Aus der Genforschung:
Ist Alkoholsucht erblich?
Um es gleich vorwegzunehmen: Ganz so einfach ist es nicht! Alkoholismus ist keine echte Erbkrankheit wie zum Beispiel Albinismus, Farbenblindheit oder gewisse Stoffwechselerkrankungen. Aber: Bestimmte Erbfaktoren, Gen-Mutationen, können die Anfälligkeit für die Alkoholkrankheit stark erhöhen. Man ist dann „veranlagt“ dazu.
In welchem Maße und durch welche Gene das geschieht – dazu wird seit Jahrzehnten geforscht. Unter anderem innerhalb des Nationalen Genomforschungsnetzes (NGFN) im Projekt „Genetics of Alcohol Addiction“.
Über den neuesten Stand der Forschung und Schlussfolgerungen daraus sprach die TrokkenPresse mit Rainer Spanagel, Professor für Pharmakologie & Toxikologie, Leiter des Instituts für Psychopharmakologie am Zentrum für Seelische Gesundheit (ZI), Universität Heidelberg.
Professor Spanagel, ist die Alkoholkrankheit tatsächlich zum Teil genetisch bedingt?
Als Faustregel kann man sagen: Zu 50 Prozent ist Alkoholismus genetisch determiniert. 50 Prozent aller Risikofaktoren sind also genetische. Und wenn Sie diese genetischen Risikofaktoren haben und diese dann noch mit bestimmten Umweltrisikofaktoren interagieren, erhöht sich das Risiko, abhängig zu werden, dramatisch.
Allerdings kommt es selten vor, dass eine einzige Person all diese genetischen Risikofaktoren hat, die wir ja auch noch nicht mal alle kennen. Das könnten 150-500 Gene sein, die solch ein finales Risiko ausmachen können.
Wie ist die Forschung auf diese 50 Prozent gekommen?
Zum Beispiel durch klassische genetische Untersuchen an eineiigen und zweieiigen Zwillingen. Zweieiige sind ja genetisch nicht in dem Maße miteinander verwandt wie eineiige, die gleich sind. Es wurden je 10 000 Zwillingspaare untersucht. Bei den Zweieiigen war Alkoholismus ums doppelte häufiger im Gegensatz zu den Eineiigen. Das sind die Erblichkeitsraten. Aber da gibt es natürlich noch weitere Untersuchungen mit Adoptivkindern in Familien, die das dann weiter belegen. Wird ein Kind, bei dem ein Elternteil Alkoholiker ist, in eine Familie adoptiert, wo die Erziehungsberechtigten keine Alkoholprobleme aufweisen, so ist das Risiko für das Adoptivkind ungefähr doppelt so hoch, später an Alkoholismus zu erkranken, als wenn keine Vorbelastung von den leiblichen Eltern vorliegt.
Dass Alkoholismus zu 50 Prozent genetisch determiniert ist, das kann als ein Fakt gesehen werden. Und ein Fakt ist auch, dass es genetische Risikovarianten gibt, die das Erblichkeitsrisiko für Alkoholismus ausmachen. Das sind nicht mehr nur wissenschaftliche Befunde, sondern ganz klare Fakten.
Was macht ein solch mutiertes, verändertes Gen denn genau, was kann es anrichten?
Ich kann Ihnen zwei Beispiele geben aus unserer eigenen Arbeit, das ist einmal das RASGEF2-Gen, aus unserer Genomuntersuchung, die wir an 50 000 Personen gemacht haben. Da haben wir uns den Alkoholkonsum angeschaut: Bei wem tritt exzessiver Konsum auf? Wir haben also alle Gene angeschaut, über 30 000 Varianten, und bei den Personen mit exzessivem Alkoholkonsum kam eine Variante des RASGEF2-Gens gehäuft vor.
Was hat dieses spezielle Gen mit Alkoholismus zu tun?
Das war uns zunächst auch nicht klar. Dann haben wir dieses Gen zellbiologisch genau angeschaut, und es ist – also das Produkt des Gens, ein Protein – ganz zentral in der Signaltransduktion (Signalübermittlung, Erläuterung am Ende des Textes, d.R.) von Glutamatrezeptoren involviert. Das glutamatalge System ist im menschlichen Gehirn das wichtigste erregende Neurotransmittersystem: 70 Prozent all unserer erregenden Neurone benutzen Glutamat. Und dieses Glutamat bindet an Glutamatrezeptoren, insbesondere an NMDA-Rezeptoren. Wenn NMDA-Rezeptoren Glutamat binden, dann wird eine Signalübermittlung aktiviert, bei der RASGRF2 eine entscheidende Rolle spielt.
Und jetzt können sie natürlich wiederum fragen, was hat das mit Alkoholismus zu tun? Alkoholmoleküle binden auch direkt an den NMDA-Rezeptor und so ist es nicht verwunderlich, dass genetische Varianten von RASGRF2 die zellulären Effekte von Alkohol über die NMDA-Rezeptor-vermittelte Signaltransduktion direkt beeinflusst.
Wir wissen weiterhin: Wenn man Alkohol trinkt, wird Dopamin freigesetzt. Wir konnten zeigen: Diese Dopaminfreisetzung wird wiederum ganz stark von NMDA-Rezeptoren reguliert. Wir haben jetzt bei Mäusen in Laborversuchen dieses RASGRF2-Gen ausgeschaltet, und siehe da, wenn wir ihnen Alkohol gegeben haben, haben sie gar keine Dopmainfreisetzung mehr. Das heißt, sie bekommen keinen belohnenden Effekt von Alkohol, wenn RASGEF2 nicht aktiv ist. Diese ganze Transduktionskaskade von Alkohol über NMDA-Rezeptoren zum Dopamin hin funktioniert nicht mehr.
Das zeigt uns: Gene sitzen manchmal in wichtigen Neurotransmittersystemen und Kaskaden, über die Alkohol wirkt, oder über die suchtähnliche Effekte vermittelt werden.
Und so bestimmen diese Genvarianten mit ihren Genprodukten auch den Effekt von Alkohol oder der suchterzeugenden Wirkung.
Und das zweite Beispiel?
Auch aus unserer Forschung: CRHR1ist ein ganz wichtiges Molekül, das auf Stress antwortet. Wenn Sie ganz besonders aversiv (gegen etwas Widerwillen haben, es vermeiden wollen, d.R.) gestresst sind, dann wird dieses CRH freigesetzt. Es bewirkt zum Beispiel, dass man ängstlicher wird. Dass man sich nicht gut fühlt. Diese Symptome werden von CRH unter starkem Stress produziert, indem CRH freigesetzt wird und dann an sogenannte CRHR1-Rezeptoren anbindet. Das ist eine normale Stressantwort, die bei jedem Menschen stattfindet, sobald er zu viel Stress hat. Jetzt haben wir gefunden, dass eine bestimmte genetische Variante, die es in dem CRHR1-Gen gibt, in Interaktion mit Alkohol tritt. Wenn sie diesen Risikofaktor haben, dann wirkt Alkohol besonders gut, um diese Stressantwort zu dämpfen. Viele Menschen trinken ja, wenn sie gestresst sind, um wieder runterzukommen, gerade bei betroffenen Alkoholikern ein ganz klassisches Problem.
Ein Beispiel: Sagen wir, seit Jahren funktioniert alles wieder gut, man hat wieder einen Partner, wieder eine Arbeit. Aber plötzlich sagt der Chef, tut uns leid, wir müssen sie entlassen. Das ist ein hochaversives Erlebnis, und da wird CRH freigesetzt. Nun hatte man einst „gelernt“, ja wenn ich in so einem Moment Alkohol trinke, dann kann ich diesen Stress etwas wegdrücken. Das lindert diese Symptome, das emotionale Erleben besonders. Aber was es natürlich tut: Es befördert den Rückfall, es befördert das Trinken. Denn es ist ja nicht so, dass man dann am nächsten Tag wieder einen Job hat, sondern man hat den Job verloren und so treibt dann diese Risikovariante des CRHR1-Gen durch den Stress in Kombination mit Alkohol einen immer mehr in die Rückfallspirale rein.
Das ist ein Beispiel über eine Gen-Interaktion mit der Umwelt.
Wir haben z.B. dann auch wieder bei Mäusen dieses Gen ausgeschaltet und bei ihnen war es extrem. Sie haben unter normalen Bedingungen Alkohol bekommen und getrunken. Aber dann haben wir sie gestresst, sie richtig heftigen Stressoren ausgesetzt, mehrere Tage lang. Da ist ihr Alkoholkonsum ums Dreifache hochgeschossen. Und der Konsum blieb ein Leben lang hoch.
Sind diese genetischen Risikofaktoren vererbbar?
Ja! Wenn ich Träger solch einer Variante bin, dann werde ich die an meinen Sohn oder meine Tochter auch weitergeben. Es kommt jetzt darauf an, ob es dominant ist, oder die Risikovarianten werden von beiden Eltern weitergegeben, aber ganz klar: Das wird vererbt. Man kommt als Kind schon mit diesen Risikovarianten auf die Welt.
Woher weiß man, dass man veranlagt ist?
In Deutschland ist das nicht besonders gefragt, die Deutschen kommen nicht daher und lassen sich genetisch kartieren, aber in England oder den USA gibt es schon genug Leute, die das privat finanziert machen und wissen wollen, habe ich Risikovarianten oder nicht. Aber ob ich dann wirklich so viel gefeiter bin? Was soll ich daraus ablesen? Deshalb bin ich bei polygenetischen Erkrankungen vorsichtig, zu sagen, man sollte sich einfach durchscreenen lassen. Dann am Ende des Tages würde ich vielleicht erfahren, dass ich für 150 Erkrankungen prädestiniert bin, das ist wahrscheinlich eine schreckliche Information.
Wie kann ich es sonst erfahren, ob ich erblich belastet bin?
Da gibt es eine sehr einfache Regel: Eine Familie sollte darüber reden, ob in der Familie das Problem schon mal aufgetaucht ist oder nicht. Das Thema ist noch so stigmatisiert, dass es oft verschwiegen wird, wenn sich der Großvater oder der Onkel zu Tode gesoffen haben, keiner redet darüber. Aber man muss das wirklich offen benennen, wenn ein Verwandter ein Alkoholproblem hat oder abhängig war. Dann bedeutet das für Sie, dass Sie genetisch Risikovarianten tragen, die Sie gefährden. Und wer das Wissen hat, kann sagen: halt mal, Alkohol ist für mich, besonders, wenn es in das riskante Trinken reingeht, gefährlich. Ich habe eine genetische Determination dafür.
Eine offene Gesprächskultur ist Selbstschutz. Zu wissen, hey, das ist in meiner Familie aufgetreten, bedeutet für mich, ich bin gefeiter. Es bedeutet nun nicht, dass ich überhaupt keinen Alkohol trinken soll, aber sobald ich in riskanten Konsum komme und das passiert halt in bestimmten Lebenssituationen, da muss sofort das Warnsignal hochgehen.
Das Interview führte Anja Wilhelm
Ein Gen (liegt auf den Chromosomen in jedem Zellkern) ist ein Eiweiß-Bauplan, es trägt die Erbinformationen. Und ist dafür verantwortlich, dass Informationen zu Merkmalen der Ausprägung von Generation zu Generation weitergegeben werden.
Signalübermittlung: Damit Reize aus dem Körper oder der äußeren Umgebung richtig und schnell vom Organismus beantwortet werden können (Reaktion), müssen sie vom Organ des Eintreffens über mehrere Tausend Nervenzellen bis zum Zielorgan geleitet werden (z.B. Geruchsempfindung, Muskelkontraktion). Das geschieht von Nervenzelle (Neuron) zu Nervenzelle, über die Synapsen zwischen ihnen: mittels elektrischer Erregung, die Botenstoffe wie Hormone und Neurotransmitter freisetzt, die wiederum mit ihrer Information die Zellmembranen passieren können. Glutamat ist solch ein Transmitter. Wenn er zum Beispiel andockt an NMDA-Rezeptoren, löst er eine spezielle Signalübermittlung aus.