Wenn Kinder zu Eltern ihrer Eltern werden
Familiäre Suchtprobleme haben gravierende Auswirkungen auf Kinder
von Henning Mielke
Bei den Südseeinsulanern gibt es einen Brauch: Will man eine leerstehende Hütte vor Plünderei schützen, so verschließt man die Eingangstür mit einer Knotenschnur. Setzt sich jemand über diese Schutzmaßnahme hinweg, so hat er Unheil zu fürchten. Das Zerreißen der Schnur zieht einen Fluch nach sich. Tapu-Schnüre werden diese polynesischen Diebstahlsicherungen genannt. Als „Tabu“ fanden sie Eingang in unseren Wortschatz. Wenn ein ungeschriebener gesellschaftlicher Konsens es verbietet, ein bestimmtes Thema anzusprechen und es damit der Diskussion entzieht, spricht man von Tabuisierung.
Wenn die Sprache auf Kinder kommt, deren Eltern suchtkrank sind, erlebt man, wie machtvoll Tabus sind. Denn in unserer Gesellschaft ist es nicht opportun, Eltern auf die Art und Weise anzusprechen, wie sie mit ihren Kindern umgehen. Noch weniger opportun ist es, Menschen ihre Sucht anzusprechen. Jeder Leser und jede Leserin möge es einmal gedanklich für sich durchspielen, wie es sich anfühlt, einem Nachbarn respektvoll und höflich zu sagen: „Ich nehme wahr, dass sie sehr häufig alkoholisiert sind und ich mache mir Sorgen um das Wohl ihrer Kinder.“ Da hängt eine dicke Knotenschnur vor der Tür des Nachbarn.
Kinder aus suchtbelasteten Familien sind deshalb so schwer für Hilfeangebote zu erreichen, weil familiäre Suchtprobleme und die Auswirkungen auf Kinder wie ein doppeltes Tabu wirken. Die Familien verleugnen das Suchtproblem und schotten sich gegenüber Hilfeangeboten ab. Und die Umwelt wagt es meist nicht, in diese Festung der Verleugnung einzudringen. Die Kinder sind in der Geiselhaft der Sucht. Ca. 2,65 Millionen Kinder suchtkranker Eltern gibt es in Deutschland. Fast jedes sechste Kind kommt aus einer suchtbelasteten Familie, die weitaus meisten davon aus Familien mit Alkoholproblematik. Die Kinder leiden immens unter der Familiensituation, denn wo Sucht im Spiel ist, fehlen emotionale Zuwendung, Vertrauen und Zuverlässigkeit. Sie übernehmen viel Verantwortung für ihre Eltern und deren emotionale Bedürfnisse. So geraten sie in eine dauerhafte Überforderung durch die sogenannte Parentifizierung, bei der sie im Extremfall buchstäblich wie die Eltern ihrer Eltern agieren. Für Spiel und Spaß bleibt kaum noch Raum und Zeit. Die Folgen einer solcherart geraubten Kindheit sind gravierend. Etwa ein Drittel der Kinder wird im Erwachsenenleben selber stofflich abhängig. Ein weiteres Drittel entwickelt psychische oder soziale Störungen. Das letzte Drittel geht einigermaßen unbeschadet aus der belastenden Kindheitssituation hervor.
Dieses letzte Drittel ist bedeutsam, um zu verstehen, wie man Kinder aus Suchtfamilien unterstützen kann. Studien haben Schutzfaktoren identifiziert, die es den Kindern ermöglichen, sich trotz widriger Kindheitsumstände relativ gesund zu entwickeln. Der wichtigste Schutzfaktor ist das Vorhandensein einer tragenden Beziehung zu einer erwachsenen Vertrauensperson außerhalb der Kernfamilie. Für die Entwicklung von Kindern ist es wichtig, dass Erwachsene sie in ihren Emotionen, in ihrer Persönlichkeit und in ihren Fähigkeiten widerspiegeln. Wenn Eltern suchtkrank sind, dann ist der Spiegel, in dem sich das Kind betrachtet, blind. Zwar lieben suchtkranke Eltern ihre Kinder, sie sind jedoch suchtbedingt meist nicht in der Lage, ihnen zuverlässig und beständig die Zuwendung zu geben, die sie brauchen. Eine Oma, ein Onkel, Eltern von Spielfreunden, eine Erzieherin oder ein Lehrer können dem von Sucht im Elternhaus betroffenen Kind ein verlässliches Gegenüber sein. Es ist wichtig, dass sie emotional präsent sind, dem Kind zuhören und ihm das Gefühl vermitteln, liebenswert zu sein. Diese Erfahrung ist in ihrer Wirkung für Kinder aus Suchtfamilien von immenser Bedeutung.
Ein zweiter wichtiger Schutzfaktor ist die Einsicht, dass die Eltern an einer Krankheit leiden. In den meisten Fällen suchen die Kinder die Ursache für die Sucht und das Unglück der Eltern bei sich. Tiefsitzende Schuld- und Schamgefühle sind die Folge. Wenn Kinder das Vorhandensein von Suchtproblemen im Elternhaus ansprechen, ist es daher wichtig, dass Erwachsene ihnen Basisinformationen über Sucht vermitteln:
Sucht ist eine Krankheit.
-Die Eltern sind wegen ihrer Sucht keine schlechten Menschen.
-Das Kind hat keine Schuld am Suchtproblem von Vater oder Mutter.
-Es kann den Eltern nicht helfen und es ist auch nicht seine Aufgabe, deren Sucht zu kontrollieren oder zu heilen.
-Das Kind hat trotz der Suchtkrankheit im Elternhaus das Recht, Kind zu sein, zu spielen, die Welt zu entdecken, -Freundschaften zu entwickeln und die eigenen Fähigkeiten zu erproben.
Diese Einsichten entlasten Kinder, helfen Ihnen, Schuld- und Schamgefühle zu überwinden und stärken ihr Selbstwertgefühl. Wenn ihnen erklärt wird, was Sucht ist, hilft dies, Angst abzubauen, weil sie das Verhalten der Eltern dann einordnen können.
Kinder aus suchtbelasteten Familien sind sehr loyal gegenüber ihren Eltern und wollen sie schützen. Für die Arbeit mit diesen Kindern im Kontext von Kindergarten, Schule, sozialer Arbeit, Gesundheitswesen und Jugendarbeit ist es daher wichtig, nicht in Aktionismus zu verfallen, sobald ein Verdacht auf ein familiäres Suchtproblem besteht. Das Wichtigste ist, zunächst eine vertrauensvolle Beziehung zu dem Kind oder Jugendlichen herzustellen und zu pflegen. Das Kind sollte ermutigt werden, über seine Emotionen und Wahrnehmungen zu sprechen. Wird dem Kind aufmerksam zugehört und wird es in seinen Gefühlen ernst genommen, hilft ihm dies zu entdecken, dass seine Gefühle ganz normal sind und dass es in Ordnung ist, traurig, verwirrt oder wütend zu sein. Wenn genügend Vertrauen aufgebaut ist, kann es sein, dass das Kind das Suchtproblem von sich aus anspricht. Dann ist es hilfreich, dem Kind die aufgeführten entlastenden Informationen über Sucht zu vermitteln.
Grundsätzlich profitieren Kinder suchtkranker Eltern von allen Aktivitäten, die es ihnen ermöglichen, Kind zu sein, ihre Fähigkeiten und Talente zu entdecken sowie soziale Fertigkeiten zu entwickeln. Dafür brauchen sie einen Raum, in dem sie ausgelassen spielen können. Alles, was das Selbstbewusstsein stärkt, unterstützt die Kinder, ihr eigenes Leben zu gestalten. Gleichzeitig gilt es für sie zu verstehen, dass sie ihre Eltern lieben und sich gleichzeitig von deren Suchtproblem lösen dürfen.
Mit der richtigen Art von Unterstützung können die meisten Kinder mit den suchtbedingten Schwierigkeiten einigermaßen zurechtkommen. Sobald ein Kind Verhaltensauffälligkeiten zeigt, muss jedoch über eine therapeutische Unterstützung nachgedacht werden. Gibt es Anzeichen von Gewalt, Vernachlässigung oder Missbrauch, besteht die Pflicht, zum Schutz des Kindes tätig zu werden und in letzter Konsequenz auch das Jugendamt einzuschalten.
Eine besondere Untergruppe der Kinder aus suchtbelasteten Familien sind jene Kinder mit vorgeburtlicher Schädigung durch Alkohol.
Alkohol ist ein Zellteilungsgift. Wenn werdende Mütter Alkohol konsumieren, tritt dieser aus dem Blutkreislauf der Mutter in den des Embryos bzw. Fötus über. Insbesondere die Entwicklung des Gehirns wird durch den Alkohol negativ beeinflusst. Die Leber des ungeborenen Kindes ist in den ersten Monaten noch nicht in der Lage, eigenständig zu entgiften. So ist das Kind immer noch alkoholisiert, während die Mutter längst wieder nüchtern ist. Auf diese Weise kann das Zellteilungsgift Alkohol über lange Zeit schädigend auf den sich entwickelnden Organismus des Kindes einwirken.
Durch Alkohol während der Schwangerschaft kann ein ganzes Spektrum von Störungen verursacht werden, das unter dem Begriff FASD (Fetal Alcohol Spectrum Disorders) zusammengefasst wird. Fetale Alkoholspektrum-Störungen (FASD) zeigen sich in Form von Hirnfunktionsstörungen und Fehlbildungen beim ungeborenen Kind.
Wie das Farbspektrum eines Regenbogens reicht das FASD-Spektrum von der voll ausgeprägten Form des Fetalen Alkoholsyndroms (FAS) über das schwächer ausgeprägte Partielle Fetale Alkoholsyndrom (PFAS) und die alkoholbedingten Geburtsschäden (Alcohol Related Birth Defects, ARBD) bis hin zur äußerlich nicht sichtbaren Form der alkoholbedingten neurologischen Entwicklungsstörungen (Alcohol Related Neurodevelopmental Disorders, ARND). Die Übergänge zwischen den verschiedenen Formen sind fließend.
Zu den äußerlich sichtbaren Merkmalen bei FAS, und – schwächer ausgeprägt – bei PFAS und ARBD zählen Minderwuchs, Untergewichtigkeit und körperliche Missbildungen, insbesondere im Gesicht. Gravierender aber sind die unsichtbaren Schädigungen des zentralen Nervensystems. Sie äußern sich u. a. in kognitiven und intellektuellen Beeinträchtigungen. Es bestehen Sprachdefizite und soziale Defizite, Verhaltensauffälligkeiten sowie Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitäts-Störungen. Die Kinder können sich Informationen schlecht merken, neigen zu sozial unangemessenem Verhalten, haben Probleme, ihre Impulse zu kontrollieren, Handlungen zu planen und sind oft nicht in der Lage, mit abstrakten Konzepten wie z. B. Zeit oder Geld umzugehen.
Bei der äußerlich nicht sichtbaren Form ARND kann die Schädigung von Gehirn und zentralem Nervensystem genauso gravierend sein, die Diagnose ist jedoch wegen der fehlenden äußerlichen Merkmale erheblich schwieriger.
Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Mutter ein Kind mit FASD auf die Welt bringt, steigt mit der Menge und der Dauer des Alkoholkonsums. Es gibt keinen Schwellenwert für ungefährlichen Alkoholkonsum während der Schwangerschaft. Auch nichtsüchtige Schwangere, die im Rahmen des gesellschaftlichen Trinkens als normal angesehene Alkoholmengen konsumieren, können die Gesundheit ihres Kindes gefährden. Sogar ein nur einmaliger Vollrausch einer schwangeren Frau kann für das Kind gefährlich sein. Grundsätzlich sollte deshalb während der Schwangerschaft auf jeglichen Alkohol verzichtet werden. Umgekehrt gilt: Jeder Schwangerschaftstag ohne Alkohol erhöht die Chancen, ein Kind mit geringerer Schädigung zur Welt zu bringen.
Es liegen keine gesicherten Zahlen vor, wie viele Kinder jedes Jahr in Deutschland mit FASD geboren werden. Anhand europäischer Vergleichsstudien schätzen Expertem das Auftreten des Fetalen Alkoholsyndroms (FAS) in Deutschland auf 0,2 bis 8,2 Fälle pro 1000 Geburten. Die Inzidenz für alle Unterformen des FASD-Spektrums wird auf eine pro 100 Geburten geschätzt. Die Bundesdrogenbeauftragte geht für Deutschland aufgrund der hohen Dunkelziffer von jährlich 10.000 Neugeborenen mit FASD aus.
Fetale Alkoholspektrum-Störungen sind nicht heilbar. Die Entwicklung der Kinder kann jedoch durch Förderung und Unterstützung positiv beeinflusst werden. Die wichtigste Voraussetzung dafür ist, dass FASD zweifelsfrei diagnostiziert worden ist. Liegt die Diagnose vor, können die Kinder gezielt unterstützt werden, u. a. durch Logopädie, Ergotherapie und neuropsychologisch fundierte Psychotherapie. FASD-Kinder brauchen im Alltag eine gut strukturierte Umgebung, in der sie in ihrer Entwicklung unterstützt werden. Die wichtigste Hilfe und Unterstützung aber ist die Beziehung zu den Pflege- bzw. Adoptiveltern oder Heimerzieher/innen, die es den Kindern ermöglicht, eine sichere Bindung zu entwickeln und Liebe und Annahme zu finden.
Der Autor ist freier Journalist und Vorsitzender von NACOA Deutschland – Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien e. V.
Informationen über Kinder aus suchtbelasteten Familien:
www.traudich.nacoa.de
Informationen über Kinder mit FASD: