Viktor Frankl und die Wirkung seiner „Sinnfindung“ auf Suchtkranke: Teil 2
Welche Fragen stellt das Leben an mich?
Von Rüdiger-Rolf Salloch-Vogel
Ich hatte mich gerade am Schreibtisch niedergesetzt, um zu arbeiten, als mich ein Anruf erreichte: Hermann F., den ich länger als zwölf Jahre kannte, war am frühen Morgen tot in seinem Bett gefunden worden. Seine Frau teilte mir mit, F. sei auf der Seite liegend eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht, eher entspannt, mit einem feinen Lächeln im Gesicht.
Ich hatte Herrn F. in der Klinik in B. kennengelernt, in der ich damals mit alkohol- und drogenabhängigen Menschen arbeitete, und unsere Beziehung dauerte so lange, weil Herr F. polytoxikoman war, in erster Linie von Alkohol und Opiaten abhängig, und sich immer wieder meldete. Oft haben wir uns in der Hoffnung verabschiedet, er werde in absehbarer Zeit dauerhaft abstinent bleiben. Die Summe seiner Rückfälle war bei seinem Ableben nicht mehr zu zählen.
Der freundliche, jungenhafte Mann wurde beinahe ein Freund von mir, ich mochte ihn und er mich wohl auch. Zu einer engeren Freundschaft kam es in den folgenden Jahren nicht, denn in regelmäßigen Abständen erhielt ich Arztbriefe von stationären Aufenthalten und Bitten des Patienten um einen erneuten Termin bei mir. Jedem Gesprächsversuch, die Schwierigkeiten der Abstinenz und des Arbeitslebens in den Fokus zu nehmen, wich der Patient jedoch aus.
Nach der Verabschiedung folgte regelmäßig eine längere Pause, aus der ich entnehmen musste, dass F. ein gutes Geld verdiente, mit einer Lebensgefährtin gut zurecht kam, von Zeit zu Zeit in eine Selbsthilfegruppe ging und eine neue Wohnung fand. Viele Jahre später, die ähnlich aussahen, arbeitete F. im englischsprachigen Raum und absolvierte aufgrund eines Rückfalles eine Therapie in Minnesota.
Danach tauchte er wieder bei mir auf, alles begann von vorn und ich verpulverte meine therapeutischen Möglichkeiten. Meine Freundlichkeit und meine Geduld nahmen ab und in der folgenden Zeit wartete ich geduldig auf den nächsten Rückfall. Aber meine Geduld wurde deutlich geringer und mein Interesse an dem Patienten auf eine merkwürdige Art auch. So, als ob wir beide im Nebel stünden.
Als Herr F. mir eines Tages bei einem Anruf mit schleppenden Worten mitteilte, er bekäme jetzt eine Berufsunfähigkeitsrente und wolle sich ein kleines Häuschen am Rhein bauen, wurde mir plötzlich übel vor Wut, und ich legte mit einem knappen Satz den Hörer auf, ohne Herrn F. eine deutliche Antwort auf seine Pläne zu geben. Was ich hätte sagen wollen, war: „Ich bin ihre dauernden Lügen so leid, ich kann nicht mehr, hören Sie auf damit, wenn Sie nicht sterben wollen, Sie sind ja eh schon halb tot. Ihr ganzes Leben besteht nur noch aus Lügen.“ Aber ich konnte das alles nicht aussprechen.
Wenn ich mir meine Akten vornahm und spazieren ging, dachte ich oft an meinen Patienten und fiel es mir nicht schwer, mir die körperlichen und seelischen Veränderungen des Herrn F. vorzustellen, und ebenso das Bemühen der Psychologen und Ärzte, diesen grausamen Zustand zu bessern und zu verhindern.
Wenn ich aber auf mich schaute, musste ich zugeben, dass meine Genesung in den ersten fünf Jahren nur sehr langsam vorangegangen war und ich große Schwierigkeiten hatte, ehrlich zu mir selbst zu sein.
Sucht als Lebenslüge?
Ich habe mir oft über den Begriff „Lebenslüge“ im Verlauf meiner Sucht und der anderer Menschen Gedanken gemacht: Mein Sponsor Peter war es, kurz nach dem Beginn meiner Abstinenz, der mich auf die „Sucht als Lebenslüge“ hingewiesen hatte. Und ich war mir klar darüber, dass sich die chronische Gehirnvergiftung, die sich z.B. Alkoholiker im Laufe der Zeit zuziehen, beim weiteren Trinken und z.B. bei gleichzeitigem Kiffen und der Einnahme von Opiaten sogar noch verschlimmert. Im Grunde konnte man, wie in der Geologie, von einer Erosion des Hirngewebes sprechen – das bezieht sich im Übrigen auch z.B. auf die Muskulatur – , bei der wie in der Landwirtschaft bei chronischen Unwettern ganze Landschaften eines fruchtbaren Ackerbodens bis zur Unfruchtbarkeit erodiert werden und nichts mehr taugen.
Die wenigsten Süchtigen haben den Mut, sich im Laufe der Zeit einzugestehen, dass dieser Erosionsprozess unser ganzes Leben bereits verändert hat, besonders, wenn sich unsere Gefühle verändern und auch – wenn man großes Pech hat – eine Liebe dabei zu Grunde geht.
Erst als ich an jenem Nachmittag das Buch von Viktor Frankl, seine Lebensgeschichte und seine therapeutischen Gedanken teilweise begreifen konnte, löste sich ein großer Druck in meinem abstinenten Leben.
Viktor Frankl schreibt zu Recht, dass die Seele und der Geist des Menschen im Leben stets nach einem Sinn suchen, um ein zufriedenes Leben führen zu können.
Je älter und erwachsener wir abstinent werden, desto mehr spüren wir dieses Gefühl der Sinn-Sehnsucht, und nicht selten, beim Hören von Nachrichten oder Lesen in einer Zeitung, spüren wir schmerzhaft die Sinnlosigkeit innerhalb der Gesellschaften, die uns umgeben.
Aufgeladen mit unterschiedlichen Drogen oder auch abstinent voll mit theoretischem Gefasel und stolz auf die cleanen Tage, diskutieren wir mit Freunden und wandern nach Hause, fallen in irgendein Bett und schauen wach vor dem Einschlafen in die Dunkelheit, spürend, dass irgendetwas nicht stimmt.
Ich selbst, aber auch mein Patient, waren an diesem Nachmittag am Telefon genau an diesem Punkt angekommen. Wir lebten nämlich nicht zufrieden – weder mit noch ohne unsere Drogen und begriffen nicht, dass wir unsere persönliche Wahrheit, abstinent oder rückfällig, verloren und noch nicht wiedergefunden haben.
Und weitergehend in Sinnlosigkeit lebten. Und dieser zu entrinnen, ist alleine nicht zu schaffen. Dieser Zustand wird von nicht wenigen Erwachsenen „Lebenslüge“ genannt.
Edith Stein, die Karmelitin, welche im KZ Birkenau hingerichtet wurde, hat es auf den Punkt gebracht: „Wer die Wahrheit sucht, sucht Gott, ob er es glaubt oder nicht.“
Dieser Satz machte mir klar, dass Fortschritte in meiner Entwicklung eine langfristige, ehrliche Arbeit in der Abstinenz an der persönlichen Sinnfindung bedeuten würden.
Mitten in meiner Trockenheit begann ich, mich um Viktor Frankl und die Sinnfindung zu kümmern, und das dauert mittlerweile schon einige Jahre und ergänzt meine Gruppenbesuche vortrefflich.
Homo sapiens bedeutet „einsichtsfähiger Mensch“, das heißt: Wir Menschen können uns
Gedanken machen über uns selbst, wir sind kritikfähig und entwicklungsfähig. Und wie bei jedem Kranken schädigt die Sucht uns unterschiedlich und ganz persönlich (individuell s.u.).
Aber auch, wenn wir von unterschiedlichen „Bereichen“ oder „Teilen“ des Menschen sprechen (von dem körperlichen, dem seelischen, dem geistigen und dem spirituellen Bereich), steht dennoch fest: Der Mensch ist und bleibt immer eine persönliche Ganzheit, ein unverwechselbares Individuum, ein Unteilbares. Jeder Mensch lebt und reagiert also auch auf eine Sucht/Abhängigkeit persönlich (wie z.B. auch auf eine Blinddarmentzündung). Dieser ganze Mensch, dieses menschliche, individuelle Ganze ist aber insofern besonders, als es nicht völlig abgegrenzt ist, sondern immer noch in einer Beziehung steht zu einem anderen, zu anderen, gleichen Wesen seiner Art, und wohl solange er auf der Erde ist.
Das gilt wohl für die gesamte Natur: Ein Atom ist ein Ganzes, aber auch ein Teil von einem Ganzen, einem Molekül. Viele Moleküle sind ein Teil einer ganzen Zelle und viele Zellen sind ein Teil eines ganzen Organismus. Nichts ist ausschließlich ein Teil oder ausschließlich ein Ganzes.
Das bedeutet: Wir Menschen sind zwar unverwechselbare Individuen, wir unterscheiden uns aber von anderen Menschen durch die Eigentümlichkeit unseres Wesens (Identität). Wir sind keine abgegrenzten Einzelwesen, sondern miteinander verbunden und wir brauchen diese Beziehungen, um uns gesund zu entwickeln und gesund zu bleiben. Denken Sie nur an die im Verhältnis zu anderen Wesen auf dieser Erde sehr lange dauernde Kindheit von 18-25 (!) Jahren.
Sehnsucht nach Lebenssinn?
Die oben genannte Sehnsucht nach Lebenssinn reicht interessanterweise über meine persönliche Welt hinaus: Wenn wir über Liebe, Krankheit, Geburt und Tod nachdenken und nachfühlen, wenn wir träumen, wenn wir lieben und wenn wir an eine höhere Macht glauben (Gibt es nicht Erlebnisse und Erfahrungen, nach denen wir spüren: „Dieses Erlebnis war göttlich!“?).
Das Transzendente überschreitet die Grenzen der Erfahrung und einer sinnlich erkennbaren Welt, es ist „übersinnlich und übernatürlich“.
Der Mensch muss um diese drei Seiten seiner Art wissen:
- Seine Einzigartigkeit,
- die Beziehungen zu anderen und
- seine Sehnsucht nach einem Bereich, der über seine Welt hinausgeht.
Ein Ersatz kann keine echte, persönliche Transzendenz nachbilden. Sinnlosigkeit fördert Süchtigkeit, Kriege, Auseinandersetzungen, Lug und Trug. Wenn man sich mit dem Buch „Mein Kampf“ von A. Hitler beschäftigt, wird sofort klar, dass diese ganze Schrift ein einziger (miserabler) Ersatz ist, also untauglich, Sinn zu ersetzen. Die Folge: „Adolf Hitler, mein Kampf, meine Lebenslüge.“
Wenn viele Menschen in bestimmten Lebensphasen in Sinnlosigkeit stecken bleiben, wird es immer wichtiger, Literatur daraufhin zu untersuchen, ob eine veröffentliche Arbeit inhaltlich Sinnlosigkeit fördert und unsere Verhaltensweisen nicht selten dem entsprechen.
So komme ich zu etwas besonders Wichtigem, das sich schon angedeutet hat: Mein Sinn ist etwas, das mich allein betrifft, ich kann immer nur von meinem Sinn sprechen. Mein Lebenssinn, den es zu finden gilt. Der Begriff „Sinnfindung“ unterscheidet sich in seiner Klarheit von der „Sinnsuche“ und „Sinnfrage“. Der erste Begriff öffnet eine Tür und führt auf einen Weg, dem ich langfristig folgen kann.
Wie ist denn der Schaden nun zu differenzieren?
Es gibt mehr als 15 ernst zunehmende Psychotherapieformen, an deren Kardinalsymptomen (Beispiel VT oder Tiefenpsychologie) sich eine manifeste Sucht wie ihre Besserungen in Richtung Abstinenz in Einzelgesprächen und Gruppentherapien (wie Gruppen des Kreuzbundes, Blaues Kreuz, Guttempler/IOGT und Anonyme Alkoholiker – hier besonders die 12 Schritte) zeigen lassen. Diese Entwicklungen sind zeit- und gruppenabhängig. Andere Hilfen sind das Jellinek-Schema und Ähnliches.
Gleichzeitig können wir bis an unser Lebensende etwas lernen und dies weitergeben (Prinzip Lernen und Lehren).
Deshalb fasse ich noch einmal zusammen: Wir leben einerseits in unserem innerweltlichen Leben (alles, was wir spüren, erkennen und erfahren können), entwickeln uns und lernen bis an unser Lebensende etwas.
Inhaltlich erkennen wir und erfahren zum Beispiel Raum, Zeit, Materie, Kausalität-Naturgesetze, Geburt, Lebenswelt und Tod. Im Unterschied dazu hatte ich das Transzendente genannt, das jenseits von Erfahrung und Erkenntnis Liegende („das geglaubt Werdende“), das die Bewusstseinsgrenzen überschreitet und zu einer Überwelt gehört und „das Göttliche“ genannt und als solches empfunden wird.
Frankl erkannte und entschied, dass es ein sinnloses Leben generell nicht geben kann, auch wenn wir Momente in unserem Leben für sinnlos halten oder sie so erfahren. Er schrieb dazu: „… die Frage ist falsch gestellt, wenn wir nach dem Sinn des Lebens fragen. Das Leben selbst ist es, das dem Menschen Fragen stellt …“
Diese Feststellung in seinem Buch „… trotzdem Ja zum Leben sagen …“ zu lesen, war für mich, wie gesagt, eine enorme Erleichterung. Das lag offensichtlich daran, dass ich zwar abstinent war und in meine Gruppen ging, auch arbeitete, aber bis zu dieser Erfahrung nicht zufrieden war.
Zum Experten meiner selbst werden
Ich hatte im Verlauf meines süchtigen Lebens, meines Fleißes und der Arbeit zum Trotz, große Flächen, Berge und Täler sowie breite Flüsse an Sinnlosigkeit angesammelt. Rückblickend finde ich, dass außer mir nicht wenige jüngere Menschen im ersten Drittel ihres Lebens sinnlose Seiten des Lebens ausprobieren mit Suchtstoffen und Verhaltensweisen.
Mich hatte die Sucht belogen und betrogen, aber am Ende konnte ich mit stationären und ambulanten Maßnahmen trotzdem abstinent bleiben, woran mir nahestehende Menschen durchaus beteiligt waren. Ganz langsam wurde mir klar, dass ein Weg in mein eigenes, nüchternes Leben länger dauern würde, nicht einfach ist, und es bis zu einer „zufriedenen Nüchternheit“ einige Jahre dauert.
Viktor Frankl und andere in den Gruppen oder Einzeltherapien haben mir gezeigt, wie ich ein Experte meiner selbst werden kann. Dabei lernte ich:
- 4 l Kaffee und 60 Zigaretten bedeuten keine Abstinenz.
- Ich besuche meinen Hausarzt regelmäßig, um feststellen zu lassen, ob ich körperlich gesund bin, zusätzliche Krankheiten bekommen habe und arbeiten kann.
- Benötige ich körperlich oder seelisch eine weitere ärztlich-psychologische Behandlung?
- Kann ich Beziehungen gestalten?
- Wie kann ich mit meinen Gefühlen umgehen?
- Wie gelingen meine Beziehungen zu drogenfreien Menschen?
- Wie schwer fällt es mir, drogenfrei zu leben?
- Ich schließe mich einer Selbsthilfegruppe an.
(Schneider schreibt dazu in seiner „Suchtfibel“ Seite 323: Viele Alkoholiker und andere Suchtkranke gelangen einzig und allein durch Selbsthilfegruppen zur dauerhaften Nüchternheit. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor der Selbsthilfe besteht darin, dass sie die Verantwortung vollständig beim Betroffenen lässt. Es gibt keinen neutralen Experten, nur selbst betroffene Experten in eigener Sache.)
Es war für mich nicht einfach, die Verantwortung für die Fragen zu übernehmen, die das Leben oder die Menschen, mit denen ich abstinent leben wollte, mir gestellt haben.
Wenn ich die Verantwortung für den Beginn auf dem Weg meiner Sinnfindung übernehmen will, schlägt Frankl drei Wegzeichen vor:
- a) Ich erlebe, was als gut oder schön und bereichernd erfahren werden kann,
- b) zu verändern und zum Besseren – und nicht nur für mich Besseren – zu wenden, wo und was immer möglich ist,
- c) wo es nötig ist, die Umstände zu ertragen, gilt es nicht, sie einfach passiv hinzunehmen, sondern an ihnen trotz allen Leidens selber zu wachsen und zu reifen.
Etwa 1940 hat einer der beiden Gründer der AA, Bill W., in einem Büchlein über die zwölf Schritte darauf hingewiesen, dass es sich zu Beginn der Abstinenz und auch dauerhaft um die „Bereitschaft“ handeln sollte, gegen meine Sucht und die gesamten damit verbundenen Lebensumstände regelmäßig etwas zu tun, um nicht rückfällig zu werden und zufrieden leben zu lernen.
Manchmal werde ich gefragt, warum ich mich nicht für die Abstinenz entschieden hätte.
Als meine Abstinenz begann, war ich gar nicht fähig, etwas zu entscheiden. Dazu hatte ich in vielen Jahren Alkoholismus gelernt, wie unfähig ich für Entscheidungen zur Abstinenz seit Jahrzehnten gewesen bin, sodass ich mir eine solche Entscheidung auch gar nicht mehr zutraute. Wenn ich mich damals in der Psychiatrie gegen meinen Alkoholismus entschieden hatte, so war das keine großartige Eigenleistung, sondern weil ich leben und mich nicht umbringen wollte. Heute steht für mich der Begriff „Bereitschaft“ wie ein ständiger Regenbogen über allem, um mich zu behüten und täglich gegen meinen Alkoholismus etwas zu unternehmen, aber auch für mich und die Meinen zu sorgen.
Fortsetzung folgt in einer der nächsten Ausgaben mit Teil 3