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TrokkenPresse 1-25: Frau und Sucht

Frau und Alkoholsucht heute, Teil 1:

Weshalb immer mehr Frauen alkoholabhängig werden …

Immer wieder gab es im letzten Jahr solche Schlagzeilen wie: Immer mehr Frauen trinken riskant, immer mehr Frauen werden wegen Alkoholkrankheit behandelt, immer mehr Frauen sterben an alkoholbedingten Folgeerkrankungen. Stimmt das denn? Die TrokkenPresse hat recherchiert, was dahinterstecken könnte.

Zahlenbrei mit Fazit

Erstmal … Verwirrung. Wenn Zahlen sich streiten könnten, dann täten sie das jetzt: Wer ist die wahre? Denn es gibt, verflixt, kaum vergleichbare, gesicherte statistische Auskünfte zu dieser einfachen Frage: Wie viele Frauen waren in Deutschland vor zehn Jahren alkoholabhängig und wie viele sind es jetzt – ist die Zahl tatsächlich gestiegen?

Es findet sich nur ein Sammelsurium aus ungleichen Berechnungsarten von verschiedensten Institutionen. Aus Befragungen mit Eigenauskunft, aus statistischen Erhebungen in der Bevölkerung, von Ärzten, Krankenkassen und Rentenversicherern.

Für 2012 zum Beispiel erklärt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 1,4 Prozent der Frauen zwischen 18-64 Jahren als alkoholabhängig (Männer 3,4 Prozent). Für 2023 dagegen sind von den Krankenkassen fast 490 000 Frauen wegen Alkoholkrankheit in Behandlung gewesen. Wie wollen wir das nun vergleichen?

Aber in diesem Falle konnte „Wunderwaffe“ KI helfen. Aus vielen verschiedenen Statistiken im Hintergrund berechnete sie in Windeseile: Im Jahre 2012 waren geschätzt 200 000 Frauen mit Alkoholkrankheit in Behandlung. Also wahrlich mehr als eine Verdoppelung!

Aber solche Daten werden doch immer nur grobe Schätzungen bleiben. Zu viele Dinge bleiben unberücksichtigt. Denn diese Zahl der Frauen, die in einer Suchtberatungsstelle Rat suchten, eine Entgiftung und Therapie besuchten und so in der Statistik auftauchen können: Sind das wirklich ALLE alkoholabhängigen Frauen? Viel eher sind es doch viel mehr, die eben nicht den Weg ins Hilfesystem nehmen.

Hinzu kommen zum Beispiel auch veränderte Definitionen der Alkoholabhängigkeit, die ebenfalls noch kaum eine Rolle in den Erhebungen spielten oder spielen: Im amerikanischen Kategoriensystem von Krankheiten gibt es lediglich nur noch den Begriff Alkoholkonsumstörung, der Missbrauch und Abhängigkeit in verschiedenen Schweregraden einschließt. In der aktuellen internationalen Klassifikation von Krankheiten (ICD 10) dagegen kann man nun auch ohne die „klassischen“ Symptome wie Entzugserscheinungen bereits als alkoholabhängig gelten.

Auch beim riskanten Alkoholgebrauch, dem „Missbrauch“, gibt es Entwicklungen in den Bewertungskriterien. Daher beruht die Schätzung, dass 2012 etwa 6,5 Prozent der deutschen Frauen zwischen 18 und 64 Jahren riskant tranken und 2021 bereits etwa 14 Prozent, also doppelt so viele, auch auf etwas wackligen Füßen. Denn damals lag der Maßstab für weitgehend unbedenklichen Genuss von Alkohol bei 12 Gramm Reinalkohol für Frauen (Männer 24 g). Das entsprach etwa einem Glas Wein. Das wandelte sich mit der Zeit in 10 g. Und inzwischen mahnen zum Beispiel die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), das Deutsche Krebsforschungsinstitut und andere an, dass es gar keinen unbedenklichen Konsum von Alkohol gibt. Grundlage dafür sind Studien, die einen linearen Zusammenhang z.B. zwischen Krebs und Alkoholkonsum beweisen. Was ist also mit riskantem Alkoholverhalten gemeint, einmal im Monat einen Rausch zu haben oder dreimal die Woche mehr als ein Glas Wein zu trinken oder jeden Tag ein großes? Das ist alles ein bisschen verschwommen.

Aber eines können wir wohl hier sicher zusammenfassend festhalten: Es sind doppelt so viele Frauen wegen einer Alkoholkonsumstörung in Beratung und Behandlung als vor zehn Jahren. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass mindestens auch doppelt so viele Frauen aus riskantem Alkoholkonsum in die Abhängigkeit gerutscht sein müssten.

Und das leider sehr viel schneller als Männer …

Rascher abhängig, schneller krank

Bei einer gleichen Trinkmenge wird eine Frau schneller und stärker betrunken als ein Mann. Das liegt zum Beispiel an den physiologischen Unterschieden: Der Körper einer Frau besteht nur zu etwa 60 Prozent aus Wasser (Mann: 70 Prozent), dafür aus ein paar Fettzellen mehr. Alkohol wird also weniger „verdünnt“ im Blut. Auch hormonelle Veränderungen wie Menstruation können die Wirkung verstärken. Zudem ist die weibliche Leber etwas kleiner, produziert also auch weniger Enzyme, die den Alkohol abbauen können. Ganz einfach gesagt: Die Gifte verweilen länger im weiblichen Körper, zum Beispiel auch das krebserregende Acetaldehyd der ersten Abbaustufe. Frauen leiden deshalb, wie wissenschaftliche Studien belegen, in weniger Alkoholkonsumjahren als Männer viel früher an alkoholbedingten Folgen wie Leber-Erkrankungen, Herz-Kreislaufproblemen und Krebs – und häufiger auch an psychischen Folgeschäden. Und eine aktuelle Querschnittsstudie aus den USA belegt, dass dort die Zahl der alkoholbedingten Todesfälle bei Frauen deutlich stärker ansteigt als bei Männern.

Trinken Frauen anders?

Hier erstmal ein kurzes, einfaches JA.

Zu Beginn ein Kurzausflug in die Geschichte. Seit der Antike, so ist es überliefert, tranken auch Frauen Alkohol. Ob Wein, Bier oder Gebranntes. Doch je nach Kultur, Epoche, Religion und gesellschaftlichem Rollenbild der Frau war es erlaubt oder gar verpönt. Aus dem Mittelalter kennen wir die „Biersuppe“ als Nahrungsmittel für alle, und Bier als normales Getränk statt des verkeimten Wassers aus den öffentlichen Brunnen. Adlige Damen nippten gesittet ihr Weinchen. Später, im europäischen 19. Jahrhundert zum Beispiel, zechten Männer in den Wirtshäusern, auch Arbeiterinnen waren da zu Gast, aber eher selten. Aber für Frauen, besonders die des Bürgertums, ziemte sich das gar nicht. Und so ging es noch eine ganze Weile weiter … bis ganz langsam, im Grunde erst richtig nach dem 2. Weltkrieg und mit dem Wirtschaftswunder in der BRD, Frauen endlich mehr sein durften als nur Hausfrau und Mutter, nämlich ebenfalls arbeiten konnten. Das alte Rollenbild der Frau begann zu zerbröseln, dank der feministischen Bewegungen, die Gleichheit und Selbstbestimmung forderten und immer mehr durchsetzten. Der Genuss von Bier, Wein, Spirituosen und Cocktails, auch öffentlich, wurde nun zunehmend akzeptiert, aber: Bitte nur gesittet! Betrunkene Frauen sind oft sogar heute noch ein No-Go. Für die Männer. Und auch für sich selbst, gerade bei Frauen der älteren Generationen …

Denn aus dieser tiefverwurzelten Tradition, bloß nicht öffentlich zu saufen oder gar dann herumzutorkeln, erklärt sich vermutlich auch die Art des heutigen missbräuchlichen Trinkens der Frauen: Nämlich heimlich. Nicht wie Männer lärmend in Gesellschaft draußen, sondern am besten allein und zuhause, im Verborgenen. Still und ohne aufzufallen, nicht den Kollegen und Chefs, nicht den Bekannten. Bloß nicht. Die Scham ist zu groß, sitzt zu tief. Frauen saufen nicht!

Wobei wir hier inzwischen Generationen unterscheiden sollten: Ganz junge Mädchen machen meist keinen Hehl mehr daraus, sie konsumieren, den Jungen ebenbürtig und „selbstbestimmt“, egal wo, egal wann. „Junge Menschen werden bei uns zum Glück in einer Welt groß, wo jungen Frauen die gleichen Möglichkeiten und auch die gleichen Risiken offenstehen wie jungen Männern“, stellte der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie Falk Kiefer, unlängst in einer MDR-Sendung fest. Es sei naheliegend, dass sich auch das Trinkverhalten angleiche.

Und auch die etwas älteren, aber noch jugendlichen Frauen der Generation Y trinken heute ohne Scheu ihren Aperol Spritz oder den Weißwein zu Mittag im Café. Nur das Mehr, das sie vielleicht irgendwann brauchen, das bleibt dann geheim.

Andere Trink-„Gründe“ als Männer?

Frauen trinken nicht nur anders als Männer – sondern meist auch aus anderen Gründen. Was Christina Schadt von der Fachstelle für Suchtprävention Berlin in einem früheren TP-Interview erklärte, ist auch heute noch aktuell: „Viele Frauen kümmern sich auch heute noch zuerst um andere und wollen um jeden Preis funktionieren und ihren Alltag bewältigen. Anders als Männer richten Frauen sich meist an den Anforderungen von außen aus. An dem, was andere von ihnen wollen. Nicht daran, was sie selber wünschen. Frauen wollen heute beides, einen Beruf, der sie erfüllt und den sie gut ausfüllen, aber gleichzeitig auch gut die Familie versorgen. Diese Doppelbelastung kann zu Überforderungssituationen führen. Denn noch immer erhalten Frauen traditionell zu wenig Unterstützung von der Familie, vom Partner. Solche Situationen der hohen Belastung versuchen Frauen – im Gegensatz zu Männern – mit sich selbst zu klären. Und trinken Alkohol, weil sie sich zum Beispiel entlasten und entspannen wollen.“

Und im Therapiekonzept der Fachklinik Legau, einer Suchtklinik nur für Frauen, heißt es: „Wie jede andere persönliche Leidensgeschichte einer Frau ist auch die Entwicklung hin zur Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit im Ganzen nur zu verstehen, wenn wir die Rolle der Frau in der Gesellschaft betrachten. So wird in der Regel die Entwicklung des Mädchens/der Frau z. B. stärker geprägt sein von der Erfahrung der Anpassung und der Abhängigkeit in Beziehungen, einer intensiveren Bindung an die Familie, einer geringeren Chancengleichheit … Nicht selten machen Frauen schon sehr früh Erfahrungen mit männlicher Unterdrückung und sexueller Gewalt. Viele Patientinnen waren über eine lange Zeit einer Mehrfachbelastung ausgesetzt: Sie sind gleichzeitig berufstätig, führen den Haushalt alleine und ziehen Kinder groß. Oft versorgen sie auch noch hilfsbedürftige Angehörige.“

Etwas Entspannung finden von all der alltäglichen Verantwortung. Sorgen oder die Ängste, etwas nicht zu schaffen, ein wenig betäuben. Wie z. B. Food-Journalistin und Buchautorin Eva Biringer zusammenfasst: „Wenn man den ganzen Tag nicht weiß, wo einem der Kopf steht als Frau, vielleicht auch noch als Mutter, aber auch als Frau, die einen Job hat, der sie fordert … dann ist da das Glas Wein am Abend der erste Moment, in dem man sich mal was Gutes tut – mal durchatmen, mal Zeit für sich.“ Und dies kann schleichend immer mehr werden bis hinein in die Abhängigkeit. Selbst der bloße Druck im Beruf kann da genügen, wie bei Jovana aus Berlin, sie hatte einen Job im Silicon Valley, in ihrem nachfolgenden Bericht (s. S. X) erzählt sie: „Während das Leben in Kalifornien von außen betrachtet perfekt ist, hole ich mir meinen Ausgleich auf eine Weise, die niemand sieht – vor allem nicht ich selbst. Jeden Abend brauche ich mehr, um runterzukommen. Ein Glas Wein reicht schon lange nicht mehr, um diesen Zustand zu erreichen.“

Emanzipation auch im Innen nötig?

Viele unserer Leserinnen und Autorinnen beschreiben in ihren Erfahrungsberichten, dass sie etwas ganz Bestimmtes lernen mussten, um zufrieden trocken bleiben zu können: Nämlich sich auf sich selbst zu Besinnen. Die eigenen Bedürfnisse nicht mehr hintenan zu stellen, sondern endlich vornedran. Was möchte ich, was möchte ich nicht? „Jetzt bin ich ICH“, stellt Heike in ihrem Bericht auf S. X fest. „Nein. Das ist ein ganzer Satz“, stellte Alexandra in einer anderen Ausgabe der TrokkenPresse fest. Die ureigenen Bedürfnisse zu erkennen und sie ernst zu nehmen, das scheint für Frauen ein Haupt-Weg aus der Sucht zu sein.  Und vielleicht auch, um gar nicht erst hineinzurutschen?

Das Einfache, das schwer zu machen ist … denn es bedeutet, sich einer Konditionierung, die über hunderte Generationen hinweg immer weitergegeben worden ist, zu stellen:

Ich bin damit aufgewachsen wie Millionen anderer Mädchen auch: Meine Oma hat immer zuerst dem Opa Essen das Essen aufgetan, sich selbst ganz zuletzt. Hat die verstoßenen Babykaninchen mit der Flasche gefüttert, uns Enkeln die Wärmflasche ins Bett gelegt, meine Schnittwunde liebevoll gepflastert … Oma, immer Oma. Daheim hat meine Mutter für Essen und Sauberkeit gesorgt, trotz ihrer Arbeit als Lehrerin. Und mir viel Verantwortung für den kleinen Bruder auferlegt. Und fürs Mitputzen und Einkaufen ebenso. Diese „Vorbilder“ und erlernten Verhaltensweisen speichern sich in Kindheit und Jugend nachweislich un-hinterfragt im Unterbewusstsein ab: Fürsorge, Anpassung, Opferbereitschaft, immer die anderen zuerst. Noch heute mahnt mein Mann mich, als inzwischen 62-Jährige: „Immer denkst du zuerst an die anderen. Denk doch mal zuerst an dich!“

Aha! Ich sehe es, ich weiß das, kann es aber wohl doch kaum abschalten. Und gebe es dann, allein durch mein bloßes Verhalten, unbewusst wieder weiter an Kind und Enkelin …

Mein Fazit: Gleichberechtigung im außen, sogar gesetzlich verankert – Frauen lernen, studieren, arbeiten, werden Bauingenieurin, KFZ-Schlosserin oder Politikerin –, ist „nur“ das eine. Ich denke, wir Frauen müssen uns ganz bewusst auch in und vor uns selbst emanzipieren, alte Rollenbilder auslöschen, uns befreien davon. Und sie nicht wieder weitergeben an unsere Töchter und Enkelinnen.

Und dazu gehört auch, Emanzipation nicht falsch zu verstehen: Wenn Frauen arbeiten wie die Männer, „dürfen“ sie natürlich heute auch gesellschaftlich anerkannt trinken wie die Männer. Aber wir MÜSSEN DAS NICHT.

Oder was meinen Sie dazu?

Liebe LeserInnen, es gäbe noch viel, viel mehr zu sagen zu diesem großen Thema, aber wir führen es in der nächsten Ausgabe ja fort. Im Teil 2 geht es darum, dass Frauen eine auf ihre Bedürfnisse angepasste Therapie benötigen …

 

Anja Wilhelm