TrokkenPresse 2/24: Weil der Wirt alkoholkrank wurde …

Als Gastwirt alkoholkrank geworden – Entgiftung – jetzt ist sogar das ganze Lokal alkoholfrei:

Was willst du – aufhören oder auf den Friedhof?

Die vergangene Neujahrsnacht im Gasthof „Zur Sägemühle“: Die letzten Silvester-Gäste sind fort. Inhaberin Kerstin findet ihren Mann Vladimir, Geschäftsführer und Koch, in der Küche weinend auf dem Boden sitzend. Er kann nicht mehr. Er will so nicht mehr. „Ich habe Angst, morgen nicht mehr zu leben, wenn ich es nicht schaffe, sofort aufzuhören mit dem Trinken“, sagt er schluchzend zu seiner Frau … Seit damals nun ist nicht nur er selber trocken, sondern auch gleich der gesamte Gasthof: Alkoholfrei alle Speisen und Getränke. Und das in Bayern, wo doch in einem Lokal zünftiges „echtes“ Bier erwartet wird? Die TrokkenPresse wollte alles etwas genauer wissen …

Was und wie viel hast du getrunken?

Vladimir: Immer nur Bier, sieben Jahre lang. Anfangs war es mit zwei, drei am Vormittag noch genug für den ganzen Tag. In den letzten Jahren sind es aber 15-20 am Tag geworden, über den Tag verteilt.

Kerstin: Menschen, die kein Alkoholproblem haben, trinken mal einfach so ein, zwei Bier, um ein bisschen lustig zu werden. Aber er hat nur noch getrunken, weil es der Körper gebraucht hat. Er musste trinken. Das habe ich oft auch selbst gesehen. Wir haben ja Freitag bis Sonntag geöffnet und immer dann, wenn der Stresspegel stieg, wenn das Lokal proppenvoll war, wir viel Arbeit hatten – ging er dann im 20-Minutentakt zum Zapfhahn für einen Schnitt, also 0,3 Liter. Aus der Küche raus, wieder einen Schnitt. Am Ende des Tages hat er gar nicht mehr gewusst, wie viele es waren.

Haben die Gäste das bemerkt?

Kerstin: Dass er betrunken ist, haben die Leute noch nicht gemerkt, aber ich schon.

Hast du versucht, aufzuhören, es zu kontrollieren?

Vladimir: Ja. Mehrere Male. Aber hat nicht geklappt, ich musste ja nicht extra wegfahren, um mir etwas zu kaufen, sondern hatte ja die Quelle hier.

Kerstin: Wir leben auch hier auf unserem Gasthof, und wenn der Bierbrunnen permanent sprudelt, wenn die Fässer an der Schänke angestochen sind, dann ist das sehr schwer, immer daran vorbeizugehen und zu sagen, nein, ich lass mir kein Bier raus. Es ist ja da. Da müsste man schon eine sehr, sehr große Willenskraft haben.

Warum wolltest du überhaupt aufhören?

Valdimir: Mir ging es immer schlechter gesundheitlich. Mir war immer schlecht, ich hatte immer einen Kater.

Kerstin: Er hat trinken müssen, bis er total am Ende war am Abend, er konnte nicht zwischendrin einfach mal stoppen und sagen, das ist ok jetzt.

Am Neujahrsmorgen in der Küche fiel die Entscheidung …

Kerstin: Ja, er schluchzte: „Entweder ich schaffe das, ab morgen trocken zu sein oder die können mich mit dem Krankenwagen gleich auf den Friedhof fahren, ich habe Angst, bis morgen nicht mehr zu leben.“ Da habe ich gefragt: Was willst du, aufhören oder auf den Friedhof? „Ich will aufhören.“ Dann habe ich den Rettungswagen gerufen und er kam in die Entgiftungsklinik.

Warum hast Du nach 11 Tagen Entzug dann keine Langzeittherapie angeschlossen?

Vladimir: Wir können das Lokal nicht einfach drei Monate schließen …

Kerstin: Wir standen vor der Entscheidung: Sperren wir hier zu für die minimal drei Monate – denn alleine kann ich das nicht bewirtschaften, wir haben kein Personal, aber auch noch zwei Ferienwohnungen, es hängt hier also schon bisschen mehr dran als bei einem normalen Arbeitnehmer. Ich müsste hier alles stilllegen, meine Konzession auch, mir einen Job suchen usw… nicht machbar. Und danach, sperren wir dann überhaupt wieder auf? Denn das nächste Problem wäre, wenn er jetzt in die Klinik ginge … dann kommt der Mai. Da starten wir in unserer Wanderregion mit 200 Prozent in die Sommersaison. Da kann ich von drei runterzählen und er trinkt wieder.

Es gab nur die zwei Optionen: Wir sperren zu und vielleicht nie wieder auf und unser Projekt, unser Leben müssen wir komplett neustarten, nur weil er trinkt? Oder wir können weiterarbeiten, für unsere Gäste da sein, unser Miteinander retten, er sich selber retten, sein Leben und wir legen ALLES trocken. Und so haben wir es nun gemacht.

Und wie geht es für Vladimir, es bleibt ja eine Gastwirtschaft mit Kochstress?

Vladimir: Gut. Ohne das Trinken ist es weniger Stress. Und wir streiten auch viel weniger.

Kerstin: Meistens war Stress, weil er früh schon seinen Pegel hatte, wenn wir mittags aufmachen. Da hängen schon in der Küche am Brett die ersten Bons für das vorbestellte Essen und er kam schon in Panik, oh mein Gott, 15 Essen, ja da muss ich gleich noch eins trinken. Und je höher der Pegel wurde, desto stressiger war es für ihn, weil er ja mit seiner Arbeit gar nicht mehr zurechtkam. Jetzt läuft alles viel entspannter. Das merken auch die Stammgäste.

Aber selbst alkoholfreies Bier könnte ja triggern?

Vladimir: Ich trinke es ja nicht.

Manchem Trockenen genügt schon, es zu sehen, zu riechen …

Kerstin: Das Triggern ist für jeden individuell. Ein Beispiel: Neulich war eine Wandergruppe da aus einer Entwöhnungsklinik, unterschiedlichste Menschen, von jung bis alt. Ich hatte noch Apfelweintorte vom Wochenende da. Auf der Vitrine stand „Apfelweintorte“, weil es hier der Begriff dafür ist und normalerweise mit Wein gekocht wird. Ich hatte aber nur Apfelsaft drin. Zwei dieser Patienten haben sie gegessen. Der ein sagte, irgendwie schmeckt die nach Alkohol. Der andere sagte, er schmecke das nicht. Das könnte also auch schon ein Trigger sein, nur allein der Begriff, das Wort, die Vorstellung, dass da Wein drin sein könnte, weil es dran steht. Für manchen kann es auch schon sein, wenn einfach eine Flasche aufgemacht wird, ein Verschluss ploppt. Ich befasse mich schon lange mit dem Thema Alkoholismus wegen Vladi und habe mit vielen Leuten gesprochen, daher weiß ich auch, dass allein schon das Bewusstsein, dass hier alkfreies Bier ausgegeben wird, triggern könnte.

Vladimir, willst du gern trinken, wenn du volle Biergläser siehst?

Vladimir: Nein, gar nicht.

Kerstin: Vielleicht ist es auch das Bewusstsein, dass da unser Geschäft dranhängt …

Euer ganzes Leben, die Partnerschaft.

Kerstin: Ja, alles. Wenn es jetzt nicht gestoppt wäre, dann hätte das auch alles kaputt gemacht. Ich weiß nicht, ob wir diese Saison weiter existiert hätten, denn er war wirklich am Ende. Seine und unsere Entscheidung war die Rettung. Gottseidank.

 Es gibt einige Restaurants, die es alkoholfrei versucht haben, aber gescheitert sind. Bleiben euch auch Gäste weg, weil es kein echtes Bier mit Promille mehr gibt?

Kerstin: In der Gastronomie gibt es die Faustregel, dass 10 Prozent immer was zu meckern haben. Aber ich muss sagen, an den Wochenenden seitdem waren wir immer proppenvoll – und es war genau eine einzige Person hier, die das bemängelt hat. Alle anderen waren sehr positiv überrascht, auch, wie gut alkoholfreies Bier schmecken kann, wir haben inzwischen 23 Sorten da.

Wie war das mit dem Nörgelgast?

Kerstin: Da war ein Pärchen in den 50-igern zu Gast, sie hat sich alkoholfreies Weizen bestellt, er wollte ein „richtiges“ Bier. Ich sagte ihm, das sei richtiges Bier, aber eben alkoholfrei. Hmmm. Dann hat er die Speisekarte zugeklappt und auf den Tisch geknallt: Ja dann trinke ich gar nix! Ich daraufhin: Na dann halt net. Was soll ich jetzt machen? Ich habe mich umgedreht und meine Arbeit weitergemacht. Da diskutiere ich nicht, das bringt nichts. Der eine geht, und fünf nette Gäste kommen dafür. Das ist einfach Fakt.

Wer sind die netten Gäste?

Kerstin: Zum Beispiel das junge Pärchen mit Baby neulich. Sie hatten von uns gelesen und sind deswegen extra gekommen. Er will abnehmen und muss auch Medikamente nehmen und beide wollen auch gar keinen Alkohol mehr trinken, sondern Alternativen finden. Sie haben auch gleich die Tauffeier bei uns gebucht. Den Grund fand ich spannend: Auf ihren Familienfeiern war immer jemand dabei, der sich zusammensäuft und peinlich für alle ist. Wir können wirklich behaupten: Aus unserem Lokal geht niemand betrunken raus und fährt mit dem Auto nach Hause …

Vladimir: Manche denken, dass wir hier nur wegen mir alkoholfrei sind, weil ich vielleicht nicht stark genug wäre. Aber das ist nicht so. Es ist nicht nur für mich. Sondern für viele andere Leute. So viele trinken keinen Alkohol, weil sie zum Beispiel Medikamente nehmen oder aus religiösen Gründen, Muslime, Juden. Oder Schwangere, Stillende. Wir wollen hier für sie ein risikofreies Lokal sein, wo es auch nicht nach Alkohol riecht oder am Nachbartisch getrunken wird.

Ihr habt also keine Angst vor ausbleibender Kundschaft?

Kerstin: Nein. Der Alkoholabsatz ist in den letzten Jahren schon zurückgegangen. Wanderer wollten nur ein ganz dünnes Radler, weil sie weiterlaufen wollten oder Leute mit dem Rad oder E-Bike trinken dann auch nichts. Und wir sind hier in der Fränkischen Schweiz die einzigen im Umkreis von 4-5 km, da überlegen sich die Leute, ob sie hier was Alkoholfreies in Kauf nehmen oder weiterlaufen, in der Gefahr, dass das nächste Lokal zu hat. Wir haben jetzt erst recht einen großen Zulauf an Gästen, viele schreiben auch, drücken uns die Daumen oder beglückwünschen uns für das Konzept und zu unserer Ehrlichkeit.

Habt ihr nicht auch Neider oder Kritiker?

Kerstin: Einige haben uns einen PR-Gag vorgeworfen. Jemanden musste ich sogar bei Facebook melden: Ich hätte meinen Mann sieben Jahre abgefüllt, dann in die Entzugsklinik gesperrt, nach 11 Tagen rausgezerrt, nur um PR damit zu machen, es wäre ja kein Wunder, dass er trinkt. Sowas ist einfach unverschämt. Da hatten aber dann schon viele liebe Gäste von uns das Wort ergriffen, ich musste gar nicht mehr viel dazu schreiben. Wir haben soooo viel Rückhalt von unseren Gästen. Das ist so schön, so positiv.

Eure Entscheidung aus der Not heraus war also richtig?

Kerstin: Ja. Es ist eigentlich alles viel besser, unglaublich. Es fängt an beim Tresen, der jetzt immer sauber ist, wir haben nur noch Flaschenware. Wir sind an keine Brauerei mehr gebunden, sondern frei und unabhängig, ich kann kaufen, wo ich will. Jetzt haben sich schon Brauereien und Weingüter angemeldet, die ihre alkoholfreien Alternativen an die Kundschaft bringen wollen. Wo geht das besser als in einem Lokal, das sowieso alkoholfrei ist.

 So ist aus der schweren Krankheit sogar eine große Chance geworden …

Kerstin: Mir wäre das Leben ohne Vladis Alkoholismus lieber gewesen. Aber es ist eine positive Geschichte daraus geworden. Das wissen die Leute auch schon von uns: Dass wir, egal, wie die Situation gerade ist, immer das Bestmöglichste rausholen, um weiter zu existieren, weil unser Leben am Geschäft hängt …

Für das Gespräch bedankt sich: Anja Wilhelm

 Kontakt:

Gasthof zur Sägemühle, Großenohe 19, 91355Hiltpoltstein

Tel: 0179 6780416, 09192 2370756

Mail: tischreservierung@gasthof-zur-saegemuehle.de

 

TrokkenPresse 01/24: Wie sage ich jemandem, dass er zu viel trinkt?

Wie sage ich jemandem, dass er zu viel trinkt?

Ja, und vor allem: Sollte ich das überhaupt? Muss ich denn Freunden, Kollegen oder PartnerInnen meine sorgenvolle Beobachtung mitteilen – und wenn ja, wie am besten? Die TrokkenPresse im Gespräch mit Psychologin Heike Herzberg, Leiterin der Suchtberatungsstelle des PBAM e.V. in Berlin-Wilmersdorf.

Woran bemerke ich überhaupt, dass jemand im Umfeld missbräuchlich trinkt und vielleicht sogar bereits suchtgefährdet ist?

Zum Beispiel, wenn er oder sie öfter betrunken ist, die Kontrolle über den Konsum verliert. Oder sehr schnell trinkt. Oder zu unüblichen Zeiten, tagsüber. Und man bemerkt es auch daran, dass sich die Person verändert. Wenn ich z.b. beobachte, einer Freundin geht es jetzt nicht mehr darum, mit mir zusammen zu sein, sondern vor allem darum, mit mir zu trinken. Es kann auch sein, dass sich der Mensch zurückzieht, nicht mehr telefonisch zu erreichen ist oder wenn doch, dann immer schon etwas getrunken hat. Oder Verabredungen nicht einhält und danach merkwürdige Erklärungen dazu hat …

Auch das Herunterspielen von Problemen ist ein Kennzeichen: Da hat beispielsweise jemand den Führerschein verloren und bagatellisiert es trotzdem. Oder wenn es unter Alkoholeinfluss zu bösen Streitereien kommt bis hin zu Gewalt, oftmals gerade auch in Partnerschaften. Aber sehr wichtig ist auch das eigene Gefühl, dass da irgendwas nicht stimmt …

Muss oder sollte ich denn das Thema nun ansprechen?  Es fühlt sich sehr heikel an …

Ich muss natürlich nicht die Welt retten. Ich muss gar nichts. Genauso wie der Betroffene, der muss auch nichts. Die Frage ist meine eigene Motivation. Habe ich einen starken Antrieb, mit demjenigen zu sprechen? Das wäre wie ein Geschenk an ihn: Denn es ist mutig, jemanden auf seinen Alkoholkonsum anzusprechen. Man muss ja mit Abwehr rechnen. Ein sehr unangenehmes Unterfangen.

Was könnte denn ein Antrieb sein?

Manchmal ist es die Sorge um den anderen, oftmals aber auch, dass ich mitbetroffen bin. Und zwar durch Ärger, der durch das Trinken entstehen kann oder weil sich vielleicht die Freundin so verändert, dass ich kaum noch in Kontakt mit ihr komme. Es kann auch eine Kollegin sein, die nicht mehr so konzentriert arbeitet und viele Fehler macht und ich muss das immer ausbügeln …

Wann und wie sollte ich denjenigen ansprechen?

Ich würde mich mit einer Freundin zum Beispiel mal vormittags zum Kaffee verabreden und auch ankündigen, dass ich gerne etwas mit ihr besprechen würde. Im Gespräch dann ist es immer besser, ihr nicht zu sagen, was sie tun soll oder sie mit Vorwürfen zu überschütten oder ihr gar zu drohen, die Freundschaft zu kündigen, wenn sie sich nicht ändert – so nicht! Wichtig ist, eher liebevoll, wertschätzend und vor allem bei sich selbst zu bleiben, das eigene Erleben mitzuteilen: Ich mache mir Sorgen …, ich habe beobachtet, dass du viel trinkst… ich nehme wahr, dass Alkohol dir wichtiger wird als ich … o.ä.

Du sagtest, es braucht Mut, jemanden auf seinen hohen Alkoholkonsum anzusprechen. Wieso?

Weil man fürchtet, wenn ich das anspreche, gibt es Zoff. Bis hin zur Kündigung der Freundschaft. Es fühlt sich an wie Einmischung in das Leben des anderen, wie ein Tabubruch. Es gibt so eine gesellschaftliche Scheu, jemanden auf seinen Alkoholkonsum anzusprechen, wir haben ja diese Trink-Unkultur, sogar Sauffeste wie das Oktoberfest – und wenn ich jemanden auf sein Trinken anspreche, komme ich in so eine Situation: Ach, das ist so eine, die hat keinen Spaß am Leben. Es ist jedenfalls etwas sehr Persönliches, und deshalb fühlt es sich unangenehm an. Und ich ahne, dass der andere es abwehren wird.

Abwehr – eine normale psychologische Reaktion?

Eine Art Schutzmechanismus. Es ist selten, dass jemand angesprochen wird und meint: Ich bin echt froh, dass das endlich mal jemand gesagt hat! Sondern was kommt als erstes in dem Betreffenden hoch? Das Gefühl, ich bin ertappt. Ich schäme mich. Oftmals spürt ja der Betroffene selbst, dass da irgendwas nicht stimmt und denkt aber, solange die anderen nichts sagen, merken sie ja nichts. Das ist aber ein Riesenirrtum. Mit Abwehr sollte man also immer rechnen.

Was hältst du von einer „Konferenz“, also wenn zum Beispiel Freunde und Familie gemeinsam den Betroffenen zum Gespräch bitten?

Großartig. Ganz toll!

Oh je, alle gegen einen, ich als Betroffene würde mich dann sehr schlecht fühlen, bedroht, ganz klein mit Hut. Meinst Du nicht?

Es kommt natürlich darauf an, wie die Familie oder die Freunde dann mit dir reden. Es ist ja auch eine Form der Wertschätzung: Du, wir kommen jetzt alle zusammen, sind extra angereist, haben uns frei genommen, um mit dir zu reden, denn wir machen uns große Sorgen und wir wünschen uns, dass du was änderst. Ja, das ist natürlich unangenehm … Aber es kann hilfreich sein. Es kann nachwirken. Dass sich dann gleich etwas ändert, ist natürlich nicht gesagt.

Sollte man nun diese verständliche Scheu dennoch überwinden und das Thema ansprechen, auch wenn man es gar nicht müsste, wie Du sagtest?

Was meinst denn du selbst dazu aus Sicht einer Betroffenen, ist es denn immer gut, wenn jemand etwas sagt, wäre das am besten?

Schwierig. Ich habe auch erstmal Abwehr gezeigt: Ja, kann sein, ich trinke manchmal zu viel, aber nicht mehr als andere zu viel … Aber ehrlich: Kaum jemand hat mich auf meine Sauferei hin angesprochen! Es gab mal Andeutungen und Getuschel, das ja. Im Nachhinein, heute, wäre ich dankbar, wenn es ein paar Leute mehr gewesen wären, die vielleicht auch mal ein liebevolles Gespräch mit mir nicht gescheut hätten. Dann hätte ich vielleicht früher erkennen können, was wirklich mit mir los ist. Ich habe ja lange gedacht, es ist normal und alle trinken abends eine Flasche Wein. Oder zwei.

Ich denke, Betroffenen kann es viel eher helfen, wenn man seine Scheu ablegt und nicht so eine Angst vor den Reaktionen hat. Was soll Schlimmes passieren? Eine gekündigte Freundschaft? Wenn das der Preis wäre, ist es gegen eine tödliche Krankheit nur ein kleiner, oder? Ja, heute glaube ich, je mehr Leute was sagen und je häufiger man das hört, desto eher kann ein Betroffener auf den Trichter kommen, ah, da ist wohl wirklich was … Kannst du das jetzt nachvollziehen?

Jetzt so aus deiner Sicht auf jeden Fall! Aber es gibt ja auch Beispiele aus der Partnerschaft, wo die Frau permanent sagt, du trinkst zu viel, hör mal auf … sie ist dann eh schon die Person, bei der der Trinkende mit den Augen rollt. Also man muss dann wirklich die Situation ansehen. Wenn es dann nämlich der Arbeitskollege sagt, oder sich Kollegen zusammentun für ein Gespräch … das ist ein Riesengeschenk, dass andere sich so viele Gedanken machen, auch wenn das vom Betroffenen nicht so erlebt wird erst einmal. Es kommt immer irgendetwas an. Auch, wenn sich erstmal gar nicht viel ändert. Aber es ist wichtig, zu signalisieren, ich sehe da was, da ist was mit dir, ich mache mir Sorgen. Es ist eine Chance. Handeln muss dann letztlich der andere selbst …

Für das Gespräch bedankt sich: Anja Wilhelm

TrokkenPresse 06/23: Komm einfach her!

Die 6-Wochen-Therapie in der Anonyme Alkoholkrankenhilfe Berlin (AKB e.V.)

Komm einfach her!

Für alkoholkranke Menschen in Berlin ist der AKB ein fester Begriff. Ein Synonym für Hilfe in der größten Not. Für ein tägliches Zuhause, ob in der 6-Wochen-Therapie oder auch länger, wenn man will. Viele hunderte Menschen wurden dort in über 48 Jahren des Bestehens für immer trocken, weil sie neu zu leben lernten, in Gemeinschaft mit anderen Gleichgesinnten. Das Besondere und wohl bundesweit Einzigartige: Es ist ein reines Selbsthilfeprojekt. Es gibt weder Ärzte, Therapeuten noch Sozialarbeiter. Weder langwierige Antragstellungen noch monatelanges Warten auf einen Platz. Hier helfen Betroffene Betroffenen. Sofort. An sieben Tagen jeder Woche, von 9 bis 21 Uhr, ist jemand da …

Ein einfaches Einfamilienhaus in einer kleinen, ruhigen Straße, zwischen Botanischem Garten und Dahlem-Dorf. Der Garten grünt noch, durch die Bäume und Sträucher lugen ein Grillhäuschen und ein großer Gartentisch hervor. Auf der Terrasse sitzen und unterhalten sich Leute im Herbstsonnenschein, eine Mugge läuft von irgendwo. Durch die offene Tür Geschirrklappern.

So pirsche ich mich nämlich erstmal außen am Zaun entlang und gucke. Und das haben wohl vor mir schon viele Alkoholkranke so getan, vor diesem ersten großen Schritt dann hinein ins Haus und damit in einen Neustart des Lebens …

Die Gartenpforte ist unverschlossen, die Haustür mit Willkommensgruß ebenso. Man geht einfach hinein. So ist das hier. Ich stehe im Flur und alsbald spricht mich auch jemand sehr freundlich an: „Wie kann ich Dir helfen?“ Ich fühle mich wirklich willkommen. Sogar zum Mittagessen werde ich eingeladen, in den großen Raum mit den Tischen in U-Form. Als würde ich jetzt dazugehören. Heute gibt es Schnitzel. Heiner hat gekocht. Nach dem Essen und einem Dankeklopfen für den Koch räumen einige der Tagesgäste die Teller in die Küche, waschen ab, wischen die Tische wieder rein. Jeder weiß, was zu tun ist. Es erinnert ein bisschen an das Leben in einer Großfamilie. Und Manfred, er hat noch den Wischlappen in der Hand – er ist schon über sechs Wochen täglich hier seit einem Rückfall – sinnt nach und sagt: „Jedes Mal, wenn ich hier durch die Tür komme, ist es wie Magie für mich. Die ganzen schlechten Dinge bleiben irgendwie draußen. Ich werde freundlich begrüßt, von Leuten, die auch verstehen, was ich sage und meine …“

Heiner, seit sieben Jahren trocken, kocht und kauft aber nicht nur für alle Mahlzeiten ein: Er ist der Suchthilfekoordinator des Vereins. Meist der erste Ansprechpartner, ob ein Hilfesuchender anruft oder einfach vor der Tür steht. Er und Gaby vom Vorstand des Vereins, sie ist seit 23 Jahren abstinent, leiten mich für unser Interview die Treppe nach oben, in eins der zwei Zimmer, die den Tagesgästen in ihrer Freizeit zur Verfügung stehen …

Wenn ich jetzt zum Beispiel einen Rückfall hätte, also in Not wäre, weder ein noch aus wüsste …

Gaby: Einfach anrufen oder gleich herkommen!

Heiner: Wir sind von 9 bis 21 Uhr da, auch sonntags, feiertags. Wir warten auf Leute wie dich. Komm rein, setz dich hin, hör zu, sprich mit uns, wir schauen gemeinsam, welche Hilfe du brauchst. Und du kannst hier sofort anfangen mit der 6-Wochen-Therapie …

Sofort anfangen?

Heiner: Wenn du die sechs Wochen lang teilnehmen willst, lässt du dich zuerst von deinem Hausarzt krankschreiben. Du bist ja krank, du bist süchtig, du willst deine Sucht bekämpfen. Dann geht es los, Von morgens 9 Uhr bis 21 Uhr bist du dann täglich hier.

So lange, bis 21 Uhr?

Heiner: Ja, das ist gerade wichtig! Wir möchten dir einen Rahmen schaffen, indem du einen Schutzraum hast. Die meisten Betroffenen sitzen doch nach der Arbeit zuhause und trinken dann wieder.

Gaby: Und du sollst so auch wieder einen geregelten Tagesablauf finden. Schon durch die Mahlzeiten hier bei uns, Frühstück, Mittag, Abendbrot.

 Wie läuft denn so ein Tag ab?

Heiner: Wir decken morgens gemeinsam den Tisch, nach dem Frühstück wird das Haus erstmal ein bisschen saubergemacht, 10 Uhr beginnt die Morgengruppe. Mit einem Vereinsmitglied, der ein Thema mit den Leuten bearbeitet. Zum Beispiel „Alkohol am Arbeitsplatz“, „Rückfallprophylaxe“, „Alkohol und Beziehungen“ usw. Das geht bis 12 Uhr. In der Zeit mache ich Beratungen, Bürokram und Mittagessen. 12.30 Uhr ist Mittag, dann Freizeit. Ob mit Mittagsschlaf, Laub harken, malen, lesen, freiwilliger Gartenarbeit, mit Gesprächen untereinander oder nach einer Eingewöhnungszeit auch Spaziergängen im Botanischen Garten. Oder jemand hat Arzttermine oder anderes zu erledigen. Du lernst hier wieder, wie Leben ohne Alkohol funktioniert, entdeckst dich neu. 17 Uhr gibt’s Abendbrot. Um 19 Uhr die Abendgruppe, eine offene Selbsthilfegruppe, zu der jeder, der ins Haus kommen will, kommen kann.

Wer leitet die Gruppen?

Heiner: Langjährig trockene Vereinsmitglieder, wir haben sieben Gruppensprecher hier im Haus, aber auch noch 20 AKB-Gruppen in verschiedenen Stadtteilen. Die ersten zwei Wochen erwarten wir, dass sich die Therapie-Teilnehmer alle Gruppen hier angucken, und dann können sie auch Außengruppen besuchen.

Warum ist euch das mit den Gruppenbesuchen so wichtig?

Heiner: Mir als Süchtigem soll bewusstwerden, dass eine Selbsthilfegruppe für mich ein MUSS ist, weil ich dort über meine Probleme reden kann, statt sie zu ertränken.

Kann ich in den sechs Wochen auch mal wegbleiben, wenn ich mal keinen Bock habe oder einen Rückfall?

Heiner: Du unterschreibst zu Beginn unsere Teilnahmebedingungen. Darin verpflichtet sich der „Therapist“, sechs Wochen lang von 9-21 Uhr teilzunehmen, an sieben Tagen der Woche. Darin steht auch, dass wir bei einem Rückfall die Therapie beenden müssen. Wir sind zwar immer noch mit den Gruppen und mit Gesprächen für dich da, aber du musst ja erstmal wieder zu dir finden, entgiften. Wenn es dir wichtig ist, abstinent zu leben, dann kommst du wieder. Wenn wir Rückfälle nicht ausschließen würden, müssten wir andauernd mit Rückfällen leben, es wäre für die Leute egal, ob sie rückfällig werden. Ein Rückfall kann passieren, sollte aber nach Möglichkeit nicht stattfinden.

Gaby: Aber wenn du nicht kommen kannst, weil du Migräne oder sonst was hast, rufst du an, dann wissen wir Bescheid, gut wäre ein Nachweis vom Arzt. Man muss also auch nicht mit Schnupfen oder Husten herkommen.

Ist eine Entgiftung Voraussetzung?

Heiner: Das Suchtmittel sollte schon aus dem Körper ausgeschwemmt sein. Es kann sonst hier zu medizinischen Notfällen kommen, die wir nicht beherrschen können, ich bin kein Arzt. Dafür gibt es Entgiftungsstationen.

Gaby: Aber die Plätze sind weniger geworden. Wir wollten hier gerade zwei Leute ins Krankenhaus bringen, aber die kriegen keinen Platz. Sie müssen jeden Tag um 7 Uhr anrufen und wenn du eine Woche lang warten musst, dann ist das gefährlich, der Arzt rät dann meist zum Weitertrinken. Das ist so ein Ding, wenn ich mich schon dazu durchgerungen habe, nicht mehr zu trinken. So werden die Menschen in der Sucht gehalten. Wir versuchen zu helfen, aber uns sind da die Hände gebunden.

Wer genau findet den Weg hierher?

Gaby: Sie kommen aus ganz Berlin. Vom Professor, Arzt, Polizisten, Feuerwehrmann, Lehrer über Pfleger bis zum Straßenfeger. Ein ganz klarer Durchschnitt der Bevölkerung. Und die Leute sind jünger als früher, sogar schon mit Mitte 20 kommen sie her, meist polytox.

Heiner: Alkohol ist bei den Jüngeren eher das Begleitmittel von anderen Drogen heute. Es gibt wenig reine Alkoholiker.

Habt ihr eine Art Therapieziel, außer dem, dass jemand trocken bleibt?

Heiner: Ich möchte, dass es für die Leute selbst hier IHR Ziel wird, trocken zu leben. Und dass sie Hilfe zur Selbsthilfe anzunehmen lernen. Ich kann niemandem garantieren, wenn er nach den sechs Wochen geht, dass er geheilt ist. Aber ich kann jedem garantieren, dass, wenn er weiter in Gruppen geht, das Rückfallrisiko geringer ist. Weil er da die Möglichkeit hat, über das Problem, was ihn gerade triggert, zu sprechen.

Gaby: Ja, auch dass sie ein Zugehörigkeitsgefühl entwickeln …

Heiner: Wir wollen hier zeigen, wie wichtig es ist, im Kontakt mit anderen Betroffenen zu sein. Als Süchtiger habe ich gedacht, ich bin der Einzige, der zu blöd ist, mit der Sauferei aufzuhören. Jeder denkt, er sei alleine. Aber alleine kann man nicht aufhören. Gemeinsam aber stärken wir uns. Das ist Selbsthilfe. Man achtet aufeinander und sogar Freundschaften entstehen …

Gaby: … das ist wichtig, denn die alten Saufkumpane muss man vergessen. Es entwickelt sich hier so eine Art Heimatgefühl.

Heiner: Und wir versuchen, dass du hier begreifst: Selbsthilfe ist mein Anker im Leben. Wenn mal gar nichts mehr greift, ich mit niemandem reden kann, dann ist irgendwo eine Selbsthilfegruppe, wo ich mich zuhause fühlen kann.

Ich habe gehört, früher war der Ton hier sehr rau und deftig …

Gaby lacht: Wann haste denn das gehört, anno dutz? Aber das stimmt. Das war früher so, da hatten wir eine ganz andere Klientel als heute. Als ich hergekommen bin, saßen da so 100 Jahre alte Knastleute, der Ton war so herrschsüchtig, dass ich dachte, hier bleibe ich nicht. Da konnten die Neuen sagen, was sie wollten, die sind denen immer in die Parade gefahren und das verängstigt, man nimmt sich zurück und sagt gar nichts mehr. Aber das ist lange her. Im Laufe der Zeit haben wir daraufhin gearbeitet, dass sich der Ton ändert, dass man normaler miteinander umgeht.

Heiner: Ich denke, das war ein Spiegel der Gesellschaft, früher war der Ton generell rauer. Selbsthilfe ist immer ein Spiegel der Gesellschaft. Heute wird eher versucht, alles zu umschiffen. So, wie die Gesellschaft draußen weicher geworden ist, schlägt sich das auch im AKB nieder. Das geht heut nicht mehr: Ich geb dir eins auf die Fresse, wenn du mir blöd kommst …

Gaby: … in den Außengruppen kann das schon noch mal passieren …

Heiner: Wir finden es jedenfalls wenig hilfreich, angemotzt zu werden, wenn man trocken werden will, da muss man schon mal einen guten Mittelweg finden, denn zu liebevoll sein hilft auch nicht. Wir stellen uns heutzutage mehr auf die Klienten ein, mit mehr Empathie.

In Anonyme Alkoholikerhilfe stecken die Worte Anonyme Alkoholiker, AA, ist das Absicht?

Gaby: Vor 48 Jahren gründete sich der AKB aus einer Splittergruppe der AA, daher der Name.

Heiner: Bei uns geht es heute nicht um Religion, nicht um Politik oder Sport, sondern es geht um unsere Sucht hier. Und viele haben Probleme mit Gruppen, die religiöse Ansätze haben. Deshalb hatten wir uns als AKB zusammengefunden.

Kommen wir mal noch zum Geld: Was muss ich als Therapist bezahlen?

Heiner: 50 Euro Kostgeld pro Woche für die Mahlzeiten. Weiter nichts.

Und wie finanziert ihr dann das Haus, euch selbst usw.?

Heiner: Das Haus haben wir zu günstigen Konditionen als Selbsthilfegruppe angepachtet, es ist Erbpacht. Wir sind zurzeit durch Krankenkassenförderung und Pep-Zuwendungen (Psychiatrieentwicklungsprogramm, d.Red.) vom Bezirk finanziert, z.B. meine 30-Stundenstelle als Berater. Ansonsten ist das alles Eigenleistung, durch den Verein, den Förderverein und Spenden. Auch in den Außengruppen geht ein Hut rum. Gut betuchte Mitglieder kaufen auch mal ein, wenn etwas gebraucht wird. Aber es ist sehr viel ehrenamtliches Engagement dabei.

Gaby: Wir selbst sind in den Zeiten da, in denen der Ehrenamtler normal arbeitet und abends kommen dann die ehrenamtlichen Gruppensprecher. Bei uns guckt keiner auf die Uhr, von früh bis abends und ohne die Ehrenamtlichen könnten wir das alles gar nicht leisten. Ein großes Danke mal an alle!

 

Für das Gespräch bedankt sich Anja Wilhelm