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TrokkenPresse 3-24: Wie Medikamente abhängig machen können

Die stille Sucht:

Medikamente abhängig machen

Etwa 2,9 Millionen Menschen sind in Deutschland abhängig von Medikamenten oder nehmen sie problematisch ein. Und das sind nur Schätzungen, die Dunkelziffer mag sehr viel höher liegen. Es gibt viele Hilfen für sie, dennoch suchen nur wenige eine Suchtberatung auf. Medikamentenabhängigkeit wird auch als „die stille Sucht“ bezeichnet, man sieht sie nicht, sie schleicht sich leise ein …Wir sprachen mit Apothekerin und Dozentin Vivian Wagner aus Berlin. Sie ist aktiv in der Berliner Initiative gegen Medikamentenmissbrauch und arbeitet im ehrenamtlichen Projekt der Apothekerkammer Berlin „Apotheke macht Schule“ mit.

Ab wann missbraucht man Medikamente, ab wann ist man abhängig? Wie bemerkt man das, auch selbst an sich?

Leider ist der Übergang oft schleichend und schwer zu erkennen. Ein Fehlgebrauch (zu viel/zu oft/zu lange) kann häufig zum Missbrauch übergehen. Je psychoaktiver, also bewusstseinsverändernder die Substanz, desto schneller dann die Abhängigkeit. Gefährdende Kofaktoren sind andere Abhängigkeiten und psychische Erkrankungen wie z.B. Depressionen. Wie Sie es an sich selbst erkennen können, lesen Sie bitte im Kastentext s.u.

Es heißt, 5 Prozent der rezeptpflichtigen Medikamente haben Suchtpotenzial: Welche gehören dazu?

Alle, die zentral wirksame Substanzen enthalten: Die also die Blut-Hirnschranke überwinden, die schützende Grenze zwischen Blut und Gehirn. Die schlimmsten Abhängigkeiten sehen wir bei Schmerzmitteln (wie Opioide), Schlafmitteln- und Beruhigungsmittel (wie z.B. Benzodiazepine oder Antidepressiva). Sie sollen ja auch bis ins Gehirn gelangen und dort „arbeiten“.

Woher kommt ihr Suchtpotenzial?

Sie docken an die Rezeptoren körpereigener Botenstoffe an, die das Belohnungssystem befriedigen, wie Dopamin und GABA. Die Wirkstoffe selbst sind unterschiedlich stark suchterregend, aber wichtig ist auch, wie sie verpackt sind: Wenn man das Mittel auflöst und trinkt oder als Tropfen nimmt, ist das schneller süchtig machend, weil sie im Suchtzentrum im Gehirn schneller anfluten als eine Depot-Tablette. Meist dürften sie auch nur zwei Wochen angewendet und müssen dann ausgeschlichen werden. Die Medikation sollte dann geändert werden auf weniger süchtig machende Mittel. Das ist die Kunst des Arztes.

Weshalb werden Menschen dann doch süchtig, obwohl sie von ihren Ärzten doch den Gebrauch vorgeschrieben bekommen?

30 Prozent der Patienten, so sagen Versorgungsforschungen, nehmen ihre Medikamente tatsächlich nicht genau nach Plan ein, sondern nach eigenem Gusto. Medikamente, die ihnen guttun, zum Beispiel höher dosiert und Medikamente, die nicht so beliebt sind (Blutdruckmittel, Entwässerungsmittel) gar nicht oder niedriger dosiert. Der größte Unsicherheitsfaktor ist der Mensch: Was macht er mit sich? Die Sucht entsteht auch nicht nur durch den Stoff, sondern die Suchtmaschine im Kopf.

Weshalb gibt es überhaupt Medikamente, die abhängig machen, wäre das nicht vermeidbar?

„Keine Wirkung ohne Nebenwirkung“ ist ein altes Gesetz. Bei vielen Arzneistoffen kann man erst nach jahrelanger Praxiserfahrung sagen, wie gefährlich sie sind. Heroin zum Beispiel war vor dem ersten Weltkrieg ein Medikament für alles Mögliche … Die klinischen Studien zur Zulassung reichen da nicht aus. Andererseits brauchen wir die zentral wirksamen Substanzen mit dem Gehirn als Angriffsort, weil wir für die Schmerzlinderung, die Narkose und psychiatrische Erkrankungen die Neurotransmitter im Gehirn beeinflussen müssen. Insofern arbeitet die Pharmaindustrie verstärkt daran, Arzneistoffe herzustellen, die noch selektiver wirken oder baut Arzneistoffe mit ein, die die Nebenwirkungen gleichzeitig bekämpfen sollen, wie Naloxon bei Opiaten. Das geht aber nur bedingt.

Es heißt, 10 Prozent der freiverkäuflichen Medikamente haben ebenfalls Suchtpotenzial! Welche zum Beispiel und wie hoch ist die Gefahr, davon abhängig zu werden?

Schlafmittel mit Diphenhydramin, Doxylamin, Erkältungsmittel mit ephedrinhaltigen Substanzen, Nasensprays, Hustensäfte mit Dextromethorphan. Meistens sind es zentral wirksame Substanzen. Aber auch Schmerzmittel wie Ibuprofen, Paracetamol und Aspirin können abhängig machen, wenn sie zu oft, zu hoch dosiert und zu lange genommen werden.

Einfache Kopfschmerztabletten?

Die Substanzen selbst nicht, aber es ist dieses Belohnungssystem im Gehirn – wenn ich registriere, der Schmerz geht weg, das Hämmern, wenn ich eine Tablette nehme … Aber wenn man die Tabletten öfter als zehn Tage im Monat einnimmt, kann ein sogenannter medikamenteninduzierter Kopfschmerz entstehen und dann ist man in der Endlosschleife, dann muss man unbedingt zum Arzt. Diese Mittel kann man aber von einem Tag auf den anderen absetzen, weil es keine psychische Abhängigkeit gibt.

Warum betrifft die Medikamenten-Abhängigkeit mehr Frauen (70%) als Männer?

Das hat etwas mit Rollenverständnis, Erziehung, Sozialverhalten zu tun. Frauen leiden still, wollen nicht auffällig werden und die Mehrfachbelastung von Familie und Beruf irgendwie aushalten. Sie warten oft zu lange, bevor sie etwas verändern, denn sie sind oft finanziell abhängig in Partner- und Beschäftigungsverhältnissen.

Alkoholentgiftung und Benzodiazepine als Begleitmedikament, ist das nicht ein Widerspruch? Nicht wenige Patienten sind dann benzo-abhängig …

Warum macht man das im Entzug? Weil die Gefahr von epileptischen Anfällen sehr hoch ist, je nachdem, wie lange man abhängig war. Man kann auch Antiepileptika einsetzen, aber einige wie Gabapentin können auch süchtig machen. Ein großes Problem, weil man das Gehirn versucht zu entkoppeln mit Substanzen, die genau da auch ankoppeln und indirekt dieses System weiter am Laufen halten, das ist eine große Gefahr. Es muss langsam wieder runtergefahren werden. Das wird vielleicht in der Klinik gemacht, aber im Alltag oft nicht richtig begleitet. Ich kenne so viele Fälle!

Bemerken Sie als Apothekerin, wenn Patienten abhängig sind?

Ja, oft. Schon am Verhalten, das ist so eine bestimmte Ausstrahlung. Sie sind nervös, wenn man länger aufs Rezept guckt, ängstlich, unruhig und wollen schnell wieder weg. Ein Beispiel: Es wird meist Freitagnachmittag angerufen, ob wir das Medikament, oft Benzos, vorrätig haben, auf einen Namen reserviert und dann kommen sie kurz vor Ende der Öffnungszeit mit Privatrezepten oder gefakten Rezepten. Freitagabend ist kein Arzt mehr in der Praxis, so dass ich nicht mehr recherchieren kann, ob er das Rezept ausgestellt hat oder das Rezept geklaut ist oder ob es gefälscht ist …

Weisen Sie Kunden darauf hin, wenn etwas süchtig machen kann?

Ja, täglich, es ist wichtig, aufzuklären, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist. Ich spreche auch aktiv Patienten an, wenn ich sehe, dass der Arzt das Mittel als Privatrezept ausstellt, z.B. Benzodiazepine und frage sie, warum sie es nehmen, welcher Art Schlafstörungen sie haben und wie lange sie es schon nehmen. Und kläre auch über die Gefahr auf, wenn sie das weiterhin machen.

Nehmen die Patienten das an?

Die meisten nicht. Es gibt aber Patienten, die ich so zur Abstinenz begleiten durfte. Ältere Damen, die jahrelang eine halbe Benzo genommen haben, weil der Arzt sagte, das schadet nicht. Gerade bei Älteren ist das aber hochgradig gefährlich, sie verstoffwechseln es langsamer. Dann gehen sie nachts auf die Toilette, stürzen über ihren eigenen Teppich und landen mit Oberschenkelhalsbruch im Krankenhaus.

Sie sind aktiv in der Berliner Initiative gegen Medikamentenmissbrauch. Was ist das Ziel?

Ein ganz wichtiges zum Beispiel: Gesundheitskompetenz muss ein Schulfach werden.

So wie Bio oder Mathe? Warum?

Eine Studie in Nordrhein-Westfalen hat ergeben, dass 40 Prozent der Deutschen nicht über ihren Körper und seine Funktionen Bescheid wissen und auch nicht über Medikamente, die sie nehmen. Wenn ich mir überlege, dass die meisten, die zu uns reinkommen, den festen Wunsch nach einem Mittel haben, von dem sie über Bekannte gehört haben, bei Tiktok, Instagram oder Google und gar nicht wissen, was sie da kaufen und kein Wissen über ihre Erkrankung haben, finde ich das fatal. Gesundheitskompetenz sollte ein Pflichtfach sein, mindestens genauso wichtig wie Bio oder Chemie. Es fallen ja auch immer mehr freiverkäufliche Medikamente in die Selbstmedikation. Gesundheitsminister Lauterbach hat das schon erkannt, im Bildungsministerium wird bereits darüber gesprochen, viele Fachkreise und Ärzte sind sich des Problems voll bewusst. Früher kannte man ja auch seine Hausmittelchen von Kamillentee bis Quarkwickel und Zwiebelsaft, das wurde von Generation zu Generation übergeben, da hat man die Verantwortung nicht bei der Pharmaindustrie abgegeben.

Worauf muss ich als Patient nun insgesamt selber achten?

Die wichtigsten Grundsätze der WHO für Medikamente mit besonderem Suchtpotenzial wie Opioide sind: By the ladder – nur durch ärztliche Verschreibung, by the mouth – schlucken ist besser als spritzen, by the clock – das feste Einnahmeschema einhalten, und for the individual – immer alles noch individuell abwägen. Das sollte jedem Arzt und Apotheker heilig sein. Patienten können Beratung aktiv einfordern, dazu sind Apotheker und Ärzte sogar verpflichtet, das ist ihr Job. Bereits Abhängige sollten sich unbedingt Hilfe suchen, zum Beispiel in einer Suchtberatungsstelle oder in einer Selbsthilfegruppe.

 

Für das Gespräch bedankt sich: Anja Wilhelm

Warnzeichen: Sind Sie doch schon abhängig? (Quelle: Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen,
www.medikamente-und-sucht.de)

Menschen, die auf Dauer Medikamente mit einem Abhängigkeitspotenzial einnehmen, sollten auf folgende Beschwerden achten: Konzentrations- und Gedächtnisprobleme, ein gedämpftes Gefühlsleben, körperliche Abgeschlagenheit, Energielosigkeit sowie Schlafprobleme – das können Symptome einer beginnenden Abhängigkeit sein. Haben die Medikamente anfänglich wunderbar gewirkt, lässt die Wirkung nämlich nach Wochen und Monaten ganz allmählich nach, die anfänglichen Beschwerden tauchen oft verstärkt wieder auf.

Weitere Hinweise können sein:
– Indikationserweiterung: Wenn Sie zum Beispiel beginnen, Ihr Schlafmittel auch tagsüber gegen Unruhe zu nehmen.
– Fixierung auf die Medikamente: Wenn Sie ohne Ihre Tabletten nicht mehr aus dem Haus gehen, sich eine Reduktion oder ein Absetzen der Tabletten gar nicht mehr vorstellen können.
– Dosissteigerung: Wenn Sie mehr Tabletten einnehmen, als Sie sich vorgenommen haben.
– Heimlichkeit: Wenn Sie verschweigen, dass Sie sich zusätzliche Quellen suchen und sich Benzodiazepine zum Beispiel von weiteren Ärztinnen und Ärzten verschreiben lassen.