20 Jahre Kunst und Kultur in der Krankenhauskirche Wuhlgarten
Orgel, Jazz und null Promille
Am Rande des grünen Wuhletales in Berlin, zwischen hohen Bäumen, eine kleine Kirche. Seit über hundert Jahren hat sie ihren Platz auf diesem Krankenhausgelände. Ihre Geschichte? So wechselhaft wie die Zeiten selbst. Heute jedenfalls sind Unfallkrankenhaus, Augenklinik und die Tagesklinik für Suchtkranke ihre Nachbarn. Und heute feiert die Krankenhauskirche Wuhlgarten e.V. in Berlin-Marzahn/Hellersdorf ein besonderes Jubiläum. Seit der Einweihung nach ihrem Wiederaufbau sind nun 20 Jahre vergangen. Gewürdigt wird das mit einer großen Ausstellung, vielen Künstler-Gästen und einem Festgottesdienst im November. Die TrokkenPresse war neugierig und besuchte die Kirche:
Stille.
Flüstern.
Eine Kaffeetasse klirrt leise beim Absetzen.
Vier Tische mit blaugepolsterten Stühlen laden im Kirchenschiff, umgeben von Säulen, zu Besinnung ein, bei Kaffee und Kuchen. Das dicke Gemäuer schluckt das Draußen, hält es fern. Egal, was das Draußen für jeden Besucher bedeuten mag: Ob die Hektik auf der Klinik-Station. Die Baugeräusche gegenüber. Der Lärm des eigenen Verstandes. Hier darf jeder zur Ruhe kommen, ob Patient, Schwester, Arzt oder Besucher. Von 14-17 Uhr täglich gibt es im Café der Stille der Krankenhauskirche den Frieden umsonst – und auch den Kaffee fast: Nur 60 Cent die Tasse, 80 Cent ein Stück Kuchen.
Stille.
Aber manchmal geht es hier auch ganz, ganz anders zu: Orgelklänge erfüllen die Kirche. Oder Choräle, Cello, Harfe, Jazz. Auch Kabarett und Lesungen gibt es. Gottesdienste. Und bis zu fünf Mal im Jahr Ausstellungen, die Wände bleiben niemals leer. In den 20 Jahren seit ihrer Wiedereinweihung ist die Krankenhauskirche ein kulturelles Zentrum für den ganzen Stadtbezirk Berlin-Marzahn/Hellersdorf geworden – und sogar darüber hinaus. Ein Ort, an dem sich Menschen begegnen und gemeinsam am Leben freuen. Ob umgeben von Stille, von schönen Klängen oder Bildern.
Das war einmal auch ganz anders …
Als 1893 die „Anstalt für Epileptische Wuhlgarten bei Biesdorf“ eröffnet wurde, eine parkähnliche Krankenhausanlage mit Aufnahme- und Koloniehäusern, Gutshof und Wirtschaftseinrichtungen, eigener Strom- und Wasserversorgung, Gärtnerei, Werkstätten – bekam sie auch eine Kirche. Die Patienten wohnten und arbeiteten auch hier und blieben oft viele Jahre. Der in der Mitte des 19. Jahrhunderts vom Nervenarzt Wilhelm Griesinger entwickelte Gedanke des Verbindens von Therapie und Milieuwirkung wurde hier verwirklicht.
Mit dem Nationalsozialismus begann das dunkle Kapitel: Die „Vernichtung unwerten Lebens“ machte auch vor dieser Klinik nicht halt. Die meisten Patienten wurden 1941 im Rahmen des Euthanasie-Programmes in Tötungsanstalten gebracht. Bombenangriffe und das Vorrücken der Roten Armee in den letzten Kriegstagen forderten weitere Opfer. Die Anstalt, die nach der Vernichtung der psychiatrischen Patienten als Lazarett und Infektionskrankenhaus diente, war überfüllt mit Flüchtlingen. Innerhalb kurzer Zeit mussten Bombenopfer, Tote aus Infektionshäusern und umgekommene Flüchtlinge beerdigt werden. Dazu hob man ein Massengrab auf dem südlichen Wuhlehang unweit der Hauptallee aus und bestattete dort in den ersten Maitagen 1945 180 Tote. Ein Gedenkstein erinnert daran.
Nach 1950 entwickelte sich die Einrichtung zum modernen neurologisch-psychiatrischen Fachkrankenhaus Wilhelm Griesinger. 1989 erhielt das Krankenhausgelände mit seinen Gebäuden den Status Bau- und Gartendenkmal. 1997 fusionierte das Wilhelm- Griesinger- Krankenhaus mit dem Krankenhaus Kaulsdorf zum „Krankenhaus Hellersdorf“, das später „Vivantes Klinikum Hellersdorf“ wurde (heute an anderen Standorten).
Auch die Kirche wurde im zweiten Weltkrieg stark beschädigt. Danach diente sie als Lagerraum, verkam zu einer Ruine. Denkmalspflegerische Maßnahmen waren der DDR zu teuer. Gottesdienste fanden in einem Kellerraum eines Hauses statt.
Anfang der 90er Jahre begann der Wiederaufbau. Mit finanziellen Mitteln aus Wirtschaft, Bund und Ländern und Eigenmitteln des Wilhelm-Griesinger-Krankenhauses. Am 18. November 1997 fand die feierliche Wieder-Einweihung statt.
Seit 2009 betreibt der Wuhlgarten e.V. die Krankenhauskirche. Für einen symbolischen Euro von Vivantes gekauft durch die „Wuhletal – psychosoziales Zentrum gGmbH“, deren Gesellschafter der Wuhlgarten e.V. ist. Und die IG (Interessengemeinschaft) Kirche, die etwa 20 ehrenamtliche Mitglieder hat – Vereinsmitglieder, Krankenhausmitarbeiter, Seelsorger, Anwohner/innen – gestaltet, organisiert und begleitet das Programm heute.
Garantiert alkoholfrei
Der Sprecher der IG Kirche, Detlev Strauß, war einst selbst Mitarbeiter des Griesinger-Krankenhauses, im Wirtschaftsbereich. Vielleicht liegt ihm auch deshalb dieses historische Kleinod und seine Nutzung so am Herzen. Ihm würde es gefallen, wenn auch Menschen sogar zum Trommeln herkämen oder junge Leute Rock präsentierten. Die Kirche sei ein Raum für Kunst und Kultur, sagt er.
„Unser Uranspruch war und ist: Eine Krankenhauskirche zu sein für Gesunde und Kranke, offen für Patienten, Anwohner, Besucher, Personal. Wir wollen Menschen Raum geben, die soziale Probleme haben und wir wollen Kultur bieten. Neben bekannteren Künstlern bewusst auch regionalen ein Forum geben, auch Laien – und auch zum Beispiel therapeutisch Malenden. Wir gehören keiner Kirche, weder die evangelische noch katholische besitzt uns – aber wir bieten natürlich Gottesdienste an, die von Krankenhausseelsorgern gehalten werden.“
Auch wenn Rock und Trommeln in der Kirche erwünscht wären: Es gibt dennoch gewisse Grenzen, wie das Leitbild des Vereins beschreibt: Betrieb und Nutzung der Kirche orientieren sich im Wesentlichen an der Handreichung „Kirchen – Häuser Gottes für die Menschen“ (Hrsg. Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz 2006). Die Angebote und Veranstaltungen dürfen dem Geist und der Intention der Kirche nicht widersprechen. Dies gilt auch für Mietnutzungen durch Dritte.
So wird kein Besucher, nur zum Beispiel; vor rassistischen, rechten Parolen Angst haben müssen in diesem Gebäude. Und übrigens: Auch trockene Alkoholiker finden hier ihren Schutzraum. „Hier gibt es keinen Alkohol mehr, früher war das anders.“ Auch nicht bei den Ausstellungs-Vernissagen? „Nein. Wir vom Wuhlgarten e.v. bringen Menschen erst gar nicht in Versuchung, sie müssen schon woanders genug Versuchungen widerstehen. Und wenn die Kirche mal vermietet wird: Auch dann nur alkoholfrei. Wir haben ja auch im Personal gefährdete oder betroffene Menschen.“
Und nun noch die übliche Frage, denn die meisten Veranstaltungen sind eintrittsgeldfrei: Wer bezahlt denn das alles, die Künstler, die laufende Fußbodenheizung im Winter und und und?
„Die Betriebskosten übernimmt die Wuhletal gGmbH“, erklärt Detlev Strauss. „Was innerhalb stattfindet, müssen wir selbst finanzieren. Wir bitten um Spenden. Von Fremdnutzern nehmen wir Miete. So liegen wir plus minus null im Jahresdurchschnitt.“
Das scheint zufriedenstellend zu sein, denn schon schweifen seine Augen wieder durch das Kirchenschiff und seine Ohren lauschen vergangenen Konzerten nach und freuen sich auf die künftigen: „Die Akustik ist so toll hier! Wenn Sie hier drin Vivaldi hören, oder das Weihnachtsoratorium, oder die Kausldorfer Kantorei … wunderschön! Wunderschön!“
Anja Wilhelm