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Titelthema 2/17: Wie wird man zufrieden abstinent?

Die Grundlagen einer dauerhaften, zufriedenen Abstinenz

Von Christian Wossidlo

Wie immer bei solchen Themen berichte ich von meinen eigenen Erfahrungen und Überlegungen. Natürlich beziehe ich mit ein, was ich von anderen höre oder bei ihnen erlebe. Aber meinen Aussagen liegen keine wissenschaftlichen Studien oder Untersuchungen zu Grunde. Ich schreibe „aus dem Bauch“ und durchaus auch mit Verstand.

 I Erste Grundlage oder Voraussetzung ist die Fähigkeit zur Zufriedenheit überhaupt.

 Wir kennen alle diese skeptische, nörgelige, im Voraus schon abwertende und miesmachende Art mancher Menschen:„Was soll denn daran schon gut sein? Wie das schon aussieht?“„Hier wird man doch immer beschissen!“„Da ist doch alles voller Mücken und Wespen!“„Dieser ausländische Fraß schmeckt doch sowieso nicht.“„Wie soll man denn hier schlafen können?“
Natürlich schmeckt es in dem Restaurant nicht! Natürlich schläft man schlecht! Natürlich sind da viele Mücken! Wenn man schon mit solcher „Stimmung“ an eine Sache heran geht, kann es nicht gut werden.
Zufriedenheit ist auch eine Charaktereigenschaft. Aber man kann dafür auch etwas tun, man muss nicht als Miesmacher durchs Leben „nölen“. Sonst kannst du das Wort „Zufriedenheit“ aus deinem Wortschatz streichen und damit auch die zufriedene Abstinenz.
Ich konnte mir, als ich begann, auf die Abstinenz hinzuarbeitete, nicht vorstellen, dass da je eine Zufriedenheit zu erreichen ist. Im Großen und Ganzen bin und war ich ein zufriedener Mensch, aber eben auch ein Alkoholiker, ein Abhängiger. Wie kann ich ohne den Stoff zufrieden sein!
Heute weiß ich, man muss der Zufriedenheit eine Chance geben, wenn man sie haben will.
Ich betone das am Anfang so, weil ich heute eine Abstinenz erlebe, die mich sehr zufrieden sein lässt. Ich glaube sogar, in Unzufriedenheit ist sie gar nicht durchzuhalten. Unzufriedenheit programmiert das Scheitern oder macht zumindest die Gefahr des Rückfalls in die alten Muster sehr wahrscheinlich.

II Die zweite Voraussetzung ist – und das klingt wie selbstverständlich –, dass man aufgehört hat, zu saufen.

Es ist es auch, sollte aber doch betont und genannt werden, denn es gibt ja immer wieder diese Narren, die meinen; na, ja, mal mit anstoßen, das wird man ja wohl dürfen.
Ja, man darf es. Man darf alles als freier Mensch in einem freien Land. Aber man sollte wissen, was man tut, und obige Haltung ist absolut tabu für den Beginn einer Abstinenz. Und nach dem Beginn dann ohnehin. Rien ne va plus!

III:) Das Dritte sind zwei Punkte, die an Wichtigkeit gar nicht hoch genug eingeschätzt werden können. Die Überschrift ist: Kopfsache!

Ich vertrete die These: Abstinenz ist eine Kopfsache, und zwar doppelt.

-Ich muss mir immer wieder einhämmern: Ich will nicht mehr trinken! Ich will nicht wieder zurück. Ich will trocken sein. Ich will, ich will!!!
-Ich muss begriffen haben und es mir immer wieder sagen: Ich kann nicht gegen den Alkohol an. Er ist mir über. Ich kann es nicht. Im Fachjargon nennt man das Kapitulation!
Es ist nicht nur mir schwer gefallen, zugeben zu müssen, dass ich es nicht kann. Ich bin doch sonst so tüchtig. Dem Alkohol gegenüber bin ich ein Versager!
Ich weiß, die Versuchung lauert, es nicht wahrhaben zu wollen oder Ausreden zu suchen, Schuldzuweisungen zu finden … alles Sackgassen oder schlimmer noch, Wege in den Absturz.
Ich kann nicht mit Alkohol leben! Ich will es auch nicht mehr!
Das muss im Kopf verankert sein.

IV.) Der nächste Schritt ist: Diese „Kopfsache“ muss zum Lebensgefühl werden, sie muss auch „Bauchsache“ werden.

Ich fühle mich wohl ohne Alkohol.
Ich fühle mich wohl, wie es jetzt ist. Es soll so bleiben. Alkohol? Was ist das?
Dies alles zu Wege zu bringen ist Arbeit. Es passiert nicht von heut auf morgen. Das Saufen hat auch klein angefangen, warum sollte es beim Trockenlegen anders sein?
Für diese Arbeit, mein Denken neu auszurichten und in der neuen Richtung zu stabilisieren, und mein Fühlen auch umzukrempeln und so Abstinenz zur Selbstverständlichkeit werden zu lassen, dass es auch durchsickert in mein „Unterbewusstsein“ und zum „Bauchgefühl“ wird, für diese Arbeit haben wir Werkzeug.

  1. Erinnerung an den Tiefpunkt, d.h., dieses Gefühl, am Ende zu sein, nicht mehr zu können, die Verzweiflung, die dabei mitschwingt, die Scham darüber, was man seinen Partnerin und Kindern angetan hat – das alles nicht zu vergessen. Statt dessen sich zu erinnern, aber nicht, um sich selbst zu demütigen nach dem Motto: das war doch eine Schande, sondern einmal sich zu erinnern mit dem Zusatz: Das will ich nie wieder haben, und sich zu erinnern, dass der Entschluss, der aus diesem Tiefpunkt erwuchs, nicht mehr zu trinken, eine Heldentat war. Vielfach sogar die beste und folgenreichste im positiven Sinne, die man je getan hat. Steh zu deinem Tiefpunkt und vergiss ihn nie!
  2. Offenheit ist ein wichtiges Werkzeug. Ich schütze mich selber, wenn ich mit der Krankheit offen umgehe. Es schützt mich davor, in versuchungsträchtige Situationen zu geraten. Offenheit hat nichts zu tun mit „bloßstellen“, sondern zeigt die Ehrenhaftigkeit der Abstinenz.
  3. Wachsamkeit für das, was alles so angeboten wird: Mixgetränke, Saucen, Torten, Pralinen etc. Nicht, dass eine Kognakbohne einen von uns umwerfen würde! Es geht hier auch um Ehrlichkeit gegen sich selbst und andere. Es geht ums Prinzip: keinen Alkohol mehr. Wachsamkeit auch in der Richtung, auf welche Gesellschaft ich mich einlasse. Vatertagsausflüge muss ich mir nicht antun, und Bruderschafts- und Schwesternschaftstrinken auch nicht. Den Kuss ja, den Schnaps oder Sekt nein.
  4. Den Genussmenschen in mir zufriedenstellen. Alkohol ist ein Genussmittel, auch ein Beruhiger, ein Schönfärber, ein Aufheiterer, ein Stimmungsmacher. Wo finde ich jetzt meinen Genuss, das Schöne, was macht mich ruhig, was macht mir Freude und heitert mich auf, bringt mich in eine gewünschte Stimmung? Theater? Kino? Schokolade? Tanzen? Bücher? Spielen? Spazierengehen? Sport, aktiv oder auch passiv? Fotografieren? Chorsingen? Es gibt so viele Möglichkeiten, zu genießen. Genusspunkte sammeln als neue Lebensaufgabe. Geht auch zu zweit.
  5. Hilfstruppen suchen und nutzen. Zuallererst natürlich ist da die Familie gefragt. Wenn die nicht mitzieht, ist man arm dran. Sie müssen nicht alle abstinent werden, aber immer wissen und daran denken, dass du es bist und bleiben willst. Ob die Wohnung damit alkoholfrei wird, ist per Absprache zu klären. Einfacher ist es sicher, wenn es so ist. Dann die Freundschaft. Freundinnen und Freunde müssen dir den Rücken stärken, dich achten und dich schützen. „Den Nachtisch nimm lieber nicht, da ist Alkohol drin.“ Wenn bei den üblichen Einladungen dir immer noch gedankenlos der Begrüßungssekt angeboten wird, dann ist da etwas schiefgelaufen in der Kommunikation oder mit dem Begriff Freundschaft. Such Gesellschaft, aber suche sie dir gut aus und wenn du neue kennenlernst, oute dich bald. In der Einsamkeit wird man schnell komisch oder kippt um.
  6. Schaffe Klarheit an deinem Arbeitsplatz, auch wenn es vielleicht schwer fällt. Da musst du durch. Es ist wichtig fürs Überleben.
  7. Bedenke, dass es Rückfälle gibt. Mache dir einen Plan, wen du anrufst oder ansprichst, wenn die Schlange lockend zischelt. Auch dazu, ansprechbar zu sein, sind die Hilfstruppen da.
  8. Sieh und betone die positiven Seiten der Abstinenz:
    – es ist gesünder, keinen Alkohol zu trinken;
    – du brauchst nie mehr an deiner Fahrtüchtigkeit zu zweifeln;
    – du kannst stolz auf dich sein, denn du schaffst, was 90 Prozent der Alkoholkranken nicht schaffen;
    – du hast alle Chancen, einen eigenen Lebensstil zu entwickeln, in dem du dich auch ohne Alkohol wohlfühlen kannst.
    9. Lass dich nicht auf Abenteuer ein, etwa: „Einen Schnaps werde ich wohl wegstecken können!“ Das mag sein, aber es kann auch anders sein. Wenn du Abenteuer brauchst, mach Fallschirmspringen oder setzt dich im Olympia-Stadion in den Hertha-Fan-Block und feuere die gegnerische Mannschaft an.
    10. Du brauchst Selbstbewusstsein. In nicht ganz wenigen Fällen haben die Menschen genau das verloren im Suff und in der Sucht. Achte dich selbst, trau dir was zu, entdecke Neues, beteilige dich an Aktivitäten in deiner Nachbarschaft, lebe und freue dich, dass du lebst.
    11. Schließlich: Es gibt Selbsthilfegruppen. Ich will nicht behaupten, ohne Gruppenbesuche ginge es nicht in der Abstinenz. Das geht wohl auch, mit Gruppe ist es leichter und schöner. Wenn es die richtige ist. Die gilt es allerdings zu finden. Dann tu alles, um in ihr heimisch zu werden. Und du wirst all das, was ich bisher geschrieben habe und noch viel mehr dort vergnüglich lernen. Wie überhaupt so eine Gruppe sehr vergnüglich sein kann und sehr lehrreich. Sieh zu dem noch den Vorteil, dass immer kompetente Fachleute da sind, sowohl Fachleute für Abstürze und wie man da wieder raus kommt sowie für alle anderen Vorkommnisse und Fragen in der Abstinenzwerdung.

Und wenn du dann noch Guttempler wirst oder dich in einer der anderen Abstinenzvereine einbringst, bist du noch einen Schritt weiter als alle andern, du gehörst zu einer gesellschaftlich anerkannten Organisation. Und damit baust du auch weiter an deinem Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl.

So, mehr fällt mir heute nicht ein. Ich bin sicher, dass ich das eine oder andere vergessen habe. Aber für heute ist dies alles auch genug. Wenn du das jetzt Aufgezählte verinnerlicht hast und beherzigst, wenn Kopf und Bauchgefühl trocken sind, dann bleibst du es auch. Auf der ganz sicheren Seite sind wir nie, dazu ist die Krankheit zu heimtückisch und unsere Gesellschaft zu „alkoholisiert“.

Aber zur zufriedenen, dauerhaften Abstinenz reicht es allemal.

 Dieser Artikel beruht auf einem Vortrag des Autors in seiner Selbsthilfegruppe, der „Halensee“ im Guttemplerorden.