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TrokkenPresse 02/23: Trauma und Sucht

Neue Erkenntnisse, neue Praxis-Erfahrungen:

Was hat Sucht mit Trauma zu tun?

Warum benutzt ein Mensch Suchtmittel, bis er letztlich abhängig davon wird? Die Faktoren, die dazu führen können, sind vielfältig: Umfeld, Verfügbarkeit, Gene usw. Die Behandlung besteht darin, zu entgiften und ein Leben ohne Suchtmittel zu erlernen. Aber was, wenn zum Beispiel auch, wie Forschungen der letzten Jahrzehnte ergaben, traumatische Erfahrungen eine der Ursachen sind und die Suchterkrankung eine Traumafolgestörung ist? Müsste das Trauma nicht ebenso „mitbehandelt“ werden – um zum Beispiel Rückfälle zu vermeiden? In vielen deutschen suchttherapeutischen Einrichtungen ist dies noch nicht oder nur unzureichend der Fall. Der ärztliche Leiter der Tannenhof-Tagesklinik in Berlin aber, Adrian Erben, hat dafür ein Konzept entwickelt und setzt es dort seit einem Jahr erfolgreich um. Und ab Mai übrigens dann ebenso auch in der Hartmut-Spittler-Klinik Berlin als neuer leitender Oberarzt.

Zur Person:

Adrian Erben, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Fachkunde Suchtmedizin, leitet seit über einem Jahr die Tagesklinik der Tannenhof Berlin-Brandenburg gGmbH. Ab 1. Mai wechselt er als neuer leitender Oberarzt in die Hartmut-Spittler-Klinik Berlin. Seit 25 Jahren ist er im Suchtbereich tätig, (u.a. an der Oberbergklinik Schwarzwald, im Gezeiten Haus Wendgräben). Er qualifiziert sich gerade auch zum Traumatherapeuten. Eins seiner Ziele: Traumatisierten Abhängigen Menschen im Rahmen einer Entwöhnungsbehandlung ein erstes Beziehungs- & Behandlungsangebot hinsichtlich ihrer Traumaerfahrung/PTBS zu machen.

 

Ein Trauma ist eine starke psychische Erschütterung, begleitet von großer Angst, Ohnmachtsgefühl, Hilflosigkeit – hervorgerufen durch bestimmte Ereignisse. Eine der Folgen kann z.B. eine posttraumatische Belastungsstörung sein, PTBS. Was genau ist das?

Die PTBS ist die Folge einerseits eines Monotraumas wie Kriegsausbruch, Flugzeugunglück, Zugunfall, Vergewaltigung, also eines einmaligen heftigen Ereignisses. Andererseits kann es aber auch ein sequenzielles Trauma sein, d.h. wenn zum Beispiel ein Kind von seinem Stiefvater über Jahre hinweg sexuell missbraucht wurde oder wenn man Mikrotraumatisierungen ausgesetzt war, vor allem in der Kindheit oder Jugend: Wenn der Vater, schwer alkoholkrank, nach Haus kommt und die Mutter jeden Abend schlägt. Solche Traumaereignisse führen auch dazu, dass sich im Gehirn fragmentarische Erinnerungsfetzen abbilden, die woanders abgespeichert werden als andere Erinnerungen. Wie in einem Spiegel, der zerbricht, setzen sich punktuell einzelne Teile, Bilder, im Gehirn fest, die auch Jahre später durch sogenannte Trigger plötzlich wieder auftauchen und kaum aushaltbar sind.

Kaum aushaltbar – kommen da die Suchtmittel ins Spiel?

Ja, denn Suchtmittel wie Alkohol, Benzodiazepine, THC zum Beispiel werden dann oft zur Selbstmedikation eingesetzt, um eben diese Bilder oder andere Trauma-Folgen wie eine Angststörung oder Depression aushalten zu können, zu verdrängen, um am Leben teilnehmen zu können. Denn die Menschen nehmen an der Umwelt oft gar nicht mehr teil, weil sie immer wieder Angst haben, re-traumatisiert zu werden. Außerdem sind sie enorm schnell übererregbar, was auch schwer aushaltbar ist und wobei das Suchtmittel dazu dienen kann, sich wieder herunterzubeamen. Ohne das Suchtmittel wären sie vielleicht schon längst völlig zerbrochen. Es ist wie eine Krücke, wie ein Medikament, ein Schutz.

Ein Trauma führt aber nicht immer in die Sucht?

Es gibt Menschen, die haben schwerste Erfahrungen gemacht und können ganz gut damit leben und überleben, sie hatten andere Strategien und Möglichkeiten. Das ist abhängig von Resilienzfaktoren, zum Beispiel vom Umfeld in der Kindheit, wie geschützt und sicher fühlte ich mich da … Wenn jemand z. B. vom Stiefvater missbraucht wurde, sich an seine Mutter wendet und die reagiert adäquat, beendet diese Beziehung und zeigt diesen Stiefvater an, dann erlebt das Kind, dass es beschützt wird und kann selbst mit der heftigen Missbrauchs-Erfahrung besser umgehen, als wenn die Mutter dem Kind nicht glaubt, es alles über sich ergehen lassen muss und niemanden hat, den es ansprechen kann. Diese Ohnmacht ist das A und O einer traumatischen Erfahrung.

Soweit ich das erlebt habe, spielte aber der Zusammenhang Trauma-Sucht bisher kaum eine große Rolle in der Suchtbehandlung?

Es wurde lange Zeit immer getrennt: Wenn Patienten mit einer Trauma-Erfahrung und zugleich einer Abhängigkeit eine Traumatherapie machen wollten, wurde ihnen gesagt, sie müssten vorher die Sucht behandeln. Und umgekehrt habe ich erlebt, dass immer dann, wenn in der Suchtbehandlung ein Trauma deutlich wurde, möglichst ein Bogen darum gemacht wurde: Wir behandeln hier nur die Sucht – die Büchse der Pandora öffnen wir hier nicht – und wenn das fertig ist, dann können Sie sich, wenn sie stabil und trocken sind, der Traumabehandlung zuwenden. Dabei ist es wahnsinnig schwierig, überhaupt einen Traumtherapeuten zu finden, erst recht als Suchtpatient, weil umgekehrt dieser natürlich im Traumabereich auch mit Glacéhandschuhen angefasst wird – weil er erstmal lange stabil sein soll, bis er behandelt werden kann. Und das heißt, diese Menschen stehen im Regen, egal, wo sie hingehen. Dann passiert es, dass sie bei Traumatherapeuten, damit sie die Therapie machen können, ihre Sucht verschweigen und umgekehrt im Suchtbereich ihr Trauma.

Wie viele der Suchtkranken haben traumatische Erfahrungen?

Es gibt diverse Studien. Bei 60-70 Prozent der suchtkranken Frauen liegt ein traumatischer Hintergrund vor, bei Männern sind es 40-50 Prozent. 10-20 Prozent aller Patienten haben eine ausgewachsene Posttraumatische Belastungsstörung, und 30-50 Prozent schwere traumatische Erfahrungen gemacht, die dann später auch zur Sucht führten.

So viele! Aber wenn nun das Trauma in der Sucht-Behandlung gar keinen Platz findet …

Ich habe mir mal genauer angeguckt, wer trotz guten Verlaufes der Entwöhnungsbehandlung dennoch schnell wieder rückfällig wird: Das sind zum größten Teil Trauma-Patienten. Menschen, die es zwar schaffen, eine Langzeittherapie durchzuhalten – aber kaum verlassen sie das geschützte Umfeld einer Einrichtung, gehen nach Hause, dann realisieren sie, dass sie für das, wofür sie das Suchtmittel eingesetzt hatten, gar kein Werkzeug haben, damit umzugehen. Dass es ihnen nichts nützt, gelernt zu haben, wie sie abstinent sein können, wenn die Bilder auftauchen, die sie in die frühere traumatische Erfahrung zurückbringen, die so schwer aushaltbar sind.

Was ist also zu tun?

Diesen Menschen müssen und wollen wir schon während der Entwöhnungsbehandlung bei uns etwas anbieten. Denn „nur“ mit Suchtbehandlung, ohne Handwerkszeug, diesen Bildern trocken zu begegnen, werden diese Menschen schnell wieder rückfällig. Da habe ich geguckt, gibt es überhaupt schon irgendwelche Konzepte? Ja, ich musste nichts Neues erfinden, es gibt ein Therapiemanual von Lisa M. Najavits, „Posttraumatische Belastungsstörung & Substanzmissbrauch/DD Abhängigkeit“, erschienen 2002 in englischer Sprache in 2. Auflage 2019 im Hogrefe-Verlag. Dieses Programm hat sich in den USA bewährt. Aus den 25 Sitzungen machen wir 12, mit zwei Terminen pro Woche, in denen wir mit den Patienten schauen, wie können sie gut für sich selber sorgen, wie können sie Hilfe einfordern und Strategien entwickeln.

Wer nimmt daran teil?

Wir haben immer zehn PatientInnen in einer Gruppe. Voraussetzung sind eine Abhängigkeitserkrankung plus posttraumatische Belastungsstörung oder schwere Traumafolgestörung, d.h., sie haben schwere traumatische Vorerfahrungen in Kindheit, Jugend oder im späteren Leben gemacht. Wir haben PateintInnen mit Entwicklungstraumata, wo schwere Vernachlässigung, Verwahrlosung, sexueller oder emotionaler Missbrauch schon in der Kindheit vorlagen. Wir haben aber auch Patienten wie den Sanitäter, der im Kosovo vor über 20 Jahren stationiert war. Er wurde Zeuge der Massenvergewaltigung eines 12-jährigen Mädchens, allen Beteiligten der Bundeswehr war nicht erlaubt, einzugreifen, weil es sonst zu einer Eskalation hätte kommen können. Ihm ging das total nahe, er war verzweifelt und diese Ohnmachtserfahrung erlebte er immer wieder neu, griff zu Suchtmitteln und entwickelte eine Abhängigkeit. Er kannte kein anderes Instrument, mit diesen Bildern umzugehen. Oder der Bundeswehrsoldat, der in Afghanistan war. Als Scharfschütze hatte er den Befehl, auch auf Kinder zu schießen, wenn Gefahr bestand, dass sie Selbstmordattentäter sind. Im Nachhinein hat sich aber häufig der Verdacht nicht bestätigt. Er hat seinen Dienst quittiert, er konnte nicht mehr. Er ist mit der Normalität in Deutschland dann kaum mehr zurechtgekommen, das hat auch zur Suchterkrankung geführt. Und da wird so deutlich, dass es einen Zusammenhang gibt! Deshalb ist es mir eine Herzensangelegenheit, diese Menschen nicht zu vertrösten, sondern mitzunehmen …

Ist Traumatherapie denn in vier Monaten machbar?

Nein, in den 3 oder 4 Monaten Suchttherapie kann man parallel kein Trauma aufarbeiten. Das ist ein Prozess, der Jahre dauert. Aber wir können hier was anstoßen! Mir ist viel mehr wichtig, dass die Menschen hier so sein dürfen, wie sie sind, auch mit ihrem Trauma, das darf hier Platz haben. Es gibt ihnen Hoffnung, zu erfahren, dass zwar die Sucht eine chronische, aber gut behandelbare Erkrankung ist, aber eine traumatische Erkrankung sogar im besten Sinne heilbar ist! Wir können hier die Saat legen, den Anfang der Therapie machen. Und dann leiten wir sie natürlich weiter, wenn sie stabil abstinent sind. Wenn sie das dann überhaupt noch wollen. Es gibt Menschen, die gehen hier raus und sagen herzlichen Dank, das hat mir was gegeben, aber ich glaube, das Trauma selbst muss ich gar nicht weiterbearbeiten, ich habe jetzt Handwerkszeug genug. Und es gibt Menschen, die sagen, das klingt spannend, es gibt Möglichkeiten, das Trauma in meine Geschichte zu integrieren als Teil meines Lebens, so dass es nicht meine Identität ist? Da ermuntere ich dann und versuche, ein Netzwerk herzustellen, mit der Charité, traumatherapeutischen Praxen, mit der Akademie für integrative Traumatherapie … Wir bringen etwas in Gang, womit sich die Menschen nicht mehr alleingelassen fühlen.

Nochmal zur Gruppe, was genau passiert da?

Wir nennen sie nicht Trauma-Gruppe, denn das wäre immer wieder eine Erinnerung daran, da ist was Schreckliches passiert, sondern „Sicherheit finden“.  In der ersten Woche wird erst mal erklärt, was hier überhaupt passiert, damit sie wissen, hier bin ich sicher, ich kann hier so sein, wie ich bin. Und dass sie zwar ihr Trauma erzählen dürfen, aber nicht müssen. Dann geht es darum, was eine PTBS ist, die PatientInnen kreuzen selbst die Kriterien der Klassifikation psychischer Erkrankungen an. Es ist nämlich dann gar nicht mehr so frustrierend für die PatientInnen, wenn sie realisieren, ich habe jetzt eine Idee, was mit mir los ist. Ich bin ja gar nicht bekloppt. Das ist eine Riesenentlastung, da fließen oft die Tränen.

Welche Strategien, mit dem Trauma zurechtzukommen, kann man lernen?

Eine Gruppensitzung beinhaltet zum Beispiel das Thema Mitgefühl mit sich selbst. Wie mache ich das? Eine nächste heißt, „Gefahren- und Sicherheitssignale“, also wo begebe ich mich in Trigger-Gefahr, woran könnte ich das erkennen? Es geht darum, ein Frühwarnsystem zu etablieren. Dann gibt es die spannende Stunde, „Um Hilfe bitten“. Denn oft stehen Scham und Ohnmachtserfahrung im Weg. Vielleicht hatte jemand um Hilfe geschrien, ausgeliefert an den Täter, und hat sich gemerkt, ich kann nur mir selber helfen. Aber das Bitten um Hilfe ist so notwendig, wir leben in einer Welt, in der wir nicht alleine überleben können, wir brauchen immer irgendwann einen anderen. Eine andere Stunde beschäftigt sich damit, gesunde Grenzen zu setzen und ein Baustein zum Beispiel sind auch unsere Erdungsübungen.

Erdungsübungen?

Was machen wir, wenn diese Bilder kommen? Uns verankern im Hier und Jetzt. Denn wenn die alten Bilder kommen, bin ich im Dort und Damals. Also Füße auf den Boden stemmen, auf die Atmung achten zum Beispiel. Wo bin ich gerade, den Wievielten haben wir heute, welches Wetter, welche Uhrzeit, warum bin ich hier. Denn wir können nur eins machen, nicht hier und dort zugleich sein. Spüren Sie mal, wie fühlt sich die Lehne des Sessels an … ich verankere mich mit dem, was jetzt gerade ist. Bei der gedanklichen Erdung lernen sie, ihre Bilder zum Beispiel in einen Container zu packen und eine Entfernung herzustellen, vielleicht so, dass er mit dem Schiff davonfährt. Die Patienten erfahren damit, dass sie ihrem Trauma-Material nicht ausgeliefert sind, sondern mit ihm spielen können. Sie lernen bei uns, dass es bessere Strategien gibt als zu trinken.

Wie finde ich heraus, ob ich eine Traumafolgestörung habe?

Wenn Sie alle Fragen nach den Kriterien der ICD-10 (International Classification of Diseases) der WHO, Code F43.1., ankreuzen können, haben Sie eine PTBS. Wenn nur einiges zutrifft, wenn Sie dieses Ereignis immer wiedererleben, Sie depressiv geworden sind, eine Angsterkrankung entwickelt haben oder gar nicht mehr das Haus verlassen, also Teilsymptome haben, dann liegt eine Trauma-Folgeerkrankung vor.

                                                                                               Das Gespräch führte Anja Wilhelm

Info:

Falls Sie Interesse haben an dieser Behandlung, melden Sie sich bitte hier:
-Therapeutische Leitung und Abteilungsleitung der Tagesklinik des THBB, Frau Sigrid Czajka: sigrid.czajka@tannenhof.de, telefonisch 030/863919039 bzw. (bis zum 30.04.2023) als Ärztlicher Leiter Herr Adrian Erben, adrian.erben@tannenhof.de, 030/863919037

-Ab Mai 2023 dann auch unter adrian.erben@vivantes.de, Tel.: Hartmut-Spittler-Klinik, 030/ 130208604.