Das Rätsel Rückfall
Was weiß man und was weiß man nicht
Johannes Lindenmeyer
Auch bei aufwändigen Behandlungen wird bis heute etwas mehr als die Hälfte der Suchtkranken früher oder später leider wieder rückfällig. Verständlicherweise stellt ein Rückfall eine große Enttäuschung und Frustration für den Betroffenen, aber auch für seine Angehörigen und seine Behandler dar:
Warum nur hat er nach erfolgreicher Abstinenz wieder angefangen? Entsprechend wurde und wird über die Entstehung von Rückfällen viel geschrieben und viel gemutmaßt. Es gibt viele Rückfall-Ideen und -Modelle, vieles davon klingt plausibel, aber nur wenig hält einer wissenschaftlichen Überprüfung stand. Selbst das berühmte Rückfallmodell von Marlatt, das bis heute die Grundlage der meisten Behandlungsansätze im Suchtbereich darstellt, konnte in vieler Hinsicht empirisch nicht zweifelsfrei bestätigt werden. Und so schlägt dann immer wieder die Stunde der großen Vereinfacher, die mit modischen Schlagwörtern wie Stress, Trauma, Schemata, Anticravingsubstanzen oder Achtsamkeit alle in ihren Bann ziehen und immer neue Therapiemethoden oder Medikamente zur Rückfallprävention ohne ausreichende Evidenz propagieren.
Tatsächlich stehen wir immer noch relativ am Anfang, das Rückfallgeschehen zu verstehen. Die jahrelange, internationale Rückfallforschung hat gerade einmal vier einigermaßen gesicherte Erkenntnisse zur Entstehung von Rückfällen gezeitigt. Diese sollen im Folgenden dargestellt und entsprechende Schlussfolgerungen zur therapeutisch gestützten Rückfallprävention gezogen werden. In einem zweiten Artikel in der nächsten Ausgabe sollen dann darauf aufbauend die Möglichkeiten zu Bewältigung von Rückfällen abgeleitet werden.
1) Der Rückfallzeitpunkt – Aller Anfang ist schwer
Die erste Erkenntnis der Rückfallforschung betrifft den Rückfallzeitpunkt. Oft hört man, dass das Rückfallrisiko mit zunehmender Abstinenzdauer stetig steige, weil der Betroffene allmählich übermütig werde und die schlimmen Erinnerungen an seine Trinkzeit immer mehr verblassen würden. In ähnlicher Weise befürchten manche Therapeuten, dass die Therapieeindrücke im Laufe der Zeit wie bei einem Farbanstrich langsam abblättern könnten. Glücklicherweise ergab die wissenschaftliche Untersuchung von Rückfällen genau das Gegenteil: Je länger eine Person abstinent bleibt, umso geringer ist die Gefahr eines Rückfalls. Innerhalb der ersten drei Monate nach Beendigung einer Therapie besteht das allergrößte Rückfallrisiko. Dann gibt es nochmals relativ viele Rückfälle innerhalb des ersten Jahres. Danach werden Rückfälle immer seltener. (siehe Abb. 1)
Mit der Abstinenz verhält es sich ähnlich, als wenn man sich plötzlich im Ausland von Rechtsverkehr auf Linksverkehr umstellen muss: die ersten Kilometer enthalten das größte Unfallrisiko. Allmählich fährt man immer besser und sicherer. Dann sind es nur Kreuzungen, bei denen man mit der Vorfahrtregelung Schwierigkeiten hat. Spätestens nach 100 bis 200 Kilometern fährt man links genauso gut wie früher rechts. Nur in schwierigen und unerwarteten Verkehrssituationen, etwa wenn einem ein Fahrzeug auf der eigenen Straßenseite entgegenkommt, wird man weiterhin automatisch nach rechts anstatt nach links auszuweichen versuchen. Offenbar lernen die Betroffenen etwas in der Anfangsphase der Abstinenz. Je länger jemand abstinent lebt, umso leichter fällt es ihm und umso besser ist er gegen Rückfälle gefeit.
Für die Behandlung von Suchtkranken kann daraus das Primat der Nahtlosigkeit zwischen Behandlung und Nachsorge abgeleitet werden. D.h. wenn man die Rückfallraten verringern will, kommt es zunächst weniger darauf an, einzelne Behandlungsmodule zu verbessern oder zu erweitern. Primär gilt es, durch entsprechendes Handeln aus der Therapie heraus eine unmittelbare Nachsorge der Patienten ab dem ersten Tag der Entlassung sicherzustellen. Um es ganz konkret zu sagen: Statt in der Therapie über Rückfallrisiken zu .reden“, sollten Behandler und Patienten lieber gemeinsam zum Telefonhörer greifen und eine Nachsorgetermin verbindlich vereinbaren. Diese Überlegung hat uns auch bewogen, eine eigene Nachsorgeambulanz der salus klinik Lindow in Berlin-Charlottenburg einzurichten (Infos unter: www.salus-lindow.de/ambulanz). Entsprechend sollte die Suche nach einer geeigneten Selbsthilfegruppe nicht auf die Zeit nach der Behandlung verschoben werden, sondern bereits während der Behandlung verbindlich erfolgen. Hier zeigt sich der Wert von Informationsveranstaltungen durch Selbsthilfegruppen in Therapieeinrichtungen.
2) Rückfallrisikosituationen – Kleinvieh macht auch Mist
Die zweite wichtige Erkenntnis der Rückfallforschung war die Deutung der Rückfallrisikosituation. Lange Zeit glaubte man, dass es bestimmte Eigenschaften, Einstellungen oder Lebensumstände einer Person sind, die darüber entscheiden, ob jemand im Anschluss an eine Suchtbehandlung abstinent bleibt oder wieder rückfällig wird: Beispielsweise wurde vermutet, dass Frauen, Arbeitslose oder Abhängige mit weiteren psychischen Störungen ein erhöhtes Rückfallrisiko haben. Entsprechende Studien haben aber sehr widersprüchliche Ergebnisse gezeitigt. Sie haben damit wenig zur Erklärung, v. a aber zur Prävention von Rückfällen beitragen können.
Sehr viel einheitlichere Ergebnisse hat weltweit – egal ob bei Frauen, bei Männern, ob bei Alkohol-, bei Drogenabhängigkeit, bei Nikotinabhängigkeit, bei pathologischem Glücksspiel oder bei Menschen, die Diät halten wollen – die Untersuchung erbracht, wann ein und dieselbe Person eher rückfällig oder nicht rückfällig wird. Hierbei zeigte sich, dass es nicht so sehr schwere Schicksalsschläge oder Krisensituationen sind, die zu einem Rückfall führen. In solchen Ausnahmesituationen sind viele Betroffene auf der Hut und entwickeln ungeahnte Stärken, um sich oder anderen zu beweisen, dass sie es auch „ohne“ schaffen. Häufig werden vielmehr ganz alltägliche Situationen, die bereits oft problemlos bewältigt wurden, plötzlich zu Rückfallsituationen. Es muss dem Betroffenen vor einem Rückfall auch nicht unbedingt schlecht gehen. Es kann ein ganz normaler Tag sein, an dem er wieder „anfängt“. Allerdings fallen auch solche Rückfälle nicht einfach vom Himmel. Vielmehr hat man festgestellt, dass allein 60% aller Rückfälle in den folgenden drei Situationen passieren:
- unangenehme Gefühle, wenn man alleine ist (z. B. Langeweile, Einsamkeit, Angst, Depression),
- im Anschluss an Konflikte und Konfliktsituationen (z. B. am Arbeitsplatz oder in der Familie)
- und drittens soziale Verführung (z.B.: Kumpels fordern einem zum Mittrinken auf; ein Arzt empfiehlt ein Beruhigungsmittel). (siehe Abb. 2)
Die übrigen 40 Prozent aller Rückfälle ereignen sich in folgenden Situationen:
- angenehme Situationen (z. B. Erfolgserlebnisse, Verliebtsein),
- Geselligkeit (z.B. Kneipenbesuch, Parties, Familienfeier),
- körperliche Beschwerden (z.B. Schmerzen, Schlafstörungen),
- Versuch, kontrolliert zu trinken und
- plötzliches Verlangen (z. B. beim Anblick eines Biergartens).
Für jeden Abhängigen sind allerdings ganz unterschiedliche Risikosituationen bedeutsam. Meist sind es Situationen, die früher eng mit einer angenehmen Alkoholwirkung verknüpft waren.
Für die Behandlung von Suchtkranken lässt sich hieraus ableiten, dass es nicht ausreicht, den Betroffenen mittels psycho- oder sozial therapeutischer Interventionen eine bessere Bewältigung ihres Alltags auch ohne Alkohol zu ermöglichen (Kompensationsparadigma). Vielmehr ist es notwendig, das Risikobewusstsein der Betroffenen für die persönlich relevanten Auslösesituationen zu schärfen und deren abstinente Bewältigung einzuüben (Trainingsparadigma). Denn es ist vollkommen unrealistisch anzunehmen, dass ein abstinent Lebender sein Leben derart umgestalten kann, dass alle Risikosituationen für immer aus seinem Alltag verbannt sind. Die Ermittlung der persönlich relevanten Rückfallrisikosituationen ist allerdings keine triviale Aufgabe, da diese dem Bewusstsein der Betroffenen prinzipiell nur bedingt zugänglich ist. Zusätzlich wird eine objektive Erhebung durch das kausale Erklärungs- und Entlastungsbedürfnis der Betroffenen nach dem Motto „ich habe nur getrunken weil … „, überlagert. Entsprechend haben retrospektive Rückfallanalysen bzw. prospektive Risikoeinschätzungen durch die Betroffenen nur einen sehr begrenzten Aussagewert. Stattdessen sind spezielle Anstrengungen zu unternehmen, die situativen, teilweise banalen Auslöser für ein erhöhtes Rückfallrisiko im Einzelfall zu bestimmen. Hierbei haben sich insbesondere die Aufstellung eines persönlichen Risikoprofils mithilfe von Rückfallfragebögen oder die Führung eines sog. Risikotagebuchs bewährt. Um das Rückfallrisikobewusstsein von Suchtpatienten zu schärfen, sollte grundsätzlich jede Therapiestunde mit der Frage beginnen, ob es seit dem letzten Mal einen Rückfall, einen Beinahe-Rückfall oder eine abstinent bewältigte Risikosituation gegeben hat. Erst danach sollte mit dem eigentlichen Thema der Stunde begonnen werden.
3) Neurobiologie – Das Suchtgedächtnis sitzt nicht im Großhirn
Viele Rückfällige haben in der Erinnerung den Eindruck, dass sie „einfach wieder“ getrunken haben. Während dies früher in Therapien gemeinhin als Ausrede des Betroffenen abgetan wurde, haben mittlerweile Fortschritte der Neurobiologie den Blick auf die suchtbedingten Einschränkungen der Willensfreiheit von Alkoholabhängigen im Moment eines Rückfalls gelenkt. Postuliert wird die überdauernde Existenz eines so genannten Suchtgedächtnisses, das in rückfallkritischen Momenten mit einer situativen Einschränkung der rationalen Selbstkontrolle durch automatisierte, suchtmittelbezogene Informations- und Appetenz-Prozesse einhergeht. Da diese Rückfallprozesse den Betroffenen häufig nicht bewusst sind, können sie durch herkömmliche Psychotherapieverfahren kaum verändert werden. Gleichzeitig konnte bei den Betroffenen eine verringerte Verarbeitung von Gefahrensignalen festgestellt werden. Die Folge ist, dass nunmehr den subkortikal verstärkten Anreizprozessen auf alkoholspezifische Stimuli eine beeinträchtigte kortikale Kontrolle gegenübersteht. Bildlich gesprochen haben sich bei Alkoholabhängigen die Machtverhältnisse zwischen Großhirn und Zwischenhirn dauerhaft verschoben, was die Gefahr eines Rückfalls ebenso wie die Schwierigkeit, einen Rückfall wieder zu stoppen, erhöht. Von besonderer Bedeutung ist, dass all dies unabhängig davon geschieht, ob die Betroffenen abstinenzmotiviert sind oder subjektiv Verlangen nach Alkohol empfinden. Daraus erklärt sich auch die begrenzte Wirksamkeit der üblichen, vorrangig auf Einsicht und rationale Selbstkontrolle setzenden Rückfallpräventionsmaßnahmen.
Stattdessen sind Suchttherapeuten aufgerufen, spezifische neuropsychologisch fundierte Trainingsprogramme zur Rückfallprävention zu entwickeln. Angesichts des hohen Automatisierungsgrades der postulierten Rückfallprozesse können Rückfallpräventionsmaßnahmen nur dann erfolgreich sein, wenn die hierbei vermittelten Alternativreaktionen von den Betroffenen so oft und redundant eingeübt werden, dass sie einen entsprechend hohen Automatisierungsgrad erreichen. Vor diesem Hintergrund erforschen wir gerade in Lindow ein computergestütztes Rückfalltraining, bei dem Patienten gefordert werden, mithilfe eines Joysticks Bilder von alkoholischen Getränken möglichst schnell wegzuschieben nichtalkoholische Getränke möglichst schnell herzuziehen. So primitiv ein solches Training auch anmuten mag, in einer randomisierten Kontrollstudie konnten wir an über 200 Patienten nachweisen, dass sechs 15-Minuten-Trainings ausreichten, die Rückfallrate um über 9% zu senken. Es ist aber sicherlich noch viel weitere Forschung nötig, bevor wir ein solches Vorgehen allgemein empfehlen können.
4) Verlangen (Craving)-Mal gut, mal schlecht
Eine heftige Kontroverse gibt es über die Bedeutung von Suchtmittelverlangen (sog. Craving) im Zusammenhang mit Rückfällen. Während manche Betroffene von quälendem Verlangen, verbunden mit eindrucksvollen körperlichen Reaktionen berichten, die auch nach langer Abstinenz auftraten und zum Rückfall führten, gab in wissenschaftlichen Untersuchungen mit standardisierten Messinstrumenten nur etwa die Hälfte der Betroffenen an, jemals Verlangen erlebt zu haben. Sie ergaben außerdem, dass Verlangen manchmal zwar ein Rückfallrisiko darstellen kann, aber in vielen Fällen auch nützlich zur Vermeidung von Rückfällen ist, da dadurch den Betroffenen die Rückfallgefahr bewusst wird und sie jetzt automatische Rückfallprozesse unterbrechen können. Ziel der Interventionen zur Rückfallprävention kann keineswegs standardmäßig eine möglichst weitgehende Verringerung von Suchtmittelverlangen sein. Vielmehr kommt es darauf an, dass Betroffene lernen, auch starkem Verlangen erfolgreich zu widerstehen. Hierbei kann es z. B. hilfreich sein, Suchtmittelverlangen mit dem Bild einer mauzenden Katze zu vergleichen: Diese hört irgendwann von selbst auf zu mauzen, wenn sie trotz anhaltender, erbarmungswürdiger Bettelei konsequent nicht gefüttert wird. Entsprechend lässt erfahrungsgemäß das Verlangen nach Suchtmitteln mit der Zeit nach, wenn man ihm in einer Risikosituation nicht nachgibt. Jede erfolgreich bewältigte Risikosituation stärkt die Abstinenzzuversicht bzw. das Selbstvertrauen des Betroffenen und erhöht dadurch wiederum die Chancen für weitere Abstinenz.
Damit dies nicht alles graue Theorie bleibt, muss die abstinente Bewältigung von Risikosituationen auch praktisch geübt werden. Jeder Feuerwehrmann, jeder Katastrophenschützer und jeder Pilot weiß, wie oft man möglichst realistische Übungen durchführen muss, damit man für den Ernstfall wirklich gewappnet ist. Entsprechend hat es sich als sehr nützlich erwiesen, sich noch während der Therapie im Rahmen sog. „Expositionsübungen“ bewusst mit relevanten Auslösesituationen für einen Rückfall zu konfrontieren, um deren abstinente Bewältigung auch bei aufkommendem Verlangen in der Realität zu üben.