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Titelthema 04/14: Mut zur Veränderung

MUT ZUR VERÄNDERUNG


Einige Leitsätze möchte ich meinen Ausführungen voranstellen:

– Das Leben ist Veränderung und Veränderung gehört zum Leben dazu.

– Wir können uns nicht nicht verändern.

– Ohne Veränderung gäbe es keine Weiterentwicklung.

– Veränderungen tragen grundsätzlich die Chance zu eine Verbesserung der bestehenden Situation in sich.

– Veränderung ist ein Instrument der aktiven Lebensgestaltung.

Veränderungen bringen neue Dinge mit sich, mit denen wir erst noch lernen müssen umzugehen. Mit dem Vertrauten kennen wir uns aus, aber Neues wirkt erst einmal bedrohlich, weil wir nicht einschätzen können, welche möglichen Gefahren oder Unannehmlichkeiten damit verbunden sind. Unsere Skepsis beziehungsweise Angst vor Veränderungen ist natürlich oder normal, denn sie sichert unser Überleben. Wir dürfen uns nur nicht von diesen Impulsen beherrschen lassen.
Wir warten mit vielen notwendigen Entscheidungen bezüglich Veränderungen oft so lange, bis irgendetwas auf uns zukommt. Wir werden selbst also erst aktiv, wenn es nicht mehr anders geht. Und dann haben wir den Eindruck, dass wir nur noch reagieren können, selbst aber keine Wahl hatten. Beispiele in Ihren Reihen gibt es zuhauf!

Sie werden z. B. „völlig überraschend“ gekündigt. Die Ehefrau reicht „aus heiterem Himmel“ die Scheidung ein. Ihr Arzt stellt „plötzlich“ einen schweren Leberschaden fest…

Doch fast alle Veränderungen haben Vorzeichen, und in der Regel haben wir sehr viele Möglichkeiten, zu erkennen, in welche Richtung etwas verlaufen wird.
Wenn wir aber alle Zeichen ignorieren und hoffen, dass alles beim Alten bleibt, kommt irgendwann der Augenblick, in dem die Veränderung, z. B. die Kündigung oder die Scheidung, uns tatsächlich wie ein Schicksalsschlag trifft, auf den wir nur noch reagieren können. Dann fühlen wir uns in der Regel überfordert, hilflos und sind verunsichert.

Anders ist es, wenn Sie sich selbst rechtzeitig für eine Veränderung entscheiden, selbst dann, wenn es noch nicht zwingend notwendig ist. Das wäre dann ein Vorbeugen, z. B. bei kleinen Anzeichen für gesundheitliche Probleme. Statt abzuwarten, bis Sie ernsthaft erkranken, ein sogenannter Schicksalsschlag Sie trifft, könnten Sie z. B. überlegen, ob Sie etwas an Ihrer Lebensweise ändern müssen. Sie werden damit zu einem aktiven Gestalter der Situation und Ihres Lebens. Dazu brauchen Sie Mut und Kraft und, um durchzuhalten, Disziplin und Eigenmotivation.
Manche sind zu der Erkenntnis gekommen, dass es durchaus einiges gibt, an dem sie etwas verändern möchten oder sogar müssen, und stürmen voller Energie und Entschlossenheit los (bevor die Angst sie wieder lähmt?). Das kann jedoch Menschen in Ihrem Umfeld schnell überfordern. Erwarten Sie keine Freudenrufe, wenn Sie beginnen, sich und Ihr Leben zu verändern, denn Veränderung verunsichert oder macht Angst, macht misstrauisch („bist Du krank?“ oder„plötzlich übergeschnappt?“,„wird sowieso nicht lange anhalten“).

Das heißt, neben aller Veränderung brauchen wir auch einen gewissen festen Rahmen, um uns sicher zu fühlen und orientieren zu können. Verändern Sie die Dinge Schritt für Schritt und eines nach dem anderen.

Fritz Riemann, ein Psychoanalytiker, hat sich in seinem Werk „Grundformen der Angst“ intensiv mit der menschlichen Entwicklung, den verschiedenen Entwicklungsschritten und den damit verbundenen Ängsten auseinandergesetzt. Eine unserer Entwicklungsaufgaben besteht darin, sich auf Dauer einzulassen und in die Zukunft zu planen, z.B. im Beruf, in der Ehe, beim Hauskauf, so als ob die Welt stabil und die Zukunft vorhersehbar und planbar ist – und gleichzeitig jederzeit bereit zu sein, uns zu verändern, weiter zu entwickeln, Veränderungen und Entwicklungen zu bejahen.

Mit allen Entwicklungsprozessen sind Ängste verbunden. Wir möchten bleiben, möglichst immer gleich; sich vom einmal Erreichten zu lösen, bedeutet Abschied nehmen vom Vertrauten. Insofern bedeutet jede Psychotherapie auch Wandel und Veränderung, und sie macht daher vielen Menschen Angst, löst Widerstände aus. Neben vielen suchtmittelabhängigen Menschen kennen auch viele Angehörige von Süchtigen diese Angst. Sie bleiben in der Beziehung, beteuern ihre Hoffnung, dass sich der Suchtkranke vielleicht doch noch ändert und versäumen, sich selbst auf den Weg der Änderung zu machen, aus Angst, einen unvertrauten Weg mit all seinen Wagnissen zu beschreiten.
Die Sehnsucht nach Dauer ist eine sehr tief liegende, denn sie beschert uns Verlässlichkeit in der Welt und gibt uns Orientierung und Ordnung. Das erhöhte Sicherheitsbedürfnis geht einher mit einer erhöhten Angst vor dem Risiko – wie bei dem Mann, der erst ins Wasser gehen will, wenn er schwimmen kann.

Sich auf eine Psychotherapie einzulassen bedeutet jedoch immer ein gewisses Risiko mit ungewissem Ausgang, und genauso ist es mit der Abstinenz. Wer jahrelang getrunken hat, ein Leben ohne  Suchtmittel nicht mehr kennt, für den ist die Abstinenz ein Risiko, er muss lernen, das Leben ohne Suchtmittel auszuhalten und zu meistern; und er weiß eben nicht von Anfang an, wie es geht und ob es gelingen kann. Er muss das Schiff besteigen, die vertraute Küstenlinie hinter sich lassen, ohne genau zu wissen, wo er landet.
Das erfordert Mut!

Dazuzulernen, Neues zu probieren, sich verändern und neu orientieren kann auch durchaus etwas Lustvolles und Spannendes sein. Wir erfahren dadurch, dass wir fähig sind, uns an Neues anzupassen und uns weiter zu entwickeln. Unser Selbstvertrauen wächst, ebenso unser Kompetenzerleben. Indem wir Neues probieren, erfahren wir auch etwas über unsere Grenzen. Wir erfahren, dass wir noch dazulernen müssen, aber auch können! Und schließlich bekommen wir mit der Zeit einen Erfahrungsschatz, der uns bei zukünftigen Aufgaben zugutekommt und uns Sicherheit gibt, auch diese Situation zu meistern.

Betrachten wir die kindliche Entwicklung. Sie dauert lange und ist störanfällig. Wollen wir überleben, sind wir von der ersten Stunde unseres Lebens an gezwungen, uns anzupassen und uns auf neue Situationen einzustellen.

Grundvoraussetzung für ein gelingendes Leben ist Selbstvertrauen, eine Selbst-Verlässlichkeit, die aus früheren positiven Verlässlichkeitserfahrungen resultiert. Dazu brauchen wir die Erfahrung von Halt und Sicherheit gebenden Menschen, die unsere Bedürfnisse nach sozialem Kontakt, nach Achtung und Beachtung, nach Geborgenheit und Wärme zuverlässig befriedigen, die sich angemessen um uns kümmern, uns versorgen und umsorgen. Daraus entwickelt sich dann das sogenannte Urvertrauen, dass die Welt erlebt wird als etwas, wozu man Vertrauen haben kann oder, wenn dies nicht gelingt, ob sie als unzuverlässig, bedrohlich und versagend erlebt wird. Und wenn die Entwicklungsschritte einigermaßen zuverlässig gelingen, entwickelt sich das Vertrauen in mich selbst, dass ich aktiv Einfluss nehmen kann auf mein Schicksal, in der Lage bin, mich und meine Welt aktiv zu gestalten.

So wie Kinder die wohlwollende Unterstützung der Eltern oder wichtiger Bezugspersonen bei dem schwierigen Entwicklungsprozess, dem verunsichernden Übergang von einer Entwicklungsstufe in die andere benötigen, so benötigen auch Erwachsene Unterstützung und Ermutigung bei Veränderungsprozessen, insbesondere dann, wenn wir etwas aufgeben sollen, das uns bisher wichtig war und geholfen hat und wir (noch) nicht wissen (können), ob wir die Veränderung, das Loslassen durchhalten und schaffen können.

Der Veränderungsprozess

Man kann einen Veränderungsprozess in einzelne Abschnitte unterteilen bzw. einzelne Abschnitte unterscheiden.
Unsere erste Reaktion auf eine Veränderung ist Schock und Verwirrung. Fliehen oder kämpfen. Denken Sie daran, als Sie zum ersten Mal mit der „Diagnose“ Alkoholiker und der Aufforderung „Du musst was ändern“ konfrontiert wurden. Wann immer eine neue Situation auftaucht, müssen wir damit rechnen, dass uns unsere bisherigen Annahmen, Fähigkeiten oder Verhaltensweisen in dieser Situation nichts nützen. Das macht Angst. Dem Schock folgt die Verneinung der Realität: „das kann nicht sein“, „ich doch nicht“. In dieser zweiten Phase mobilisieren wir häufig zusätzliche Energie. Diese Energie ist aber ein Mehr von dem, das bereits in der Vergangenheit nicht funktioniert hat.

Darauf folgt eine Phase, die man mit rationaler Akzeptanz umschreiben könnte, ein „Ja … aber“ Denken. „Ich würde ja gerne auf hören, das habe ich auch schon probiert, aber ich schaff es nicht“. Oder: „Ja, ich trinke zu viel, doch ich kann jederzeit auf hören“. Wir sehen zwar die Notwendigkeit einer Veränderung ein, aber wir finden noch keine Lösung, die uns wirklich weiter bringt und wir wollen auch die möglicherweise notwendigen Konsequenzen nicht in Kauf nehmen.
Dann   kommt die wohl schmerzlichste, gleichzeitig aber auch die wichtigste Phase: die emotionale Akzeptanz und Annahme der Situation. An diesem Punkt erkennen wir, dass wir nicht weiterkommen wie bisher. Man nennt diese Phase auch „Tal der Tränen“, weil diese Erkenntnisse meist schmerzlich sind. Ja, es ist so und ich muss neu anfangen. Ohne diese Phase kann es keine wirklichen Veränderungen geben.
Nach diesem „Tal der Tränen“, also der emotionalen Erkenntnis, dass sich nun tatsächlich etwas verändern muss, werden wir frei für neue Lösungsansätze. Wir beginnen nun wirklich Neues auszuprobieren, gehen z. B. in eine Beratungsstelle, zu AA oder beginnen eine Suchtbehandlung. In dieser Phase fangen wir an, die Situation aktiv umzugestalten. Dabei geschehen immer auch Fehler. Diese Fehler helfen uns auf dem Weg, eine geeignete Strategie zu entwickeln. Wie wir z. B. als Abstinenter in unserem Umfeld dauerhaft abstinent leben können. Die einen werden missio- narisch, die anderen ziehen sich vollkommen zurück, bedauern sich oder schämen sich usw. Das Motto dieser Phase lautet: Versuch und Irrtum bringen mich weiter.

In Zeiten großer Veränderungen sollten wir uns „mildernde Umstände“ geben und behutsam mit uns umgehen. Wir sollten keine Perfektion erwarten oder von uns verlangen. Irgendwann finden wir eine Lösung oder eine für uns passende und hilfreiche Strategie, die uns weiterbringt. Unsere Eigenkompetenz, also die Fähigkeit mit einer Situation umzugehen, ist nun höher als zu Beginn des Veränderungsprozesses. Wir haben etwas gelernt. Wir haben eine neue Strategie entwickelt, um mit einer uns zuvor unbekannten Situation (Abstinenz) klar zu kommen. Wir übernehmen Verhaltensweisen, die sich als erfolgreich herausgestellt haben, in unser Handlungsrepertoire, welches sich dadurch kontinuierlich erweitert. Wir empfinden Zufriedenheit, da wir etwas geschafft haben. Wir haben unsere Kompetenz erweitert. Vielleicht ist das der Zustand, den man mit „zufriedene   Abstinenz“   umschreiben kann, jedoch ohne sich nun selbstzufrieden zurück zu lehnen.

Wir sind in eine Phase des neuen Gleichgewichts eingetreten.

Der gesamte Veränderungsprozess bekommt noch einmal eine andere Dynamik, wenn an seinem Ende ein klar definiertes Ziel oder eine attraktive Vision steht. Wenn wir wissen, wohin wir eigentlich wollen, dann halten wir Phasen von Misserfolgen oder „Abwegen“ besser aus als ohne Ziele und Visionen. Deshalb ist es immer mal wieder sinnvoll innezuhalten und sich zu fragen: Wie ist meine derzeitige Lebenssituation, wo befinde ich mich gerade persönlich und wie möchte ich in ein oder zwei Jahren leben? Welche nächsten Schritte sind nötig um weiter zu kommen?

Und besonders wichtig: Was bin ich bereit dafür zu tun?

Ich möchte nun zum Schluss noch auf einige hilfreiche Eigenschaften und Fähigkeiten für den Prozess der Veränderung hinweisen. Es sind dies in erster Linie die sogenannten Erfolgseigenschaften wie Mut, Selbstvertrauen, Optimismus, Flexibilität, visionäres   Denken …, die Einfluss haben auf unsere Bereitschaft, unser Leben eigenverantwortlich und aktiv zu gestalten. Anstatt Veränderungen aus der Opferrolle heraus zu erleben, können wir sie dann als Herausforderung und als Chance annehmen.

Einige der Fähigkeiten möchte ich gesondert herausstellen.

– Die Fähigkeit zur Selbstreflexion. Gemeint ist damit das Vermögen, das eigene Handeln und die eigenen Einstellungen zu überdenken und auf ihre Nützlichkeit hin zu überprüfen. Das ist nicht immer leicht. Es bedeutet letztlich, innerlich einen Schritt beiseite machen zu können und sich selbst zu beobachten bzw. zu kommentieren.

– Die Fähigkeit, die eigene Inkompetenz zu erkennen. Das bedeutet, in der Lage zu sein, die eigenen Fehler zu erkennen, sie eingestehen und Abhilfe schaffen zu können. Aus Fehlern kann man lernen!

– Soziale   Kompetenz, das bedeutet die Fähigkeit zu einem konstruktiven Miteinander, denn die wenigsten Dinge kann man ganz allein für sich durchziehen. Bei den meisten Veränderungen geht es nicht um das Alleine, sondern um das Miteinander.

– Die Fähigkeit, uneindeutige oder sogar widersprüchliche Situationen ertragen zu können. Oft gibt es kein eindeutiges Richtig oder Falsch. Bei Veränderungen, bei denen es, wie ich weiter oben schon gesagt habe, um ein Probieren geht, erlebt man auch viel Unklarheit, und das muss man aushalten lernen, statt nur in schwarz-weiß und entweder-oder bzw. perfektionistischem Denken zu verharren.

– Loslassen können, das heißt auch mal Kontrolle abgeben können. Bei Veränderungsprozessen können wir nicht alle Details beeinflussen. Manches geschieht nicht so, wie man es will. Deshalb: loslassen, was nicht in Ihrer Macht steht und Gelassenheit, die Dinge auch mal laufen zu lassen. Dazu braucht man innere Zuversicht und Sicherheit und manchmal auch etwas Geduld.

– Gelassenheit beruht auf einer realistischen Einschätzung der Situation, der eigenen Person und der Wahrscheinlichkeit eines Misslingens, der Erfahrung, dass Erfolg und Misserfolg zum Alltag gehören und dass Misserfolge nicht den Weltuntergang bedeuten.

– Flexibilität meint innere Beweglichkeit, denn Veränderung bedeutet immer Bewegung. Deshalb gilt: Verbeißen Sie sich nicht in ein Problem und versteifen Sie sich nicht auf einen Lösungsweg. Manchmal gibt es eben Umwege und gelegentlich sogar Abkürzungen.

Und zu guter Letzt

Sie sollten Freude haben an dem, was Sie tun. Dafür sollten Sie wissen, was Sie wollen, die Dinge aktiv in die Hand nehmen und mit Herz und Seele dabei sein. Dann können Sie auch andere dazu bewegen, mitzuziehen und mit Hilfe oder Unterstützung bei und mit Ihnen zu sein.

 

Alfred Scheib

Psychologischer Psychotherapeut