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Titelthema 5/17: Alkoholismus – Schicksal oder Staatsversagen?

Suchtpolitik

Alkoholismus: Schicksal oder Staatsversagen?

 Mit dem Kanzlerkandidaten Martin Schulz hatte zum ersten Mal ein bekennender trockener Alkoholiker einen Anlauf auf eines der höchsten Staatsämter genommen. Leider hat die Krankheit des Kandidaten aber keinerlei Auswirkung auf den Umgang seiner Partei mit den Themen Alkohol und Sucht. Seine Partei ist nicht allein, sie befindet sich in schlechter Gesellschaft aller anderen Parteien, wie die Antworten auf unsere Wahlprüfsteine in der letzten Ausgabe zeigten.

In Deutschland verhält es sich mit dem Alkoholproblem ähnlich wie mit dem Tempolimit auf den Autobahnen: jeder weiß, dass ein Tempolimit Menschenleben retten, das klimaschädliche CO2 verringern würde usw., kurz, es wäre vernünftig. Aber kein Politiker mit Karrierewunsch würde ernsthaft ein Tempolimit fordern. Autobahnrasen gilt als deutsches Kulturgut, dass der Rest vernünftige Tempobeschränkungen hat, interessiert das Wahlvolk nicht. Als ein weiteres deutsches Kulturgut gilt neben Goethe, Schiller und Bach auch das Saufen. Auch hier gilt: Es verursacht tausende Tote, kostet die Allgemeinheit Milliarden und bringt Leid über Millionen Kinder und, vorwiegend, Frauen in durch den Suff zerrütteten Familien. Ein deutscher Politiker mit Karrierewunsch wird das Problem vielleicht erkennen, aber etwas ändern am deutschen Alkoholproblem wird er nicht wollen, denn dies wäre vorerst das Ende seiner politischen Karriere.

Kampfstern Alkoholoica

Ein Kampfungetüm, vergleichbar mit dem Science-Fiction-Stern, stellt sich ihm in den Weg: Da sind nicht nur der Verband der Deutschen Schnapsbrenner und Schnapsimporteure, es sind deutsche Kulturträger wie der Deutsche Brauerbund („Reinheitsgebot …“) mit tausenden „Kulturschaffenden“ in den Biersiedereien und der Deutsche Weinbauverband mit tausenden Winzern, die die „Kultur“ des Weintraubenverfalls vermarkten. Weitere Teile des Kampfsterns sind internationale „Investoren“ („Heuschrecken“ wurden sie mal genannt), die sich Alkoholkonzerne wie z.B. Anheuser-Bush InBev oder Heineken als Gewinnoptimierer anschaffen, aber auch Lebensmittelkonzerne wie Dr. Oetker verdienen an der Droge Alkohol. Ein weiterer Gegner der einsichtigen Politikschaffenden „ist aufm Platz“, der DFB. Kein Kreisklassenspiel ohne Sponsoring durch den lokalen Bierbrauer, keine Bundesligaspitzenmatch ohne Suff-Sponsor, keine Präsentation eines Fußballspiels im TV ohne alkoholischen Partner. Der Deutsche Fußballsport hängt selber an der Droge Alkohol. In allen Deutschen Bundesligastadien gilt standardmäßig Alkoholverbot, gemäß DFB. Von diesem kann aber durch eine Ausnahmegenehmigung in Absprache mit der Polizei abgewichen werden, diese wird regelmäßig für alle Stadien erteilt, es darf gesoffen werden. Soweit zur Unvereinbarkeit von Sport und Drogen. Auf dem Kampfstern sitzen aber auch noch die Zeitungs- und Zeitschriftenverlage, TV- und Radiosender, die Werbeagenturen, der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband und noch weitere Lobbyisten.

Diese geballte Macht kann schon eine Politiker/innenkarriere auf das Abstellgleis führen, wenn die Forderungen zur Eindämmung der deutschen Alkoholseuche zu konkret werden.

Das Umsetzungsproblem

Spätestens seit 1968 dürfte allseits Klarheit herrschen, Alkohol ist ein krankheitsverursachendes Nervengift, letztinstanzlich wurde vom Bundessozialgericht festgestellt: Alkoholismus ist Krankheit. Aufgrund dessen werden Jahr für Jahr Milliarden Euro zur Behandlung Alkoholkranker ausgegeben. Diese Milliarden werden von allen gesetzlich Versicherten in der Kranken- und Rentenkasse getragen, also einem Großteil der Bürger, behandelt werden aber lediglich etwa zehn Prozent der behandlungsbedürftigen Alkoholiker, mit einer recht bescheidenen Erfolgsquote. Beim Alkohol-Pro-Kopf-Verbrauch liegt Deutschland in der EU regelmäßig auf den vorderen Plätzen. Der Staat versucht, schädliche Einflüsse auf seine Bevölkerung, gerade bei der Jugend, zu verhindern. Keine Schusswaffe ohne Waffenschein, kein hochwirksames Medikament ohne ärztliches Rezept, keine Autofahrt ohne Führerschein … lediglich bei den Volksdrogen Alkohol und Tabak, mit tausenden Todesopfern, herrscht freiheitliches Denken vor. Beim Tabak wurde das Problem erkannt und zaghaft angegangen, da vorwiegend ausländische Tabakkonzerne betroffen sind und die deutschen Arbeitsplätze (Wähler) in der tabakverarbeitenden Industrie weitgehend ins Ausland abgewandert sind. Beim Alkohol scheint es, dass die Politik das Problem auch erkannt hat, die Bundesdrogenbeauftragten mühten sich redlich, die aktuelle Bundesdrogenbeauftragte Marlene Mortler (CSU) hat sich sogar für einen Verzicht auf Alkoholwerbung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgesprochen — warum nur im öffentlich-rechtlichen und nur im Fernsehen? Aber hier geht es um Gewinninteressen deutscher Konzerne und Betriebe von Brauereien, Winzern und Spirituosenherstellern und um deutsche Arbeitsplätze (Wähler), daher besteht wenig Mut, das Problem, ähnlich wie beim Tabak, anzugehen. Es wird allerorten von der Politik die Verhaltensprävention beim Alkoholverbrauch propagiert, die auf das verantwortliche Verhalten des Einzelnen abzielt – „Don´t drink and Drive“, „Alkohol? Kenn Dein Limit“, „Kein Tropfen Alkohol in der Schwangerschaft“ – , das Individuum. Bei Drogen, Waffen und anderen gefährlichen Dingen gilt hingegen die Verhältnisprävention: Werbung für (legale) Waffen oder (legale) verschreibungspflichtige Medikamente ist in der Öffentlichkeit verboten, diese dürfen auch nur in speziellen Geschäften, z.B. Apotheken verkauft werden, beim (legalen) Tabak gelten lediglich Werbeeinschränkungen und die Nikotinprodukte dürfen an jeder Ecke vertickt werden. Begründet werden die Einschränkungen der freien Wirtschaft und des freien Bürgers mit Gefährdung der Allgemeinheit, speziell der Jugend. Wie ist es nach dieser Logik haltbar, dass Jugendliche legal an Alkohol gelangen und umworben werden, Kinder in fast jedem Supermarkt problemlos an Alkohol gelangen, wie vielerlei Testkäufe zeigen? Das durchschnittliche Alter bei Alkoholerstkonsum liegt bei 13,8 Jahren! In allen großen Ländern Europas gilt ein Alkoholersterwerbsalter von 18 Jahren, ob Russland, Polen, Frankreich, Großbritannien, Italien, in Deutschland beginnt der legale Rausch mit 16. Alkoholisierte Autofahrer können (legal) umherfahren, obwohl sich in jedem Betrieb Alkohol und gefahrgeneigte Tätigkeiten ausschließen, tausende Alkoholunfälle mit etlichen Toten werden jährlich dokumentiert.

Häusliche Gewaltvorfälle gegenüber Partnern oder Kindern laufen meist unter Alkoholeinfluss ab. Ein hoher Anteil der Gewaltkriminalität wird unter Alkoholeinfluss begangen oder erlitten. Hier geht es nicht speziell um alkoholkranke Menschen, sondern um Menschen, die „normal“ im Alltag mit Alkohol umgehen.

Ein Erkenntnisproblem gibt es nicht. Fachleute, z.B. der Deutsche Verkehrsgerichtstag, fordern 0,0 Promille im Straßenverkehr, der Deutsche Ärztetag setzt sich für ein Verbot der Alkoholwerbung ein etc. Im Ausland sieht man die Alkoholseuche als gesellschaftliches Problem und geht Alkoholprävention konsequent und erfolgreicher an, z.B. mit Werbeverboten, Mindestpreisen für Alkoholika, Beschränkung der Verfügbarkeit und drastischen Steuern. Apropos Steuern: In Deutschland wird mittels Steuern der Alkoholverbrauch im Sinne der deutschen Alkoholwirtschaft gesteuert. Alkopops, also Fertigmixgetränke aus Spirituosen und Limonaden (ca. 5,5 Vol.%), die vorwiegend von internationalen Konzernen produziert werden, werden mit 55,00 Euro je Liter reinen Alkohols besteuert, (vorwiegend deutsches) Bier (ca. 5 Vol.%) mit 1,97 Euro, (vorwiegend deutscher) Wein mit 0,00 Euro, also gar nicht besteuert. Eine logische Begründung für das Steuerchaos wurde noch nicht vorgelegt, eine Initiative von Finanzpolitikern, zu einer konsistenten Alkoholsteuerpolitik zu gelangen ist mir nicht bekannt und auch für die nächsten vier Jahre nicht zu erwarten. Aber kühler Kopf und Sachverstand ist beim Thema Alkohol weder bei den Alkoholverbrauchern noch bei den Politikern zu erwarten. Denn bei kühler Rechnung müsste man bei einem Gesamtumsatz der Alkoholindustrie in Deutschland im Jahre 2015 von ca. 12 Mrd. Euro (DHS) und Alkoholsteuereinnahmen von ca. 3,2 Mrd. (DHS) Euro bei einem volkswirtschaftlichen Schaden von über 40 Mrd. Euro (DHS) erkennen, dass nicht nur die Trinker, sondern auch die deutsche Gesellschaft ein schlechtes Geschäft macht, denn die Allgemeinheit der Bevölkerung zahlt die Differenz durch höhere Lohnsteuern und höhere Beiträge bei den gesetzlichen Renten- und Krankenkassen.

Nebenbei, es wird gerade ein neuer Markt aufgemacht, da durch die demographische Entwicklung – die Deutschen werden älter und muslimischer – der Alkoholabsatz sinkt, wird demnächst der große Cannabis-Markt legalisiert, Politiker fast aller Parteien sind dafür. Die Hedgefonds reiben sich schon die Finger. Der erste Schritt ist schon gemacht, Cannabis auf Rezept, bezahlt von den Krankenkassen, Frau Mortler jubelt auf ihrer Website „Cannabis: Rund 80 Prozent mehr Verordnungen zwischen März und Mai 2017“ …

Geschätzt etwa 2,5 Millionen Bundesbürger gelten allein als alkoholkrank, die Dunkelziffer ist wesentlich höher. Was würde passieren, wenn diese große Vielzahl an Menschen nicht mehr saufen würde, sondern nachfragen, was die Damen und Herren Politiker sonst so machen, außer mit den Alkohol- und anderen Lobbyisten festlich zu tafeln. Man kann den Eindruck gewinnen, dass in Deutschland der Alkoholverkauf an alle, zu jeder Zeit, an (fast) jedem Ort System hat. Politikerinnen und Politiker in der neuen Regierung sollten sich aber als erstes dafür einsetzen, dass die Droge Alkohol im Gesundheitsministerium und nicht wie z.Zt. auch im Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher angesiedelt wird. Alkohol ist kein Ernährungsmittel oder normales Wirtschaftsgut, es ist ein Nervengift.

Torsten Hübler