebensumwandelnd, dass ich das irgendwann aufschreiben muss. Auch für andere.

Du bezeichnest Dich heute nicht mehr als Alkoholikerin, warum?

Nicht „nicht mehr“, ich habe mich auch früher nicht als Trinkerin bezeichnet, weil ich den Begriff nicht mag. Ich weiß, es ist ein heikles Thema, aber ich habe das für mich so entschieden. Ich habe auch mal geraucht, dann aufgehört und bin seitdem keine Raucherin mehr. Ich hatte ein Problem mit Alkohol, auch eine Abhängigkeit, aber Alkoholikerin … das definiert dich ein Leben lang als Person, und so sehe ich mich nicht. Dieses klassische „Ich bin Eva, ich bin Alkoholikerin“, das passt für mich einfach nicht. Weil es sofort ein Bild aufruft, das wieder Teil des Problems ist, weil viele dann sagen, „Na, ich bin aber nicht die Frau, die morgens schon ihren Wodka reinkippt, die ist Alkoholikerin, ja. Ich trinke ja einfach nur ein bisschen zu viel.“ Da muss man aufpassen, dass es nicht andersrum funktioniert, als Rechtfertigung zum Trinken. Ich mag den Begriff nicht und jetzt erst recht nicht mehr. Ich trinke keinen Alkohol mehr, da bin ich doch erst recht keine Alkoholikerin mehr.

 

TrokkenPresse 4/22: Mit Butterbrot und Bibel

Als Suchthelfer in der Ukraine:

Mit Butterbrot und Bibel

„Ihr“ Mariupol ist heute ein anderes … eine hungernde und dürstende Stadt in Trümmern. 18 Jahre lang war dieser Ort für die Suchthelfer Heinz und Martina Nitzsche aus Mecklenburg eine zweite Heimat. In der sie hunderten alkohol- und drogensüchtigen Menschen, ihren Kindern, vielen Obdachlosen und Kranken halfen, ein neues, besseres Leben beginnen zu können. Sie bauten eine Gemeinde auf, eine Gottesdiensthalle, Blaues-Kreuz-Gruppen, ein Kinderheim, ein Hospiz, unterstützten eine Obdachlosenzuflucht und kleine Reha-Zentren.

Kartoffelkäfer also. Martina steht in ihrem weiten Garten, von Ferne summt die Autobahn nach Rostock herüber. Sie beugt sich über eine Kartoffelpflanze. Aha! Ein Gelbbraungestreifter wird sachte ins Schraubglas gelegt. Aus dem Nachbarbeet blinzelt es rot, ein paar Erdbeerchen könnten gepflückt werden. Und Unkrauthacken wäre auch mal dran. Aber immer kommt was anderes dazwischen, das ihr viel wichtiger ist: „Menschen gehen immer vor!“ Ebenso ergeht es Heinz, der gerade über die vorlauten Gänse lächelt, die Hände voll mit frischen, braunen Hühnereiern.

Ein beschauliches Rentnerdasein könnten sie führen, hier in ihrem Linstow, während in ihrer einstigen Wahlheimat Menschen sterben. Aber das kommt ihnen nicht mal in den Sinn. Erst heute Morgen waren beide schon unterwegs ins Nachbardorf zu einer ukrainischer Flüchtlingsfamilie, der Herd war kaputt, ein Elektriker schnell organisiert. Und jetzt, auf dem Weg über die stille Dorfstraße in ihre kleine Wohnung im Haus der Tochter, tönt ein helles „Hallo, Martina“ aus einem anderen Haus, an dem gerade gebaut wird. Ein kleiner ukrainischer Blondschopf winkt fröhlich aus dem Fenster. Flucht-Ende bei einem von Nitzsches erwachsenen Kindern.

Martina und Heinz haben seit Kriegsbeginn immer wieder organisiert, dass diese Menschen hier in der Gegend eine erste Unterkunft finden. Vor allem Freunde, Bekannte und Mitarbeiter aus Mariupol mit ihren Familien. Darunter viele ihrer früheren Schützlinge, einst alkohol- oder drogensüchtig, heute frei Gewordene, wie beide es nennen. Nun freuen sie sich, dass die Gemeinde Kuchelmiß zehn Wohnungen in einem älteren Mietshaus zur Verfügung gestellt hat …

Während Martina daheim dann die Kartoffeln aufsetzt, eigene Ernte vom letzten Jahr, und den frischen Heringssalat umrührt, den Heinz so gerne mag, blubbert die Kaffeemaschine friedlich. Alles ist so friedlich hier. So sorgenfrei. Und Martina denkt an Mariupol in Trümmern. „Aber auch, wenn die Häuser, die wir mitaufgebaut haben, nun kaputt sind oder nicht mehr nutzbar – sie waren doch nur ein Instrument, damit wir arbeiten konnten. Das Eigentliche sind die Menschen. Die meisten sind heute noch trocken, trotz des Krieges! Dafür braucht man ein Fundament. Bei uns ist das der Glaube, und dieses Fundament durften wir ihnen damals weitergeben. Also hat es sich gelohnt, das Leben dort.“

Als Blaukreuz-Suchthelfer in die Ukraine

 Wieso wollten Sie 2001 dorthin, um zu helfen?

Martina: Die Geschichte geht viel früher los. Heinz hatte schon immer ein großes Herz für die Randgruppen der Gesellschaft. Und zu denen gehörten in der DDR eben auch die russischen Soldaten.

Heinz: Bei uns nahe Riesa sind sie immer die Straßen lang gekommen in ihren Panzern, wir haben uns draufgesetzt als Kinder, die Mützen aufprobiert und Abzeichen ausgetauscht.

Martina: Und als wir dann verheiratet waren, haben wir immer was verteilt an diese Leute, russische Bibel-Schriften, Schokolade, später sogar eine große Weihnachtsfeier organisiert. Nach der Wende sind wir sofort nach Russland gefahren, um unsere Freunde zu besuchen. Zweimal hatten wir da ein Erlebnis: Betrunkene lagen am Straßenrand, ein LKW fuhr vor, zwei Männer öffneten die hintere Ladetür, griffen die Menschen an Armen und Beinen und schmissen sie ins Auto. Was passiert jetzt mit ihnen?, fragte ich. Die kommen erst mal einen Tag in die Ausnüchterungszelle. Das nächste Mal für zwei Tage, dann für fünf und dann ins Arbeitslager … Ich sagte, aber das geht doch nicht! Die Menschen werden doch schlimmer davon. Die brauchen Liebe und dass jemand ihnen Wege aufzeigt, wie man rauskommt aus der Sucht!

 Und da mussten Sie etwas tun?

Martina: Ja. Wir haben immer in christlichen Gemeinden übernachtet auf unseren Wegen, auch durch die Ukraine. Und dort unser Anliegen geschildert, Alkoholikern zu helfen. Da war gar kein Verständnis da. Das seien Menschen dritter Klasse, Schweine. Und so haben wir erst mal angefangen, ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass das Menschen sind, die das gar nicht wollen, wie sie sind. Und Erbarmen brauchen von uns. So entwickelte sich das, bis hin zu Gruppenstunden. Aber immer, wenn wir in unserem Urlaub wieder dort waren, war es wieder eingeschlafen. Heinz meinte, es müsse jemand immer vor Ort sein. Aber als Mutter von fünf Kindern wollte ich nicht weg, solange sie mich brauchen. Als dann später aber unser jüngster Sohn tödlich verunglückte, der uns noch am meisten gebraucht hatte, wusste ich: Ich bin jetzt freigestellt. So sind wir 2001 aufgebrochen. Ohne zu wissen, was auf uns zukommt.

Und ohne Geld …

Heinz: Unser Antrag bei der EU auf Finanzhilfe für das Projekt wurde abgelehnt. Wir verließen uns nun auf Gott.

Martina: Und dann hat der riesige Freundeskreis uns hindurchgetragen. Ein Geschenk von Gott, dass er die Menschen dazu bewegt hat. Wir hatten viele und lange Durststrecken, aber wir haben immer wieder das Wunder erlebt, nicht hungern zu müssen und immer das zu haben, was wir zum Leben brauchten. Und dass wir bauen konnten, herrichten. Wir haben wirklich den lebendigen Gott erlebt: Dass er da ist und die Seinen nicht im Stich lässt.

Wo habt ihr gelebt?

Martina: Freunde hatten uns ein uraltes kleines Häusel gekauft. Und schon die verrotteten Fenster und Türen rausgerissen, um uns was Gutes zu tun. Aber wir hatten ja kein Geld. Der Müll war noch nicht abgefahren, also haben wir alles wieder eingebaut. Die Leute dort haben uns beobachtet und gesehen, dass wir nichts Besseres sind und genauso im Dreck sitzen müssen wie andere, die immer arbeiten und arbeiten und es reicht hinten und vorne nicht. Inzwischen hatten wir auch schon Straßenkinder angesprochen, bei denen Vater und Mutter tranken. Sie kamen dann regelmäßig zu uns zum Essen, weil es zuhause nichts gab.

Heinz: Bei einem der Kinder, einem sechsjährigen Mädchen, stellte sich bei einer ärztlichen Untersuchung Syphilis heraus – die Mutter hatte das Kind verkauft für Alkohol und Drogen …

Wie war damals die Suchtsituation dort?

Heinz: Schlimmer als in Deutschland, es gab mehr Alkoholiker …

Martina: Unsere Alkoholkranken wurden ja sozial aufgefangen seit der Wende. Und so war das dort nicht.

 Gab es Therapien?

Heinz: Nicht so wie hier. In Mariupol gab es eine Psychiatrie, wo Abhängige entgiftet wurden. Der Doktor sagte: Ich entgifte sie, dann kommen sie wieder. Da ist keine Perspektive da. Als einige seiner Drehtürpatienten später aber nicht mehr kamen, weil sie inzwischen unsere Gruppenstunden und Gottesdienste besuchten, wusste er, dass wir ihnen mit dem Glauben ein Fundament anbieten. Diese Chance sollen alle bekommen, sagte er – und so begann unsere Arbeit in der Klinik.

Aber was genau haben Sie nun gemacht?

Martina: Einfach das Leben geteilt. Zum Beispiel zu jedem Besuch in der Klinik einen großen Berg Butterbrote mitgebracht …

Butterbrote?

Martina: Ja, anders als bei uns mussten Kranke von ihren Verwandten mit Essen versorgt werden – aber diese wollten von den Trinkern ja nichts mehr wissen. Also hatten sie immer Hunger. Wir haben ihnen Bibeln gebracht, mit ihnen gesungen, Andachten gehalten oder einfach nur mit ihnen geredet. Sie sind dann in unsere Gottesdienste, zu Blaukreuzstunden gekommen, wieder gegangen, manche sind geblieben oder irgendwann wiedergekommen. Eine Sache über Jahre. Die, die „frei“ geworden sind, haben sich dann auch mit eingebracht und wieder etwas aufgebaut. Oder sind in eine Art Rehazentrum, kleine Häuser mit vier bis fünf Zimmern, pro Zimmer fünf Menschen. Da wird zusammen gelebt, gebetet, mit Garten und Vieh das Leben gemeinsam bestritten. Und wir waren zu Hausbesuchen unterwegs, wenn wir Hinweise bekommen haben, wer Hilfe braucht, haben eine Kleiderkammer aufgemacht, jeden Montag im Obdachlosenasyl Suppe ausgeteilt, später auch ein Hospiz gegründet …

Woher kam das Geld dafür?

Martina: Aus vielen Gemeinden und Kirchen, von vielen, vielen Freunden und Bekannten, die haben das alles mitgetragen, auch die Lebensmittel-, Kleider- und Möbelspenden, die Baumaterialien. Unmengen an humanitärer Hilfe in LKWs kamen an. Da sind wir sehr, sehr dankbar!

In welcher Sprache haben Sie sich ausgetauscht?

Martina: Ich habe jeden Tag mit Zetteln an der Wand acht neue Worte Russisch gelernt, mein Wortschatz wurde groß, nur reden konnte ich damit nicht. Die Dolmetscherin meines Mannes, er brauchte sie für die Behördengänge, sagte: Du musst einfach reden! Und je mehr ich mit den Menschen sprach, verstanden sie mich besser. Den Heinz haben seine Männer auch so verstanden, in seiner Gestik, Mimik, der Art des Umgangs – sie wussten genau, er wollte ihnen nur Gutes. Wir haben einfach Liebe ausgeteilt. Der Mantel der Liebe passt jedem – da brauchts nicht viele Worte.

Und wie ging Ihre Arbeit mit den Alkoholikerkindern, die zum Essen kamen, weiter?

Heinz: Im ärmsten Gebiet von Mariupol haben wir den Bau eines Kinderhauses organisiert …

Martina: … und was da passiert ist an den Kindern, kann man sich nicht vorstellen. Regelmäßiges Duschen, Hausaufgabenhilfe, Wäsche waschen, Spiele, zwei Mahlzeiten am Tag, sie waren ja immer hungrig, weil sich die suchtkranken Eltern nicht um sie kümmern konnten. Unsere Bedingung war, wenn sie in die Schule gehen, dürfen sie nachmittags in die Betreuung kommen, also sind sie in die Schule gegangen … wurden gute Schüler, fingen an, ihr Leben anders zu leben als die Eltern. Die Kinder haben dann ihre Eltern zu uns eingeladen, so sind wir an die Eltern gekommen – und so haben auch viele von ihnen dann ein neues Leben beginnen können. Als unser Sohn verunglückte, das war eine sehr harte Zeit, aber Gott hatte seinen Plan. Denn wie viele Kinder hätten keinen guten Weg gehabt, wie viele Mütter und Väter, wenn der Herrgottt Andreas nicht genommen hätte. Ich wäre sonst ja nicht dorthin gegangen. Und jetzt sind das alles meine Kinder …

Zum Beispiel Tanja

Eines Winters bat ein Mädchen aus dem Kinderheim darum, ihre Mutter suchen zu helfen, sie könnte sonst draußen erfrieren, alkohol- und drogensüchtig. Heinz und Martina machen sich mit Helfern auf den Weg durch die Stadt. Gefunden wurde sie in einem Krankenhaus, auf 33 kg ausgemergelt, an Aids erkrankt im letzten Stadium, der Arzt gab ihr nur noch wenige Monate … Sie wollte Nitzsches unbedingt sprechen, von denen sie zuvor gelesen hatte. „Ich muss mich bekehren“. Sie legte ihre Lebensbeichte ab, entschlossen, ab jetzt Gott zu leben. Später, aus dem Krankenhaus entlassen, wollte niemand die Obdachlose aufnehmen, aus Angst vor Ansteckung. Also nahmen Nitzsches sie in ihre eigene Enge mit auf, die Stube bekam eben ein Bett. Denn jemanden, der ein neues Leben angefangen hat, wollten sie nicht auf die Straße zurückschicken. Und heute? Sie lebt! Und zwar glücklich und fröhlich in Deutschland. Trocken und clean. „Und so hatten wir viele, viele Menschenschicksale, die wir mitbegleiten durften … ja, einfach durchs Leben teilen“, erinnert sich Martina.

Der Krieg

Das Dach des Hospizes ist heute zerbombt. Das Obdachlosenheim auch. Einiges steht noch, darunter die Gottesdiensthalle. Aber niemand ist mehr da, der sie nutzen könnte. Die meisten Mitarbeiter und Freunde sind geflohen. Viele in die Westukraine oder nach Deutschland – einige auch über große Umwege wie Schützling Dima, erzählt Martina. Er wurde in Mariupol in einem russischen Zug nach Kasachstan in ein Lager geschafft, entkam aber über Georgien bis nach Fulda. In die Sicherheit. Wenn er noch in seinem alten Leben gesteckt hätte, hätte er das nie geschafft, meint Heinz. Dima habe ein Fundament. Den Glauben. Wie viele der Geflüchteten, die bis hierher nach Linstow oder Kuchelmiß in die offenen Arme der Nitzsches fanden.

Während Martina die Mittagsteller spült und Heinz es sich mit seinen 78 im Sessel etwas bequemer macht, sind sie wie oft in Gedanken bei denen, die nicht hier sein können. Bekommt der eine überhaupt noch sein Insulin? Haben alle zu essen und zu trinken? Ein befreundetes Ehepaar meldet sich schon lange nicht mehr, niemand weiß etwas … Nitzsches telefonieren viel. Es soll kaum Trinkwasser geben, wenige und dann sehr teure Lebensmittel und nur mit einem russischen Pass zu erhalten, dafür täglich russische Propagandafilme per Bildschirmen auf Autos. Versuchte Gehirnwäsche. Und bei der 9. Mai-Kundgebung zwar jubelnde Mariupoler im russischen TV, aber mit Kalaschnikows im Rücken.

Heinz und Martina sind jedenfalls der Meinung, ihre Ukrainer werden sich niemals ergeben. Sie wollen nicht in die Knechtschaft zurück, nachdem sie das Leben in Freiheit kennengelernt haben, weiß Martina. Selbst die Russischstämmigen seien jetzt ukrainisch denkend. Ein Freund habe am Telefon gesagt: „Ich gehe keinen Schritt zurück. Wir verteidigen die Ukraine bis aufs Letzte.“

Auch und erst recht in großen Krisen wie dieser hilft ihnen und ihren Schützlingen der Glaube. „Ich darf immer wissen, er hält mich. Ich fühle mich getragen wie ein Kind,“ lächelt Martina.

Ob Kartoffelkäfer also oder Krieg. Ob Tod des Sohnes oder Errettung von Süchtigen – mit allem verfolge Gott einen Zweck, einen bestimmten Plan. Manchmal verstehe man ihn erst später und zweistimmig sind sich Nitzsches sicher: „Gott macht keine Fehler.“

Anja Wilhelm

Übrigens waren Martina und Heinz Nitzsche auch in Mecklenburg als Suchthelfer tätig: Sie haben vor über 50 Jahren die Suchthilfeeinrichtung der Diakonie in Serrahn aufgebaut (heute eine Reha-Klinik). Auf einem alten Pfarrhof, mit einer besonderen Therapiemethode. Dazu in der nächsten Ausgabe der TrokkenPresse mehr …

TrokkenPresse 3/22: Klaus – Alles ist möglich, wenn …

Serie: Trocken bleiben – aber wie?

Alles ist möglich, wenn man an sich glaubt

Seit unserer ersten Ausgabe 2019 stellen wir Menschen vor, die seit einiger Zeit trocken leben. Wir wollen wissen, wie sie das erreicht haben, jeden Tag aufs Neue, bis daraus Monate und Jahre wurden. Ihre Erfahrungen können vielleicht dem einen oder anderen Betroffenen auch hilfreich sein. Heute erzählt uns unser Leser Klaus-Dieter Wehmeier, wie er trocken wurde und blieb …

Als ich am 17.07.1986 zur Entgiftung ging, war nicht klar, welch spannender, aufregender und steiniger Weg vor mir lag.

Alkohol, Medikamente und Drogen hatten mein bisheriges Leben bestimmt. Hiermit sollte es zu Ende sein. Ich wollte mein Leben wieder in die eigene Hand nehmen. Aber wie, das war die Frage.
Ich liebte es, Pläne zu machen und traf mit einem Stapel Papieren, meinem Konzept, bei der Entgiftung ein.
Als ich am nächsten Tag erwachte, hatte der Entzug eingesetzt und mein Konzept war dahin. Die Realität meines Handelns, meines Missbrauchs hatte mich eingeholt.

Nach Beendigung der 3-wöchigen Entgiftung ging es dann zur Therapie nach Bad Tönisstein und mein Weg in ein nüchternes Leben begann.
In Bad Tönisstein beschäftigten mich viele Fragen, von denen ich einige aufzählen werde: Da ich ein bequemer Mensch war, beschäftigte mich die Frage, wie ich im weiteren Leben an mir arbeiten solle. Dieses erschien mir zu anstrengend. Meine Therapeutin antwortete mir, ich solle mir mein Leben als Glaskugel vorstellen. Diese Glaskugel müsse ich am Laufen halten. Dieses gelänge mir nicht, indem ich auf sie einschlüge. Meine Aufgabe bestünde lediglich darin, die Glaskugel am Laufen zu halten. Also keine Schwerstarbeit. Ich war erleichtert.
Zu Beginn der Therapie drückte mir meine Therapeutin Conny ein Buch in die Hand. Der Titel „Die Realitätstherapie“ von William Glasser. Glasser schreibt über die Grundbedürfnisse des Menschen und welche Dinge für ein zufriedenes Leben notwendig sind.
Meine Vorstellung von Grundbedürfnissen war eine völlig andere. Mir waren Dinge wichtig, welche Glasser als Luxus bezeichnete und ich war gezwungen, über mein bisheriges Weltbild, über Zufriedenheit und Notwendigkeiten, nachzudenken.
Der Sozialarbeiter bremste mich aus: Ich war schon während der Therapie mit der Zeit nach der Therapie beschäftigt. Wollte mich lieber mit Dingen beschäftigen, auf die ich noch keinen Einfluss hatte, um mich nicht mit meiner momentanen Situation auseinandersetzen zu müssen …
Immer wieder wurde ich mit meiner Realität konfrontiert, wurde mir aufgezeigt, wo meine Probleme lagen und ich begann, mich dieser Realität zu stellen.

Die tatsächliche Arbeit an mir begann allerdings erst, als ich nach 12 Wochen Bad Tönisstein verließ und wieder in meine gewohnte, noch immer konsumierende Umgebung zurückkam.

LichtBlick

In Tönisstein hatte ich erfahren, wie wichtig der Besuch einer Selbsthilfegruppe ist. Also machte ich mich auf die Suche nach einer für mich passenden Gruppe: In Bad Tönisstein wurde die Therapie nach den Regeln der AA (Anonyme Alkoholiker) durchgeführt, also versuchte ich es mit einer AA-Gruppe. Ich konnte aber mit den Erzählungen der „Gruppenfürsten“ nichts anfangen, die stetigen Wiederholungen ihrer Geschichten nervten mich.
Dann besuchte ich über Jahre eine Gruppe des deutschen Guttempler-Ordens. Gründete mit anderen Besuchern den LichtBlick, welcher sich Jahr 1995 aus dem Guttemplern-Orden verabschiedete und sich als e.V. selbstständig machte.
In den Jahren der Gruppenbesuche lernte ich mich, im Spiegel der anderen Gruppenbesucher, immer besser kennen. Ich erkannte meine Fehler und Schwächen, aber auch meine Stärken. Ich begann mich selbst zu achten und lernte mich als Gesamtpersönlichkeit zu akzeptieren. C. G. Jung schrieb sinngemäß: Erst wenn ich meine dunkle Seite akzeptiert habe, bin ich als Person ganz.

Ich lernte also meine Fehler und Schwächen kennen und akzeptierte diese.
Ich lernte meine Krankheit „Alkoholismus“ als Teil meiner Persönlichkeit zu akzeptieren. Ich söhnte mich mit dieser vermeintlichen Schwäche aus.

Heute beginne ich jede Gruppenstunde mit den Worten: Mein Name ist Klaus. Ich bin alkohol-, medikamenten- und drogenabhängig und damit einverstanden.
Ja, ich bin mit meiner Krankheit einverstanden. Mir fehlen weder der Alkohol noch irgendwelche anderen Drogen. Ich fühle mich befreit und habe das Gefühl, endlich im Rahmen meiner Möglichkeiten entscheiden zu können.
Hierbei hilft mir, dass ich kurz nach Beendigung der Therapie meine Ehefrau Ellen kennenlernte. Ellen brachte einen Sohn mit in die Beziehung und zwei Jahren später bekamen wir unsere Tochter Naima.
Innerhalb unserer Beziehung, unserer Ehe, lernte ich, Verantwortung zu übernehmen. Dieses war mir zu Zeiten meines Konsums nicht möglich und schreckte mich ab. Im Rückblick sehe ich, dass ich an dieser Verantwortung gewachsen bin.
Ich habe gelernt, mich und mein Lustprinzip nicht mehr so wichtig zu nehmen. Dieses hilft mir, entspannter mit mir und meinen Mitmenschen umzugehen.
Hohe, nicht erreichbare Maßstäbe sind in den Hintergrund getreten. Ich gehe liebevoller mit mir und meinen Mitmenschen um.

Meine Selbsthilfegruppe LichtBlick e.V. besuche ich auch nach 35 Jahren der Abstinenz immer noch wöchentlich. In den ersten Jahren war der LichtBlick mein Übungsfeld. Hier konnte ich wieder Vertrauen in mich und meine Mitmenschen fassen. Dieses Vertrauen war mir während der Jahre meiner Abhängigkeit verloren gegangen: Am Ende, kurz vor Beginn meiner Therapie, fühlte ich mich nicht mehr als Teil der menschlichen Gemeinschaft. Ich verachtete mich und meine Mitmenschen. Ich bin heute dankbar, die Verachtung überwunden zu haben, mich als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen.

Ich übernahm Verantwortung

… für den LichtBlick e.V. und bin seit 1995 Vereinsvorsitzender.

Die AA sagen: „Gib es weiter“: Dieses tue ich heute. Mit großer Freude berichte ich anderen Gruppenbesuchern über meinen Weg. Ich weiß, dass ich für viele ein Vorbild bin, bilde mir hierauf aber nichts ein. Jeder steht auf einer anderen Stufe seines Weges und kann von den anderen lernen. Ich hatte das Glück, dass ich meinen Weg ohne Suchtmittel gradlinig gehen kann. Ich baute keine Rückfälle und lebe nun 35 abstinent. Hierbei helfen mir meine Gruppe, meine Familie und vieles mehr.
Was soll ich sagen, ich habe mich nicht vom Saulus zum Paulus gewandelt. Ich besitze noch immer meine Fehler und meine Schwächen. Ich habe allerdings gelernt, dass diese Schwächen meine Menschlichkeit ausmachen. Wie gesagt, ich bin milder geworden.
Die Erziehung unserer Kinder stellte eine wichtige Erfahrung für mich dar. Als Familienmann habe ich die beiden erzogen. Ich lernte hierbei, mich nicht immer im Vordergrund befinden zu müssen.
Erziehung bedeutet Selbsterziehung und das Vorleben der geforderten Werte. In meiner Ursprungsfamilie erlebte ich keine Stabilität, keine Liebe oder Geborgenheit. Ich war bemüht, die Fehler meiner Eltern nicht zu wiederholen. Das bedeutete Selbstdisziplin und Arbeit an mir.

All die geschilderten Dinge, und vieles mehr, lassen mich heute zufrieden nüchtern sein.

Ich bin dankbar, diesen Weg gehen zu dürfen …

… und bereue nichts. Dieser, mein Weg, hat mich zu dem Menschen werden lassen, der ich heute bin.
Mit dem heutigen Klaus bin ich einverstanden und ich liebe mich.

Im Jahr 1992 begann ich mich mit meiner Lese- und Rechtschreibschwäche zu beschäftigen.
Schon in Bad Tönisstein hatte ich damit zu kämpfen, meinen täglichen Tagesbericht abzuliefern. Lag ein Blatt Papier vor mir, brach mir der Schweiß aus und ich hörte die Worte meines Deutschlehrers: „Rechtschreiben, das lernt der Junge nie!“
Ich setzte mich hin und schrieb einen Lebensbericht. Ich sammelte Lebensberichte anderer Abhängiger und stellte diese zusammen. Schrieb ein Vorwort und fand im Fischer Taschenbuch Verlag einen Verlag, der dieses Buch veröffentlichte. Titel des Buches: „Trocken und clean, Süchtige berichten“.
Ich fand Freude am Schreiben und stellte fest, wie gut es für mich ist, meine Gedanken und Gefühle schriftlich festzuhalten. Seit dieser Zeit schreibe ich immer wieder kleine Artikel für Suchtzeitschriften. Reichte einen Artikel zu dem Projekt „Stationen Alkohol: Wege in die Sucht, Wege aus der Sucht“ im TrokkenPresse Verlag ein, welcher unter der Überschrift: „Auch das tiefste Elend bietet eine Chance“ in das Buch aufgenommen wurde.
In etwa zur selben Zeit arbeitete ich an einem Film-Projekt des Medienprojektes Wuppertal mit. Unter dem Titel „Pillenlos“ berichte ich 33 Minuten über meine Abhängigkeitserkrankung.

All diese Projekte nahmen mir das Schamgefühl und ich begriff, du bist mit deiner Krankheit nicht allein und was viel wichtiger war, es ist keine Schande, krank zu sein, es ist nur eine Schande, nichts gegen diese Krankheit zu unternehmen.

Für die letzten Jahre meines Lebens wünsche ich mir, Zeit mit meinen Lieben verbringen zu können. Meinen Enkel aufwachsen zu sehen und noch viele Jahre an diesem spannenden Leben nüchtern teilnehmen zu dürfen.

Mein Name ist Klaus, ich bin alkohol-, medikamenten- und drogenabhängig und damit einverstanden.

 

Titelthema 02/22: Burkhardt Blienert im Interview

Burkhard Blienert:

„Die Menschen trinken einfach zu viel und zu sorglos“

Der neu gewählte Beauftragte der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen, Burkhard Blienert, ist nun seit über drei Monaten in seinem Amt. Die TrokkenPresse wollte wissen: Was hat er vor? Was wird sich ändern? Was sind seine Ziele? In einem aktuellen Interview gibt er Antworten und spricht über Prävention, Werbebeschränkungen, Alkoholsteuer, Cannabisfreigabe …

Herr Blienert, die erste suchtpolitische Handlung der neuen Bundesregierung war die Umbenennung Ihres Amtes von „ Drogenbeauftragter der Bundesregierung“ in „Beauftragter der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen“. Welche neuen Aufgaben gehen damit einher, welche alten Aufgaben bleiben bestehen?

Es ist mir wichtig, einen Neuanfang nicht nur im Titel, sondern insbesondere inhaltlich deutlich zu machen. Suchtkrankheiten als solche zu akzeptieren, Menschen zu helfen und zu schützen, anstatt sie zu bestrafen – all das ist mir wichtig. Meine Aufgabe verstehe ich insbesondere darin, mich um die Menschen, die Suchtprobleme haben, zu kümmern, auf der Basis des Koalitionsvertrages. Darin sind ja viele neue Ansätze: Von regulierter Cannabis-Freigabe über Werbe- und Sponsoringbeschränkungen bei Alkohol und Tabak. Somit ist nicht nur die Hülle, sondern auch viel Inhalt neu.

Die letzte Drogenbeauftragte mit SPD-Parteibuch war Sabine Bätzing-Lichtenthäler, von 2005 bis 2009. Mit ihren Forderungen z.B. nach Anhebung von Alkoholsteuern sowie der Absenkung Blutalkoholkonzentrationswerte im Straßenverkehr ist sie auch an der eigenen Partei gescheitert. Wie sehen Ihre alkoholpolitischen Pläne im Hochkonsumland Deutschland aus, was ist davon mit Ihrer Partei und den Koalitionspartnern umzusetzen?

Ich möchte eine neue Debatte anstoßen, gerade beim Thema Alkohol, und – das ist das Mindeste – das umsetzen, was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Wenn wir uns die vergangenen Jahrzehnte bei der Alkoholprävention anschauen, haben wir zwar ein paar positive Entwicklungen, zum Beispiel bei dem Einstiegsalter, aber Deutschland ist nach wie vor ein Hochkonsumland. Wie haben also sowohl bei der Verhaltens- als auch bei der Verhältnisprävention immensen Nachholbedarf. Das muss auch so deutlich gesagt werden und daran müssen wir in den kommenden Jahren arbeiten. Fakt ist: Die Menschen trinken einfach zu viel und zu sorglos.

Wie u.a. die enorm hohen Zahlen von Krankenhauseinweisungen von Kindern und Jugendlichen mit Alkoholvergiftungen zeigen, funktioniert in Deutschland der Jugendschutz hinsichtlich Rauschgiften nicht. Welche Pläne hat die Bundesregierung, dies zu verbessern?

Indem wir die Prävention ausbauen. Und zwar angefangen von Lebenskompetenzprogrammen in der Kita bis zur Aufklärung und Prävention in den Schulen. Es gibt ja bereits gute Präventionsmaßnahmen, diese müssen aber den aktuellen Entwicklungen und Anforderungen angepasst werden. Auch ein Werbeverbot für Alkohol steht ja zur Debatte. Wir wissen, dass gerade Kinder und Jugendliche sehr auf Werbung, auch im Netz, reagieren. Auch hier müssen wir nachjustieren.

Damit einhergehend sind auch die „Rauschgift-Kollateralschäden“ bei Ungeborenen, Kindern und Jugendlichen sowie Partner*innen in suchtbelasteten Familien. Wird es, wie schon in anderen Ländern, Warnhinweise auf Alkoholika und anderen Drogen geben, die vor dem Gebrauch warnen?

Ich denke, dass es nicht reicht, Warnhinweise auf Flaschen zu drucken. Wir müssen die Menschen insgesamt noch viel direkter erreichen. Am besten durch persönlichen Kontakt, direkte Ansprache beispielsweise durch die Gynäkologen. Dafür braucht es ein funktionierendes, auch personell gut ausgestattetes Gesundheitswesen, was die Zeit und die Möglichkeit hat, am Ball zu bleiben. Die Pandemie hat uns extrem deutlich gemacht, wo wir in Deutschland zu schwach aufgestellt sind. Dazu gehört auch die Hilfe für Angehörige von suchtkranken Menschen und hier insbesondere deren Kindern. Diese Hilfsangebote gilt es zu stärken und in die Fläche bringen. Wir müssen die bürokratischen Hürden zu mindern, damit diese Hilfe schneller ankommt.“

In Deutschland werden die volkswirtschaftlichen Kosten des Alkoholgebrauchs, wissenschaftlich seriös, auf über 50 Milliarden Euro geschätzt. Dem stehen Steuereinnahmen von ca. 3 Milliarden gegenüber. Sind Schritte hin zum volkswirtschaftlich gerechteren Verursacherprinzip in der Alkoholbesteuerung zu erwarten? Wird es mit der neuen Bundesregierung eine steuerliche Gleichstellung von Wein mit anderen Alkoholika geben oder wird dieses erst seit 1926 bestehende Privileg weiterbestehen? Wird es also eine einheitliche und schadensabhängige Alkoholsteuersystematik geben?

Diese Fragen kann ich Ihnen aktuell nicht im Detail beantworten. Einfach, weil wir am Anfang einer Legislaturperiode stehen, die uns allen aktuell unglaublich viel abverlangt. Lassen Sie es mich so formulieren: Ich bin grundsätzlich offen für eine Überprüfung der bisherigen Besteuerung, gerade weil Alkohol in Deutschland nach wie vor viel zu billig über den Ladentisch geht. Aber am Ende des Tages müssen wir dafür das federführende Finanzministerium unter der Führung von Christian Lindner überzeugen.

Jährlich werden tausende Verkehrsteilnehmer*innen durch alkoholisierte Verkehrsteilnehmer*innen getötet oder verletzt. Plant die Koalition die Wiedereinführung der Nullkommanull-Promille-Regelung bei Fahrzeugführenden?

Bisher haben wir Themen wie Sponsoring, Werbebeschränkungen und die Stärkung der Prävention für Kinder, Jugendliche und Schwangere im Fokus. Natürlich heißt das nicht, dass wir alles andere ausblenden, aber der Koalitionsvertrag ist unsere Leitlinie, und die gilt es abzuarbeiten. Schon da müssen wir dicke Bretterbohren.

Im Gegensatz zu Ihren Vorgängerinnen im Amt befürworten Sie eine sogenannte Legalisierung von Cannabis. Ist das Alkohol-Hochkonsumland Deutschland nicht schon mit den bisherigen legalen Giften, Nikotin und Alkohol, überfordert? Sollte bei diesen Giften nicht erst wirksame Maßnahmen umgesetzt werden, bevor sich die Gesellschaft mit einem weiteren Gift auseinandersetzen muss?

Ich würde das eine Suchtmittel nicht gegen das andere ausspielen wollen. Wichtig ist bei allem doch in erster Linie: Wie stärke ich die Gesundheits- und Lebenskompetenz der Menschen, damit sie keinen problematischen oder pathologischen Konsum betreiben? Wie mache ich Kinder fit, auf ihren Körper und ihre Gesundheit zu achten, selbstbewusst und stark aufzuwachsen? Wie lerne ich auch als Erwachsener, auf meinen Körper zu hören und ihn zu schützen, auf mich und meine Mitmenschen acht zu geben? All diese Fragen stehen für mich am Anfang der Debatte.

Wäre es nicht konsequenter, wie im EU-Land Portugal, alle Drogen freizugeben? Wo liegt die logische, medizinische oder sozialwissenschaftliche Grenze zwischen Cannabis und z.B. LSD oder Kokain? Die Gründe für eine Cannabis-Legalisierung, Entkriminalisierung der Nutzer, Austrocknung des Schwarzmarktes, Steuereinnahmen usw. gelten genauso für andere „illegale“ Drogen.

In Portugal sind sowohl Heroin als auch Kokain und Cannabis nach wie vor illegal. Nur wird der Besitz kleiner Mengen dort anders geahndet als bei uns. Wir haben einen klaren Rahmen für diese Legislatur aufgestellt. Als Ziel haben wir die regulierte Freigabe von Cannabis an Erwachsene definiert und nicht die Freigabe aller Drogen. Cannabis ist keine tödliche Droge wie Heroin oder Kokain, das muss man schon differenzieren. Es macht also in vielerlei Hinsicht Sinn, diesen Schritt zu gehen.

Wird es wieder einen substantiellen Sucht- und Drogenbericht wie bis 2019 geben oder wird der Bericht über Ihre Tätigkeit auch, wie 2020 und 2021, in einem kleinen bunten Heft erscheinen?

Lassen Sie es mich so formulieren: Mit meinem Amtsantritt ändert sich nicht nur die Hülle, sondern auch der Inhalt. Woran mir gelegen ist, ist Transparenz. Ich möchte, dass die vielen Daten und Zahlen, die wir erheben lassen, in Zukunft nicht nur einem kleinen Kreis von Fachleuten zur Verfügung stehen, sondern allen, die sich an der Debatte über die richtige Drogen- und Suchtpolitik beteiligen wollen. Und die sprechen ja für sich, gerade auch, wenn es um Alkohol geht.

Herzlichen Dank, Herr Blienert!

Die Fragen stellte Torsten Hübler

Titelthema 6/20: Wie Reittherapie auch Suchtkranken helfen kann

Wie Reittherapie auch Suchtkranken helfen kann:

Manchmal macht schon das Streicheln glücklich …

Sie erfüllt sich gerade einen Traum: Rebecca Böde, Mitarbeiterin eines Berliner Bezirksamtes, bringt Menschen und Pferde heilsam zusammen. Menschen mit psychischen Problemen und ihr Therapiepferd Snowy. Sie ist, neben ihrem Hauptberuf, inzwischen auch Reittherapeutin, Heilpraktikerin, Pferdekundlerin – und betriebliche Suchtberaterin. Da sie künftig auch suchtkranken Menschen mit ihrem Pferd helfen will, meldete sie sich Ende des Sommers bei uns. Sie möchte gerne drei TrokkenPresse-LeserInnen eine Erstberatung spendieren. Natürlich mit Snowy, ihrem Therapiepferd, gemeinsam. Das war ein Grund für uns, sie einmal zu besuchen …

Liebe Rebecca, es war ein wundervoller Ausflug zu Dir auf den „Pferdehof Müller“ bei Nauen! Den Großstadtlärm von Millionen Autos und Menschen noch in Ohr und Gemüt – dann plötzlicher Frieden inmitten der Felder und Bäume. Aaaah! Reine Luft. Nur Hühnergackern. Blätterwispern. Pferdeschnauben. Quer über den weiten Acker stapfen bis hin zur Sommerweide, Snowy zurück zum Hof führen. Striegeln, streicheln, fühlen. Weiche Pferdelippen und warmer Atem neugierig an meiner Hand. Anlehnen an das große, starke, warme Tier. Mein Herz geht auf. Es gibt nur das Jetzt, jedes „Muss-noch-dies“ und „Soll-ja-das“ ist verschwunden aus meinem Kopf. Es liegt wohl nicht nur AUF dem Rücken der Pferde, das Glück dieser Erde … Nähe reicht auch schon. Die Reittherapie, die Rebecca Böde anbietet, könnte auch einfach Pferdetherapie heißen. Denn es geht ihr gar nicht darum, dass ein Klient unbedingt hinauf muss in den Sattel. Mit dem Tier zusammen zu sein in der Natur genüge manchem schon, sagt sie. Deshalb bekommt jeder Mensch, der bei ihr Hilfe sucht, ganz individuell genau das, was er gerade braucht. Ihr Motto: „Ängste, Probleme und psychische Erkrankungen aller Art sind nicht in Stein gemeißelt. Das Gehirn ist fähig, neue und gesunde Strukturen zu entwickeln.“ Wie das mit einem Tier gelingen kann? Dazu später im Interview mehr.

Wie bist Du als Nichtabhängige zum Thema Sucht gekommen?

Mein Vater war Alkoholiker. Er hat sein halbes Leben lang viel getrunken, ist irgendwann in der Klinik gelandet, auch mit Korsakow-Symptomen und Diabetes. Er konnte nicht mehr selbst für sich sorgen, starb vor drei Jahren. Ich hatte zwar seit der Scheidung meiner Eltern fast keinen Kontakt mehr, aber ich habe mich oft gefragt, warum konnte ihm keiner helfen? Denn manche Menschen schaffen es ja, machen eine Entwöhnung, finden wieder Perspektiven für ihr Leben. Die Frage hat mich immer begleitet.

Nun bist Du kollegiale Suchtberaterin, was heißt das?

Ich arbeite im Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf. Kollegen, die Suchtprobleme haben, kommen zu mir und fragen um Rat: ich kann so nicht mehr weitermachen, was kann ich machen … Ich hatte mich dafür beworben und eine einjährige Ausbildung am Institut für betriebliche Suchtprävention gemacht.

Wenn ich als Suchtkranke heute eine Therapie bei Dir beginnen würde …

Wir würden ein Erstgespräch führen. Klären, was möchtest du erreichen, was versprichst du dir von der Reittherapie? Geht es für dich mehr ums Streicheln, Liebhaben, Pflegen, um eine schöne Zeit in der Natur, mit dem Pferd? Oder geht’s dir nur ums Reiten, willst du nur aufs Pferd rauf, willst du nur von oben die Welt erkunden? Oder möchtest du dein Selbstbewusstsein stärken und Snowy durch einen Parcours führen, das nennt man Bodenarbeit. Man kann lernen, durch Gassen zu gehen, eine Führposition zu übernehmen und das Pferd folgt einem. Oder magst du geführtes Reiten im Schritt und von oben einfach genießen? Vielleicht hast du Reiterfahrung, du könntest den Snowy selbst reiten, auf der Reitbahn durch kleine Parcours … so würde ich erstmal rangehen und dann gucken, wie man in den nächsten Stunden Bedürfnisse und Kompetenzen weiter ausbaut.

Ich muss als Klient also noch nicht reiten können?

Bei mir musst du nichts können, nicht reiten, nicht die Zügel festhalten, du darfst einfach nur genießen. Obendrauf sitzen, dich führen lassen. Du kannst dich natürlich ranarbeiten: Ich möchte jetzt selbst ein bisschen die Führung übernehmen. Mich weiterentwickeln mit dem Pferd bis dahin, dass ich selbst reiten oder führen kann. Ich achte schon sehr genau drauf, ob meine Klienten überfordert damit sind oder ver/erschreckt, dann kann man darauf eingehen und einen Schritt zurückgehen. Und ich sage meinen Menschen da oben immer, dass sie auch sagen können, wie es ihnen damit geht.

Apropos „oben“: Wie „sicher“ ist Dein Therapiepferd für Unerfahrene?

Snowy ist ein ruhiger, ausgeglichener Trabermix, Traber haben ein großes Herz, auch im übertragenen Sinne. Er ist ein sehr soziales Tier, vielleicht auch, weil er als Fohlen fast verhungert wäre, wenn Herr Müller ihn nicht hierhergeholt und aufgepäppelt hätte. In der Herde, als Rangmittlerer, nimmt er sich eher anderer an, als jemanden wegzubeißen. Auch allen anderen Tieren hier begegnet er freundlich, den Hühnern, den Hunden, dem Ganter. Ich habe ihn zum Beispiel auch an fremde Gegenstände gewöhnt, an große Bälle, Plastikplanen auf Wegen und viele Schrecksituationen geübt. Snowy ist zwar noch jung, aber ich kann mich zu 100 Prozent auf ihn verlassen. Er passt auf den Reiter auf, der auf ihm sitzt.

Wie kann Deine Therapie süchtigen Menschen helfen?

Suchtkranke, die trocken sind, eine Entgiftung hinter sich haben, sitzen vielleicht nun Zuhause, in der Wohnung und fragen sich, was sie jetzt mit der ganzen Zeit anfangen wollen, mit dem Leben. Vielleicht  fange ich ja doch wieder an zu trinken, weil alles so sinnlos ist? Sich bewegen, in der Natur zu sein und gerade das Zusammensein mit Tieren setzt ganz viele positive Gefühle frei, die derjenige braucht, der sich innerlich leer fühlt oder Saufdruck hat. Ein Tier lenkt ab, die Nähe, das Streicheln senken den Cholesterinspiegel, den Blutdruck, den Herzschlag, und zwar bei beiden, beim Pferd und bei demjenigen, der es zum Beispiel putzt. Und man kann vielleicht auch seine Zukunft klarer sehen: Ok, es gibt also nicht nur meine vier Wände, den Alkohol, die Selbsthilfegruppe – ich muss vielleicht auch wieder was für mich tun und kann in der Natur neue Ressourcen für mich finden, Freude, ich fühl mich da wohl … Das Pferd kann lehren, eigene Bedürfnisse wieder wahrzunehmen, eigene Gefühle, das Reiten kann helfen, die eigene Stärke, den Selbstwert wieder zu entdecken.

Du arbeitest momentan viel mit Kindern. Weshalb kommen sie zu Dir und Snowy?

Bei Kindern soll meist das Sprechen gefördert werden oder der Gleichgewichtssinn geschult. Oder das soziale Verhalten, um überhaupt wieder eine Bindung eingehen zu können zu einem verlässlichen Partner – zur Therapeutin, zum Pferd. Vieles geschieht nebenbei. Es ist so spielerisch, Pferde haben einen so hohen Aufforderungscharakter, dass die Kinder gar nicht merken, in welchen Bereichen sie gefordert werden, die Feinmotorik durchs Putzen zum Beispiel.

Was brauchen die erwachsenen Klienten?

Erwachsene kommen meist zu mir, weil sie Depressionen haben und die herkömmlichen Gesprächstherapien in irgendwelchen Büros sie gar nicht weitergebracht haben. Sie sagen immer: „Ja, er sagt mir, ich soll dieses und jenes machen, aber irgendwie ändert sich nichts für mich, ich habe immer noch Ängste, immer noch Depressionen.“ Da ist für mich schlüssiger: Geht raus in die Natur, macht was, setzt dem Gehirn neue Bilder, neue Eindrücke, geht in die Sonne, bewegt euch, kommt auf andere Gedanken, dann kommt der Rest vielleicht von ganz alleine. Oder: Denkt überhaupt mal gar nicht an Probleme. Wenn man hier und jetzt sein muss mit dem Pferd, gelingt das.

Viele wollen sich auch nur einfach mal Anlehnen ans Pferd. Oder wenn sie Berührungsängste mit Menschen haben, können sie sich mit dem Pferd langsam rantasten. Manche bleiben einfach eine halbe Stunde beim Pferd, putzen es, schnuppern am Pferd, die riechen so wunderbar, spüren das warme Fell, genießen die Zeit mit so einem großen Tier, dem Therapiepartner.

Also eine andere Herangehensweise an Depressionen ?

Ich rate jedem, macht was draußen, fahrt Fahrrad, lernt Menschen kennen, setzt euch in die Sonne … bleibt nicht zuhause, auch wenn es schwerfällt, sich aufzuraffen. Holt euch positive Dinge ins Leben, die Spaß machen, probiert Dinge aus, macht einen Zeichenkurs, nehmt ein heißes Bad, kocht einen tollen Tee, Hauptsache, ihr bewegt euch, holt euch neue Eindrücke. Das trifft auch auf Suchtkranke zu.

Das Besondere an Deiner Therapie ist, dass sie heilpraktisch stattfindet, ganzheitlich?

Ja, ich nutze zum Beispiel die euthyme Therapie, in der man bewusst alle fünf Sinne benutzt. Statt nur in einem Zimmer zu sitzen und mit einem Therapeuten zu sprechen, spüren wir Wind und Sonne auf der Haut, nehmen Gerüche wahr, wie riecht eigentlich Heu, das Pferd, die Tanne neben mir, wir hören Vögel zwitschern, Pferde schnauben … Diese Freude kann man mit in den Alltag nehmen … oder in ein Schatzkästchen packen: Das holst du dir vielleicht mal raus, wenn es dir mal nicht so gut geht. Es ist eine Genuss-Therapie, bei der es einem schon von sich aus besser geht.

Man kann auch tolle Entspannungsübungen machen auf dem Pferderücken, durch Atmung Stress abbauen. Dieses Getragenwerden, diese Schaukelbewegung kann auffangen, nachsorgen, was man vielleicht all die Jahre vermisst hat in einer nicht so guten Kindheit.

Woher weißt Du, dass Deine Therapie etwas bewirkt?

Ich frage meine Klienten vorher, wie es ihnen geht auf einer Skala von 1 bis 10 und danach auch. In der Ausbildung hatten wir 50 Klienten aus psychotherapeutischen Einrichtungen, 90 Prozent ging es vorher 2, sie hatten einen schlechten Tag, waren traurig. Und nach der Therapie waren sie auf 8, auf 9. Sie haben sich immer auf die Reittherapie gefreut, da wollten immer alle hin.

Wie viel Therapie braucht man?

Ich biete einmal wöchentlich eine Stunde an. Etwa 5-10 Stunden sollte man ausprobieren, ob und bis eine Verbesserung stattfindet.

Die 65 Euro pro Stunde zahlen die Krankenkassen aber nicht?

Die gesetzlichen leider nicht. Private bezahlen es ab und an, wenn man nachweisen kann, dass man innerhalb von drei Monaten keine passende Psychotherapie gefunden hat. Manchmal gibt es auch Zusatzversicherungen für heilpraktische Behandlungen. Einige meiner Klientinnen haben bei Stiftungen um einen Zuschuss für eine Reittherapie gebeten. Stiftungen, die eventuell spenden würden, sind unter vielen anderen z.B. die Uwe–Seeler–Stiftung und die Deutsche Bank Stiftung. Der Bedürftige muss genau begründen, warum er dringend eine Reittherapie benötigt. Bei Kindern gibt es noch viel mehr Förderung …

Liebe Leserinnen und Leser, haben Sie Interesse an einer Erstberatung bei Rebecca Böde? Dann melden Sie sich bitte. Wir verlosen dann aus allen Teilnehmern drei GewinnerInnen.

Weitere Infos zur Reittherapie unter:

www.meinereittherapie.de

Titelthema 5-21: Gruppe ist meine Lebensversicherung

Serie: Trocken bleiben – aber wie?

„Gruppe – das ist meine Lebensversicherung“

Seit unserer ersten Ausgabe 2019 stellen wir Menschen vor, die seit einiger Zeit trocken leben. Wir wollen wissen, wie sie das erreicht haben, jeden Tag aufs Neue, bis daraus Monate und Jahre wurden. Ihre Erfahrungen können vielleicht dem einen oder anderen Betroffenen auch hilfreich sein.

Heute erzählt uns Björn Grube aus Leegebruch (Brandenburg) in einem Interview, wie er trocken wurde – und es bleiben konnte.

Wie bist Du vom Alkohol abhängig geworden?

Mit 20 fing es an: Feierabendbesprechungen mit Kollegen und einem Bier. Ein Jahr später saß ich länger dabei und hatte sogar noch Durst, wenn ich nach Hause kam. Später, auf Montage, gehörte Alkohol abends sowieso dazu. Ein Ritual. Da habe ich auch gemerkt, Alkohol hilft, wenn ich mal wütend bin, ich schlafe besser, es ist lustig und entspannend, mal nicht über die Probleme des Alltags nachdenken zu müssen. Daheim, wenn meine Frau abends schlafen gegangen war, habe ich einen Grund gesucht, noch sitzen zu bleiben, ja, ich komm gleich nach … bin zum Kühlschrank und habe ganz leise mit einem Handtuch den Sekt entkorkt. Irgendwann hat eine Flasche nicht mehr gereicht. Ich war voll drin, nur angekommen war das nicht bei mir. 2007 bin ich dann bei meiner ersten Frau ausgezogen, weil mir damals ihr Gejammer auf den Keks ging …

 Das „Gejammer“, weil Du so viel getrunken hast?

So ist es. Ich war Pegeltrinker, tagsüber ging ja nicht, abends musste das dann aber rein. In der kurzen Zeit so viel wie möglich, Druckbetankung. In den sieben Jahren, die ich nach der Trennung alleine lebte, trank im mich dann ganz nach unten. Ich konnte ja jeden Abend trinken, es war ja niemand da. Ich habe es selten bis ins Bett geschafft. Bis ich dann 2014 zusammengebrochen bin, richtig. Da habe ich erkannt, dass es so nicht mehr weitergeht.

 Zusammengebrochen?

Na, auf allen Vieren durch die Wohnung gekrochen, im Bett liegengeblieben, um das Geschäft zu verrichten, das hat mich alles gar nicht mehr interessiert …

Ich hatte gerade drei Wochen Urlaub und vor, mich mal richtig zu erholen – auch vom Alkohol. Aber die erste habe ich nur durchgetrunken von früh bis spät. Na, hast ja noch zwei Wochen. In der zweiten aber habe ich Angst bekommen. Und gewusst, dass das nichts mehr wird bis zum Urlaubsende. Ich bin zu meiner Hausärztin und habe ihr gesagt, wie es ist. Die hat mich krankgeschrieben und gemeint, „Wenn das nix bringt, dann kommen Sie nochmal wieder.“ Ich bin dann nach zwei Wochen wieder hin, und zwei Tage später war ich schon in der Entgiftung …

Aus freien Stücken, selbst entschieden?

Ja! Ich habe auf dem Weg zum Krankenhaus in der U-Bahn auf meinem großen Koffer gesessen und sogar geheult. Weil endlich etwas passiert! Das war ein richtiger Befreiungsschlag für mich!

Wie erging es dir nach der Entgiftung?

Ich kam nach neun Tagen nach Hause und es war glücklicherweise auch kein Alkohol mehr in der Wohnung. Die Reste hatte ich vorher ausgetrunken, das Leergut war entsorgt. Mir ging es ganz gut, weil ich ein Ziel hatte. Ich habe nur geduscht, mich umgezogen und bin dann am Schäfersee gleich in die Gruppe. Die hatte ich kennengelernt bei einem Ausgang während der Entgiftung. Und zwei Tage später, montags, bin ich zum AKB (Anonyme Alkoholikerhilfe Berlin, d.Red.), gleich Dienstag habe ich die 6-Wochen-Therapie dort angefangen.

 Hattest Du in der Zeit Suchtdruck?

Nein, gar nicht.

 Wäre es dann nicht auch ohne Therapie gegangen? Einfach nicht mehr trinken, entgiftet warst du ja?

Nein! Ich hatte ja Sorge, Bedenken. Denn ich wollte nicht mehr trinken. Der Oberarzt in der Klinik hatte zu mir gesagt, „Suchen Sie sich eine Gruppe, eine Therapie.“ Und ich habe aus dem Krankenhaus heraus schon einen Vorstellungstermin in einer Entwöhnungsklinik organisiert bekommen. Das hat mir ein bisschen Sicherheit gegeben. Und weil ich nicht wusste, wie lange es dauert bis dahin, kam mir der AKB gerade recht. Dass jetzt irgendwas passieren muss, war für mich beschlossene Sache.

 Wie hat Dir die AKB-Therapie geholfen?

Die Therapie wird ja ausschließlich von trockenen Alkoholikern geleitet, und da werden vom ersten Tag an die ganzen Aussagen wiederholt, wie ich sie auch in den Gruppen schon gehört hatte. Sechs Wochen lang 12 Stunden am Tag immer das Gleiche, wie bei einem kleinen Kind, dem das Einmaleins beigebracht wird.

 Was zum Beispiel?

Nein ist ein ganzer Satz.

Ich bin der wichtigste Mensch.

Geduld, Geduld, Geduld, die drei großen G’s.

Abgrenzen … den Begriff hab ich natürlich auch gehört, konnte aber noch nicht so viel damit anfangen wegen meines Helfersyndroms. Zu erkennen, wo meine Hilfe endet anderen gegenüber, um mir nicht zu schaden …ich habe aber im Laufe der Zeit gelernt, wenn mich jemand um Hilfe bittet, abzuschätzen, wie weit das gehen wird mit der Hilfe. Sag ich vorher besser nein oder lasse ich mich darauf ein. Ich bin ja inzwischen als Sucht-Lotse unterwegs, da ist das auch wichtig. Da telefoniere ich zum Beispiel nicht mehr hinterher. Ich bin da, die Menschen wissen das, und wenn sie Hilfe brauchen, sollen sie sich melden. Ich bin für niemand anderen das Kindermädchen, das habe ich ablegen können.

Inwiefern half dir das, nicht zu saufen?

Ich schaffe mir damit Freiräume im Kopf, habe weniger Druck. Ich muss mir den Druck ja nicht selber auferlegen. Druck von außen kann ich nicht immer beeinflussen, wenn ich einen Job habe, muss dies und jenes fertig werden, aber in meinem persönlichen Umfeld kann ich mir das aussuchen. Das hat lange gedauert, bis ich alleine zuhause sitzen konnte, meine Hilfe und Nase nicht überall reinstecken musste – das habe ich ja früher auch aus bestimmten Gründen gemacht …

Aus welchen Gründen?

Ich habe mir über andere Menschen mein Selbstwertgefühl geholt, über das Schulterklopfen der anderen. Sicher freue ich mich auch heute, wenn ich jemanden unterstützen kann und der sagt, haste gut gemacht. Aber das ist nicht mehr so ausgeprägt wie früher, ich brauch das nicht mehr so dringend.

Wo kommt denn dein Selbstwertgefühl heute her?

Ich sehe heute selber, was ich schaffe.

 Zum Beispiel?

Aktuell das mit dem Wohnungsumzug im Januar. Ich hatte vorher registriert, du kriegst jetzt nur noch Krankengeld, aha, reicht nicht für diese Miete. Tu was! Ich habe mich um eine neue Wohnung gekümmert, den Termin zum Renovieren für die Wohnungsübergabe eingehalten, mich um meine Kaution gekümmert, diese Dinge eben, und das sehe ich ja selbst. Mich braucht heute keiner mehr daran zu erinnern, guck mal, was du geschafft hast in deiner trockenen Zeit. Denn das weiß ich selbst, das ist angekommen bei mir.

Wie ist das so gekommen?

Durch lernen. Durch zuhören. Zuhören in den Gruppen. Im AKB in den Monologgruppen. Denn da musste ich sitzen und nur zuhören. Durch die Geschichten der anderen eben. Aus denen konnte ich für mich selbst raussuchen, wo ich mich wiederfinde, wie die Leute damit oder damit umgegangen sind. Da habe ich auch was für draußen mitgenommen, an den Arbeitsplatz zum Beispiel.

 Zuhören?

Ja. Ich hab ja zu vielen Dingen meine Meinung, ich muss sie aber nicht immer rausposaunen: Lass die doch reden, wenn du jetzt deinen Senf noch dazugibst, hast du eine Situation, die du gar nicht haben willst. Die nur anstrengend wird. Also lass es. Und irgendwann später kam dann dazu, meine Situation, die ich vertrete, auch in Worte zu fassen. Also ein Schritt nach dem anderen.

 Was hast Du außer Gruppenbesuchen und AKB noch gemacht, um trocken zu bleiben?

Früher habe ich ja nur gearbeitet, mich um andere gekümmert und konsumiert. Ich selbst bin auf der Strecke geblieben. Inzwischen habe ich gelernt, gut für mich zu sorgen. Das wichtigste ist, auch heute: Ich kann mich mit Sorgen oder Problemen in der Gruppe entlasten und bekomme dort Antworten – aber wenn ich sie dort nicht kriege, habe ich zum Beispiel immer noch Ärzte, die ich um Rat fragen kann. So bin ich 2018 in eine Tagesklinik gekommen. Es ging mir vorher überhaupt nicht gut. Meine zweite Ehefrau litt unter Depressionen und fing an, mich für alles verantwortlich zu machen. Das hatte mich runtergezogen. Ich konnte damit nicht umgehen. Ich bin fünf Mal die Woche in eine Gruppe gerannt. Aber die Gruppen haben mir nicht mehr gereicht. Ich habe mehr Hilfe gesucht. In einer Gruppe hatte ich was von einer psychosomatischen Tageklinik gehört, ich bin zu meiner Hausärztin, da will ich hin, und sie hat mir eine Einweisung geschrieben. Da habe ich für mich gemerkt, dass ich mich im Vorfeld erkundigen kann, was ich will, an die richtigen Stellen gehen und das kann zum Erfolg führen.

Selbstwirksamkeit erleben, wird das wohl genannt … Und was hat dir die Tagesklinik dann gebracht?

Dort habe ich dieses ganze Thema Psyche kennengelernt, die haben mir zu dem „Ich bin der wichtigste Mensch“ auch noch Werkzeuge mitgegeben. Und ich hatte dort mal Zeit, über mich selbst nachzudenken.

Als Deine auch alkoholabhängige Frau rückfällig wurde, wie ging es Dir damit?

Sie kam zur Entgiftung, aber es wurde nicht besser. Mit ihr und ihren zwei Kindern, die ich geliebt habe, dachte ich damals, hätte ich das gefunden, was ich immer gesucht hatte, eine Familie. Aber ich wusste, ich musste da raus. Ich war bereits co-abhängig, weiß ich heute. Ich bin dann noch einmal in die Tagesklinik, weil ich da gut aufgehoben war. Trinken war also wieder keine Option. Und dort konnte ich den Entschluss fassen, mir eine eigene Wohnung zu suchen. Dann bin ich in Brandenburg gelandet, ich hab mir gesagt, je weiter ich weg bin von diesem Umfeld, desto besser für mich.

Bestand nicht die Gefahr, dass Du wieder trinkst?

Nein. Ich kann mich erinnern, als meine Frau in der Entgiftung war, mal wieder, habe ich auf dem Balkon gesessen und geheult und wusste nicht, wohin mit mir. Aber schon wie automatisch griff ich zum Telefon, habe Freunde aus dem AKB angerufen und geredet. Die haste sowieso verloren, sagten sie, du weißt das doch, da kannst du nichts machen. Sie muss jetzt auch zu Ende trinken. Also, Flasche war zu keiner Zeit Thema. Sondern: Anrufen, reden … Das war schon so drin. Ich habe ja mit kleinen Sachen angefangen, mit dem alltäglichen Leben und da gelernt, dass das alles ohne Alkohol geht, hatte den Alltag ohne Alkohol schon geübt …Außerdem erinnere ich mich jederzeit an mein Schlüsselerlebnis. Auch so ein Rat aus dem AKB. Bei mir sind das meine drei Wochen vor der Entgiftung, die waren so lebensunwürdig!

Also wenn ein Problem auftaucht – bevor Du überhaupt an Alkohol denken könntest …

… Gruppe, reden. Ja. Gruppe ist meine Lebensversicherung. Ich gehe zur Zeit dreimal in der Woche, habe auch selbst eine gegründet. Jetzt habe ich zum Beispiel gerade das Thema mit meiner Arbeitsunfähigkeit, ich weiß nicht, was kommt … ich krieg meine Themen also dreimal die Woche ausgesprochen. Und durch Telefonate mit meinen besten, trockenen Freunden kann ich meine Dinge immer irgendwo erzählen und ich krieg was zurück. Ich habe mir ein gutes, soziales, nicht zu großes trockenes Umfeld geschaffen. Letztlich hat sich das ja von alleine ergeben durch die vielen Gruppenbesuche. Auch die Facebookgruppe „Alkoholiker – gemeinsam gegen die Sucht“ war und ist eine große Unterstützung für mich, da lese ich ja auch, wie Leute mit ihren Themen umgehen, wie das Leben so gehen kann, und auch da kann ich etwas zurückgeben, da habe ich Freude dran …

Wie kommst Du außerhalb des trockenen Umfeldes klar, zum Beispiel mit Feiern im Kollegenkreis?

Wenn ich kurzfristig weiß, ich werde mich in irgendeiner Gesellschaft nicht wohlfühlen, dann gehe ich gar nicht erst mit. Mir ist vollkommen egal, was andere denken. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es mir, wenn ich meins gemacht habe, immer besser ging. Ich habe keine Ahnung, ob mich mein gesunder Egoismus jemals vor etwas bewahrt hat. Ich war bisher jedenfalls immer gut gelaunt, wenn ich abends trocken im Bett lag. Und das soll so bleiben.

Was unterscheidet dich heute von dem Trinker von früher?

Ich gehe viel entspannter durchs Leben, habe so gut wie keine Ängste mehr, weil ich gelernt habe, dass es immer einen Weg gibt, für alles. Ich bin zufriedener, ruhiger geworden, ich kann mich mit Menschen austauschen auf eine ganz andere Art und Weise als früher, ich muss nicht mehr rechthaben… es ist so anstrengend, recht haben zu wollen. Ich kann mich so leiden, wie ich bin. Und ich habe viel, viel seltener ein schlechtes Gewissen, ob ich was richtig oder falsch mache, weil, falsch und richtig gibt’s nicht mehr für mich, das haben sie mir auch im AKB beigebracht: Was soll denn daran falsch sein, wenn du mal einen Fehler machst, du lernst doch daraus, wie soll es anders funktionieren? Ich achte mehr auf mich, es geht ja um mich. Und und und …Und ich gebe gerne weiter, was ich beim AKB und unterwegs auf meinem Weg gelernt habe, in meiner eigenen Gruppe, als Lotse oder bei Facebook. So habe ich ja auch gelernt. Auch das hält mich trocken. Und mein größter Wunsch heute ist: Ich möchte einmal trocken sterben, so wie mein Freund Ralf …

Das Gespräch führte Anja Wilhelm

Titelthema 3/21: Jason Sante – auf lebenslanger Lesereise gegen Alkoholmissbrauch

Jason Sante ist mit dem Wohnmobil unterwegs:

Auf lebenslanger Lesereise gegen Alkoholmissbrauch

Vor über einem Jahr haben sie ihre Wohnung in Bayern aufgelöst. Traudl und Jason, beide trockene Alkoholiker, zogen um: Nämlich in ihr Wohnmobil. Seitdem sind sie unterwegs. Und zwar auf einer „lebenslangen Lesereise gegen Alkoholmissbrauch“, wie Jason seine Mission beschreibt. Jason ist Autor mehrerer Krimis, aber auch der Trilogie „Alkohol ist ein Blender“. Daraus liest er in Suchthilfevereinen und Gruppen in ganz Deutschland. Naja, so war es jedenfalls geplant. Dann kam Corona dazwischen. Trotz aller Widrigkeiten hielt und hält er an seinem Plan fest – und hofft auf bessere Zeiten …

Wo lebt ihr gerade, jetzt im Mai?

Momentan auf einem Wohnmobilstellplatz in Neuöttingen/Oberbayern, wo ich herkomme. Einer der wenigen, der offen hat zur Zeit.

Weshalb muss es denn unbedingt ein Wohnmobil sein?

Ich hatte ja vorher auch schon viele Lesungen, da musste ich immer mit dem Zug hinfahren. Ich hatte viele Verspätungen, man konnte von der Stadt nix ansehen, weil man wieder zurückmusste. Ein Wohnmobil ist da super geeignet. Die letzten Lesungen hatten wir im Februar 2020 in Sonneberg in Thüringen und im Dezember 2019 in einer Mittelschule, da haben wir drei Tage hintereinander gelesen, ich kann ja problemlos überall hinkommen mit dem Wohnmobil.

Dann kamen die Lockdowns. Sind nun wieder Lesungen in Aussicht?

Es waren viele Lesungen geplant. Die sind aber alle, verständlicherweise, abgesagt worden wegen Corona. Ich hoffe, dass die Lesungsanfragen wieder kommen, wenn sich alles wieder lockert. Ich mache auch Online-Lesungen, aber die Diskussionsrunden nach realen Lesungen sind etwas ganz anderes.

Wovon lebt ihr jetzt, ohne Lesungen?

Traudl macht Markthandel, verkauft auf Jahrmärkten Spielsachen. Aber das findet ja gerade auch nicht statt. Jetzt haben wir nur die Einkünfte aus meinen Büchern, die in Buchhandlungen oder über Internet gekauft werden, das bekomme ich jeden Monat ausbezahlt. Das zweite, was uns gerettet hat: Seit November letzten Jahres bekomme ich eine kleine Teilerwerbsminderungsrente, weil ich nicht mehr so viele Stunden in meinen Berufen arbeiten kann als Kellner. Von dem leben wir momentan.

Das klingt nach sehr wenig.

Es ist sehr wenig. Normalerweise habe ich, meine Lesungen sind ja kostenlos bis auf das Benzingeld, meistens einen kleinen Büchertisch und danach werden ein paar Bücher gekauft. Oder ich bin in Fußgängerzonen, mache einen Tisch, stelle da meine Bücher hin, so wie Musiker zum Beispiel ihre CDs verkaufen. Da kommen oft Diskussionen über Alkoholsucht, ich mache immer irgendwie auf das Thema aufmerksam und es entstehen ganz interessante Gespräche, aber das war alles weggefallen. Es reicht gerade so zum Überleben.

Es wird besser werden …

… ja, ich hoffe auch, dass die Märkte wieder öffnen. Im letzten Sommer war ja alles lockerer, wir waren in Brandenburg in Wandlitz, da war es schön, super Stellplatz und Märkte am Wochenende, wir haben ein bisschen Geld verdienen können. Oder am A10-Center, an den Wochenenden auf den Flohmärkten haben wir unsere Sachen verkaufen können, unter der Wochen konnten wir einen Campingplatz ansteuern können zum Wäsche waschen, ich hoffe, dass es bald wieder so wird …Wir müssen jetzt zwar jeden Cent umdrehen, aber wir sind trotzdem glücklich!

Glücklich – warum?

Weil wir uns haben! Und weil wir ein ganz anderes Leben jetzt haben, so richtig frei. Auch wenn wir gerade viel auf Stellplätzen stehen müssen, nicht so rumfahren können, das können aber andere auch gerade nicht. Weil wir trotzdem immer wieder die Plätze wechseln, immer wieder was Neues entdecken können. Man wird minimalistischer, naturverbundener, es ist total schön, so ein Nomadenleben.

Frei, sagst Du, wovon frei?

Von einer Wohnung zum Beispiel … in der Wohnung bist du immer am selben Ort, Freiheit ist, dass ich überall meine Bücher schreiben kann: Ich kann an einen See fahren, mich überall hinstellen, wo es uns gefällt. Wir können uns Städte anschauen auf Reisen und verdienen, wenn alles wieder normal ist, unser Geld auf Reisen, auf Märkten, ob es in Italien ist oder in Berlin oder Hamburg, wir können hinfahren, wohin wir wollen …vor kurzem waren wir in Leipzig zu einem Interview, das war auch schön.

In Deiner Trilogie beschreibst Du unter anderem Deine Suchtgeschichte, wie verlief sie?

Als Kind schon war ich nervös und ängstlich, teilweise habe ich dann als Jugendlicher nicht mal mehr einkaufen können, hab da Panik bekommen, ich habe nicht mehr Zug fahren können. Ich war ständig beim Arzt, hatte Herzrasen, Atemnot, war völlig verzweifelt. Und dann als 20-Jähriger war das immer noch so schlimm. Ich war oft krankgeschrieben, keiner konnte mir helfen, damals war die Medizin auch noch nicht soweit bei Angsterkrankungen. Irgendwann habe ich dann entdeckt, wenn ich Alkohol trinke, geht’s mir besser, ich kann wieder einkaufen, mit dem Bus oder der Bahn fahren … dann habe ich den Alkohol als Medizin missbraucht, täglich. Ich bin durch diese Angstzustände und den Alkohol als Medizin in die Sucht geraten, über viele Jahre war ich da drin gefangen. So zum Ende hin waren die Trinkmengen enorm, Schnaps und Wein, Bier gar nicht mehr. Bis zu einem körperlichen und seelischen Zusammenbruch. Über den Nervenzusammenbruch ist dann die erste Hilfe gekommen, bin ich das erste Mal aufgeklärt worden, dass es Entgiftungen gibt, dass es überhaupt Hilfe gibt, das habe ich damals noch gar nicht so gewusst. Nun bin ich trocken stabil seit 2014.

Du willst aufklären, Hilfe bieten, Mut machen … wie gelingt das?

Mir selbst hat damals ein Buch sehr geholfen, ich habe es immer wieder in den Entgiftungen gelesen, es war ein richtiges Mutmachbuch. Da hab ich mir gedacht, ich schreib ja eh Bücher, sowas möchte ich auch machen. Damit andere einfach sehen, Mensch, der hat es geschafft, der hat so gekämpft, hat so viele Rückfälle gehabt, hat aber nie aufgegeben – das schaffe ich doch auch!

Ich hab für jedes Thema, zum Beispiel Suchtmittel-Missbrauch, eigene Lesungen, ich lese nicht nur aus dem Buch, sondern habe zum Beispiel für Schulen einen jugendlich gestalteten Text. Auf Entgiftungsstationen dagegen geht’s mehr ums Mut machen, hey ihr seid aufm Superweg, bleibt dran, in meinem Buch schildere ich ja meinen Weg, wie ich reingekommen und wieder rausgekommen bin. Der dritte Band, den habe ich dann geschrieben, als ich drei Jahre trocken war, und gebe Sachen weiter, die mir persönlich geholfen haben, trocken zu bleiben.

Ich ermutige zum Beispiel auch, indem ich sage, dass für mich jede Entgiftung wie eine Weiterbildung war, dass ich da immer irgendwas dazugelernt habe, auch wenn ich das am Anfang gar nicht so gemerkt habe. Irgendwann bin ich dann da angekommen, wo ich so stabil war, dass ich auf Therapie wollte, und davon erzähle ich auch. Was da alles behandelt wird, da geht’s auch um die ganzen Sachen rundrum, manche haben ein Trauma, manche Angstzustände, manche Panikattacken – das wird ja alles mitbehandelt, was auf reinen Entgiftungen nicht so ist. Zum Ermutigen gehört auch: Sucht euch eine Therapie, sucht euch eine Selbsthilfegruppe, befasst euch mit eurer Krankheit, setzt euch damit auseinander, ich spreche den Leser dann auch direkt an.

Ich bin jetzt kein professioneller Suchthelfer, ich würde mich nie auf diese Stufe stellen. Aber bei den Lesungen ist meistens ein Suchthelfer dabei. Wenn dann Fragen kommen, bei denen ich sagen muss, ich bin nicht qualifiziert für, find ich das immer ganz toll, wenn ein Suchtprofi da ist, der dann mit antwortet, das ist auch für die Leute ganz toll. Ich kann ja nur Fragen aus Sicht eines Betroffenen beantworten.

Wie kommst Du klar, wenn die Camper neben Dir Alkohol trinken?

Nicht zu trinken ist für mich wirklich von Jahr zu Jahr leichter geworden. Aber es war immer mal wieder schwierig, auch am Anfang jetzt auf den Stellplätzen, die Camper sitzen draußen und machen ne Flasche Wein auf. Das hat mir aber nur kurz zu denken gegeben, hat sich schnell gelegt, ich habe gemerkt, wie stabil ich bin. Die meisten trinken ja normal, werden kein Alkoholproblem haben, aber am andern Tag kriegt man mit, wenn so einige früh rauskommen, dass sie einen Kopf haben. Dann denke ich so, bin ich froh, dass ich das nicht mehr habe. Bei uns war es ja noch viel schlimmer, in der Früh dann schon schaun, wie man den Alkohol drinnen behält … ich muss nicht mehr fühlen, was die jetzt fühlen, dieses Verkaterte, das ist kein Leben, du lebst nur noch für das Zeug, alles dreht sich nur noch um das Zeug, das Entsorgen der Flaschen, ums Besorgen, schlimm, das will ich nie mehr erleben.

Ist das Dein neuer Lebensinhalt, etwas zu tun gegen Alkoholmissbrauch?

Ganz klar: ja. Als ich dieses Buch geschrieben hab, wusste ich nicht, was dann passiert: Diese ganzen Reaktionen der Leser, diese Leserbriefe, ich habe so oft Gänsehaut bekommen. Da haben wir gedacht, das hat einfach so sein müssen, dass ich mein Leben lang über dieses Thema reden und versuchen werde, anderen Mut zuzusprechen. Ich möchte mich natürlich nicht in Therapien einmischen, da bin ich nicht befugt dazu, aber einfach zusätzlich Mut machen, den Therapiealltag durch eine Lesung auflockern, Jugendliche in den Schulen aufklären … was ich da alles erlebt hab, einige suchen das Gespräch dann nach der Lesung mit mir, interessieren sich total für das Thema. Es muss Alkoholiker geben, die auch öffentlich darüber reden, finde ich, die es sich zur Lebensaufgabe machen, dass dieses Thema nicht einschläft, weil es einfach so verharmlost wird, das ärgert mich immer. Anfangs sagen die Leute, der ist lustig, der ist trinkfest, aber sobald du dann abhängig wirst, biste bei der Gesellschaft unten durch, zeigen alle mit Finger auf dich, du bist dann der Alki. Ich möchte halt einfach, dass das Thema nie einschläft, niemals.

 

Anja Wilhelm

Info, Lesungsbuchung und Bücherkauf über:

www.jasonsante.beepworld.de/

 

 

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