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Titelthema 5-25: Mit Stolz aus der Abhängigkeit

Mit Stolz aus der Abhängigkeit:  ein neuer Weg in der Suchttherapie

Von M.Sc. Psych. Thilak Linganathan

Eingetragen in Arztregister KV NRW, Klinischer Psychologe (BDP), Psychologischer Psychotherapeut, Psychokardiologie i. W., Doktorand der Suchtforschung (Uni Bremen)

Viele Menschen, die mit einer Suchterkrankung leben, tragen eine große Last in ihrem Inneren. Es ist nicht allein die Abhängigkeit von Alkohol, Medikamenten oder Drogen, die das Leben schwer macht. Häufig sind es Gefühle wie Scham, Schuld und das Empfinden, versagt zu haben, die noch viel stärker drücken. Wer immer wieder Rückfälle erlebt, kennt den Kreislauf: ein Moment der Schwäche, ein Rückschlag und sofort sind Selbstvorwürfe da. Diese zerstörerischen Gedanken können so stark sein, dass sie neue Versuche der Abstinenz fast unmöglich machen. Genau hier setzt ein neuer therapeutischer Ansatz an, der den Blick verändert: die leistungssensible Suchttherapie von Fleckenstein (entwickelt von den Züricher Psychologen M. Fleckenstein und M. Fleckenstein-Heer, d. Red.).

Abstinenz als Leistung sehen

Im Mittelpunkt dieser Therapie steht eine einfache, aber oft übersehene Wahrheit: Jeder Schritt in Richtung Abstinenz ist eine Leistung. Es ist nichts Selbstverständliches, auf ein Suchtmittel zu verzichten, im Gegenteil. Wer einen Tag, eine Woche oder gar Monate ohne Konsum lebt, erbringt damit eine große Anstrengung. Die leistungssensible Suchttherapie macht diese Leistung sichtbar und würdigt sie. Statt ständig auf Rückfälle oder Defizite zu schauen, rückt sie die Erfolge in den Vordergrund. Damit verändert sich der innere Blick: Aus Scham kann Stolz entstehen.

Die Kraft des Stolzes

In der Therapie bekommt der Stolz eine neue Bedeutung. Er wird verstanden als ein gesunder, innerer Motor, der Kraft schenkt. Wer stolz auf seine eigene Leistung sein darf, empfindet mehr Selbstwertgefühl und gewinnt Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zurück. Dieser Stolz ist kein Selbstbetrug, sondern eine realistische Würdigung dessen, was Betroffene Tag für Tag leisten. Gerade in schweren Zeiten kann dieses Gefühl wie ein inneres Licht wirken, das Mut gibt, weiterzugehen.

Wie die Therapie abläuft

Die leistungssensible Suchttherapie wird meist in Form von Gruppensitzungen durchgeführt. In drei bis vier Terminen erarbeiten Betroffene gemeinsam, wie sie ihre eigenen Erfolge wahrnehmen und würdigen können. Typisch sind kleine Übungen, die helfen, einen neuen Blickwinkel einzunehmen.

Ein zentrales Bild ist dabei die Gummiband-Analogie. Stellen Sie sich vor, jemand hält ein stark gespanntes Gummiband in den Händen. Es braucht Kraft, das Band dauerhaft festzuhalten. Mit der Zeit wird es anstrengend, die Muskeln ermüden, und man spürt, wie schwer es fällt, nicht loszulassen. Genauso geht es Menschen mit einer Abhängigkeit: Sie müssen enorme Energie aufbringen, um abstinent zu bleiben. Jeder Tag ohne Konsum gleicht dem Halten des gespannten Bandes eine beachtliche Leistung, die Würdigung verdient. Diese Metapher macht deutlich: Abstinenz ist kein Selbstläufer, sondern ein täglicher Kraftakt.

Die Rolle der Angehörigen

Ein besonders wichtiger Bestandteil dieser Therapie ist die Einbindung von Angehörigen. Sie lernen, die Anstrengungen ihrer Partnerin, ihres Partners oder ihrer Kinder bewusst wahrzunehmen und wertzuschätzen. Statt Vorwürfe zu machen oder Misstrauen zu äußern, üben sie, Erfolge zu benennen und anzuerkennen. Ein Satz wie „Ich sehe, dass du heute nicht getrunken hast, und ich bin stolz auf dich“ kann enorme Wirkung entfalten. Für Betroffene ist diese Anerkennung von außen oft entscheidend, weil sie zeigt: Auch andere sehen die Mühe, die in jedem abstinenten Tag steckt.

Wissenschaftliche Ergebnisse

Studien aus der Schweiz zeigen, dass die leistungssensible Suchttherapie wirkt. Während einer Behandlung treten bei Patientinnen und Patienten, die an diesem Programm teilnehmen, weniger Rückfälle auf als in Kontrollgruppen. Noch wichtiger: Auch Monate nach Abschluss der Therapie berichten viele über ein besseres seelisches Gleichgewicht, weniger Schuldgefühle und eine höhere Lebenszufriedenheit. Angehörige fühlen sich ebenfalls entlastet, weil sie einen Weg gefunden haben, konstruktiv zu unterstützen, statt in Vorwürfen oder Hilflosigkeit zu verharren.

Darüber hinaus ist in Deutschland eine neue Studie geplant, die die Wirksamkeit der leistungssensiblen Suchttherapie in verschiedenen Einrichtungen systematisch untersuchen soll. Ziel ist es, genau zu prüfen, wie nachhaltig die positiven Effekte sind und wie sich der Ansatz in unterschiedlichen Settings von ambulanter Beratung bis zur stationären Behandlung anwenden lässt. Damit wird die wissenschaftliche Basis für diese Therapie weiter gestärkt und es entsteht die Chance, noch mehr Betroffenen Zugang zu diesem ressourcenorientierten Programm zu verschaffen.

Selbstmitgefühl lernen

Neuere Weiterentwicklungen der Therapie beinhalten auch Übungen zum Selbstmitgefühl. Viele Betroffene sind im Umgang mit sich selbst gnadenlos streng. Schon ein kleiner Fehler wird als persönliches Versagen gedeutet. Das führt zu noch mehr Druck und oft zu erneutem Konsum. Selbstmitgefühl bedeutet, sich selbst so zu behandeln, wie man es bei einem guten Freund tun würde: mit Verständnis, Wärme und Aufmunterung. In der leistungssensiblen Suchttherapie wird Stolz deshalb nicht isoliert gesehen, sondern mit dieser Haltung des Mitgefühls verbunden. So entsteht ein doppelter Schutz: innere Stärke und liebevolle Nachsicht.

Ein Beispiel aus der Praxis

Eine Patientin berichtet: „Früher habe ich mich nach jedem Rückfall gehasst. Ich dachte, ich kann es einfach nicht schaffen. In der Gruppe habe ich gelernt, dass ich trotzdem schon viele Male stark war, jedes Mal, wenn ich nein gesagt habe. Zum ersten Mal konnte ich stolz auf mich sein, und das hat alles verändert.“ Solche Erfahrungen sind typisch: Das Umdeuten der eigenen Geschichte, weg von Versagen, hin zu Leistung, führt zu neuer Motivation.

Die leistungssensible Suchttherapie öffnet einen neuen Weg im Umgang mit Abhängigkeit. Sie schenkt den Betroffenen die Möglichkeit, ihre Fortschritte zu sehen, Stolz zu empfinden und dadurch neue Energie zu schöpfen. Wer diesen Weg geht, merkt: Heilung bedeutet nicht, perfekt zu sein. Heilung bedeutet, kleine Schritte zu erkennen, sie zu feiern und daraus Kraft für den nächsten Tag zu ziehen. Jeder Mensch, der abstinent bleibt, auch nur für heute, darf stolz auf sich sein. Und dieser Stolz kann das Fundament sein, auf dem ein neues, freieres Leben wächst.