Ein Vortrag von Alfred Scheib, leitender Psychologe der AHG Klinik Richelsdorf, anlässlich des Selbsthilfegruppentages am 24. März 2012
Mein Vortrag heute ist in zwei Teile gegliedert und eigentlich müsste der vollständige Titel lauten. Sucht und Veränderung – Abstinenz und Veränderung.
Beginnen wir mit ersterem.
Sehr lange war man auf der Suche nach der Suchtpersönlichkeit, in der Annahme, dass Sucht nur bei bestimmten Menschen mit bestimmten Merkmalen vorkomme. Doch das wäre dann doch zu einfach gewesen: Mensch mit Merkmal A = süchtig oder in Gefahr süchtig zu werden, und Mensch ohne Merkmal A = keine Gefahr.
Die genetische Forschung ist heute manchmal in einer ähnlichen Gefahr der Vereinfachung. Ein weiterer Vorteil dieser Vereinfachung: Veränderung ist nicht möglich, der Mensch ist festgelegt, die Sucht ist Schicksal. Bemühungen, dieses Schicksal zu ändern, sind vergeblich. Süchtige können sich nicht ändern, man kann sich ihrer nur erbarmen und sie aufbewahren, so dass sie niemandem mehr schaden können.
Wir alle hier im Saal wissen, dass dies nicht so ist. Die Selbsthilfebewegung hatte schon immer einen anderen Ansatz, eben Hilfe zur Selbsthilfe. Das heißt aber auch: Veränderung ist möglich.
Und natürlich wusste die Selbsthilfebewegung, dass die Sucht den Menschen verändert, und alle Angehörigen wussten und wissen dies auch. Weil sie es erleben. Wie oft höre ich den Satz: ,,Manchmal glaube ich, mein Mann bestehe aus zwei Personen, die nichts miteinander zu tun haben. Der nüchterne Mann ist völlig anders als der, der getrunken hat“. Und oft höre ich ebenso: ,,Als er noch nicht getrunken hat, war er völlig anders“. (Anm. der Redaktion: das betrifft Frauen genauso).
Was passiert da?
Ich will dazu etwas weiter ausholen. Wir kommen zum einen mit recht unterschiedlicher Ausstattung auf die Welt: es gibt ruhige Babys, die aus unserer Erwachsenensicht scheinbar von Anfang an zufriedene Kinder sind und es gibt unruhige, lebhafte Babys, die Arbeit machen, Ringe unter die Augen der Eltern zaubern. Es gibt kränkelnde Kinder und robuste usw.; es ließen sich noch sehr viele Unterschiede aufzählen. Und doch haben alle körperlich und geistig gesunden Kinder zunächst unendlich viele Möglichkeiten. Begrenzt werden diese Möglichkeiten von außen. Wir reagieren auf unsere Kinder, auf ihr So-Sein, und wir machen unseren Kindern Angebote, auf die unsere Kinder reagieren, zum einen, weil sie nicht anders können und zum anderen, weil sie uns lieben. Zwangsläufig sind unsere Angebote beschränkt und das heißt, aus der Fülle der Möglichkeiten wird ein Teil ausgewählt, ein größerer Teil bleibt unausgeschöpft.
Unmittelbar leuchtet dies ein z. B. für sportliche, musikalische, künstlerische, aber auch mathematische oder intellektuelle Entwicklungen. Man sagt, derjenige habe Talent, eine Begabung für etwas. Doch auch unser emotionales Leben (und Erleben) birgt eine unendliche Fülle, im Glücksfall einen unendlichen Reichtum. Und auch dieses emotionale Leben kann gefördert oder blockiert werden, die Fülle kann erlebt werden oder verkümmert bleiben. Und dazu bedarf es liebevoll zugewandter, selbst erlebensreicher, einfühlsamer, annehmender und bestätigender, fördernder und altersgerecht fordernder Bezugspersonen. Zumeist sind dies die Eltern, die unsere Grundbedürfnisse nach Sicherheit, Akzeptanz, Bestätigung, Liebe und Zuneigung sowie Grenzrespektierung befriedigen. Mit solcherlei Erfahrungen ausgestattet, entwickelt sich das sogenannte Urvertrauen in mich, die anderen und die Welt. Mit einem solchen Urvertrauen ausgestattet, können wir die vielfältigen Entwicklungsaufgaben des Lebens mit Zuversicht angehen und die zwangsläufigen Rückschläge verkraften, ohne zu resignieren und aufzugeben.
Wenn dies nicht der Fall ist, bleibt eine Lücke im Inneren, manchmal eine sehr große und ich bin zeitlebens auf der Suche, diese Lücke zu füllen. Einen Menschen zu finden, der diese Lücke ausfüllt, sie mich nicht mehr spüren lässt, mir innere Sicherheit gibt, wo ich selbstunsicher bin, mir so viel Liebe gibt, dass ich davon angefüllt bin, mich bedingungslos annimmt, akzeptiert und bestätigt, um meine Selbstzweifel zu zerstreuen.
Doch wie enttäuschend: diesen Menschen gibt es nicht!
Doch es gibt etwas anderes, das Suchtmittel! Es füllt die Lücke. Zuverlässig und immer, wenn ich es brauche. Es tröstet, macht mich stark, lindert Schmerz, gibt mir Sicherheit, füllt meine innere Leere, heilt alle meine (seelischen) Wunden. Ich brauche die anderen nicht mehr.
Doch die sind noch da, spüren und erleben, wie sich der Süchtige verändert, sich immer weiter entfernt, unerreichbarer wird, zunächst unmerklich, allmählich immer deutlicher. Und sie strengen sich an, den sich entfernenden zurückzuholen, werben, argumentieren, drohen, bitten, kämpfen – und spüren doch, dass sie den Kampf verlieren. Das Suchtmittel ist stärker. Der Süchtige hat etwas gefunden, gegen das der Angehörige nicht ankommt, nicht konkurrieren kann, nicht einmal um den Preis der Selbstaufgabe.
Und für den Erhalt des Suchtmittels streitet der Süchtige, lügt, betrügt usw.
Er ist ein anderer geworden, als der, den wir bisher kannten.
Und natürlich bewirkt auch der jahrelange Gebrauch und Missbrauch des Suchtmittels Veränderungen. Die Konzentration leidet, die geistige Beweglichkeit nimmt ab, die Interessen schränken sich ein, Hobbies verlieren an Bedeutung, die Antriebslosigkeit nimmt zu, die Selbstkritikfähigkeit wird immer geringer, gleichzeitig nimmt die Kritik und die Abwertung an anderen zu, ebenso die Aggressionsbereitschaft. Konflikte häufen sich, im Freundeskreis, am Arbeitsplatz, in der Familie. Verlässlichkeit, Verbindlichkeit lösen sich auf zugunsten von Unberechenbarkeit und Unzuverlässigkeit. Die Feindseligkeit gegenüber anderen nimmt zu, begründet und gerechtfertigt in der Ablehnung durch andere: „alle sind gegen mich“.
Doch sind das wirklich grundlegende Veränderungen der Persönlichkeit? Ist jetzt etwas da, was vorher nicht vorhanden war? Sind das wirklich zwei Personen, die nicht trinkende und die trinkende? Ist es wirklich erstrebenswert, wieder „der zu werden, der ich früher war“?
Ich sage zu all diesen Fragen ein klares NEIN.
Wie weiter oben schon angedeutet, sind wir geprägt durch unsere Disposition und durch unsere Beziehungserfahrungen. Sie haben uns werden Jassen wie wir sind, mit unseren Überzeugungen über uns selbst und den Überzeugungen über die anderen und mit unseren Überzeugungen, wie andere uns begegnen, mit unseren Wünschen und Ängsten. Daraus entstehen unsere Persönlichkeitsstile und unsere Charakterstruktur. Diese Bereitschaften und Eigentümlichkeiten verstärken sich im Laufe der Suchtentwicklung, werden zu Störungen, unter denen der Süchtige zumeist gar nicht leidet, wie weiter oben schon gesagt, die Selbstkritikfähigkeit ist ja herabgesetzt. Doch die Umwelt (Freunde, Kollegen, Familie) nehmen sie wahr und leiden darunter, versuchen anfangs noch Einfluss zu nehmen, auch zu entschuldigen, und ziehen sich schließlich zurück, resignieren. Der Süchtige registriert dies, doch schreibt er den Rückzug nicht sich und seinem veränderten Verhalten zu, sondern sieht es als Bestätigung seiner Überzeugung, dass er allen sowieso egal ist, dass sich um ihn noch nie jemand gekümmert hat oder dass alle ihm übel wollen.
Im günstigen Fall kommt es irgendwann zu einer krisenhaften Entwicklung (Abmahnung am Arbeitsplatz, Führerscheinverlust, Gesetzesverstöße, drohender Partnerverlust, schwerwiegende Erkrankung u. a.) die den Süchtigen vor die Wahl stellen: weitermachen und heroisch die Konsequenzen tragen (,,so schlimm wird es schon nicht werden“, ,,das schaff ich schon“) oder sich den Problemen stellen, mit aller damit verbundener Scham und Angst und Schuldgefühlen. Einige gehen letzteren Weg, viele leider nicht.
Und damit wären wir beim zweiten Teil meines Vortrages.
Welche Veränderungen bringt die Abstinenz?
Zunächst einmal eine gehörige Portion Verunsicherung und enorme Abwehr, sich das Desaster einzugestehen. Es wird bagatellisiert, verleugnet, relativiert. Das ist kein Merkmal von Süchtigen allein. Denken Sie nur an die letzten Monate in der Politik. Wir Menschen tun uns schwer, Niederlagen einzugestehen, weil damit immer der Selbstwert bedroht ist. Doch es hilft nichts, der Süchtige muss sich ehrlich machen und dabei braucht er Hilfe. Professionelle Hilfe in der Suchtberatung oder in der stationären Entwöhnungsbehandlung und Hilfe in der Selbsthilfegruppe. Im Kreis von anderen kann er im günstigen Fall seine Bagatellisierungen und Verleugnungen aufgeben und seine Situation betrachten, wie sie ist und nicht nur, wie er sie sich Unrecht legt. Dafür braucht es die anderen und die Nüchternheit. Und es braucht Mut. Die Scheu vor der eigenen Vergangenheit entsteht ja meist nicht aus Verbohrtheit, sondern oft aus Gründen des Selbstschutzes. Die Menschen fürchten sich vor Trauer, Scharn Schmerz, Depression und (Selbst-)Hass, vor der psychischen Pein, die vorbehaltlose Aufklärung häufig auslöst. Doch uneingestandene und unausgesprochene Schuld bindet Individuen an die alte Zeit macht befangen, mutlos und erpressbar.
Wir erleben manchmal beim Angehörigenseminar, wenn der Süchtige mit dem Erleben der Angehörigen konfrontiert wird, wie schwer Schuld- und Schamgefühle auszuhalten sind, wenn die Verleugnung zusammenbricht. Doch daraus kann auch ein Neuanfang erwachsen, ein verantwortungsvolles Miteinander, im Hier und Jetzt.
Genauso wie die Entwicklung zur Sucht mit allen suchtbedingten Veränderungen ein weiter und langer Weg war, so ist auch der Weg in die Abstinenz ein langer und weiter. Leider wollen sich allzu viele diesen Weg ersparen und glauben, nach der Entgiftung sei die Abstinenz hergestellt und das reiche. ,,Ich muss nur aufhören zu trinken und dann wird alles gut“.
Die jahrelange Sucht hat jedoch die anstehenden Entwicklungsaufgaben verhindert oder auch Entwicklungen wieder rückgängig gemacht. Das heißt, Bestandsaufnahme ist angesagt.
Wo bin ich stecken geblieben?
Wovor schrecke ich zurück?
Was sind meine Wünsche und Ängste?
Was ist der nächste Schritt?
Wenn wir das Leben als eine Entwicklungsaufgabe begreifen, als eine Herausforderung, dann muss ich mich damit beschäftigen, was es mir schwer macht, die Herausforderung an· zunehmen. Ich muss mich mit meinen Begrenzungen beschäftigen und mit dem, was möglich ist. Dazu gehört, die sucht· bedingten Veränderungen wahr zu nehmen und aufzulösen. die Lügen, das Täuschen, die mangelnde Selbstkritik, die Ich-Bezogenheit. Ich muss lernen. Die anderen wahrzunehmen, einzubeziehen, mich als einen Teil des Ganzen, z. B. der Familie zu begreifen, der seinen Anteil zum Gelingen beitragen muss. Ich möchte, dass andere für mich da sind, genauso wie ich dann auch für andere da bin.
Die Zeit lässt sich nicht zurück drehen, ich kann nicht mehr der werden, der ich einmal war. Das ist auch gar nicht erstrebenswert, denn der, der ich einmal war, war ja auch der Ausgangspunkt für meine süchtige Entwicklung.
Ich kann nur im Hier und Jetzt ansetzen. Wer bin ich, wie bin ich, was will ich und was kann ich?
Ich muss mich als Handelnder begreifen, als jemand, der wieder beginnt sein eigenes Leben zu steuern. Ich muss lernen, einen Außenblick auf mich einzunehmen. Dazu brauche ich die anderen mit ihrer Wahrnehmung von mir, muss zumindest für möglich halten, dass andere mich anders sehen als ich mich selbst. Ich kann diese andere Sichtweise auf mich selbst bedenken, überprüfen, annehmen oder verwerfen oder auch im Gespräch modifizieren, d. h. meinen Teil dazu fügen. Wenn es gelingt, habe ich zu meinem Bisherigen etwas Neues hinzugefügt, das Neue integriert und daraus ist dann etwas Anderes/Neues entstanden. D. h. ich habe mich verändert, ohne mich und meine Sicht auf mich aufzugeben, ich habe eine neue Sichtweise hinzugefügt. Und gleichzeitig habe ich meine Beziehung zu anderen verbessert, indem ich ihnen zuhöre, sie einbeziehe, andere Sichtweisen zulasse.
Aus dieser Betrachtung ist Veränderung ein ständiger, lebenslanger Prozess, der sich in unserem Inneren und im Austausch mit anderen vollzieht.
Wir sind soziale Wesen und brauchen für unsere Entwicklung diesen sozialen Austausch, sonst würden wir ganz kreatürlich stecken bleiben wie Kaspar Hauser. Mit einem Dichterwort gesagt: Schau in die Gesichter der anderen und Du siehst Dich selbst, schau in den Spiegel und Du siehst die anderen.
Veränderung ist immer ein Wagnis in Unbekanntes. Therapie ist Entwicklungsförderung,
Selbsthilfegruppen gehen gemeinsam das Wagnis der Veränderung ein, sollten immer offen bleiben für Neues, Unbekanntes und die Unsicherheit dabei ertragen.
Und zum Ende mein Credo für unser Leben, für unsere Lebensaufgabe:
Unsere Aufgabe besteht darin, das Bestmögliche aus dem zu machen, was aus uns gemacht wurde.
Ich begreife diesen Satz als immerwährende Entwicklungsaufgabe. Und sie kann nur in Abstinenz gelingen.
Damit ist dann auch beantwortet, warum es nicht gelingen kann, wieder der zu werden, der ich früher war!