Blau auf dem roten Teppich
Die TrokkenPresse – Organ Abhängiger aller Genres und Gewerke – umwabern alljährlich abenteuerliche Gerüchte über die elf tollen Tage der Internationalen Berliner Filmfestspiele: Nachdem sich die Tabletts mit den angesagten Kaltgetränken und die Partyparketts geleert haben, füllen sich angeblich die Betten der Entzugskliniken. Um dieses diffuse Twilight zu beleuchten, führte HG-N, greises Groupie schöner Künste, mit dem Festivaldirektor und Intendanten der Internationalen Filmfestspiele Berlin, Dieter Kosslick, ein erhellendes Interview.
TrokkenPresse: Wollen wir dieses Interview in Du-Form führen? Unseren abhängigen TrokkenPresse-Lesern, die meist schon einen harten Weg durch Therapie, Selbsthilfegruppen oder konfrontative Trinkerheilanstalten gegangen sind, ist die Duzerei durchaus nicht fremd.
Dieter Kosslick: Klar.
TrokkenPresse: Nirgendwo wird so viel gesoffen wie überall – und bei euch?
Dieter Kosslick: Jeden Tag gibt’s eine Party, und wenn Du da jeden Tag ein Glas Wein trinkst, bist Du schon dran.
TrokkenPresse: Wird kein Wasser gereicht?
Dieter Kosslick: Doch. Einerseits sind die Leute sehr aufgeregt, manche scheu und andere unsicher. Es gibt viele Gründe, Alkohol zu trinken – ich meine nicht die Süchtigen, die trocken geworden sind, sondern die „Normalen“. Aber ich kenne auch einen Regisseur, der hat vor einem halben Jahr aufgehört zu rauchen und trinkt keinen Alkohol mehr.
TrokkenPresse: Sehr löblich.
Dieter Kosslick: Auslöser waren schlicht gesundheitliche Probleme. Er hat erst mal 15 Kilo abgenommen in dieser kurzen Zeit, obwohl er Kettenraucher war. Das Rauchen hat er konsequent aufgegeben und er hat mir gesagt, dass er wahrscheinlich auch gar nicht mehr anfangen wird zu trinken, weil dieses Gefühl, morgens aufzuwachen und klar im Kopf zu sein, der Körper funktioniert, es geht einem gut, man fühlt sich wohl und ist positiv gelaunt, einfach großartig ist. Das ist ihm viel mehr wert…
TrokkenPresse: Der Kandidat hat ein TP-Abo gewonnen!
Dieter Kosslick: Ich kenne den Mann schon seit 30 Jahren und bin erstaunt, dass das jemand so konsequent durchziehen kann. Obendrein beweist es ja eigentlich nichts anderes als dass es einem gut geht, wenn man keinen Alkohol trinkt.
TrokkenPresse: Du hast schon viel auf der Leinwand gesehen. Welcher Film, in dem Alkohol eine Hauptrolle spielt, käme dir ad hoc vor die Augen?
Dieter Kosslick: „Julia“, ein Thriller von Eric Zonca, der vor einigen Jahren auch bei uns im Wettbewerb lief mit unserer ehemaligen schottischen Jury-Präsidentin, Tilda Swinton in der Hauptrolle. In dem Film spielt sie eine vierzigjährige Alkoholikerin, notorische Lügnerin, manipulativ und unzuverlässig – hoch kompliziert. Es gibt viele Filme mit Alkoholexzessen. Einer der berühmtesten in der Filmgeschichte ist „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“. Bei dem Film wusste man nicht mehr, ob das noch Film oder die Realität zwischen Liz Taylor und Richard Burton war. Der ganz große Alkoholtrip, der auch nach 90 Minuten weitergespielt wurde und die Weltpresse in Atem gehalten hatte. Ansonsten in der Neuzeit auch eine Mischung, von der man nicht so richtig weiß, was passiert ist. Auf jeden Fall denke ich da an Charlie Sheen, der wegen seiner Alkoholkrankheit offensichtlich aus einer erfolgreichen Serie rausgeflogen sein soll. Da soll es so richtig rund gegangen sein. Da werden dann Realität und Film verwechselt. Probleme, die es in der Realität gibt, werden schließlich auch im Film geschildert. Das ist ja nichts anderes als eine Widerspiegelung von Themen und Exzessen. Ob das jedoch alles wahr ist, weiß ich nicht. Die bunten Blätter haben darüber ausführlich geschrieben.
TrokkenPresse: Und was ist deiner Meinung nach der schrägste Alkoholfilm nach Richard Burton? Rückfälle, Barfly, Julia, Leaving Las Vegas …?
Dieter Kosslick: „Barfly“, naja, der ist schon ziemlich schräg. Es gibt natürlich viele Filme über und von Bukowski, in denen Alkohol als Konzept dient. Die Message, dass man kreativer wird, wenn man Suchtmittel nimmt, ist ohnehin gefährlich.
TrokkenPresse: Aber das denken viele.
Dieter Kosslick: Ich glaube schon, dass viele der Meinung sind, aber das trifft auf keinen Fall auf eine längere Zeit zu. Man kann sich durch Sucht- und vor allen Dingen durch Rausch-Mittel relativ schnell ins Aus katapultieren. Trinken allein ist ja eigentlich gar nicht mehr so in. Das wird zwar immer noch gepflegt, wir wissen ja wie viel Alkohol getrunken wird in der Republik und dass das nach wie vor ein Riesenproblem ist. Aber in Wahrheit gibt es natürlich viele zusätzliche Drogen: Kiffen ist wieder modern, Pillen werden geschluckt, Schnee wird geschnupft.
TrokkenPresse:… gern auch Chrystal Meth, geht mehr los als Kokain und Heroin …
… und mit Alkohol runtergespült. Meiner Meinung nach führt das alles relativ schnell zum Aus. Ich kann nach einem Selbstversuch sagen: Als ich 1974 meine Magisterarbeit schrieb, hatte ich große Schreibhemmungen – was nicht wenigen Leuten passiert – und dann versuchte ich, mit Alkohol und Nikotin wieder in Schwung zu kommen. Das funktionierte ungefähr eine Stunde so. Danach war einfach die Birne leer. Alkohol öffnet dir die Venen und Nikotin zieht sie wieder zusammen. Dann bist du komplett gaga, da soll man sich nichts vormachen. Die Wahrheit ist, all die Leute, die selbst in bürgerlichen Normen trinken – sag ich jetzt mal so -, auch eine klassische Form des Alkoholismus, merken oft gar nicht, dass sie tatsächlich jeden Tag trinken.
TrokkenPresse: Zur Kreativität unter Alkohol: Im Rückblick vermehrte sich – bei mir – mit steigender Trinkmenge die Papierkorbfüllung nicht nur linear, sondern potenziell. Kannst du das nachvollziehen?
Dieter Kosslick: Ja, ich hab auch schon unter Alkohol geschrieben, Super-Geschichten. Und als ich meine Traktate dann am nächsten Tag gelesen habe, schwante mir, dass es meinen Geschichten sicher besser täte, sie nächstes Mal vielleicht nüchtern zu schreiben. So einen Schwachsinn sollte man weder schreiben noch lesen. Als ich mal in Havanna im Hotel National logierte, war ich so beeindruckt von dem, was da in diesem Riesenspeisesaal los war, in dem schon Hemingway gespeist …
TrokkenPresse:… und gesoffen hatte!
Dieter Kosslick:… und dann spielte dort diese Pianistin, der ich noch unauffällig fünf Dollar in die Hand drückte und die mir dann erzählte, dass sie eigentlich Lehrerin sei, aber das Geld brauche. Ich hatte lauter Schicksale gesammelt, die ich aufschreiben wollte. Alles schön auf meiner Serviette notiert und in die Tasche gesteckt, weil ich diese Geschichten, die ich da erlebt hatte – zwei Stunden lang allein an einem Tisch – unbedingt für die Nachwelt festhalten wollte. Dazu habe ich aber zu viel Wein getrunken, kubanischen. Am nächsten Tag entpuppten sich meine großartigen Skizzen als ein solcher Schwachsinn, dass ich dachte, es wäre sicher besser, wir läsen Hemingway direkt. Nein, es ist Quatsch, natürlich wird man dann nicht kreativer, man bildet sich das nur ein.
TrokkenPresse: Stichwort Kuba. Gibt es noch Filme, die Trink-Locations, wie Harry‘s Bar, Rick‘s Cafe, Alices Restaurant, Der blaue Engel kreiert haben?
Dieter Kosslick: Es gibt ein ganzes Genre, das zur Hälfte im Restaurant stattfindet: Western. Selten ein Western, in dem sie nicht in den Saloon reingehen, trinken, sich vier Flaschen schlimmsten Sprit durch die Gurgel jagen und sich dann niederschießen.
TrokkenPresse: Ja, die ballern nicht nur die Drinks weg.
Dieter Kosslick: Es gibt, glaube ich, fast kein anderes Genre, das so oft in der Bar oder dem Saloon spielt.
TrokkenPresse: Wie der Barkeeper den Bierkrug so längs …
Dieter Kosslick:… auf und über den Riesentresen schlittern lässt.
TrokkenPresse: Der dann stets passgenau leicht überschwappend vor dem Zecher stehen bleibt …
Dieter Kosslick:… oder wie der Keeper die Whiskey-Pulle unterm Tresen hervorangelt. Ja, wenn man sich jetzt damit beschäftigen wollte; in fast jedem dritten Film kommt irgendwie eine Bar, ein Restaurant oder Alkoholkonsum vor, das geht einfach gar nicht anders. Das sind eben Locations, wo sehr viele soziale interaktive Aktionen vorkommen, das darf man auch nicht vergessen. Und durch den Alkohol wird diese soziale Interaktion in etwas sehr Spezielles transformiert. Da können nicht einfach zwei Leute bei Mineralwasser sitzen und sich eine wahnsinnige Geschichte erzählen.
TrokkenPresse: Spiegelt sich der soziale Stand unserer Gesellschaft mit – all ihren Facetten – im Film wider?
Dieter Kosslick: Na klar.
TrokkenPresse: Gibt es auch ein Genre oder eine Sparte, die ohne Suchtstoffe auskommen? Wilsberg zum Beispiel? Da wird weder geraucht noch gesoffen.
Dieter Kosslick: Es gibt inzwischen viele Regeln, dass in bestimmten Filmen weder geraucht noch Alkohol konsumiert werden darf. Speziell in Amerika, wo man sehr vorsichtig sein muss und auf der Straße nicht mit einer Flasche Bier rumlaufen darf. Da sollte schon eine braune Tüte drumherum sein. Also in vielen Filmen gibt es weder Nikotin noch Alkohol, aber das wird nicht besonders promotet. In anderen Filmen wird stramm geraucht, weil die Zigarette vielleicht ein Stilmittel ist, um jemanden darzustellen, wie den Kommissar, der Tag und Nacht arbeitet und sich nur noch mit Kaffee und Zigaretten wach halten kann.
TrokkenPresse: Kann missbräuchliches Kinogucken in die Abhängigkeit führen?
Dieter Kosslick: Nee, das glaube ich nicht. Nur bei Kindern und Jugendlichen, die für sie ungeeignete Filme sehen und das Geschehen als Normalität empfinden, kann es einen negativen Sozialisationseffekt haben. Völlig klar, wenn man Leute immer rauchen und trinken sieht. In Amerika haben sie mal eine Statistik aufgestellt, die besagt, dass jeder Achtjährige tausende Morde pro Jahr im Fernsehen sieht. Dann ist es einfach automatisch so – da braucht man gar nicht in die Wirkungstheorie zu gehen – dass etwas als ganz normal angesehen wird, was im Prinzip eigentlich ein außergewöhnlicher Vorgang ist, nämlich Morden, Trinken und auch Rauchen. Ich habe aufgehört zu rauchen und jetzt gerade wieder so einen Film gesehen, in dem der Kommissar eineinhalb Stunden durchraucht. Ich hab das wirklich fast nicht mehr ertragen können. Bei diesem Film weiß ich, dass der Schauspieler privat Kettenraucher ist und deswegen haben sie ihm wahrscheinlich auch die Rolle so geschrieben.
TrokkenPresse: Günter Lamprecht erzählte mir mal, dass er Drehbücher verfasst hätte, in dem er seinem Haupt-Kommissar Markowitz den eigenen damaligen Nikotinstatus reingeschrieben hat – auch Kettenraucher.
Dieter Kosslick: Ja ja, das soll zudem zeigen, wie aufgewühlt diese Leute sind und wie dramatisch eigentlich das Geschehen ist, und dass sie das nur mit Zigaretten und Alkohol beherrschen können.
TrokkenPresse: Und was bitte nun ist dein Lieblingsgericht oder Rezept?
Dieter Kosslick: Mein Lieblingsgericht???
TrokkenPresse: Ja, frag ich die Leute gerne.
Dieter Kosslick: Ach, ich habe viele Lieblingsgerichte. Also eines, das kommt aus Baden-Württemberg, sind Maultaschen. Die schwäbische Küche liebe ich nach wie vor: Das bedeutet Maultaschen, Spätzle, Schupfnudeln. Das kann ich übrigens alles auch selber machen. Neulich habe ich zum ersten Mal Kartoffel-Gnocchi gemacht, und die gibt es morgen wieder. Also diese schwäbische Küche mit nicht zu viel Fett wird wohl immer meine Lieblingsküche bleiben. Ich schätze auch die Sterne-Küche, aber das ist ja nicht für jeden Tag. Wenn ich mir was zubereite, ist das relativ einfach. Ich esse kein Fleisch, bin Vegetarier geworden. Du und viele andere werden sicher nicht mit mir übereinstimmen: Aber auch Fleisch macht süchtig – nach mehr Fleisch. Der Fleischkonsum ist in einem Ausmaß gestiegen, dass man sich das überhaupt nicht mehr vorstellen kann. Ich will es auch nicht politisieren, will nur sagen, das war für mich auch so ein Vorgang, wo ich gesagt habe: Ich esse gerne, ich esse auch gerne gut, aber ich mache mich nicht von einer Sache abhängig.
TrokkenPresse: Ich versuche, mich nur abhängig zu machen von dem, was unabhängig macht.
Dieter Kosslick: Das ist auch genauso wie keinen Alkohol trinken und nicht rauchen. Ich fühle mich einfach besser, viel leichter und so weiter und so fort. So viel zum Kulinarischen.
TrokkenPresse: Und nun die Schlussfrage: Wer hat wann zuletzt blau auf den roten Teppich gekotzt?
Dieter Kosslick:?!, ?! Äh, meines Wissens niemand, jedenfalls in den letzten 13 Jahren. Ich gebe aber zu, dass es durchaus zu Geschehnissen dieser Art gekommen sein könnte, aber da war ich schon zu Hause.
TrokkenPresse: Vielen Dank für dieses Gespräch.
Interview: Heiko Gliesche-Neumann