FRAU und SUCHT
Sind Frauen anders süchtig als die Männer?
Etwa 370 000 Frauen und Mädchen sind alkoholabhängig,meldete die Drogenbeauftragte der Bundesregierung vor vier Jahren. Seitdem gibt es noch keine neuen offiziellen Zahlen, aber Schätzungen liegen höher, nämlich bei 500-600 000. Tendenz steigend. Immer mehr Frauen trinken immer mehr. Aber weshalb?
Ich stehe vor dem Weinregal im Supermarkt. Ganz bewusst. Das tat ich bis jetzt höchstensdann, wenn mal eine Feier bevorstand. Heute ist das aber anders … Also: Welche Flasche nehme ich? Die Etiketten sagen mir gar nichts. Weiß? Rot? Ja, rot. Rot wärmt. Ich nehme die Flasche mit nach Hause. Nicht wie ein Paket Nudeln. Eher so hoffnungsvoll wie eine neue, unbekannte beste Freundin. Mit der Zuversicht, sie würde mich heute Abend ablenken können. Mir abzuschalten helfen. Den Verstand auszuknipsen, die ewigen zermürbenden Gedankenkreisel mal anhalten. Die Einsamkeit verscheuchen. Die Sorgen, die Angst. Denn ich bin allein. Mein Mann ist zu einem Job in den fernen, gefährlichen Kongo gereist. Aber ich habe nicht nur Angst um ihn, sondern auch seit Monaten Furcht um unsere Ehe. Er ist so anders in letzter Zeit. Er verheimlicht mir Dinge,die er tut. Auf meine Fragen bekomme ich nie Antworten … All das will ich heute einfach mal nicht fühlen müssen. Sondern vergessen dürfen. Und ich ahne, der Rotwein könnte helfen. Für diesen Abend tat er es – bis zum nächsten Morgen zwar nur. Aber immerhin!
Dieser ganz bewusste Kauf vor 12 Jahren, an den ich mich erinnere, als wäre es gestern gewesen, war mein Einstieg ins Alkoholikerleben. Denn es folgten ihm noch unzählige … So sehe ich das heute.
Ich war damals 40 Jahre alt, arbeitete als Redakteurin und versorgte meinen Sohn, unseren Hund, Haus und Garten; mein Mann arbeitete die Woche über in einer anderen Stadt. Damit passte ich haargenau hinein in das Bild, das die große EU-Studie „Alkoholkonsum und Alkoholprobleme bei Frauen in europäischen Ländern“ heute von 40 % der alkoholabhängigen Frauen zeichnet: gute Ausbildung, berufstätig, Familie. Hinzu kommen meist noch Doppelbelastung, geradlinige Lebensläufe. Häufig Minderwertigkeitskomplexe. Schuldgefühle. Oft eine plötzliche Lebenskrise, die zu bewältigen wäre. Heimlich trinkend, unauffällig. Sich aus Scham erst spät Hilfe suchend. Ein anderer großer Anteil sind laut Studie sehr junge Mädchen und Frauen, aus oftmals zerrütteten Elternhäusern, mit Erfahrungen von Misshandlungen und Missbrauch. Zerrissen zwischen Größenwahn nähern sie sich dem Koma-Trinken der Jungen an.
Christina Schadt von der Fachstelle für Suchtprävention Berlin bestätigt diese Studienergebnisse in einem Interview mit der TrokkenPresse:
Weshalb trinken Frauen und rutschen in die Sucht?
Schadt: „Die Sozialisation von Frauen und das ,so habe ich zu sein als Frau‘ birgt spezifi sche Risiken hinsichtlich der Entwicklung einer Sucht. Viele Frauen kümmern sich auch heute noch zuerst um andere und wollen um jeden Preisfunktionieren und ihren Alltag bewältigen. Anders als Männer richten Frauen sich meist an den Anforderungen von außen aus. An dem, was andere von ihnen wollen. Nicht daran, was sie selber wünschen. Frauen wollen heute beides, einen Beruf, der sie erfüllt und den sie gut ausfüllen, aber gleichzeitig auch gut die Familie versorgen. Diese Doppelbelastung kann zu Überforderungssituationen führen. Denn noch immer erhalten Frauen traditionell zu wenig Unterstützung von der Familie, vom Partner. Solche Situationen der hohen Belastung versuchen Frauen – im Gegensatz zu Männern – mit sich selbst zu klären. Und trinken Alkohol, weil sie sich zum Beispiel entlasten und entspannen wollen.“
Wie trinken Frauen – und weshalb?
Schadt: „Generell trinken sie weniger als Männer, und eher Mixgetränke, Wein und Sekt als Spirituosen. Was das riskante Trinken angeht, liegen Frauen mit einem Anteil von 12,8 % im Vergleich zu Männern mit 15,6 % ähnlich hoch. Eine Abhängigkeitserkrankung weisen dagegen etwa 9,5 % der Männer und 3,5 % der Frauen in Deutschland auf (vgl. ESA 2012). Auch die Situation des Trinkens an sich ist anders: Frauen trinken eher im Verborgenen, eher zuhause. So, dass die Öffentlichkeit das nicht mitbekommt. Denn Frau und Alkohol ist gesellschaftlich stigmatisiert. Der Mann dagegen erfährt sogar eher soziale Anerkennung. Sein Trinken wird gesellschaftlich bewertet als männlich und stark. Gleichzeitig allerdings versuchen inzwischen einige Frauen, dieses alte Stigma aufzubrechen und trinken jetzt auch öffentlich.“
Werden Frauen schneller süchtig?
Schadt: „Ja. Wenn Frauen das Gleiche trinken wie Männer, hat es stärkere Auswirkungen. Das liegt zum Beispiel am geringeren Körpergewicht, der Alkohol verteilt sich auf kleinerem Raum. Dazu ist die relative Fettmasse größer als beim Mann, diese ist aber kaum durchblutet. Der Alkoholspiegel im Blut ist dementsprechend höher, wirkt intensiver und begünstigt raschere Organschäden. Außerdem haben Männer einen höheren Anteil bestimmter Enzyme, die für den Abbau des Alkohols zuständig sind, im Körper. Bei Frauen wird also Alkohol schlechter abgebaut.“
Brauchen Frauen geschlechtsspezifi sche Beratung und Therapie?
Schadt: „Ja! Weil sie andere Motive haben zu trinken. Andere Bedürfnisse. Darauf sollte unbedingt eingegangen werden, um passgenaue Betreuungsmöglichkeiten zu finden. Das beginnt ja schon bei der Kinderbetreuung, Mütter brauchen Angebote, die Therapie und Kind unter einen Hut zu bringen gestatten.“
Was könnten oder müssten Frauen anders tun, um nicht zum Alkohol zu greifen?
Schadt: „Frauen sollten eine Menge mehr für sich selber tun. Nach eigenen Bedürfnissen schauen, denen mehr Gewichtgeben. Sie müssten lernen, ihre Belastungen zu reduzieren, indem sie sie auf mehrere Schultern verteilen, sich Unterstützung zu suchen. Und: Entspannung lernen. Aber das Wichtigste ist wirklich, dass Frauen ihre Denken verändern: Nämlich dahin, sich vielmehr als bisher um sich selbst zu kümmern.“