Neue Serie:
Die Tücken der Sucht
Von Winfried Lintzen
Suchttherapeut der PBAM Berlin-Schöneberg
Viele Abhängige finden den Weg zur Abstinenz, bevor viel im Leben zu Bruch geht, nur wenige bringt die Sucht ins Heim oder ins Grab. Doch jeder Rückfall kann für das Gelingen des Lebens gefährlich werden. Je weniger Rückfälle, desto besser. Deshalb lohnt es sich, die Tücken der Sucht zu kennen.
(1) Sucht ist ein bösartiges Gewächs im Kopf
Hirn wächst: Die Zellen vernetzen sich und das Netz wird umso stärker, je öfter sich etwas wiederholt und je heftiger es mit Gefühlen einhergeht.
Wird über lange Zeit regelmäßig ein Suchtmittel konsumiert, entsteht ein Nervenzellnetzwerk, in dem alles gespeichert ist, was mit dem Konsum zu tun hat: wieviel und wie oft konsumiert wurde; wie der Konsum wirkt und was man damit anfangen kann; wie man vor sich selbst das nötige Lügen und Verheimlichen rechtfertigt usw. – Sobald es durch einen Auslösereiz aktiviert wird, sorgt das Verhalten komplett für sich selbst, es findet den Weg zu seinem Ziel buchstäblich „wie im Schlaf“, sogar dann, wenn die Betroffenen es gar nicht mehr wollen. Es ist wie das Gängeschalten im Auto, das ebenso „instinktiv“ und nebenbei abläuft und keine bewusste Steuerung mehr braucht.
Je stärker das Suchtnetzwerk ist, desto öfter setzt es sich gegen alles durch, was im Leben wichtig ist. Langsam aber sicher wird das ganze Leben der Sucht untergeordnet, gnadenlos: die Interessen, der Beruf, die Familie, die Gesundheit, das Leben. – Stoppen kann diesen Prozess nur die Abstinenz.
(2) Sucht stellt sich tot
Nervenzellnetzwerke werden nicht abgebaut, selbst wenn sie jahrelang nicht mehr aktiviert werden. Bekannt ist dieser Effekt vom Radfahren, auch das kann man nicht mehr verlernen. – Abhängige, die die Abstinenz beenden, müssen damit rechnen, dass ihnen früher oder später der Konsum wieder entgleist.
Bei manchen stellt sich bereits nach kurzer Zeit das alte Konsumverhalten wieder her. Andere jubeln, wenn sie es schaffen, mehrmals zu konsumieren, ohne das frühere Verlangen zu spüren. Das ermutigt sie, wieder öfter zu konsumieren. Manchmal muss es dann erst zur Katastrophe kommen, bevor sie zur Abstinenz zurückkehren: Jemand hatte nach einem Jahr Abstinenz mehrmals bloß ein Bier getrunken, ohne weiteres Verlangen. Doch dann waren es plötzlich einmal vier, und er kam auf die Idee, mit dem Wagen noch schnell was zu erledigen. Auf dem Rückweg rammte er mehrere parkende Autos. Mit dem Führerschein musste er auch seinen Garten abgeben, seine größte Quelle von Erholung und Freude, denn der Garten lag an einem idyllischen kleinen See, weit ab von Bussen und Bahnen, er konnte ihn nur mit dem Auto erreichen. Dabei hatte er noch Glück gehabt, keinen Radfahrer erwischt zu haben …
Manchmal stellt sich auch ein völlig anderes problematisches Konsummuster ein: Manche Abhängige, die überwiegend täglich konsumiert haben, entwickeln einen episodischen Konsum (bekannt als „Quartalstrinken“): Sie konsumieren dann zwar nur alle paar Wochen mehrere Tage, dafür aber exzessiv. Die Betroffenen halten das für einen Fortschritt – aber ihr Gehirn nicht, ihre Angehörigen auch nicht, oft auch nicht ihr Arbeitgeber und manchmal nicht mal die Polizei …
Generell gilt: Die Sucht hat den längeren Atem. Angenommen, jemand entscheidet sich mit 35 für die Abstinenz, lebt 15 Jahre rückfallfrei, beginnt mit 50 wieder mit dem Konsum und schafft es tatsächlich, zwei Jahre so zu konsumieren, dass nichts zu Bruch geht. Dann sagen alle: „Der kann wieder kontrolliert trinken!“ – Gut, aber wie lange? Er ist erst 52! – Die Sucht grinst. – Was ist, wenn er mit 54 wegen Alkohols am Steuer seinen Führerschein verliert, an dem der Arbeitsplatz hängt? Mit 54 arbeitslos – na Klasse! – Und wie sieht es dann mit der Motivation zur Abstinenz aus, wenn es eh egal ist, ob er trinkt oder nicht? – Abgesehen davon: Was heißt es schon, wenn über zwei Jahre „nichts zu Bruch geht“? Auch ohne dass die Ehefrau oder der Arbeitgeber sich trennen, kann man sich auf Dauer um Kopf und Kragen konsumieren. Mit 60 einen Schlaganfall zu haben ist auch nicht so toll … – Sucht ist tückisch. Sucht hat Zeit. Sucht grinst …
Die Sucht ist ein Monster, das mit jeder Futtergabe wächst, und es kann selbst nach Jahren des Aushungerns seine alte Stärke wieder herstellen, sobald es wieder Futter kriegt – denn es hungert nicht, es schläft einfach ein, wenn es nicht mehr gefüttert wird, es kann nicht auszehren und nicht schrumpfen …
(3) Sucht drängt sich vor
Unser Gehirn belohnt gutes Verhalten mit guten Gefühlen: ein sinnvolles Werk verrichten, etwas Gutes essen, mit netten Menschen zusammen sein, tanzen, lieben, Erfolg haben, Musik hören usw. Unser Gehirn „macht“ die guten Gefühle: Gefühle sind neuronale Stoffwechselzustände, also Biochemie. Und das birgt die Möglichkeit, der Chemie etwas nachzuhelfen und die gewünschten „Stoffwechselzustände“ durch Zufuhr einer chemischen Substanz herzustellen, statt durch das Tun des Richtigen. Nutzen wir diese Eselsbrücke lange genug, ziehen wir sie irgendwann allen anderen Wegen zum Glück vor, der Suchtmittelkonsum nimmt dann selbst den attraktivsten Aktivitäten „den Wind aus den Segeln“: Jemand malt in seiner Freizeit und hat viele tolle Ideen, die er unbedingt realisieren will. Aber immer, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt, sagte er sich: „Ach, erstmal einen Wein!“ – Auf Dauer spürt er immer seltener die Energie, die er fürs Malen braucht. Er findet das zwar nicht toll, aber zunächst auch nicht besonders schlimm, denn er sagt sich: „Die Bilder laufen schon nicht weg!“ Nur fällt ihm irgendwann auf, dass er regelmäßig den Wein demjenigen vorzieht, was ihm wirklich am Herzen liegt. Er wundert sich und denkt: „Das kann doch nicht sein!“ Er geht ein paar Mal bewusster mit dem Alkohol um. Aber nach ein paar Wochen muss er feststellen: Tatsächlich, egal, wie wichtig und faszinierend das Malen für ihn ist: den Suff zieht er vor!
Sucht ist ein autonomer Wille, der sich völlig ablösen kann von dem, was ein Mensch eigentlich will, wertvoll findet und anstrebt. Die Sucht behält ihre Macht selbst dann, wenn der Betroffene das, womit sie ihn belohnt, gar nicht mehr mag. Viele Abhängige sagen nach einem Rückfall: „Ich weiß doch, dass es nicht mehr so toll wird wie früher – verflixt nochmal, wie war das möglich, dass ich es trotzdem wieder gemacht und dabei so viel riskiert habe?“
(4) Sucht unterläuft Einsicht und Vorsatz
Die Fähigkeit, uns auf eine Sache zu konzentrieren, besteht darin, alles zu blockieren, was die Konzentration stört. Wenn wir bei der Flucht vor dem Tiger an den Ärger mit dem Chef denken würden, hätte der Tiger es leicht. Es ist immer nur ein Nervenzellnetzwerk voll aktiv, und es wird aktiviert, indem es die anderen Nervenzellnetzwerke runterfährt. Diesen Effekt der „reziproken Hemmung“ kennt jeder: Manchmal ist ein Film oder ein Fußballspiel so spannend, dass man gar nicht mehr merkt, wie stark eigentlich die Blase drückt.
Je attraktiver eine Vorstellung ist, desto heftiger hemmt sie alle anderen Vorstellungen, wir denken immer stärker nur noch an sie. Und je stärker wir an sie denken, desto weniger fragen wir uns, ob wir wirklich so stark an sie denken wollen. Doch selbst, wenn wir uns das fragen würden, hätten wir keine Lust, uns die Frage zu beantworten und es fiele uns schwer, uns überhaupt darauf zu konzentrieren.
Das Tückische des Prinzips der reziproken Hemmung besteht darin, dass sie auch das Bewusstsein hemmt, dass gerade etwas gehemmt worden ist, wir kriegen das nicht mit, im Bewusstseinsstrom erleben wir keinen Bruch. – Wird das Verlangen geweckt, blockiert es den Kontakt zur Lebenserfahrung, zur Einsicht, zu Vorsätzen und Vorhaben. Die Betroffenen denken nicht mehr an die Gründe für die Abstinenz, und wenn, dann ist es so anstrengend wie mit dem Rad steil bergauf zu fahren, während alle anderen Wege bergab gehen. Es blitzen automatisch Gedanken auf, die die Abstinenz in Zweifel ziehen: ob man die Abstinenz denn wirklich so konsequent durchhalten muss – ob man nicht mal eine kleine Ausnahme machen kann – dass es doch gehen müsste, wenn man sich ganz stark vornimmt, nur wenig zu konsumieren – gegen so ein bisschen kann doch keiner was haben … – Das Aufblitzen genügt, um die Erlaubnis zu erteilen, die Weiche in Richtung Konsum zu stellen und Einsicht und Vorsatz zu hemmen, es ist aber gleichzeitig so kurz, dass die Einsicht kaum eine Chance hat, dazu Stellung zu nehmen, bevor sie gehemmt wird. So schafft es die Sucht, den Willen zu unterlaufen. – Die Betroffenen stehen hinterher verwundert da und berichten, die Argumente für das Durchhalten der Abstinenz seien wie weggewesen, wie bei einem Black-out.
Abstinenzfähigkeit erfordert, zu trainieren, die unwillkürlichen Zweifel an der Abstinenz bewusster wahrzunehmen und darauf mit einem „Stopp, was mach ich hier gerade!“ zu reagieren.
Selbst Menschen, die seit Jahren abstinent leben, die die Tricks der Sucht kennen, die ihren Frieden mit dem Abschied vom Suchtmittel gefunden und eine attraktive Vision entwickelt haben für die Nutzung der durch die Abstinenz entbundenen Potentiale – selbst die können noch von der Sucht ausgetrickst werden. Aufgrund ihrer Erfahrung und Willensbildung müssten sie eigentlich Eins und Eins zusammenzählen: „Wie komme ich darauf, dass ich jetzt schaffen könnte, was ich trotz so vieler Versuche nie mehr geschafft habe? – Und wozu überhaupt so ein Risiko eingehen?“ – Wir Menschen können uns an solchen Fragen vorbeistehlen. Wie ist das möglich? Kann man sich einfach sagen: „Ich weiß zwar, dass es Irrsinn wäre, aber das interessiert mich jetzt nicht“? Nein, das kann man nicht, jedenfalls nicht so einfach. Sich an der eigenen Lebenserfahrung vorbeizustehlen geht etwa so: „Wenn du so ein gutes Gefühl hast, es schaffen zu können, dann zermartere dir doch nicht das Hirn mit deinem Scheiß-Wissen! Folg doch einfach mal deinem Gefühl! Außerdem: Du hast dich in der Zeit der Abstinenz doch bestimmt weiterentwickelt, vielleicht kannst du es dadurch wieder besser kontrollieren!“ – Das Verlangen nach Alkohol führt zu dem Gefühl, es diesmal schaffen zu können, so zu trinken, dass nichts zu Bruch geht. Dieses Gefühl führt dazu, die Abstinenzbeendigung als „mutig“ zu bewerten und jeden Einspruch als altkluge Bedenkenträgerei. Und für „Rückendeckung“ sorgt die Spekulation, dass die Weiterentwicklung in der Abstinenz vielleicht die Kontrollfähigkeit verbessert habe. – So verschafft Sucht eine Erlaubnis, die Erlaubnis zur Abstinenzbeendigung nicht in Frage zu stellen …
Auf „Vielleichts“ fallen nicht nur Süchtige rein, „Vielleichts“ haben in der Weltgeschichte viel verdorben, unsere Bestechlichkeit durch das „Vielleicht“, durch die spontanen Gewissheitserlebnisse bei der Entdeckung von Erklärungsmöglichkeiten, wird von der Sucht bloß ausgenutzt. – Alle Menschen sollten sich beizeiten angewöhnen, ihre „Vielleichts“ zu identifizieren und kein „vielleicht“ stehenzulassen ohne ein: „Und was, wenn nicht?“
Doch was ist nun mit dem Gefühl, es unter den besonderen, in dieser Situation gerade gegebenen Bedingungen schaffen zu können, so zu konsumieren, dass kein Schaden entsteht? Kann man dem denn gar nicht mehr trauen? – Nein, dem kann man nicht mehr trauen. In diesem Gefühl nutzt das Prinzip „Der Wunsch ist der Vater des Gedankens“ (Punkt 6) die irreführenden Alltagsintuitionen aus, die die Komplexität unseres Gehirns verkennen.
Die Fortsetzung folgt in der nächsten Ausgabe der TrokkenPresse mit:
(5) Sucht trickst unsere Intuition aus