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Titelthema 03/11: Rückfall oder Vorfall

Herr M. lernt sprechen –

über falsche Schamgefühle, Rückfälle und Vorfälle

Dies ist der letzte Teil unserer Serie über Rückfälle. Während es in den stationären Einrichtungen meist Spielregeln gibt, wie mit Rückfällen umzugehen ist (siehe auch Artikel von Dr. Lindenmeyer in der Ausgabe 2/2011) plagen sich Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen und auch Angehörige oft mit der Frage, was jetzt genau die richtige Entscheidung ist.

Handelt es sich um einen Notfall? Trinkt er sich tot? Was soll ich tun, wenn er nicht mehr ans Telefon geht? Was soll ich tun, wenn er betrunken Auto fahren will?

Viele Fragen. Man kann aber nicht damit rechnen, dass sich der Rückfällige offenbart, dass er mitwirkt an der Behandlung. Er lügt, weil er sich schämt. Das ist sein Problem, aber auch das Problem der Helfer.

Herr M. ging schon 17 Jahre zum gleichen Arzt. Immer wenn er krank war zählte er ihm seine Symptome auf und der Arzt stellte die Diagnose. Bei Fieber tippte er meist auf Grippe und schrieb ihn krank. Einmal war die Ursache des Fiebers aber eine andere, nicht Grippe, sondern eine Blinddarmentzündung lag vor, und nun schickte der Arzt ihn sofort zu den Chirurgen, ins nächste Krankenhaus. Die Rettung fand in letzter Minute mit dem Skalpell statt, der Blinddarm wurde herausgeschnitten.

So hatte Herr M. im Laufe der Jahre ein gutes Vertrauensverhältnis zu seinem Arzt aufgebaut. Bei Bauchschmerzen, Kopfschmerzen oder Fieber ging er hin, und ihm wurde geholfen. Trotzdem erzählte er seinem Arzt nicht alles. Manche Sachen erzählte er nur seinem Beichtvater, der meistens gnädig ein „Ego te absolvo“ aussprach und ihn zur Buße drei Vaterunser beten ließ.

Manche Begebenheiten erzählte er weder dem Arzt noch dem Pfarrer. Immer wenn er sich schämte, erzählte er niemandem etwas. Er schämte sich z. B. dafür, dass er nicht die Leistung erbrachte, die seine Eltern von ihm erwartet hatten. Eigentlich sollte er ja intelligent, großartig und berühmt werden. Zehn Vornamen hatten sie ihm verpasst und damit ihre hohen Erwartungen an ihren Sohn deutlich gemacht. Aber, seine Versuche grandios zu werden, scheiterten. Der Doktortitel, den er heimlich in den arabischen Emiraten gekauft hatte, war eben nicht echt, und das erzählte er niemandem. Besonders geheim hielt er auch seinen Weinkeller und nicht nur den, sondern auch das Trinken der Produkte, die dieser Keller enthielt. Früher war das anders gewesen, da haue er mit seinem Weinkeller geprahlt und nur wenige Gläser getrunken. Früher hatte der Wein auch seine Gefühle, klein und mickrig zu sein, beseitigt. Zwei Glas reichten und er war der Größte. Seit mehreren Jahren hatte er jedoch zunehmend den Eindruck, den Wein nicht mehr dosiert trinken zu können. Es wurde immer mehr, als er sich vorgenommen hatte. Das war ihm peinlich. Er begann sich dafür zu schämen, genauso wie für den falschen Doktortitel und die vielen Vornamen. Wofür man sich schämt, darüber schweigt man, das hatte er gelernt. Aber, eines Tages musste seine Frau ihn ins Krankenhaus fahren, weil er plötzlich bewusstlos zusammengebrochen war und mit Armen und Beinen schreckliche Zuckungen ausführte. Das war dramatisch, ein Notfall. Im Krankenhaus erhielt er eine Spritze und eine Diagnose und dann wurde er wieder entlassen. Die Spritze half, aber an die Diagnose glaubte er nicht. Von Alkoholismus war die Rede, ein Wort, über das man nicht spricht, jedenfalls nicht, wenn es einen selbst betrifft. Nach drei weiteren Notaufnahmen im Krankenhaus sagte seine Frau, er müsse nun in eine Beratungsstelle gehen, sonst würde sie ausziehen. Herr M. tat, was seine Frau wollte. Aber er schämte sich und er war wütend und traurig.

In der Beratungsstelle hörte man ihm aber überraschend freundlich zu und er ging wieder hin, mehrmals sogar. Er erzählte dort aber nur die Hälfte. Den Sturz von der Kellertreppe erzählte er nicht, auch nicht, dass er alkoholisiert auf seinen Sohn eingeschlagen hatte und auch nicht, dass er sich bei seiner Arbeit mit den Bilanzen vertan hatte, was an seinen Entzugserscheinungen lag.

Wieder sagte jemand, er sei Alkoholiker. Ein schreckliches Wort. Er überlegte, ob er den Titel Alkoholiker nicht in den arabischen Emiraten verkaufen könnte, wo er ja seinen falschen Doktortitel gekauft hatte. Aber er sah ein, das war eine Schnapsidee, den Titel würde ihm ja niemand abkaufen. Alkoholiker wollte er nicht sein. Für Grippe und Blinddarmentzündung hatte er sich nicht geschämt, für die Alkoholabhängigkeit schämte er sich. Dann sollte er sogar noch in eine Selbsthilfegruppe gehen, wo nur Alkoholiker sitzen. Eine schreckliche Vorstellung. Als er aber hörte, dort könne man anonym hingehen, man brauche nur seinen Vornamen sagen, dachte er daran, es zu versuchen. Einmal ist keinmal, dachte er. Tatsächlich waren da nur Alkoholiker, und die sahen sogar völlig normal aus. Menschen wie du und ich. Man sprach übers Trinken und Rückfälle. Er sagte nichts, er hörte nur zu. Dann achtete er darauf, möglichst ungesehen wieder zu verschwinden.

Herr M. wurde noch mehrmals rückfällig. Immer wenn er sich schämte, stieg er in seinen Weinkeller hinab. Einmal ist keinmal, dachte er. Nach ein paar Gläsern Wein verschwand das Schamgefühl. Ein wunderbares Mittel, der Wein. Wenn nur die Nebenwirkungen nicht wären … Er musste wieder ins Krankenhaus, ihm wurde gekündigt und seine Frau zog jetzt manchmal an den Wochenenden zu einer Freundin. Noch immer verschwieg er große Teile seines alkoholischen Lebens, außerdem begann er nun zu schwindeln. Wenn er Wein kaufen ging, erzählte er, er hätte Weinessig gekauft. Dem Pfarrer sagte er nichts und den Arzt hatte er gewechselt, nachdem der die eigentümlichen Entlassungsberichte mit der Diagnose Alkoholismus aus dem Krankenhaus erhalten hatte. Der neue Arzt hatte auch keine Ahnung und so verfloss die Zeit und Herr M. wurde einsamer.

Eines Tages sagte ihm eine Stimme, er solle nun einhalten und umkehren. Ob es seine eigene Stimme war, die seiner geschiedenen Frau, die des Krankenhausarztes oder eine göttliche Stimme, das wusste er später nicht mehr. Aber, Herr M. hielt ein, Herr M. hörte auf zu trinken.

Einhalten und umkehren hieß auch auspacken. Herr M. packte aus. Er erzählte von seiner einsamen Wirklichkeit, von den Symptomen seiner Krankheit: dem Arzt, der Gruppe, der Beratungsstelle und sogar seinen Eltern. Scheitern ist schrecklich. Es gehört Mut dazu, sich Niederlagen zu stellen. Aber Herr M. wollte nicht mehr der ewige Verlierer sein. Er sah nun, dass er nur überleben würde, wenn er es mit Offenheit versuchen würde. Das Echo war unterschiedlich. Seine Eltern verstanden ihn nicht, aber die in der Beratungsstelle und in der Selbsthilfegruppe respektierten ihn. Anders als vermutet, erhielt er Anerkennung und Hilfe. Die neue Offenheit half ihm, endlich eine wirksame Therapie anzunehmen, und er ging für ein paar Monate in eine Fachklinik. Dort konnte er prüfen, welche Schamgefühle nützlich waren und welche überflüssig. Er befasste sich auch mit anderen Gefühlen: mit Ängsten, Unsicherheit, Unruhe und resultierenden Trinkwünschen. Er sprach in der Gruppe über seine Rückfälle, seine Niederlagen. Nun schämte er sich, dass er sich so lange geschämt hatte. Welch ein Zeitverlust! Hätte er doch seinem Arzt rechtzeitig reinen Wein eingeschenkt, wie damals bei der Blinddarmentzündung! Dann hätte der ihn doch auch sofort eingewiesen – nicht zu den Chirurgen, sondern auf die Entzugsstation. Aber, jetzt war er endlich abstinent und er wurde selbstsicherer. Ein neues Leben begann. Manches konnte repariert werden, manches nicht. Seine Frau zeigte wieder Interesse an ihm, was daraus werden würde, blieb offen. Sein früherer Arbeitgeber war nicht mehr interessiert: Kündigung blieb Kündigung. Aber manche Mitglieder der Selbsthilfegruppe wurden allmählich zu Freunden. Es gab noch viele Schatten in seinem Leben, aber nie wieder wurde es so dunkel, wie es früher in seinem Weinkeller gewesen war.

Heidt-Müller