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Titelthema 4/18: Trockenbleiben mit Sport?

Ob Laufen, Schwimmen, Wandern & Co:

Kann Sport tatsächlich „trocken halten“?

„Ja, ja, ja!“, werden einige von Ihnen, liebe Leser/innen, sofort begeistert rufen. Andere haben vielleicht mit körperlicher Betätigung noch nie viel im Sinn gehabt, weshalb also jetzt? Und wiederum einige unter Ihnen wissen, dass etwas mehr Bewegung gut täte, können sich aber selten überwinden. Und manchen hält vielleicht auch eine Krankheit davon ab.

Was auch immer Sie jetzt gerade über Sport denken – wir wollen versuchen, die obige Frage zu beantworten. Dazu gibt es so einige Theorien, Erfahrungen und Studien, sogar Hamster spielen eine Rolle …

„Kurze Pause, alle Paddel raus!“, tönt es vom Trainer hinten am Steuerruder.

Drachenboottraining in Berlin-Grünau. Der Klärwerk e.V. bereitet sich auf den Cup des Anti-Drogen-Vereins vor. Wir 12 Paddler keuchen bereits, nach 1000 nassen Metern über die Dahme. Schweiß mischt sich mit Flusswasser. Sonne glitzert auf den Wellen. Pause also. Atem schöpfen.

Wortfetzchen von hinten landen an meinem Ohr: „ … meine Bandscheiben … morgen Physiotherapie … ja, mein Knie auch …“ Hut ab, dass jemand trotz Beschwerden mittrainiert. Ich drehe mich mitfühlend um. Sofort kommt mir die Frage entgegen: „Und was hast Du so für Krankheiten?“

Oh. Ähm … ja stimmt. Arthrose in den Knie-und Ellenbogengelenken, kann ich also mitreden, aber dass ich davon nur noch wenig merke, seitdem ich regelmäßig Sport treibe.

Ich weiß auch, dass weiter vorn im Boot jemand sitzt, der chronische Kniebeschwerden hat. Eine Frau mit einer Halswirbelverschraubung auch. Aber jeder paddelt mit, so gut er eben kann. Weshalb?

Die Glücksgefühle, ja regelrechten Hochgefühle, die unser Auspowern mit sich bringt – noch verstärkt durch das Gemeinschaftsgefühl in einem Boot – , sind stärker und wichtiger als alle Zipperleins. Wir fühlen uns so lebendig auf dem Wasser und nach dem Training! Suchtdruck und Sehnsucht nach Bier? Keine Chance. Dafür eine Chance, alte Trinkmuster zu überschreiben, denn wir erleben: Ja, es geht, ohne Alk glücklich zu sein! „Mir geht’s jetzt so gut!“, „War das geil!“, Ich freu mich schon so aufs nächste Mal!“

Wenn wir ehrlich sind, haben doch die meisten von uns in ihrer Trinkzeit, in der nichts wichtiger war als der Alk, auch den Körper vernachlässigt. Arme, Beine, Muskeln, Sehnen, Knochen? Egal. Mir selbst ja auch. Vor meiner Entwöhnung vor fünf Jahren habe ich minutenlang gebraucht, um von der Bettkante aufstehen zu können, Arthritisknie, Gicht, Rücken. Mit erst 50! Aber das war mir damals egal. Hauptsache, ich schaffe es bis zum einzig wichtigen Regal im Supermarkt, irgendwie.

Sport? Na, wie denn …

Eben deshalb vielleicht ist es so schwer, unseren Körper wieder wahrnehmen zu müssen, ohne Betäubungsmittel und Fluchthelfer Alkohol. Mit allen Zipperleins. Er hat ja schwer gelitten.

Aber er ist nun mal unser Zuhause. Wollen wir uns Zuhause wohlfühlen? Wir könnten es wieder erlernen. Sich irgendwann wieder wohlzufühlen im eigenen Körper kann nämlich ebenso das Rückfallrisiko senken wie der Glückshormonausstoß beim körperlichen Betätigen:

Was Hamster uns beweisen

Sport kann in der Suchttherapie als eine Art natürliche und gesunde „Ersatzdroge“ wirken. US-Wissenschaftler J. David Glass belegte das in seiner Studie (2010). Er untersuchte das Verhalten von Hamstern, die sich – freiwillig – in einem sogenannten Hamsterrad bewegen konnten und Zugang zu Wasser mit Alkohol hatten, ohne dass sie gezwungen wurden, dieses zu trinken. Je mehr die Hamster liefen, desto geringer war ihr Alkoholkonsum. Die „fauleren“ Hamster hatten ein größeres Verlangen nach Alkohol und tranken mehr. „Das zeigt, dass körperliche Betätigung eine effektive, nützliche und nicht-medikamentöse Behandlungsmethode für Alkoholismus sein könnte”, schlussfolgerte Glass.

„Alkoholkonsum und freiwillige körperliche Betätigung scheinen zwei Verhaltensweisen zu sein, die von Natur aus belohnend sind”, sagt Alan M. Rosenwasser, Professor für Psychologie an der US-University of Maine. „Die belohnenden Effekte dieser beiden Verhaltensweisen könnten teilweise austauschbar sein. Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass die beiden Verhaltensweisen von überlappenden Systemen im Gehirn reguliert werden.”

Ein chinesisches Forschungsteam hat einmal alle verfügbaren Einzelstudien zu diesem Thema zusammenfassend analysiert. Das Ergebnis: Entzugsbehandlungen, die körperliche Aktivität beinhalten, erzielten höhere Abstinenzquoten und reduzierten die Entzugssymptomatik stärker als Behandlungen ohne körperliche Aktivität. Neben typischen Ausdauersportarten wurden auch fernöstliche „Mind & Body“-Aktivitäten wie Tai-Chi, Yoga oder Qigong untersucht. Sie verbessern die Abstinenzrate ähnlich wie klassischer Ausdauersport.

Und noch eine Studie: Dass Alkoholismus nicht nur die Leber, sondern auch Teile des Gehirns –besonders Nervenfasern –schädigen kann, ist bekannt. Sind auch diese neuronalen Schädigungen zumindest teilweise reparabel?, wollten US-Forscher wissen. Eine experimentelle Studie mit 60 Probanden ergab: Ja. Regelmäßige sportliche Betätigung kann solche Beeinträchtigungen verhindern oder gar reparieren (Alcoholism: Clinical & Experimental Research).

Kein Wunder also, dass Sport zu den Reha-Therapiestandards der Deutschen Rentenversicherung in den Entwöhnungskliniken gehört: Als Bewegungstherapie, Physiotherapie, Individualsport, Mannschaftssport.

Sport als Rückfallprophylaxe?

 Vielleicht erinnern Sie sich noch an Ihre ersten Bewegungsversuche in der Entwöhnungsklinik? Mit Spaß hatte das meist noch nichts zu tun, oder? Und dann dieser erste Muskelkater. Und dann doch wieder zum Kreistraining müssen, zum Schwimmen oder Ballspielen …

Wie neuropsychologische Untersuchungen an Alkoholkranken ergaben, ist die Gang-und Standbalance auch vier Wochen nach dem Entzug noch beeinträchtigt! Umso wichtiger, diese Anstrengungen durchzuhalten. Außerdem gibt dies am Ende auch Selbstvertrauen: Ich kann das ja doch! Ich kann mich wirklich durchkämpfen! Ich kann meinen inneren Schweinehund überwinden und etwas schaffen!

Dieserart erlebte Erfahrungen sind für den Einzelnen dann – ob bewusst oder unbewusst – auch übertragbar auf andere Lebensbereiche. Schwierigkeiten und emotionale Krisen können anders bewältigt werden.

Hinzu kommt, dass die gestörte Endorphin-Produktion nach einem Entzug durch körperliche Betätigung wieder angekurbelt wird. Nach den ersten vielleicht noch freudlosen Übungsstrecken setzt irgendwann wirklich Wohlgefühl ein beim Training. Es kann Freude bereiten, glücklich machen. Wer glücklich sein kann ohne Alk – ist weniger rückfallgefährdet …

Rolf Schneider formuliert es so in seiner Suchtfibel (14. Aufl., S. 339): „Sport in der Therapie dient also keineswegs der ,Beschäftigung‘, ,Ablenkung‘ oder Unterhaltung der Rehabilitanden und auch nicht nur der körperlichen Ertüchtigung, um fit für das Erwerbsleben und die Alltagsbewältigung zu sein, sondern ist ein spezielles Modul der Suchtbehandlung, das rückfallpräventiv darauf abzielt, das eigene Befinden und die Stimmungslage ohne psychotrope Substanzen befriedigend steuern zu können. Wenn das gelingt, ist ein großer Schritt von der Abhängigkeit zur Selbststeuerung getan.“

Sport als neues Freizeit-Hobby

Was fange ich nun, nach der Therapie, in meiner Freizeit an? Wenn die alten Kumpels im Biergarten sitzen oder Partys feiern?

Der Chefarzt der Hartmut-Spittler-Fachklinik Berlin, Dr. Darius Tabatabai, erklärt auf der Webseite der Klinik, dass es den meisten Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung schwer falle, sich ein Leben ohne Alkohol oder andere Suchtstoffe vorzustellen: „Zu Genesung und Aufbau einer stabilen seelischen Gesundheit muss die Gestaltung von Freizeit oftmals wieder erlernt werden. Dabei ist ein sportliches Miteinander ein gutes Training, seinen Teamgeist wieder zu entdecken und körperlich fit zu werden für den Alltag. Wir bieten während der Therapie an, verschiedene Formen der Freizeitgestaltung auszuprobieren.“ Neben Volleyball werden zum Beispiel auch Fußball und Schwimmen angeboten. Mit der Möglichkeit, auch nach der Therapie weiter daran teilzunehmen.

Das ist auch so eine zentrale Frage: Wo kann ich denn überhaupt in einem trockenen Umfeld Sport treiben?

Natürlich kann jeder alleine für sich joggen gehen, daheim auf dem Ergometer trainieren oder seine Bahnen in der Schwimmhalle ziehen. Aber wer Spaß im Team sucht, braucht ja denn auch tatsächlich eins.

Ein tolles Beispiel ist der Drogenliga e.V. in Berlin. Eine Suchtselbsthilfegemeinschaft, die 1980 von Betroffenen für Betroffene gegründet wurde. Fußball und Volleyball werden gemeinsam trainiert.

Ein anderes Beispiel in Bochum: Innerhalb des neuen Projektes „Sucht-Selbsthilfe geht neue Wege“ des Blauen Kreuzes in Deutschland gibt es das Sportcafé „Ziemlich gute Freunde“ Hier treffen sich Suchtkranke, Angehörige und Freunde, um gemeinsam Sport zu treiben. Ob Hallenfußball, Badminton und Tischtennis, es gilt für alle: Kein Alkohol, keine Drogen! Man kommt miteinander ins Gespräch, lernt andere Menschen kennen. Ein Teilnehmer berichtet: „Vor einem Jahr habe ich aufgehört, Alkohol zu trinken. Sich freitags mit anderen auszupowern und den Stress der Woche hinter sich zu lassen, tut richtig gut. Und das ohne Alkohol!“

Ein weiteres Beispiel ist der Elefanten-Cup in Berlin, den der Anti-Drogen-Verein e.V. jährlich organisiert (s.S. X). 30 Mannschaften aus verschiedenen Suchtvereinen und Suchthilfeeinrichtungen genießen dieses Drachenboot-Event jedes Jahr alkohol-und drogenfrei – und trainieren oft schon Wochen vorher dafür gemeinsam.

Vielleicht gibt es ja auch in Ihrer Region ähnliche Angebote? Auf der Suche danach können Ihnen die jeweiligen Landesstellen für Suchtfragen und die regionalen Selbsthilfe-Kontaktstellen weiterhelfen.

Eine Alternative könnte auch sein, dass Sie den Treff Ihrer Selbsthilfegruppe nach draußen verlegen und gemeinsam um den nächsten See wandern. Oder Sie gründen selbst eine Gruppe für „Trocken-Sport“?

 

Übrigens: „Vom Alk zum Hulk“. In der nächsten Ausgabe möchten wir unser Thema gerne fortsetzen. Wir planen ein Interview mit dem Rapper-Star Silla, der in seinem Buch mit anfangs genanntem Titel seine persönlichen Erfahrungen beschreibt.

Anja Wilhelm

 

Adressen:

www.drogenliga.de

www.anti-drogen-verein.de

www.facebook.com/ziemlichgutefreunde