Angst und Sucht
Trinke ich zu viel, weil ich unter Ängsten leide? Oder entwickle ich Ängste, eben weil ich zu viel trinke? Dass ein Zusammenhang zwischen beidem besteht, daran gibt es kaum Zweifel: Wie statistische Erhebungen belegen, leben etwa 14 Prozent der deutschen Erwachsenen mit einer Angststörung, ob mit Panikattacken, Furcht vor Menschen, engen Räumen oder in ständig überhöhter Sorge. Und bei zehn Prozent dieser Menschen wird auch eine Alkoholabhängigkeit festgestellt. Die TrokkenPresse wollte mehr über den Zusammenhang wissen und sprach mit Dr. med. Andreas Dieckmann, Arzt für Neurologie und Psychiatrie/Psychotherapie/Psychoanalyse/Sozialmedizin.
Aus Erfahrungen, Studien und eigenem Leid wissen wir, dass suchterkrankte Menschen oftmals auch unter verschiedenen Ängsten leiden …
Dr. Dieckmann: Das wundert mich nicht. Wer würde schon über das Maß des (V-)erträglichen hinaus auf Dauer ein Suchtmittel in sich aufnehmen, wenn er gleichzeitig feststellt, dass es ihm erheblichen Schaden zufügt – zwischenmenschlich, in der Leistungsfähigkeit und gesundheitlich? Forschende haben schon vor langer Zeit festgestellt, dass hinter einer Suchterkrankung fast regelmäßig ein seelisches Problem steht, das die Lebensqualität erheblich einschränkt. Wir nennen das eine „Grundstörung“. Alkohol etwa hat da oft die Wirkung eines allumfassenden Hilfsmittels. Das beruhigt den eher Aggressiven, aktiviert den Gehemmten, löst Ängste. Die Droge stabilisiert in der Zeit der aktuellen Wirkung sogar das Selbstwertgefühl. Trinkende Menschen lernen dann, wie und wann bei ihnen welche Wirkung eintritt. Das können sie dann (fast) perfekt steuern.
Betroffene haben eher den umgekehrten Eindruck: Erst kommt das Trinken. Und dann die Angst, als eine der biopsychosozialen Folgen …
So erleben viele suchtkranke Menschen das, weil sie schnell gelernt haben, dass manchmal kaum gespürte Unbehagen zu mildern. Der gescheiterte Versuch der Selbstheilung mit dem Wundermittel endet ja leider meist im Desaster: Die ideale Substanz hat die „Nebenwirkungen“ des geistigen, körperlichen und sozialen Zerfalls. Deshalb kann man sich außer den körperlichen und sozialen Problemen tatsächlich auch eine seelische Störung „antrinken“. Ausgangspunkt ist aber zumeist eine im Hintergrund schwelende psychische Problematik, die den Betroffenen gar nicht bewusst sein muss.
Das heißt, so wie bei mir beispielsweise: Ich wusste nichts von meiner Angststörung, sondern ich habe mich mit Alkohol nur einfach viel leichter und endlich mal ohne den ständigen Druck von Sorgen gefühlt?
Ja. Sie oder er beginnt mit dem „einen“ Entspannungsbier und landet in der Gewohnheit bis zum Kontrollverlust. Allerdings entwickeln nur etwa zwei bis drei Prozent der Bevölkerung eine manifeste Suchterkrankung. Da gibt es dann so etwas wie eine Spirale: Das Trinken lässt allmählich Schmerz, aber auch Angst und Konflikte verschwinden. Es kommt zur Gewöhnung und zur Dosissteigerung, um die volle Wirkung zu erhalten. Natürlich bleiben dann – meist für andere schneller – erkennbare dauerhafte Schäden nicht aus. Paradoxe, aber verständliche Folge ist der Versuch der weiteren Dosissteigerung. Er ist, wie wir wissen, zum Scheitern verurteilt. Die dauernde Verleugnung der eigenen Situation ist den meisten Abhängigen lange nicht einmal bewusst. Sie leben, wer weiß das besser als Ihre Leser, in einer anderen Welt und ein „unbelebter“ Stoff, wie es ein Kollege beschrieben hat, wird zum Partnerersatz, der scheinbar nur gibt und nichts fordert.
Aus all dem, was Sie Grundstörung genannt haben, interessiert uns aktuell vor allem die Angst.
Ich bin gelegentlich froh, mit Ängsten konfrontiert zu sein. Die Angst, auf der Straße überfahren oder in der Nacht Opfer eines Überfalls zu werden, ist mir nicht unangenehm. Sie hilft mir, aufmerksam zu bleiben und die notwendigen Maßnahmen zu treffen, mich vor einer Gefahr zu schützen. Ich durfte einmal einen alkoholkranken Patienten ein Stück des Weges seiner Genesung therapeutisch begleiten, der k e i n e Angst erleben konnte. Dafür wurde er von den Mitpatienten beneidet. Aber neben dem Genuss für die Bewunderung der anderen konnte er in ruhigen Stunden Geschichten erzählen, wie er in große Schwierigkeiten gekommen war, w e i l er keine Signalangst verspüren konnte. Angst ist also zunächst nicht krankhaft. Es gibt andererseits sogar die Lust an der Angst – im Sport, auf dem Jahrmarkt oder bei bestimmten sexuellen Praktiken.
Wie entsteht die Angst denn eigentlich?
Kleine Kinder gewinnen ihr Selbstbewusstsein durch eine verlässliche Bezugsperson, meist die bedingungslos liebende Mutter. Sie gibt dem Kind Sicherheit durch fast stetige Anwesenheit, bis das Kind die Gewissheit kennt, dass die Mutter immer wiederkommt. So können dann auch längere Phasen allein verbracht werden – ohne das Gefühl der Verlassenheit und der damit verbundenen Angst und Panik. Auch die Phase des „Fremdelns“ hat eine wichtige Funktion, nämlich bei jeder neuen Bekanntschaft zu prüfen, ob sie „gefährlich“ oder freundlich ist. Wovor das Kind sich fürchten sollte, lernt es ebenfalls von der Mutter. So dient die Angst dem Schutz des heranwachsenden Kindes. Not wendende Angst entsteht aus dem Erkennen des Unbekannten, um nicht in Gefahr zu geraten.
Dann wäre ja Angst gar nichts Krankhaftes?
Schön wär‘s. Aber Sie haben meiner Ansicht nach recht: Die Signalangst und die Furcht vor der Gefahr sind möglicherweise überlebenswichtig. Es gibt aber eben auch irrationale Ängste, etwa bei Menschen mit einer „generalisierten Angsterkrankung“, die zunächst Ängstlichkeiten entwickeln, die sich allmählich verstärken und verfestigen. Der Mensch wird zunehmend verunsichert und erlebt Angst und sogar die Angst vor der Angst bis in das Körperliche hinein. Solche Menschen haben in ihrer Entwicklung oft die innere Sicherheit nicht erlangen können, sich Schutz zu holen oder sich selbst zu beschützen. Solche Zustände treten auch auf, wenn es ein zunächst verdrängtes – also nicht bewusst erinnerbares – bedrohliches Trauma gab, dessen Angstgefühle dann im Erwachsenenalter erlebt, aber nicht verstanden werden, weil das Unbewusste die Erinnerung nicht freigibt. Spektakulär, aber in Gegenden mit zivilisierten Verhältnissen seltener sind akute Traumata, die ebenfalls das Grundgefühl einer eher inneren Sicherheit zerstören. Das kann entweder zu einer „Gefühllosigkeit“ oder einem Panikerleben führen.
Außerdem gibt es die Vermeidungsängste (Phobien). Wir kennen aber auch Zwangsängste, bei denen Furchtbares befürchtet wird, wenn man nicht bestimmte Handlungen vollführt. Weiterhin gibt es Ängste bei Depressionen, Schizophrenien und Borderlinestörungen und natürlich auch Ängste vor und bei körperlichen Erkrankungen und vor Schmerzen. Schließlich können auch Hirnerkrankungen große Ängste auslösen.
Viele Ängste kann man heute verstehend nachvollziehen wie im folgenden Beispiel die phobische Angst einer begüterten, aber nicht glücklichen Ehefrau und Mutter, die zuvor beruflich erfolgreich war, die aber nun das Haus nur noch in Begleitung ihres Mannes angstfrei verlassen konnte. Während einer Therapie stellte sich heraus, dass sie im Innern die ihr allein nicht zugängliche Befürchtung hegte, sie werde mit einem alleinigen Ausflug aus dem Haus den familiären Pflichten entfliehen und möglicherweise nicht wiederkommen. Sie fürchtete sich also vor den eigenen inneren Impulsen. Ihre Angst hielt sie im Zaum, genauer, im Haus, und verhinderte, dass sie sich ihrer Impulse bewusstwurde. Das Verlassen des Mannes und der Kinder lag außerhalb ihrer ihr zugänglichen moralischen Vorstellungen. Das Beispiel zeigt: Angst hat immer eine Funktion! Es ist nur die Frage, ob sie eine nützliche oder nicht nützliche, also dysfunktionale Bedeutung hat. Dieses Beispiel unterstreicht , wie wir komplementäre Seiten haben. Auch der gute Mensch hat egoistische Züge an sich und umgekehrt, der aggressive Mensch hat eine friedliche Seite und so weiter. Das gilt es zu erkennen und ohne Suchtstoffe miteinander in Einklang zu bringen, um die persönliche Individualität leben zu können.
Eine Grundstörung, wie Sie sagen, ist also eine Art Auslöser für den Alkoholismus. Kann das Trinken nicht andersherum auch Ursache für psychische Störungen sein?
Da kommt es auf die Umstände an. Ein Mensch, der mit fünf Gläsern Bier durch die Woche geht, wird selten einen Schaden davontragen, wenn er nicht zu den wenigen Menschen zählt, die eine vererbte oder seelische Disposition haben. Natürlich ist es sinnvoll, deutlich weniger Alkohol zu sich zu nehmen. Wenn jemand aber mit seinem Drogenkonsum seine innere Orientierung verliert, dann sind psychische Symptome, also auch krankhafte Ängste und andere seelische Erkrankungen durchaus nicht auszuschließen.
Alkoholentwöhnungs-Therapie und dann ab nach Hause … da nimmt man doch die Angststörung, gegen die man angetrunken hat, wieder mit und ist besonders rückfallgefährdet? Oder sollte erst eine Angststörung behandelt werden, bevor man entwöhnt?
Die Seele lässt sich nicht in kleine Module aufteilen und nacheinander abarbeiten. Manche sprechen sogar von „Doppeldiagnosen“, wenn von Sucht und einer zusätzlichen psychischen Störung ausgegangen wird. Diese Vorstellung ist mir fremd. In der Rehabilitation und der Psychotherapie besteht der Anspruch auf eine ganzheitliche – biopsychosoziale – Behandlung. Die Probleme hängen immer zusammen und sollten so auch behandelt werden, damit die Patientin oder der Patient sich (wieder)finden kann. Unser Selbstkonzept (das Kennen und Einordnen unserer Eigenschaften, zwischenmenschlichen und praktischen Fähigkeiten, aber auch Vorlieben) in die Eigenverantwortung zu nehmen, um kein selbstschädigendes Leben mehr zu führen. Das ist das Ziel jeder Behandlung. Ein Therapietourismus ist im Prinzip wenig hilfreich.
Wie wird einem Patienten mit Angststörungen psychotherapeutisch geholfen, welche Wege gibt es, wo finde ich Hilfe?
Zunächst gilt es, dass sich Menschen gesund entwickeln können. Dabei haben Eltern, Betreuer, Lehrer, ja, die ganze Gesellschaft eine hohe Verantwortung. Geliebte Kinder mit einer sicheren familiären Bindung und der Akzeptanz ihrer Persönlichkeit können mit Realängsten umgehen und leben in weniger ängstigenden Widersprüchen. Das ist die beste Vorsorge gegen Ängste und andere psychische Störungen. Da gibt es in unserer Gesellschaft noch viel zu tun. Ich nenne nur das Thema Inklusion: Das Schulsystem ist auf Anderssein nicht eingerichtet – und der Berliner Senat behauptet sogar wider besseren Wissens, die Inklusion sei verwirklicht. Das ist nur ein Beispiel gesellschaftlichen Versagens. Ein anderes ist die stets nur repressive Reaktion der Politik auf Gewalt. Sie entsteht aus Angst und braucht etwas anderes als staatliche Gegengewalt, nämlich Kultur im weitesten Sinn. Aber das weiß man eigentlich schon sehr lange. Und schließlich kann jeder einzelne Mensch mit einer freundlichen Beziehungsgestaltung dazu beitragen, seelische Konflikte bei sich und anderen zu vermeiden.
Auftretende Erkrankungen können stationär oder ambulant, teils medikamentös, aber wesentlich wichtiger, auch psychotherapeutisch behandelt werden. Da gibt es verschiedene Schulen mit vergleichbaren guten Ergebnissen. Verhaltenstherapeutinnen und -therapeuten bemühen sich darum, die Automatismen der Angstentwicklung zu unterbrechen und sie der eigenen Kontrolle zu unterwerfen. Psychodynamische Therapien unternehmen den Versuch, die Angstauslöser als bisher ungelebte Chance zu verstehen, die es künftig realistisch zu gestalten gilt.
Haben Sie dafür vielleicht ein Beispiel, ich kann es noch nicht verstehen. Ich habe Angst vor allem, was passieren könnte, das Haus brennt ab, oder es steht unter Wasser oder, oder … zum Beispiel die Spinnenphobie: Wie kann der Automatismus unterbrochen werden und wie es als Chance gesehen werden?
Die Tiefenpsychologie versucht mit der oder dem Betroffenen die Funktion der Angstentwicklung zu verstehen und deren zunehmende Dysfunktionalität, sodass die Psyche auf das Symptom verzichten kann. Das klingt, so kurz formuliert, sehr einfach, ist aber oft recht komplex, weil Verstehen noch nicht Heilung bedeutet. Das aufwendige Verfahren ist dafür nachhaltiger. Die Verhaltensmedizin setzt auf verschiedene, meist kognitive Verfahren. Bei der Spinnenphobie lässt die Therapeutin die Patientin etwa erleben, dass die Angst nicht nötig ist. Die Wirkung setzt so recht schnell ein.
Medikamente können ja auch eingesetzt werden und in anderen Staaten werden zum Teil schon Psychedelika wie Pilze oder LSD gegen Depressionen oder Ängste genutzt: Könnten sie Suchtkranken gefährlich werden?
Selbstverständlich sind Psychopharmaka auch im Einsatz und können unter der sorgfältigen Indikation eines suchterfahrenen Psychiaters eingesetzt werden. Anders ist es mit dem therapeutischen Einsatz von Psychedelika, also bewusstseinsverändernden Stoffen. Solche Stoffe werden bei Schmerzpatienten und in der Palliativmedizin eingesetzt. Für Menschen, die Erfahrungen mit der Sucht haben, sind sie – kurz gesagt – absolut ungeeignet.
Wie kann ein abhängiger Mensch mit Angststörung nun Hilfe finden?
Leider gibt es da große Probleme, weil es viel zu wenige Therapieplätze gibt und weil sowohl angst- als auch suchterkrankte Menschen oft mehr als einen Behandlungsanlauf brauchen. Psychotherapeuten rechnen ihre Leistung nach Sitzungsstunden ab. Wenn Patienten unzuverlässig sind, sinkt ihr Einkommen. Daher finden diese Patienten noch schwerer einen Therapieplatz.
Eine kompetente Anlaufstelle für Hilfe ist in Berlin die Angstambulanz an der Charité, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie | CCM – Charité – Universitätsmedizin Berlin (charite.de). Natürlich kann man auch mit dem Arzt seines Vertrauens über das Problem sprechen. Mit einer psychotherapeutischen Behandlung werden sehr gute Erfolge erzielt. Aus der Selbsthilfeszene weiß ich, dass suchtkranke Menschen aus verschiedenen Gründen oft der Therapie skeptisch gegenüberstehen. Ein sehr hilfreicher Anlaufpunkt ist dann die Selbsthilfe. Im Internet gibt es ein großes Angebot, vom „Selbsthilfe- und Stadtteilzentrum Neukölln“ bis zur „Mauerritze im Kulturhaus Spandau“. Krankenkassen, Caritas, die Diakonie und andere Verbände helfen bei der Suche nach lokalen Selbsthilfegruppen bundesweit. Wer nicht allein googlen kann, lässt sich helfen. Ein wenig Schutz vor unseriösen Angeboten bietet der Verzicht auf Nutzung von „Anzeigen“. Über die Wirksamkeit der Selbsthilfe brauche ich Ihrer Leserschaft keine Vorträge zu halten. Sie weiß, dass zwischenmenschliche Beziehungen zu neuen Erfahrungen führen, die die toxischen Illusionen chemischer Beziehungen weit übertreffen und haltbar bleiben.
Herzlichen Dank, lieber Dr. Dieckmann!