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Titelthema 2/2014: Alkoholismus – Krankheit oder schuldhaftes Verhalten?

Alkoholismus: Krankheit oder schuldhaftes Verhalten?
Suchtbedingte Schuldgefühle und ihre fatalen Wirkungen im Krankheitsverlauf


Obwohl die Abhängigkeitserkrankung bereits seit 45 Jahren von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und für Deutschland anschließend vom Bundessozialgericht als behandlungswürdige Krankheit anerkannt ist, gehört sie bis heute zu den rätselhaftesten Erkrankungen, die wir kennen. Es ist schon merkwürdig, dass jemand– wider besseres Wissen und häufig ohne ihr Einhalt gebieten zu können – von einem „chemischen Stoff “ abhängig werden kann. Dass sich sukzessive und zunächst oft unbemerkt eine psychische und physische Abhängigkeit entwickelt, die alle Lebensvollzüge – die eigenen und die des gesamten Umfeldes – betrifft. Und die zweite Merkwürdigkeit besteht darin, dass bei kaum einer anderen Krankheit so häufig und so hartnäckig nach Schuld oder wenigstens Mitschuld gefragt wird wie bei der Abhängigkeitserkrankung – und hier besonders bei Alkoholismus. Und diese Schuldfrage stellt sich nicht nur allein der Erkrankte, sondern ebenso sein Umfeld: die Angehörigen, die Kollegen und Freunde, die Nachbarn.

Die Frage der „Schuld“ ist eine schwierige Frage und eine heikle dazu!

Symptomatik

Kranke stellen sich oft die Frage: Warum gerade ich? Warum bin ausgerechnet ich krank geworden? Warum hat es ausgerechnet meinen Partner „erwischt“ – und nicht den oder die andere? Die haben doch auch getrunken und nicht mal wenig! Und schon stellen sich mehr oder weniger heftig Schuldgefühle ein. Suchtkranken wird oft genug eine sogenannte Willensschwäche zugeschrieben, so als seien sie unmotiviert und „unwillig“, das nächste Glas stehen zu lassen. Reicht demzufolge ein ausreichend starker Wille aus? Fehlt es daran tatsächlich? Ist diese „Willensschwäche“ dafür verantwortlich, dass es so lange gedauert hat, bis Hilfe angenommen werden konnte? Oder für den Rückfall? Die Abhängigkeitskrankheit ist ein „multifaktorielles“, „multikausales“ Geschehen, d.h.: Die Abhängigkeitskrankheit entsteht dann – und erst dann –, wenn mehrere Faktoren, mehrere Ursachen zusammentreffen. Die Neurobiologie beispielsweise hat schon vor Jahren darüber aufgeklärt, dass es einer bestimmten Stoffwechseldisposition bedarf, die für die Entstehung einer körperlichen Abhängigkeit verantwortlich ist. Seelische, soziale und manchmal auch religiös-weltanschaulich deutbare Teilursachen kommen hinzu.
Und als Folge einer bereits entstandenen Abhängigkeit weisen bestimmte Symptome auf die Krankheit hin. Kontrollverlust oder Abstinenzunfähigkeit sind untrügliche Anzeichen, die den Alkoholkranken vom missbräuchlichen Konsumenten unterscheiden.
Es gibt eine ganze Reihe von Symptomen, die direkt oder indirekt auf „Schuldgefühle“ hinweisen: Schuldgefühle wegen der Trinkart oder ein dauerndes Schuldgefühl, das in sich wieder Anlass zum Weitertrinken ist. Indirekt deuten Symptome wie heimliches Trinken, Alkoholausreden oder auch Phasen freiwilliger Abstinenz auf Schuldgefühle hin, denn weshalb sollte jemand heimlich trinken, wenn er nicht ein schlechtes Gewissen hätte?

Es lohnt sich, Schuldgefühle in Gefühle des Bedauerns zu verwandeln!

Sie werden

– sich körperlich besser fühlen;
– ihrer Gesundheit förderliche Verhaltensweisen an den Tag legen können;
– ihre Fehler offen bekennen können und zu ihnen stehen;
– andere Menschen eher mit ihren Fehlern akzeptieren können;
– die Verantwortung für ihr Verhalten übernehmen und es analysieren können;
– ihre Energien darauf verwenden können, den Fehler zu korrigieren und in Zukunft zu vermeiden;
– Selbstachtung und Selbstvertrauen verspüren;
– unabhängiger von den Normen und Erwartungen anderer sein;
– eigene Bedürfnisse eher berücksichtigen können und
– sorgfältig abwägen, welche anderen Faktoren außer ihrem Verhalten zu der Situation beigetragen haben und nicht die Verant wortung für das Fehlverhalten anderer übernehmen oder unglückliche Umstände verantwortlich machen. (Quelle: 6. Konferenz der sächsischen Suchtselbsthilfe, 9.11.13)

Schuldgefühle stellen ein sehr markantes Zeichen für eine vorliegende Abhängigkeitserkrankung dar. „Schuldgefühle“ sind symptomatisch. Ähnlich wie Fieber auf das Vorliegen einer Infektion hinweisen kann, so können Schuldgefühle auf das Vorliegen von Abhängigkeit hinweisen. Diese Schuldempfindungen werden gleichwohl von verschiedenen Menschen unterschiedlich belastend erlebt. Menschen mit hohen moralischen Idealen beispielsweise leiden stärker als andere. Menschen, die zwar viel trinken, aber nicht abhängig sind, werden solche Empfindungen von Schuld und Versagen eher nicht kennen.

Schuld und Schuldgefühle sind nicht immer dasselbe

Wie kommt es aber zu solchen Empfindungen? Warum und wodurch entstehen Schuldgefühle? Und welche Rollen spielen sie im Krankheitsverlauf?
Wir müssen zu unterscheiden lernen zwischen „Schuld“ und „Schuldgefühlen“. Das mag ungewöhnlich scheinen. Bei anderen Empfindungen tun wir das für gewöhnlich doch auch nicht: Wenn jemand Angst oder Trauergefühle zeigt, dann fragen wir doch auch nicht danach, ob er sich tatsächlich ängstigt oder trauert. Er wird allen Grund haben, so und nicht anders zu empfinden, Angst zu haben oder traurig zu sein.
Was meint eigentlich „Schuld“? Einen Menschen kann man dann für eine Tat verantwortlich machen, wenn er in seiner Entscheidung und seinem Willen frei ist. Freiheit ist somit Voraussetzung für Verantwortung und Schuldfähigkeit. Schuldfähigkeit ihrerseits kann nur dann vorliegen, wenn Bedingungen erfüllt sind: Wenn ich erstens etwas Falsches tue, zweitens weiß, dass das, was ich tue, falsch ist und drittens das als falsch Erkannte dennoch vorsätzlich, willentlich tue.
Ist auch nur eine dieser drei Bedingungen nicht erfüllt, kann keine echte Schuld zustande kommen; ist auch nur eine dieser Bedingungen eingeschränkt, so kann auch nur eine eingeschränkte     Schuldfähigkeit zustande kommen. Diese, wenn auch arg schematisierte, Auflistung stellt die Grundlage unserer Rechtsprechung wie auch unseres natürlichen Gerechtigkeitsempfindens dar.
Ein Beispiel veranschaulicht den kompliziert klingenden Sachverhalt: Jemandem, dem es trotz größten Bemühens und Einsatzes seines eigenen Lebens nicht gelungen ist, einen Ertrinkenden zu retten, werden wir in der Regel für seinen Misserfolg nicht verantwortlich machen. Im Gegenteil: Er verdient unsere uneingeschränkte Anerkennung, denn die moralische Bewertung eines Men- schen und seines Charakters hängt allein von der sittlichen Qualität seiner Handlungsmotive ab, nicht aber vom Erfolg oder Misserfolg seiner Bemühungen.
Auch wenn, wie das Beispiel zeigt, möglicherweise überhaupt keine Schuld im eigentlichen Sinne vorliegt, so lässt sich parallel dazu – und das klingt zunächst paradox – vorstellen, dass der hilflose Retter auf Grund des Scheiterns seiner Handlung dennoch persönliche Schuld und Versagensgefühle empfindet.
Viele Suchtkranke und sogar ihre Angehörigen leiden oft langjährig unter Schuld-, Scham- und Versagensgefühlen. Fast zeitgleich und in einem Atemzug werden solche Schuldgefühle aber – und das kann sich fatal auswirken – mit echter tatsächlicher Schuld gleichgesetzt.

Die drei Bedingungen für „Schuld“ greifen zumindest bei einem Menschen, der abhängigkeitskrank ist, kaum. Natürlich ist vieles geschehen, was hätte nicht geschehen sollen. Da wurde verletzt, betrogen, gelogen. Da ist vieles falsch gelaufen, was hätte anders oder besser laufen sollen. Insofern ist die erste Voraussetzung für das Zustandekommen von Schuld sicherlich gegeben.
Aber wie ist das mit den anderen beiden? Mit der Erkenntnis und dem Vorsatz, dem freien Willen? Es gab zumindest Zeiten oder Situationen, da war die Erkenntnisfähigkeit wenigstens stark eingeschränkt. Nicht nur nach sogenannten „Filmrissen“.
Und der Vorsatz, der freie Wille? Es ist doch die Besonderheit, dass dem Abhängigkeitskranken die Willensfreiheit und damit die Kontroll- und Entscheidungsmöglichkeit im Hinblick auf seinen Umgang mit dem Suchtmittel abhanden gekommen ist. Das unterscheidet ihn doch gerade von anderen, die zwar zu viel und zu oft trinken, aber nicht abhängig sind. Sie haben immer noch die reale Möglichkeit der Selbstkontrolle, die dem Abhängigkeitskranken fehlt.
Wenn dies aber so ist, wie steht es dann um seine „Schuldfähigkeit“? Es ist geradezu eine logische Gleichung, dem Abhängigkeitskranken eine eingeschränkte, vielleicht sogar fehlende Schuldfähigkeit zu testieren.
Und jetzt? Vielleicht regt sich Protest. In der Tat geschieht jetzt etwas sehr Merkwürdiges: Viele Suchtkranke, denen ich während ihrer (stationären) Therapiephase begegnet bin, haben sich an dieser Stelle aufgeregt und in der Tat protestiert.„Ich soll nicht schuldig geworden sein? Wer sonst? Ich war es doch, der all die schlimmen Dinge angerichtet hat. Nicht mein Partner, nicht meine Kinder, nicht meine Kollegen!“
Das Eingeständnis „Ich bin alkoholkrank“ wirkt tatsächlich bei den meisten Menschen nicht entlastend, im Gegenteil. Es wirkt „billig“, wie eine „billige Entschuldigung“.

Schuldgefühle und ihre Funktion im Suchtgeschehen

Die Schuldgefühle des Abhängigkeitskranken sind krankheitsbedingt; sie sind also Folgen oder Symptome der Krankheit. Ähnlich etwa dem Fieber bei Infektionskrankheiten sind die Schuldgefühle Phänomene, die eine bereits in Gang gekommene Abhängigkeit von einem Suchtmittel kennzeichnen. Immer erlebt der Abhängige nicht die Abhängigkeit selbst im Vordergrund, sondern z. B. den Alkoholmissbrauch, dem er seine ganze Kraft und Willensanstrengung entgegenstellt. In den Schuldgefühlen spürt er deren Auswirkungen und deutet jedes Versagen im nicht mehr kontrollierbaren Umgang mit Alkohol als persönliches Scheitern, als selbstverschuldete Tragödie und Katastrophe.

Alkoholismus jedoch – und das ist gerade die Katastrophe oder Tragödie – verhindert ein Zustandekommen von objektiv anklagbarer echter Schuld. Und obschon das so ist, wird der alkoholkranke Mensch von zermürbenden Schuldgefühlen geplagt, die auf seine Trinkart sowie auf allen Geschehnissen und Folgen basieren, die damit direkt oder indirekt zusammenhängen:   alkoholbedingte psychische und physische Defekte und Defizite, Störungen des Familienlebens, Berufsprobleme, soziale Schwierigkeiten aller Art, selbst Unwertgefühle sowie   Verfallserscheinungen des eigenen Normen- und Wertegebäudes. Dennoch weisen diese symptomatischen Schuldgefühle als Phänomene einer bereits bestehenden Alkoholabhängigkeit   paradoxerweise darauf hin, dass gerade keine Schuld vorliegt, sondern Abhängigkeit.

Die Frage, die sich stellt, ist die nach der Berechtigung und Funktion solcher Schuldgefühle im Krankheitsverlauf. Warum fühlt der alkoholkranke Mensch sich schuldig? Müsste die Erkenntnis, auf Grund seiner Krankheit objektiv ja nicht frei und verantwortlich, schuldhaft handeln zu können und sich entscheiden zu können, ihn nicht ungemein beruhigen und entlasten? Warum empfin- det der Alkoholiker eine solche Aufklärung über seine reale Situation meist als „billig“ und nicht als hilfreiche Geste? Warum setzt er sich dagegen häufig so massiv zur Wehr?

Es scheint zutreffend zu sein, dass dem Menschen die Akzeptanz einer noch so schweren tatsächlichen Schuld leichter zu fallen scheint, als sich als abhängig und damit eingeschränkt oder überhaupt nicht mehr schuldfähig zu akzeptieren. Im Innersten spürt er, dass er in der Schuld – und sei sie noch so groß – immer noch der sich frei entscheidend Handelnde ist. Er kann für das, was er angerichtet hat, gerade stehen und hängt nicht an einem toten Ding, das ihn beherrscht.

Die Abhängigkeit von einem Suchtmittel zu erkennen, anzunehmen und schließlich die nötigen Konsequenzen daraus zu ziehen – z. B. eine Therapie zu beginnen oder eine Selbsthilfegruppe aufzusuchen –, bedeutet den Verzicht auf jegliches maskenhafte Verhalten, die Aufgabe des Kampfes, der Stärkere sein zu wollen, die Kapitulation vor dem Suchtmittel, das sich in völliger Umkehrung der natürlichen Ordnung als stärker erwiesen hat. Geradezu unbewusst, instinkthaft und intuitiv wehrt der Mensch sich gegen die Vorstellung, suchtmittelabhängig – geworden – zu sein.

Eine vom christlichen Menschenbild ausgehende Überlegung kann nun seine weitere Verständnishilfe dafür sein, was es für einen Menschen bedeuten muss, in Unfreiheit und Abhängigkeit von einem toten Stoff (wie z. B. Alkohol) zu geraten.

Verhängnisvoller Rollentausch

In der Suchterkrankung erfolgt eine Umkehrung des Existenzgrundes des Menschen. Es ereignet sich langsam und unmerklich ein verhängnisvoller Rollentausch: Von Natur aus, vom Schöpfer so gewollt, ist der Mensch Herr der Dinge und der gesamten übrigen Schöpfung. Er darf teilhaben an der Schöpfermacht Gottes, indem dieser ihn über die übrige Schöpfung gestellt hat (vgl.Gen1, 28). Der Mensch kann die Dinge erkennen und zu seinem Gebrauch nutzen oder sie auch missbrauchen, denn auch das gehört zu seiner Freiheit. In jedem Fall aber ist der Mensch das Subjekt, das „über den Dingen steht“. Freiheit, Verantwortlichkeit und Selbstbestimmung gehören zu seinem Wesen und verleihen ihm Menschenwürde und Humanität. Die Mitte der

 Reale Schuld – irreale Schuldgefühle

Reale Schuld Irreale Schuldgefühle
Ergebnis der Prüfung tatsächlicher Verantwor tung„Ich habe einen Fehler gemacht und mich wider besseresWissen falsch verhalten.“ Quälende Last, die im Vergleich zur tatsächlichenVerantwortung riesig ist, Gedanken drehen sich im Kreis, beziehen sich nicht auf Tat /Handlung, sondern auf Person, Ausdruck zu hoher Ansprüche an sich selbstIllusion der „heilen“ Familie
Setzt Fähigkeit zur Einsicht und Freiheit der Entscheidung voraus Unbewusste Anmaßung, für alles verantwortlich zu sein
Lässt aktiv werden im Sinne von Wiedergutmachung, Vermeiden des Fehlers in der Zukunft Lähmen. Können gesamte Energie aufbrauchen und verhindern Entwicklung

Quelle: s.o.

menschlichen   Persönlichkeit stellt deshalb auch die daraus resultierende Schuldfähigkeit dar.
Auch wenn somit jede Freiheitsgeschichte des Menschen zugleich die Geschichte seiner Schuld und seines Versagens ist, so wird ihm doch gerade dadurch die Menschenwürde verliehen, die in der Entscheidungs-, Willens- und Handlungsfreiheit grundgelegt ist.

In der Suchterkrankung verliert der Mensch (wenigstens partiell) diese, seine ihm wesenhaft und wesentlich eigene Rolle, Subjekt zu sein. Er wird zum Objekt der Dinge, des Suchtmittels; er steht nicht mehr über den Dingen, damit auch nicht mehr über dem Suchtmittel, sondern ist abhängig. Entgegen seinem Willen wird er zum Sklaven z. B. des Alkohols und verliert mehr und mehr seine Freiheit. Aus einem vorher handlungsfreien Menschen wird so nach und nach eine abhängige, unfreie Marionette, die vom Suchtmittel geführt wird. Statt initiativ agieren zu können, kann er nur noch reagieren. Statt sich frei zu entscheiden, ist er gezwungen, sich – zuletzt fast pausenlos – gegen seine Entscheidung zu verhalten. Der Wille und Vorsatz „Ich höre auf, zu trinken.“ ist sicherlich durchweg ernst gemeint, jedoch auf Grund der Krankheit „Alkoholismus“ nicht mehr zu verwirklichen. Dieser suchtbedingte Rollentausch trifft den Menschen so tief in seiner Personenmitte, dass ihm ein wesentlicher Teil seiner Menschenwürde genommen wird, der Teil nämlich, der in der Entscheidungsfreiheit wurzelt.

Eine unausrottbare Sehnsucht nach der Realisierung seines Wesens und seiner Selbstverwirklichung und Erfüllung ist im Menschen lebendig, und er wehrt sich intuitiv gegen alles, was seinem Wesen und seiner Bestimmung widerspricht. Die Schuldgefühle des Alkoholikers stellen eine solche unbewusste und fast reflexartige Abwehrreaktion gegen die durch seine Sucht erfolgte Fremdbestimmung dar. Dieses wichtige Kriterium im Hinblick auf Rolle und Funktion der krankheitsbedingten Schuldgefühle beim Alkoholiker wird durch Folgendes noch plastischer und anschaulicher: Solange ein Mensch sich schuldig fühlt und sich selbst anklagt, geht er subjektiv davon aus, dass er für alles, was geschieht und geschehen ist, die volle Verantwortung übernehmen kann, alles im Griff hat. Die Möglichkeit eines kontrollierten Umgangs mit Alkohol scheint ihm immer noch praktikabel und möglich zu sein. Seine Alkoholausreden und die freiwillig auferlegten Abstinenzphasen bestärken ihn in dieser irrigen Meinung. Er braucht ja nicht zu trinken!

Zugleich verhindern seine Schuldgefühle jedoch das fatale und „erlösende“ Eingeständnis des Trugschlusses, abhängigkeitskrank zu sein. Sie ersparen ihm, sich selbst als Marionette sehen und akzeptieren zu müssen. Das bedeutet für einen Alkoholiker, dass ihm seine Schuldgefühle vorgaukeln, er sei gar nicht abhängig; er sei vielmehr im Umgang mit dem Alkohol noch frei, hätte das Trinken noch im Griff und unter Kontrolle. Es liegt auf der Hand, dass gerade die Schuldgefühle und das daraus resultierende ständige Bemühen, im Umgang mit dem Alkohol klar zu kommen, nicht zu versagen, bei der Gewinnung der Krankheitseinsicht, die zu einer Behandlungsbereitschaft Voraussetzung ist, hinderlich sind.

In dem Moment jedoch, wenn es einem Suchtkranken gelingt, diesen raffinierten Mechanismus von Schuldgefühlen und ihrer Funktion im Rahmen seiner Krankheit zu durchschauen, wird er auch für Hilfe offen werden. Ganz allmählich wird er wieder in die Lage kommen, frei und selbstverantwortlich leben zu können. Er wird verstehen lernen, dass paradoxerweise gerade seine Schuldgefühle es sind, die ihm etwas vorgaukeln, was längst nicht mehr existiert: Entscheidungsfreiheit und Schuldfähigkeit nämlich.

Die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit der beschriebenen Problematik kann dazu verhelfen, eine vorschnelle und in sich falsche moralische Bewertung des Suchtkranken und seiner Krankheit zugunsten eines besseren Verständnisses seiner Situation und Lebenslage zu unterlassen. Akzeptieren wir Alkoholismus als Krankheit im Vollsinn des Wortes, dann darf moralisches Werten und Urteilen nicht zum Hauptindiz für den Menschen werden, der in irgendeiner Weise von ihr betroffen ist – gleich ob als Suchtkranker oder als Angehöriger.

Gleichwohl: die beschriebene Problematik ist in erster Linie auf Menschen zugeschnitten, die sich noch auf dem Weg der Selbstfindung bewegen, die ihre eigene Problematik noch nicht akzeptiert haben. Oft genug habe ich miterleben dürfen, wie dieser Zugang – anfangs oft schmerzhaft und mühsam und von Widerständen begleitet – doch letztendlich hilfreich und befreiend war.

Heinz Josef Janßen, Bundesgeschäftsführer

Kreuzbund e.V., Hamm

(Leicht gekürzter Vortrag auf der 6. Konferenz der sächsischen Suchtselbsthilfe am 9. November 2013. http://www.suchthilfe-sachsen.de)