Es gibt ein Leben nach der Therapie
Interview mit Dr. Thomas Reuter, OA der Klinik für Abhängigkeitserkrankungen in der DRK-Klinik Berlin-Mitte und Vorsitzender der Landesstelle Berlin für Suchtfragen
Herr Dr. Reuter, seit wann kann bei Ihnen entzogen werden?
Seit 1983, damals noch am Standort Mariendorf, und seit dem 1. Januar 1997 hier im Wedding.
Wie viele Patienten mit einer Abhängigkeitserkrankung wurden während dieser Zeit behandelt?
Ich schätze, dass in den zurückliegenden fast 30 Jahren ca. 25.000 Patienten bei uns behandelt wurden.
Kann man in der Hauptstadt eine Tendenz bei Suchterkrankungen erkennen?
Im Laufe der letzten zehn Jahre haben wir etwa 12.500 Behandlungen wegen Alkoholismus jährlich in Berlin. Diese Zahl ist relativ stabil.
Welche Abhängigkeiten werden in der „Drontheimer“ behandelt?
Ich sage immer spaßeshalber, wir machen Entgiftungen aller Art. Wir entziehen von allen stoffgebundenen, aber auch stoffungebundenen Süchten, wie z. B. der Glücksspielsucht.
Wann ist eine stationäre Entgiftung angebracht?
Generell ist ein stationärer Entzug angesagt, wenn es bei früheren Entzügen schon Komplikationen gab (Krampfanfälle, Delirien), also speziell bei Alkohol. Und auch dann, wenn ambulante Behandlungen nicht zum Ergebnis (Abstinenz) geführt haben, ist ein stationärer Entzug angesagt.
Welche „organisatorischen“ Voraussetzungen müssen erfüllt werden?
Der Patient braucht eine Einweisung von seinem behandelnden Arzt und die Bestätigung der Kostenübernahme durch seine Krankenkasse.
Wenn das nicht möglich ist, kann auch bei entsprechenden Voraussetzungen im Einzelfall eine Notfallaufnahme direkt erfolgen.
Was kommt auf den Patienten bei einer Entzugsbehandlung zu?
Das erste ist, die Intoxikation abklingen zu lassen und die Entzugssyndrome zu begleiten bzw. zu behandeln. An zweiter Stelle steht die Diagnostik eventuell begleitender Erkrankungen, also gibt es schon Schädigungen von Organen bzw. psychischer Art. Und an dritter Stelle steht, was das eigentlich Wichtige und Qualifizierende einer Entzugsbehandlung ausmacht: den Patienten in eine Richtung zu führen, die ihm erlaubt, zukünftig ein suchtmittelfreies Leben zu führen. Wobei ich die heute durch die vorläufige Kostenzusage der Krankenkassen üblichen sieben Tage für eine Entzugsbehandlung für zu kurz halte. Viele Patienten sind zwar nach 7 Tagen körperlich erholt, aber noch nicht psychisch.
Wie wichtig ist die Einbeziehung der Angehörigen für eine erfolgreiche Behandlung?
Das ist ein wichtiges wie auch schwieriges Kapitel. Wir selber haben ja hier in der Klinik ein- bis zweimal in der Woche Angebote für Angehörige, die jedoch eher spärlich besucht werden. Dies ist vordergründig wohl der Einstellung des Angehörigen zu danken, von dem Partner befreit und entlastet zu sein und dass die Klinik ihn schon wieder in Ordnung bringt. Unseres Erachtens steht aber dahinter die wohl am ehesten unbewusste Ahnung, dass auch auf den Angehörigen Veränderungen und Anstrengungen zukommen, damit ein gemeinsames abstinentes Leben möglich wird. Und hier ist der solidarische Verzicht auf das Suchtmittel noch die geringfügigste Anforderung für den Angehörigen. Es geht letztendlich um die Entdeckung, wo einem vielleicht das Trinken des Partners sogar Vorteile verschafft hat bzw. man – und bitte natürlich nie bewusst und absichtlich – zum Teil auf Kosten der Gesundheit des Partners gelebt hat. Wir denken, dass der Angehörige hierzu und für die daraus notwendigen Veränderungen genauso wie der Betroffene der Hilfe und der Selbsthilfe bedarf.
Es ist also eine Illusion zu glauben, ,,den biege ich mir schon hin“?
Ja, natürlich. Es ist bekannt, dass in der Abstinenzphase die Scheidungsquoten steigen. Ich höre auch in Angehörigengesprächen schon mal folgende Aussage: Herr Doktor, es ist ja schön, dass mein Mann jetzt nicht mehr trinkt, und er macht auch wieder alles und hat sogar einen Job bekommen, dafür bin ich Ihnen auch sehr dankbar, aber da gibt es so’n paar Sachen, da war er mir früher lieber. Da war er pflegeleichter. Und er geht jede Woche in eine Gruppe, was macht er denn da? Lernt er dort fremde Frauen kennen? Da gibt es alle möglichen Verdächtigungen, Zweifel und Unverständnis. In den betroffenen Familien haben sich natürlich im Laufe der Sucht eines Partners Strukturen herausgebildet, z. B. was Entscheidungen betraf. Da hat immer der nicht Abhängige alles entschieden, plötzlich will der Abstinente auch wieder entscheiden – was ja völlig legitim ist. Damit muss der Partner etwas hergeben, was einer der betörendsten Stoffe im Leben ist, und der heißt Macht.
Nach dem Entzug folgt in der Regel eine längere Entwöhnungsbehandlung. Da gibt es unterschiedliche Möglichkeiten: stationär, ambulant, Tagestherapien oder gleich Selbsthilfegruppen. Können Sie hier eine Empfehlung aussprechen?
Es gibt schon Anhaltspunkte, welche Form der Therapie bei wem erfolgreich sein könnte. Grob kann man sich an folgenden Punkten orientieren: Eine ambulante Therapie kann dort angewendet werden, wo ein intaktes und suchtmittelfreies soziales Umfeld besteht – Angehörige, Freunde usw. Außerdem braucht der Patient eine Tagesstruktur, am besten eine Arbeit. Wenn diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind, sollte meines Erachtens eine stationäre Therapie bevorzugt werden. Wenn aus der Anamnese hervorgeht, dass für den Patienten in den letzten Jahren Abstinenzzeiten, die länger als ein bis zwei Monate dauerten, nicht bekannt sind, ist ebenfalls von einer ambulanten Therapie abzuraten.
Bei ambulanten Therapien, die ebenfalls von den Rentenversicherungsträgern finanziert werden, wird eine mindestens vierwöchige Abstinenz nach der Entzugsbehandlung gefordert. Dazu gibt es in den Beratungsstellen besondere Vorbereitungsgruppen, um diese nicht unkritische Zeit zu überbrücken.
Die ambulante 6-Wochen-Therapie des AKB e. V. ist ein besonderer Fall. Für mich ist das übrigens keine Therapie, weil dort keine hauptamtlichen Therapeuten sitzen, sondern eine sechswöchige Selbsthilfemaßnahme unter Leitung langjährig trockener Alkoholiker. Sie kann allerdings sehr wirksam sein, zumal wenn andere Therapien nicht erfolgreich waren. Wer das durchsteht, hat gute Chancen auf eine dauerhafte Trockenheit. Ihr Vorteil ist ja auch, dass man sie nicht beantragen muss.
Gibt es Aussagen zur Häufigkeit von Rückfällen?
Hinsichtlich der Rückfallquote nach Entwöhnungsbehandlungen waren nach einer Untersuchung von 1986 nach vier Jahren noch 46% abstinent und nach zehn Jahren geht man von einer Quote von 25% aus. Für die Entzugsbehandlung nimmt man eine Rückfallquote von etwa 70% im ersten Jahr an. Insgesamt sind diese Zahlen, verglichen mit anderen chronischen Erkrankungen, gar nicht so schlecht und es besteht kein Grund zu verzweifeln, wenn es im ersten Anlauf nicht klappt.
Wie definieren Sie „Erfolg“ bei Abhängigkeitserkrankungen?
Ohne in Beliebigkeiten zu verfallen, kann eine Abstinenzzeit von z. B. 3 Monaten für den einen Abhängigen einen großen Erfolg darstellen für den anderen aber einen deutlicher Misserfolg. Generell ist aber auch hier der Selbsthilfe zu folgen: jeder trockene Tag ist ein guter Tag und des Dankes am Abend wert.
Gibt es für Sie einen Unterschied zwischen „Ausrutscher“ und „Rückfall“?
Nein, ich bin da ziemlich puristisch: ein Rückfall ist der erste Konsum nach einem Entzug. Ich fürchte bei dieser Differenzierung die Interpretationskunst der Süchtigen, die aus fünf zu gerne eine gerade Zahl macht. Wichtig ist, dass der Betroffene darüber redet. Ein Rückfall ist ja nicht der Untergang der Welt, aber eben auch nicht eine zu vernachlässigende Kleinigkeit…
Viele Betroffene, auch Angehörige, sind der irrigen Meinung, nach einem Entzug und eventuell noch einer Entwöhnungsbehandlung wäre alles wieder gut, man sei sozusagen „geheilt“, oder wie in Medien oft behauptet, ,,Exalkoholiker“. Wie ist der Standpunkt des Mediziners dazu?
Wir Mediziner unterscheiden zwischen akuten und chronischen Erkrankungen. Die Alkoholkrankheit zählt zu den chronischen, also lebenslangen Erkrankungen. Sie ist damit zusammen mit Krankheiten wie dem Bluthochdruck oder der Zuckerkrankheit nicht heilbar, aber gut behandelbar, vorausgesetzt es findet eine kontinuierliche Behandlung statt. Es gibt aber auf die Dauer keine professionelle Therapie bei einer Alkoholabhängigkeit. Der Entzug ist die Einleitungsphase, die Entwöhnung die psycho-therapeutische Behandlung, vielleicht gibt es auch eine Nachsorge oder noch eine Adaptationsbehandlung, aber dann beginnt es: das Leben nach der Therapie. Und hier gibt es meines Erachtens nur eine Möglichkeit: die Selbsthilfe. Sie vermittelt so wichtige Dinge wie Solidarität, Hoffnung, Erfahrungsaustausch, bewahrt vor Übermut und vielem mehr. Hinsichtlich ihrer Wirksamkeit spricht die Vielzahl der Gruppen eine eindeutige Sprache: denn was nicht wirkt, hätte sich nicht so lange gehalten. Und langfristig bietet die Selbsthilfe noch einen großen Vorteil, den keine professionelle Hilfe vermitteln kann: Der Zuckerkranke bleibt immer auf den Arzt und den Apotheker angewiesen. Die Suchtkranken können jedoch über die Selbsthilfe ein Maß an Freiheit, an Unabhängigkeit erlangen, das einem Diabetiker verwehrt bleibt. Und deshalb ist es so wichtig, dass sich der Abhängige nach der Entwöhnung – oder besser schon vorher, dann wird es auch im Übermut nach einer erfolgreichen Therapie nicht vergessen – einer Selbsthilfegruppe anschließt. Wobei nicht immer die erste die beste sein muss, aber man über dem Suchen das Finden auch nicht vergessen sollte.
Herr Dr. Reuter, herzlichen Dank für das Gespräch!
Interview: Jürgen Schiebert