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TrokkenPresse 3-25: Eine Therapiegruppe nur für Frauen

Frau und Sucht heute, Teil 2:

Eine Therapiegruppe nur für Frauen

Weshalb immer mehr Frauen – in einem Jahrzehnt hat sich die Zahl verdoppelt – alkoholkrank werden, haben wir in der vergangenen Ausgabe dargestellt. Auch, dass da Unterschiede zu den Männern sind, zum Beispiel im Trinkverhalten, in den Trink“gründen“, stark abhängig von der Rolle der Frau in der Gesellschaft. Inzwischen gibt es deshalb bereits so einige Fachkliniken (s. S. XX) speziell für Frauen oder es werden reine Bezugsgruppen nur für Frauen angeboten. Wie zum Beispiel auch in der Hartmut-Spittler-Fachklinik für Entwöhnungstherapie in Berlin. Suchttherapeutin Jutta Lammers im TrokkenPresse-Gespräch …

Wenn ich jetzt einen Therapieplatz für mich suchen würde … wann würden Sie mir Ihre Frauen-Bezugsgruppe empfehlen?

Wenn Sie mir erzählen, dass Sie in ihrem Leben Erfahrungen gemacht haben, die auf Gewalt oder Missbrauch hindeuten oder wenn ich es aus Vorbefunden entnehmen kann. Oder wenn im Vorgespräch deutlich ist, dass das Thema Gewalterfahrungen stark abgewehrt wird (Schweigen, „möchte nicht darüber reden“), weil diese Erfahrungen sehr schambesetzt sind. Mit Männern in einer Gruppe zu sein und dort über sich sprechen zu müssen, ist ja dann fast unmöglich. Obwohl es natürlich auch traumatisierte Männer gibt, die Gewalt und Missbrauch erlebt haben. Wir denken, dass sich Frauen untereinander besser öffnen können, wenn ähnliche Erfahrungen des Gefühls von Machtlosigkeit/Ohnmacht gemacht wurden. Das ist ja ein Therapieziel, zu sprechen und offen mit dem umzugehen, was einen bewegt. Es gibt auch Frauen, die sagen schon gleich von selbst, dass sie nicht mit Männern in eine Gruppe wollen, das muss man dann auch hören, ohne erstmal Genaueres zu wissen.

Was erwartet mich, was ist anders als in einer gemischtgeschlechtlichen Gruppe?

Das ist mannigfaltig. In psychotherapeutischen Gruppen geht es um das Sprechen, um das Sich-mitteilen. Und Frauen, unabhängig davon, ob Männer dabei sind oder nicht, haben oft erstmal Schwierigkeiten, sich untereinander zu öffnen. Es ist eine essenzielle Erfahrung, die diese Menschen gemacht haben – wie viele, die eine Suchterkrankung entwickelt haben –, dass man eben nicht vertrauen kann. Erst nach einer gewissen Zeit, wenn sich alle gesehen fühlen voneinander, entwickeln Betroffene Vertrauen um sich anderen gegenüber zu öffnen.

Woher kommt diese Erfahrung zum Beispiel?

Sie ist oft auf die Kindheit zurückzuführen, also zum Beispiel durch Mütter, die nicht sich gut gekümmert haben oder es nicht konnten … es ist so eine Generationsschleife, auch deren Mütter haben es oft nicht gutgehabt und konnten dann nicht entsprechend auf die Kinder eingehen. Väter, abwesende, suchtkranke, gewalttätige oder auch missbrauchende, sind nicht selten in den Biografien vorhanden. Und diese frühe Erfahrung setzt sich dann u. U. fort mit aktuellen Beziehungen. Viele Frauen, die Gewalt erlebt haben, haben dann in der Wiederholungsschleife Männer, die ihnen Gewalt antun. Ein stabiles Selbstwertgefühl konnte sich im Laufe der Entwicklung nicht ausbilden und offenbar entsteht das Narrativ: Ich habe es gar nicht anders verdient!

Was wir hier erreichen wollen, ist, dass das Vertrauen in die Gemeinschaft, in die Menschen langsam wieder aufgebaut wird, aber das ist nicht einfach in der Kürze der Rehabilitationszeit. Aber ein Anfang vielleicht.

Manchmal kann man sich ganz schön wundern, wie sehr Frauen untereinander in therapeutischen Gruppen ins Schweigen kommen. Das hat seine Gründe, psychotherapeutisch gesehen, aber es ist immer auf fehlendes Vertrauen zurückzuführen. Man kann dem Menschlichen nicht vertrauen. Der Flasche oder anderen Suchtmitteln ja, sie sind jederzeit verfügbar, immer zur Stelle. Das reale Leben mit realen Menschen als sicher und wertvoll zu erfahren, braucht seine Zeit.

Welche Themen haben Frauen noch gemeinsam?

So einige, meistens jene, die sie ähnlich durchlebt haben. Oft sind es traumatische Erlebnisse aus der erinnerten Kindheit und Jugend. Ein häufiges Thema – aber das ist in anderen gemischten Gruppen auch nicht anders – ist all jenes, was Betroffene durch die Suchterkrankung verloren haben, Beziehungen, Arbeit, Wohnraum … bei Frauen aber ganz besonders ihre Kinder, die u. U. in Pflegefamilien gegeben wurden oder dass Kinder Beeinträchtigungen aufweisen, weil die Mutter vielleicht in der Schwangerschaft konsumiert hat. Wir haben hier oft Mütter, die häufig mit den Jugendämtern in Kontakte standen. Und viele Frauen sind durch Trennungen alleinerziehend oder „stecken“ immer noch in unheilvollen Beziehungen, wo der Partner noch konsumiert. Ein Wichtiges Thema ist häufig Selbstunsicherheit – auch in Bezug auf Weiblichkeit und Sexualität. Essstörungen und Konsumstörung sind nicht selten Themen, die gemeinsam sind, jedoch lieber im Einzelgespräch angesprochen werden.

Sind auch Schuldgefühle gegenüber den Kindern ein gemeinsames Thema?

Ja, das ist ein Riesenthema. Viele fühlen sich schuldig, sich nicht gut genug gekümmert zu haben, weil die Sucht wichtiger war. Das ist für die Mütter selbst ganz unverständlich: „Ich liebe meine Kinder doch, warum konsumiere ich trotzdem?“ Diese Verzweiflung darüber ist sehr spürbar! Aber an uns liegt es, immer wieder zu vermitteln, dass es eine chronische Erkrankung ist, die wieder mal durchbrechen kann, aber dass es möglich ist, schon vorher die Notbremse zu ziehen. Auf die inneren Signale zu achten lernt man bereits in den ersten Wochen der Rehabilitation. Rückfallpräventionstraining, Achtsamkeit und vor allem immer wieder Sprechen dienen hierzu, sich immer besser zu sensibilisieren. Wieviel Stress, innere Anspannung, Konflikte, Überforderungsgefühle kann ich aushalten? Hier muss die individuelle Dosis erst herausgefunden werden, da ist jeder unterschiedlich. Nicht zu viel, nicht zu wenig – in der Mitte lässt es sich ganz gut einrichten.

Es gilt auch zu vermitteln, sich über Schuld und Scham hinwegzusetzen und stattdessen die Verantwortung für sich zu übernehmen. Schuld und Scham sind „Verführer“ des Rückfalls.

Die Krankheit an sich beschämt Betroffene natürlich auch, weil die Sucht in der Öffentlichkeit immer noch auf wenig Verständnis stößt. In der „Hierarchie der Erkrankungen“ scheinen Herzinfarkt oder Diabetes „nicht selbst verschuldet“. Es sind aber eben alles Erkrankungen und die Konsumstörung ist sogar eine todbringende, wenn man sich nicht für die Abstinenz entscheidet.

Welches Thema eint Frauen noch?

Der Raubbau mit dem eigenen Körper, auch außerhalb der Sucht. Ich erwähnte bereits das Thema Essstörung, aber auch Selbstverletzungen spielt eine Rolle. Wie gesagt, viele habe sich im Konsum gar nicht mehr um sich gekümmert. Weder um ihre Gesundheit noch um die äußere Erscheinung. Es ist schön, zu sehen, wie sich das wieder verändert im Laufe der Therapie. Seien es Kleidung, Frisur oder Schminke. Oft zeigt sich schon hierüber, dass sich auch im Inneren etwas bewegt …

Manche haben Versorgungsansprüche: In der Konsumzeit habe sich viele Frauen wenig um sich kümmern können, im Rausch war nichts dringend oder drängend (allenfalls noch die Bedürfnisse andere zu stillen). Im abstinenten Leben wird nun wieder das Bewusstsein über die Eigenverantwortung stärker. Das erleben viele Frauen als Überforderung.

Versorgungsansprüche – was ist damit gemeint?

Wenn Frauen zum Beispiel ihre Wohnung verloren haben oder lange nicht zum Arzt gegangen sind, dann ist der Anspruch, dass wir das hier alles regeln, relativ groß. Aber das ist nicht nur frauenspezifisch. Da muss man manchmal ausbremsen und sagen, zum Amt müssen Sie alleine gehen, ich kann Ihnen sagen, wohin sie müssen. Wir helfen im Sinne der Eigenverantwortung, wegweisend. Das fällt vielen schwer, man muss Dinge tun, Verantwortung übernehmen, selber aktiv werden. Aber das Gefühl, wenn es gemacht ist, ist unverwechselbar schön: Ich habe das alleine geschafft. Selbstbestimmt Verantwortung für sich zu übernehmen fällt vielen Frauen schwer, weil dieses Sich-um-andere-kümmern so ausgeprägt ist. Man kümmert sich, so gut es geht auch unter Alkohol, um die Kinder, dass sie zur Schule kommen, kocht ihnen Essen unter Alkohol, versorgt andere … dabei geht man selbst mit dem Suchtmittel immer mehr baden. Dieses Gefühl, ich muss etwas für mich tun, ist schlecht ausgeprägt.

Warum wenden sich Frauen den Suchtmitteln zu, warum Männer, ist da ein Unterschied?

Nein, das ist individuell. Bei Sucht geht es immer darum, irgendetwas im Inneren besser aushalten zu können. Die Frage ist, was muss ausgehalten werden? Welche Funktion hat das Suchtmittel? Das kann bei Männern und Frauen etwas Ähnliches sein. Ein Beispiel: Sie hat mit 16 angefangen zu konsumieren, weil sie gemerkt hat, wenn sie konsumiert, fühlt sie sich cooler und selbstsicherer. Es fängt oft erstmal so an wie bei allen anderen. Das Selbstwertgefühl wird gestärkt oder es wird etwas beruhigt, für das man keine Worte hat. Nur dass es dann ausufern kann bei den Menschen, die eine Vulnerabilität haben, suchtkrank zu werden. Bei ihnen liegt dann offenbar noch etwas zugrunde, was man im Laufe der Therapie diagnostizieren wird. Unterschiedliche Persönlichkeitsstörungen sind oft die Ursache dafür, dass man sich nicht richtig geerdet fühlt in dieser Welt, das Sich-selbst-aushalten in der Welt scheint mit dem Suchmittel viel besser zu gelingen. Oft hat in solchen Fällen die bedürfnisorientiere Versorgung in der Kindheit gefehlt, Beachtung, Fürsorge. Und das setzt sich natürlich fort im Leben.

Gibt es während der Therapie auch um Themen wie Trauma oder Angststörung?

Wir sind eine Rehabilitationseinrichtung, vom Rentenversicherer oder auch den Krankenkassen finanziert, es geht darum, eventuell wieder in den Berufsalltag zurückkehren zu können. Das Augenmerk ist sehr auf soziales Erproben mit anderen gerichtet, denn das ist ja auch auf der Strecke geblieben. Es geht darum, Ressourcen herauszufinden und zu aktivieren, sich zu erproben. Das soll den Menschen im besten Fall befähigen, wenn sie entlassen sind und abstinent bleiben, dass ihr Leben besser funktioniert. Trauma und alles, was früher „gelaufen“ ist, hat einen Platz, meistens verankert im Einzelgespräch oder auch in der Bezugsgruppe. Aber wenn wir beispielsweise sehen, da hat jemand Anzeichen einer posttraumatische Belastungsstörung, oder es werden traumatische Erinnerungen berichtet, haben wir eine spezielle Gruppe, die therapeutisch begleitet wird. In unserer Gruppe „Sicherheit finden“ für Frauen und Männer wird in mehreren Gruppensitzungen erarbeitet, sich insgesamt in Achtsamkeit zu üben, eigenen Gefühle zu benennen und sich besser zu verstehen. Für manche ist es das erste Mal, dass sie sich mit ihrem inneren Erleben verstanden fühlen.

Selbstverständlich werden auch alle anderen seelischen Befindlichkeiten wie Angst, Trauer und Leere in der Therapie berücksichtigt. Die Konsumstörung steht meist nie allein, sondern die Selbstmedikation des Darunterliegenden.

Ist eigentlich auch der Umgangston in der Frauengruppe anders?

Das ist unterschiedlich. Ich habe viele Jahre in einer Männergruppe gearbeitet. Da war es etwas lauter, stimmt, es durfte auch mal lustig sein, es war oft sehr angeregt. Aber auch Männer können verharren in Schweigen, „dicht machen“. Auch Aggressivität liegt manchmal in der Luft. Aber auch Frauen können sehr aggressiv sein oder auch mal laut streiten. Schweigen kann auch eine Form der Aggressivität sein.

Insgesamt würde ich sagen, dass Frauen sehr liebevoll miteinander sein können, aber auch sehr „hart

Ich dachte wirklich, es gibt mehr und größere Unterschiede, aber das haben sie jetzt relativiert …?

Das Selbstwertgefühl und die Selbstsicherheit eines kleinen Jungen oder eines kleinen Mädchens kann gleichermaßen zerstört werden. Der Umgang damit kann dann natürlich ein unterschiedlicher werden … Wir haben hier die Aufgabe, die Frauen zu schützen, schon, weil sie rein körperlich oft das schwächere Geschlecht sind. Aber es gibt auch Männer, die seelisch sehr verwundet sind. Was die Motivation zu konsumieren angeht: die Funktion des Suchtmittels ähnelt sich immer wieder bei diversen Geschlechtern.

Bei der Suchterkrankung kann man davon ausgehen, dass die Defizite darin bestehen, sich selber in dieser Welt nicht gut auszuhalten. Was ist die Funktion des Suchtmittels? Wenn wir das fragen, sind wir ganz schnell beim Menschen, nicht beim Geschlecht.

Für das Gespräch bedankt sich: Anja Wilhelm