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Titelthema 5/16: Zu jung für die Abstinenz?

tp-5-coverKann man zu jung sein für die Abstinenz?

Stellen Sie sich vor, Sie sind erst 23 Jahre jung. Aber bereits abhängig vom täglichen Bier, oder den Cola-Wodka nach der Arbeit, mit den Kumpels am Abend. Sie würden damit zu den 250 000 der 18-30-jährigen jungen Leuten gehören, die laut vorsichtigen Schätzungen von Experten alkoholabhängig sind, Tendenz steigend, eine Statistik gibt es dazu bisher nicht. Wie schwer mag das sein, so früh im Leben entscheiden zu müssen: Ich werde bis ans Lebensende nicht mehr trinken … Nie wieder Party. Die Hochzeit feiern ohne Wein. Im Fußballstadion ganz ohne Bier … Das macht Angst, oder? Müsste diese Entscheidung nicht viel schwerer fallen als mit 45 oder 60 Jahren?

Dipl.-Psych. Thomas Klein-Isberner, Therapeutischer Leiter der Abteilung Abhängigkeitserkrankungen der Fontane-Klinik Motzen, berichtet über seine Erfahrungen mit jungen Abhängigen:

Hinter dieser Frage verbirgt sich letztendlich eine DER Fragen, welche fast alle an Sucht erkrankten Menschen bewegt: Kann man wirklich für den Rest seines Lebens keine Suchtmittel mehr konsumieren? Geht das?

Das besondere für Jugendliche und junge Erwachsene ist halt nur, dass der Rest des Lebens (hoffentlich) ja noch sooo lang ist. Das Ziel so weit, der Berg so groß … aus diesem Grund haben die AA’s ja die 24-Stunden-Regel: Heute trinke ich nichts! Tag für Tag …

Dennoch hat eine sehr frühe substanzgebundene oder auch nichtsubstanzgebundene Abhängigkeit ihre Besonderheiten, greift sie doch in wichtige Entwicklungs- und Reifungsvorgänge ein, besonders in den Bau des sozialen Fundamentes eines Menschen, und ist selber oft Folge eines nur sehr brüchigen emotional-psychischen Fundaments. Jugendliche und junge Erwachsene bedürfen deshalb einer auf sie zugeschnittenen Behandlung, bei der wir ihre Besonderheiten berücksichtigen.

Was sind das für Besonderheiten?

Drogen (ich fasse hiermit mal alle abhängigkeitserzeugenden Substanzen zusammen) werden, wenn dauerhaft und regelmäßig, mit einer Wirkungserwartung, mit einer Funktion konsumiert. Oft um Defizite zu kompensieren, etwas zu können, zu fühlen oder nicht wahrzunehmen oder, oder, … Bei Jugendlichen und Jungen Erwachsene kann Drogenkonsum aber auch Ausdruck der normalen Entwicklung sein, des jugendspezifischen Experimentier- und Risikoverhaltens, der Suche nach Identität und Abgrenzung bisheriger „erst noch zu überprüfender“ Regeln und Normen von Eltern und Gesellschaft.

2006 haben wir in der Fontane Klinik Motzen begonnen, Jugendliche und junge Erwachsene nach einem zuvor erstellten Konzept zu behandeln. Über die Jahre konnten wir vielfältige Erfahrungen sammeln, welche wir nutzten, um auch das Konzept weiter zu entwickeln. Zuerst beließen wir die Jugendlichen und jungen Erwachsenen in den normalen Bezugsgruppen und schufen zusätzliche Angebote. Sehr schnell kristallisierten sich familiensystemisch typische Probleme (z.B. als „Kind“ oder „schwarzes Schaf“) in den Bezugsgruppen, so dass wir uns entschieden, altershomogene Gruppen zu schaffen. Wir achteten auf Strukturgebung, Aktivierung durch Sport und Morgenaktiv, Verantwortungsübernahme im Gemeinschaftsdienst der Patienten, behandelten mit Einzel-, Gruppen- und Erlebnistherapie sowie Soziotherapie und Arbeits- wie auch Ergotherapie. Am Ende der auf 24 Wochen ausgerichteten Behandlung unterstützten wir den stabilen Übergang in das selbständige Leben mit einer 4-wöchigen externen Arbeitserprobung und orientierten auf den Verbleib in der Behandlungskette durch Aufnehmen z.B. einer Adaptionsmaßnahme.

Im vergangenen Jahr konnten wir das Konzept um weitere wichtige Bausteine erweitern. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen leben nun in einem Selbstversorgerkontext, in einer WG in einem eigenen Haus. Hier kümmern sie sich nicht nur um die Ordnung im und ums Haus, sondern bereiten nach selbst geplantem und erfolgtem Einkauf Frühstück und Abendbrot selbstständig zu. Durch die Bezugstherapeutin sowie durch ArbeitstherapeutInnen, ErnährungsberaterInnen etc. erhalten sie hierbei Unterstützung und Coaching. Hiermit sollen praktische Fähigkeiten zur Alltagsführung, wichtige Entwicklungsaufgaben wie selbständige Haushaltsführung erlernt und geübt werden. Darüber hinaus bietet das gemeinsame Wohnen und Leben eine ideale Voraussetzung für das Üben von Interaktionen, für Kooperation wie auch Abgrenzung, das adäquate Führen von Konflikten und Finden von Lösungen und dies idealerweise im therapeutisch wertvollen Hier und Jetzt. Besonders glücklich sind wir, seit Existenz der Klinik, also nun schon seit 22 Jahren, auf die Methoden der Erlebnistherapie zugreifen zu können. Gerade junge Menschen, Menschen mit Wunsch nach Erfolg, Aktion und Erlebnis wie z.B. CrystalMeth-Abhängige, aber ebenso Menschen, welche Internet- und PC-Abhängigkeiten haben, profitieren im besonderen Maße von einem handlungsorientierten und ressourcenfördernden Ansatz in Form der Erlebnistherapie. Erlebnistherapeutische Methoden wurden ursprünglich für die Jugendarbeit entwickelt und zielen insgesamt auf die Verbesserung der Fremd- und Selbstwahrnehmung, der sozialen Kompetenz und der Kooperationsfähigkeit ab. Die Erlebnistherapie geht zurück auf Kurt Hahn, einen bedeutenden Exponenten der Reformpädagogik, dem es in seinem pädagogischen Konzept um die „Therapie“ von Verfallserscheinungen der Gesellschaft ging. Seine „Erlebnistherapie“ bestand aus 4 Elementen: Das körperliche Training, die Expedition, das Projekt und dem Dienst am Nächsten. Integriert werden Therapieelemente aus dem Outdoorbereich, bestehend aus gemeinsamen mehrtägigen Kanutouren, Fahrradtouren und GeoCaching. Im Flachseilgarten (gelegentlich im Kletterwald) und am Kletterturm werden sowohl körperliche Herausforderungen und Grenzerfahrungen, als auch gruppendynamische und Problemlöseaufgaben initiiert. In den Wintermonaten stehen komplexe Gemeinschaftsaufgaben bei sogenannten Citybound-Touren in Berlin und Umgebung im Programm. Über diesen handlungsorientierten Zugang wird es den Patienten leichter gemacht, sich auf einer gemeinsamen Ebene zu treffen, sich zu spüren, Zugang zu schwierigen Themen zu finden und diese zu verbalisieren.

Wie hoch ist der Anteil an jungen Patienten in der Fontaneklinik? Jung … also etwa bis max. 30?

Klein-Isberner: Im letzten Jahr 2015 hatten wir von ca. 570 Patienten in der Entwöhnungsbehandlung ca. 29 Prozent (160 Pat.) im Alter bis 30 Jahren. Bis 35 Jahre steigt der Anteil dann nochmal auf gesamt 44 Prozent (246 Pat.). In unserem konzeptionellen Konzept der „jungen Erwachsenen“ waren es 71 Patienten, also ca. 13 Prozent.

 Wie viele sind alkoholabhängig, wie viele eher mehrfachabhängig?

In unserer Statistik sind wir angehalten, wenn möglich Hauptdiagnosen zu stellen, substanzorientiert, deshalb kommt die Diagnose multipler Substanzgebrauch seltener vor. 2015 hatten wir bei den 17-25-Jährigen 47 Prozent cannabisabh., 24 Prozent stimulanzien-(Methamphetamin)abh., 23 Prozent alkoholabh. Patienten. Bei den 26-30-Jährigen 53 Prozent alkoholabh., 23 Prozent cannabisabh. und 19 Prozent stimulanzien-(Methamphetamin)abh. Patienten. Wir nehmen jedoch jüngere Patienten mit einem deutlichen polytoxen Konsummuster wahr.

 Fällt es jungen Menschen schwerer, sich zur Abstinenz zu entscheiden?

Ja! In ihrer Motivation sind sie häufiger fremdmotiviert durch Eltern, Lehre, Justiz etc. Hinzu kommt der lange „… für immer …?“-Schock. Dann erscheint Verzicht auch vor dem Hintergrund der Bezugssysteme, der Kumpels, Cliquen etc. unvorstellbar – wie nun Party machen? Deshalb beschäftigen wir uns in der Therapie genau mit der Abstinenzentscheidung, der Veränderungsmotivation, mit Teilabstinenzentscheidungen („… reicht es nicht, kein Crystal mehr zu nehmen, kann ich nicht wenigstens mal ein Bier trinken …“).

Welche Probleme haben junge Leute mit einer Abstinenzentscheidung? Was bewegt sie? Und was bewegt sie dann doch dahin?

Ich soll ja verzichten, eine Zukunft ohne „Zaubermittel“ verunsichert oft stark: Die Droge hat z.B. Selbstbewusstsein geschaffen, Probleme verdrängt, soziale Offenheit erzeugt usw., wie soll das auf einmal ohne gehen, wenn ich das aber nie gelernt habe? Junge Erwachsene haben sehr oft keinen Abschluss, keine Ausbildung etc. und daher wenig motivierende Erfahrung, etwas aus eigener Kraft zu schaffen: „Wie soll ich Therapie UND danach ein Leben lang Abstinenz schaffen? Dann lasse ich es gleich bleiben.“

In der Therapie geht es darum, sich nochmal klar zu werden, dass es durchaus Dinge gibt, die nicht funktioniert haben wie Schule/Ausbildung, Konflikte in Familie, und Einsicht zu gewinnen, dass emotionale Belastungen durch anhaltenden Konsum weiter bestehen bleiben und sie sich „endlich mal wieder besser fühlen wollen“, dabei helfen Motivationen durch Familie, Partner, (potentieller) Arbeitgeber etc., aber auch der eigene Leidensdruck, Suizidalität.

Werden junge Leute eher rückfällig? Und auch häufiger?

Ja, schon. Das liegt oft in der Natur der Dinge, sprich im Alter. Oftmals fehlt in jungen Jahren die Erfahrung, viel durch Konsum verloren zu haben. Sie sind oft noch körperlich fit und Haus/ PartnerIn/ Kinder sind auch nicht weg – weil oft noch gar nicht vorhanden. Wir beobachten daraufhin auch teilweise einen noch mangelnden Respekt vor der Krankheit und damit eine geringere Bereitschaft, Lebensumstände grundlegend zu ändern, wie z.B. den alten, konsumierenden Freundeskreis. Junge Menschen bewegen sich auch noch mehr in Gruppen von Gleichaltrigen und da ist es dann oft schwer, gepaart mit einer brüchigen Selbstsicherheit, Angebote abzulehnen. Sich zu trauen, als Nichtkonsument anders zu sein. Und zu guter Letzt haben junge Menschen auch eine höhere Impulsivität, neigen zu kurzfristig getroffenen Entscheidungen. Sie sind risikobereiter und überschätzen sich öfter, haben dann Ideen von kontrolliertem Konsum. Bei uns in der Klinik liegen die Jugendlichen und jungen Erwachsenen (17-25J.) bezüglich eines Rückfalls während der Behandlung 4,4 Prozent und die 26-30jährigen sogar 7 Prozent über der Rückfallquote der ab 31jährigen.

Brauchen junge Patienten eine “andere” Therapie?  Auch junge Therapeuten usw.? Was tut sich da in der Fontaneklinik?

Ja, das habe ich dem Fragenkatalog als „Vorwort“ schon vorangestellt. Zusammengefasst versuchen wir, mit den jungen Menschen konkreter zu arbeiten, erlebbarer. Der hohe Erlebnisanteil lässt besser wahrnehmen, aber auch besser speichern. Jeder von uns kennt das; etwas zu kennen heißt noch lange nicht, es zu können. In der Erlebnistherapie ERFAHRUNGEN machen, etwas zu schaffen, anstatt nur darüber zu reden, hilft da sehr. Wir erzeugen durch das Miteinander-Tun auch (oft problematisches) Verhalten, bei Grawe (ein renommierter Therapieforscher) heißt das „Problemaktualisierung“. Und dann können mit der Gruppe und mit den Therapeuten oftmals neue Lösungswege gefunden und möglichst oft stabilisiert werden. Konkret bleiben wir auch mit dem sehr alltagsnahen (Zusammen-) Leben in der Gruppe. Hier ist auch die Rolle der Arbeitstherapie wichtig: Arbeit kann auch motivieren: etwas schaffen, gelobt werden, etwas „Sichtbares“ geleistet zu haben.

Das Alter des Therapeuten kann Vor- und Nachteile haben: „Zu alte“ könnten Elternrolle aktivieren und daher zu Widerstand führen, „sich nichts sagen zu lassen“; im Gegensatz hierzu können ältere Therapeuten aber auch stützen, indem sie dem Patienten das geben, was er von eigenen Eltern oftmals nicht bekommen hat (Zuwendung, Ernst nehmen …) – ergo: Es kommt letztendlich darauf an, wie der Therapeut/die Therapeutin es macht, so, dass er/sie als zugewandt wahrgenommen und  respektiert wird, eine Arbeitsbeziehung geschaffen wird.

Haben junge Leute nach der Therapie andere Probleme „draußen” als ältere?

Ja, schon – das Leben findet mehr in Gruppen statt und oft kommt dann das Gefühl, „nichts verpassen zu dürfen“. Das macht Angst, Außenseiter zu werden. Auch kehren sie, weil oft auch noch in Verbindlichkeiten (Lehre, Eltern etc.) und Angst vor „alleinigen“ Neuanfängen oftmals ins alte Umfeld zurück. Und sie erleben ihren Konsum als Teil ihrer Identität, oft stärker als bei älteren, die auch wissen, wer sie ohne Konsum sind.

Kann man zu jung sein für eine Entscheidung zur Abstinenz? Weshalb, weshalb nicht?

Nein – auf keinen Fall. Es keine Altersgrenze für eine Vernunftsentscheidung pro Leben und Gesundheit. Allerdings steht, wie erwähnt, diese Entscheidung viel intensiver, problematischer und teilweise dramatischer im Fokus der Therapie.

(Interview von Anja Wilhelm)