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Titelthema 3/16: Gruppe adé??

TP0316 Druck-PlakatSelbsthilfegruppe – was kann sie wirklich?

Gehen Sie regelmäßig zu einer Gruppe, liebe LeserInnen? Ja? Oder nein?
Und wenn nicht, droht dann wirklich bald der Rückfall? Dieses Thema wird unter Betroffenen oft diskutiert. Gibt es doch seit jeher die klare Ansage von langjährig Trockenen und Therapeuten: die echte, lebendige Gruppe ist überlebensnotwendig, denn sie bietet Hilfe und Schutz. Ist das wirklich so?

Bundesweit gibt es etwa 7000 Selbsthilfegruppen für Alkoholsüchtige, mit geschätzten 120 000 Mitgliedern. Eine Umfrage der Thüringer Landesstelle für Suchtfragen aus dem Jahre 2011 stellte fest: 85 Prozent aller Thüringer Suchtkranken, die regelmäßig eine SHG besuchen, sind (bisher) nicht rückfällig geworden.

Internationale Studien ergab, zusammengefasst, eine Verbesserung von Abstinenzdauer, Arbeitsfähigkeit und sozialer Wiedereingliederung von Alkoholkranken, die regelmäßig und aktiv in Gruppen sind – im Unterschied zu Kontrollgruppen, die keine SHG besuchen. „…kann man angesichts der Vielzahl positiver Befunde von einer Wirksamkeit psychologisch-therapeutischer Selbsthilfegruppen bei psychischen Störungen im weiteren Sinn ausgehen. Offene Fragen bleiben hinsichtlich des Umfangs der Wirksamkeit …“ (selbsthilfegruppenjahrbuch 2012, S. 153).
Im Klartext: Es gibt keine allgemeinen Zahlen, die beweisen können, WIE wirksam Selbsthilfe ist, sondern einzig, DASS sie wirksam ist.

Aber ist das nicht im Grunde auch egal, solange jeder, der in einer Gruppe Zuhause ist, für sich selbst das Gefühl von hilfreicher Gemeinschaft Gleichgesinnter hat? Die Erfahrungen jener, die in eine Gruppe kommen und nicht nach drei Monaten wieder fernbleiben wie etwa die Hälfte der Neulinge, sprechen für sich: „Wenn ich mich mit meiner Gruppe treffe, gibt mir das immer wieder Kraft für den Alltag. Ich habe dort wirkliche Freunde gefunden, mit denen ich über alles offen sprechen kann. Wo mir zugehört wird. Und ich selber zuhöre. Die Gruppe ist fester Bestandteil meines trockenen Lebens geworden“, sagt Marina* aus Brandenburg.

Natürlich gibt es auch diejenigen, die andere Erfahrungen gesammelt haben: „Ich habe zwei Anläufe genommen, die Chemie passte aber nicht“, erklärt Franz* aus Berlin. Und Anna*: „Es wurde immer das Gleiche erzählt. Alkohol hier, Alkohol da … und immer kluge Ratschläge. Ich hätte die falsche Arbeit, die falschen Freunde, das falsche Umfeld.“

Und natürlich gibt es auch Betroffene, die keine Gruppe finden, weil es gar keine gibt, besonders in ländlichen Gebieten. Und es gibt diejenigen, die ohne Therapie und nur in der Gruppe trocken geworden und geblieben sind. Dann wären da aber auch noch die, die ohne reale Gruppe seit Jahrzehnten noch immer trocken sind. Reale Gruppe? Ja, denn auf der Ebene der Kommunikation hat sich seit Internet und Facebook so einiges verändert, eine andere Art von Gruppe ist entstanden, die virtuelle: „Ich habe eine SGH hier in facebook. Ich finde gut, dass sie jederzeit da ist. Es sind zu jeder Tageszeit Ansprechpartner da. Und ein Administrator online, der im Notfall auch telefonieren oder die Polizei verständigen kann, wenn es jemandem sehr schlecht geht. Sogar Hilfe bei Ämtern wird vermittelt, bei der Wohnungssuche geholfen …“, postet Karin.

Die Vorteile einer virtuellen Gruppe: Nur ein paar Klicks im Internet – schon gibt es sie. Man muss als Mitglied nirgendwohin. Kann „reden“ und fragen, wann immer man es braucht. Auch hier entstehen oft Freundschaften fürs reale Leben.

Wie wir sehen, gibt es viele verschiedene Erfahrungen und Wege beim Thema Gruppe. Die Empfehlung der Suchttherapie aber bleibt nach wie vor: Mindestens ein Jahr lang nach der stationären Therapie noch eine Gruppe zu besuchen.

Der Bedarf an Selbsthilfe scheint vorhanden zu sein wie eh und je. Es entspricht dem sozialen Wesen Mensch, sich bei anderen Menschen Hilfe zu suchen – oder anderen Hilfe zu schenken. Nur ändert sich mit den technischen Möglichkeiten wohl auch die Art und Weise, wie wir das tun …

Was kann Gruppe nun wirklich? Antworten dazu im folgenden Interview mit Jürgen Heckel, Kommunikationstrainer, Selbsthilfe-Experte, Autor und selbst langjährig trocken. Berichte über Erfahrungen mit Gruppen lesen Sie auf S. xx und in unserer Hausdestille.                                                                                                                                                 Anja Wilhelm

 

(*Namen von der Redaktion geändert)


Der Mensch ist des Menschen Arznei …

Über die Selbsthilfegruppe und wie und wodurch sie funktioniert*

Mit Jürgen Heckel, Alkoholiker, über 30 Jahre trocken, Suchtberater, Buchautor, Kommunikationstrainer und Diplom-Bibliothekar, der von sich hofft, auf dem Weg zur Nüchternheit zu sein, sprach Autor Hans-Jürgen Schwebke, Alkoholiker, über 12 Jahre trocken.

Herr Heckel, warum gehen Sie nach über 29 Jahren Abstinenz immer noch in eine Gruppe?

Ich traf bei meinem ersten Gruppenbesuch auf Menschen, die offen und ehrlich über sich sprachen, was ich in anderen Veranstaltungen so noch nie erlebt hatte.

In Ihrem inzwischen in 6. Auflage erschienenen Buch „Sich das Leben nehmen: Alkoholismus aus der Sicht eines Alkoholikers“ beschreiben Sie ausführlich Ihren Weg mit Hilfe der Anonymen Alkoholiker (AA).

Gott sei Dank gibt es viele unterschiedliche Selbsthilfegruppen mit unterschiedlichen Arbeitsweisen: die Anonymen Alkoholiker, den Kreuzbund, das Blaue Kreuz, die Guttempler, örtliche Freundeskreise und unzählige andere.

Betroffene sollten sich, meiner Meinung nach, zehn verschiedene Gruppen anschauen, bevor sie urteilen. Bei dem einen hilft diese Gruppe, beim anderen wiederum eine ganz andere. Die Wege in die Sucht sind individuell, die Wege heraus auch. Wenn zwei Alkoholiker den gleichen Genesungsweg versuchen, wird einer scheitern.

Es geht nicht um gute oder schlechte Abstinenzverbände oder Gruppen …?

Nein, es geht um die Frage: Welche Gruppe ist wann für wen tauglich? Ich wählte meine Gruppe, weil ich dort keinem Guru oder einem Programm zu bedingungslosem Gehorsam verpflichtet werde. Ich werde nicht gezwungen, meine Identität abzugeben, um eine vorgeschriebene anzunehmen. Für mich ist wichtig, dass die Macht über mein Leben in den eigenen Händen bleibt, das heißt: Ich kann meine Identität entwickeln. Ich habe über die Jahre gelernt: In einer Selbsthilfegruppe bekommt ein Süchtiger nicht das, was er möchte, sondern das, was er braucht – Wahrheit und Klarheit, Empathie und Konfrontation.

Mitglieder in Selbsthilfegruppen lassen sich ein Leben lang auf einen seelischen Entwicklungsprozess ein, für den sie selbst die Verantwortung übernehmen. In einer Selbsthilfegruppe hilft nicht einer dem anderen, sondern jeder hilft sich selbst und dadurch hilft er den anderen.

 Worin besteht das Ziel einer Selbsthilfegruppe?

Ziel einer Sucht-Selbsthilfegruppe ist die Suchtbefreiung. Der „Trick“, den ich anwenden muss, um mit meiner Sucht umgehen zu lernen, ist folgender: Ich muss mein Leben so umorganisieren, dass es mir ohne Droge deutlich besser gefällt als zuvor, dass ich es als einen Gewinn empfinde, trocken zu leben, nicht als Verlust. Ich verliere nichts, ich gewinne: an Menschlichkeit, Nähe, Sensibilität, Wärme, Freiheit. Das bedeutet Aufbau eines gelingenden Lebens mit neuer klarer Wert-, Sinn- und Zielorientierung. Wir Alkoholiker sind zum guten Leben verurteilt. Ich bin gezwungen, mich auf umfassende Veränderungsprozesse einzulassen.

Woran liegt es, dass Alkoholiker und Außenstehende den Gruppenbesuch oft mit Schwäche verbinden?

Für mich ist der Besuch einer Selbsthilfegruppe quasi ein Trainingslager, ein geschützter Raum zum gefahrlosen Ausprobieren. Die Entscheidung, zukünftig abstinent zu leben, vergleiche ich dabei mit einer Expedition von den Sümpfen der Sucht zum Berg der Freiheit, bei der ich mit Höhen und Tiefen, Schwierigkeiten und Fehlschlägen zurechtkommen muss. Die Gruppe ist dabei immer wieder Trainingscamp, in dem sich gezielt und speziell mit den möglichen Problemen und Schwierigkeiten der Gruppenmitglieder auseinandergesetzt und Problemlösungen erarbeitet und trainiert werden können. Ein Gruppengespräch in diesem Sinne enthält großartige Chancen: Voneinander lernen, füreinander da zu sein, beieinander Verständnis zu finden, untereinander offen zu reden, sich zu begegnen, sich zu berühren, sich mitzuteilen in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes: Erfahrung, Kraft und Hoffnung miteinander teilen. Immer, wenn ich mit den Freunden in einer Gruppe beisammen bin, überkommt mich das beglückende Gefühl, dass mir dort nichts passieren kann. In Bezug auf meine Gesundheit bilde ich mich dort lebenslang zu meinem eigenen Experten aus.

Das heißt aber auch für die Betroffenen, sich neue Konflikt- und Bewältigungsstrategien anzueignen.

Jawohl, Selbsthilfegruppen setzen zwei für Menschen unersetzliche Medikamente ein: Zuhören und Sprechen. Dabei ist Zuhören der Anfang vom Anfang im Veränderungsprozess. Denn: Nur wer zuhören kann, ist auch in der Lage, zu sprechen. Und wer dem Hören und Zuhören einen Wert gibt, ist auf dem Weg zur Achtsamkeit zu sich selbst und anderen gegenüber. Wer sich dem Gruppenklima kontinuierlich aussetzt, wird Zuhören als Lebenskunst entdecken.

Dazu gehört das freie Sprechdenken, die Verfertigung der Gedanken beim Reden. Im Gruppengespräch erleben wir, wie erlösend es ist, etwas in Worte fassen zu können, was schon lange in uns bohrt und sich des Nachts in unsere Träume schleicht. Nur wenn ich es auf den Begriff bringe, nur dann kann ich es begreifen, ergreifen, anpacken und Lösungen anstreben. Egal, aus welchen Gründen eine Selbsthilfegruppe zusammenfindet, es sind immer auch kommunikative Fähigkeiten, die dort meist unbewusst geschult werden. Kommunikative Fähigkeiten sind es, die es uns ermöglichen, aus eigener Kraft aus ausweglosen Situationen herauszukommen. Genesung bedeutet für Süchtige soziales Lernen.

Was bewirkt Ihrer Meinung nach die Veränderung des eigenen Ich?

Es ist nicht in erster Linie der Erfahrungsaustausch, so wichtig und bedeutsam er auch ist – schon gar nicht das erworbene Wissen über Alkoholismus. Ich kenne Leute, die wissen alles über Alkoholismus mit einer winzigen Ausnahme: sie wissen nicht, wie sie trocken leben können. Es ist auch nicht ein Programm, so hilfreich es auch ist, sondern es ist die andere und besondere Art – überwiegend auf der Beziehungsebene – zu kommunizieren, die das Wachstumsklima und damit die Veränderung herbeiführt. Es ist das gleichberechtigte Nebeneinander von Gedanken und Gefühlen, von Wissen und Träumen, das die besondere Qualität dieser Sprechsituation ausmacht. Es ist ein fortschreitendes Erfahren und lernendes Erleben. Meistens registriere ich gar nicht, dass ich etwas lerne. Die Genesung ergibt sich aus dem Gespräch von Mensch zu Mensch. Ergibt sich aus der Art und Weise, wie wir uns dort berühren.

Der senegalesische Stamm der Wolof hat dafür ein passendes Sprichwort: „Nit nit, ay garabam.“ – „Der Mensch ist des Menschen Arznei“.

Was habe ich von einem Gruppenbesuch?

  • Wenn ein anderer Mensch bereit ist, mir etwas von sich zu erzählen und seine inneren Gedanken und Gefühle mit mir teilt, so liegt darin ein Wert für mich. Ich profitiere auch dann, wenn sich herausstellt, dass ich ganz andere Ansichten habe.
  • Ich erfahre Zug um Zug, wie wertvoll und gewinnbringend es ist, einen anderen Menschen zu verstehen. Geteilte Freude ist doppelte Freude – geteiltes Leid ist halbes Leid. Teilen setzt Energien frei für Veränderungen.
  • Ich lerne mich nicht nur mit meinen, sondern auch mit den Augen der anderen wahrzunehmen.
  • Ich lerne in der Gruppe, Nähe zuzulassen, und ich lerne, Nähe zu ertragen.

Manche warnen vor der Entstehung der Selbsthilfegruppen-Sucht.

Das ist ein beliebter Vorwurf. Es gibt aber einfach nichts, auf das Menschen nicht süchtig werden können. Auf die Gruppe süchtig zu sein, ist immer noch besser als sein Gehalt zu versaufen, seine Frau zu verprügeln und die Kinder zu vernachlässigen.

Der griechische Schriftsteller Plutarch sagte: Es ist schlimm, erst dann zu merken, dass man keine Freunde hat, wenn man Freunde nötig hat.

Das Wissen, welche Eigenschaften ich für meine Veränderungsprozess benötige, hatte ich von meinen Therapeuten: Zähigkeit, Geduld, Flexibilität, Frustrationstoleranz, vor allem aber auch die Empfehlung: Such dir einen völlig neuen Freundeskreis. So schnell wie möglich, am besten noch heute. Wenn das Haus brennt, musst du dich ja auch beeilen, dass du rauskommst, selbst dann wenn du noch keine andere Bleibe hast. Urplötzlich hatte ich meinen gewohnten Freundeskreis aufzugeben, doch ein neuer war weit und breit nicht in Sicht. Ich fand ihn in der Gruppe.

Was macht für Sie das Besondere der Selbsthilfe in der Gruppe aus?

Mir werden durch diverse Beiträge in der Gruppe immer wieder Fragen gestellt, die ich mir selbst auch nach Jahrzehnten nicht zu stellen traue. Das öffnet Türen bei mir, die immer noch verriegelt sind.

Und: Die Gruppe ist für mich ein nützliches Frühwarnsystem für die Gefahren eines Rückfalls.

Es ist auffällig, wie viele nach über 20 Jahren wieder rückfällig werden, einer der vielen Gründe, weshalb ich auch nach 29-jähriger Trockenheit immer noch in Gruppen gehe. Gerade wenn ich das Gefühl habe, weit weg vom Alkohol zu sein, ist er besonders nah. Mein Kopf ist durchaus noch tauglich, als Frühwarnsystem für Rückfallgefahren taugt er nichts. Dafür benötige ich die Gruppe.

Der Praxistransfer des Erlernten ist in den Gruppenprozess selbst eingebaut.

Die ständige Begegnung mit nassen Alkoholikern ist wichtig. Nasse halten mir einen Spiegel vor.

Ich erkenne, ob ich mich vorwärts oder zurück entwickle.

Herr Heckel, vielen Dank für das Gespräch. Ich wünsche Ihnen, den betroffenen Leserinnen und Lesern und mir weiter gute 24 Stunden!