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TrokkenPresse 3/22: Klaus – Alles ist möglich, wenn …

Serie: Trocken bleiben – aber wie?

Alles ist möglich, wenn man an sich glaubt

Seit unserer ersten Ausgabe 2019 stellen wir Menschen vor, die seit einiger Zeit trocken leben. Wir wollen wissen, wie sie das erreicht haben, jeden Tag aufs Neue, bis daraus Monate und Jahre wurden. Ihre Erfahrungen können vielleicht dem einen oder anderen Betroffenen auch hilfreich sein. Heute erzählt uns unser Leser Klaus-Dieter Wehmeier, wie er trocken wurde und blieb …

Als ich am 17.07.1986 zur Entgiftung ging, war nicht klar, welch spannender, aufregender und steiniger Weg vor mir lag.

Alkohol, Medikamente und Drogen hatten mein bisheriges Leben bestimmt. Hiermit sollte es zu Ende sein. Ich wollte mein Leben wieder in die eigene Hand nehmen. Aber wie, das war die Frage.
Ich liebte es, Pläne zu machen und traf mit einem Stapel Papieren, meinem Konzept, bei der Entgiftung ein.
Als ich am nächsten Tag erwachte, hatte der Entzug eingesetzt und mein Konzept war dahin. Die Realität meines Handelns, meines Missbrauchs hatte mich eingeholt.

Nach Beendigung der 3-wöchigen Entgiftung ging es dann zur Therapie nach Bad Tönisstein und mein Weg in ein nüchternes Leben begann.
In Bad Tönisstein beschäftigten mich viele Fragen, von denen ich einige aufzählen werde: Da ich ein bequemer Mensch war, beschäftigte mich die Frage, wie ich im weiteren Leben an mir arbeiten solle. Dieses erschien mir zu anstrengend. Meine Therapeutin antwortete mir, ich solle mir mein Leben als Glaskugel vorstellen. Diese Glaskugel müsse ich am Laufen halten. Dieses gelänge mir nicht, indem ich auf sie einschlüge. Meine Aufgabe bestünde lediglich darin, die Glaskugel am Laufen zu halten. Also keine Schwerstarbeit. Ich war erleichtert.
Zu Beginn der Therapie drückte mir meine Therapeutin Conny ein Buch in die Hand. Der Titel „Die Realitätstherapie“ von William Glasser. Glasser schreibt über die Grundbedürfnisse des Menschen und welche Dinge für ein zufriedenes Leben notwendig sind.
Meine Vorstellung von Grundbedürfnissen war eine völlig andere. Mir waren Dinge wichtig, welche Glasser als Luxus bezeichnete und ich war gezwungen, über mein bisheriges Weltbild, über Zufriedenheit und Notwendigkeiten, nachzudenken.
Der Sozialarbeiter bremste mich aus: Ich war schon während der Therapie mit der Zeit nach der Therapie beschäftigt. Wollte mich lieber mit Dingen beschäftigen, auf die ich noch keinen Einfluss hatte, um mich nicht mit meiner momentanen Situation auseinandersetzen zu müssen …
Immer wieder wurde ich mit meiner Realität konfrontiert, wurde mir aufgezeigt, wo meine Probleme lagen und ich begann, mich dieser Realität zu stellen.

Die tatsächliche Arbeit an mir begann allerdings erst, als ich nach 12 Wochen Bad Tönisstein verließ und wieder in meine gewohnte, noch immer konsumierende Umgebung zurückkam.

LichtBlick

In Tönisstein hatte ich erfahren, wie wichtig der Besuch einer Selbsthilfegruppe ist. Also machte ich mich auf die Suche nach einer für mich passenden Gruppe: In Bad Tönisstein wurde die Therapie nach den Regeln der AA (Anonyme Alkoholiker) durchgeführt, also versuchte ich es mit einer AA-Gruppe. Ich konnte aber mit den Erzählungen der „Gruppenfürsten“ nichts anfangen, die stetigen Wiederholungen ihrer Geschichten nervten mich.
Dann besuchte ich über Jahre eine Gruppe des deutschen Guttempler-Ordens. Gründete mit anderen Besuchern den LichtBlick, welcher sich Jahr 1995 aus dem Guttemplern-Orden verabschiedete und sich als e.V. selbstständig machte.
In den Jahren der Gruppenbesuche lernte ich mich, im Spiegel der anderen Gruppenbesucher, immer besser kennen. Ich erkannte meine Fehler und Schwächen, aber auch meine Stärken. Ich begann mich selbst zu achten und lernte mich als Gesamtpersönlichkeit zu akzeptieren. C. G. Jung schrieb sinngemäß: Erst wenn ich meine dunkle Seite akzeptiert habe, bin ich als Person ganz.

Ich lernte also meine Fehler und Schwächen kennen und akzeptierte diese.
Ich lernte meine Krankheit „Alkoholismus“ als Teil meiner Persönlichkeit zu akzeptieren. Ich söhnte mich mit dieser vermeintlichen Schwäche aus.

Heute beginne ich jede Gruppenstunde mit den Worten: Mein Name ist Klaus. Ich bin alkohol-, medikamenten- und drogenabhängig und damit einverstanden.
Ja, ich bin mit meiner Krankheit einverstanden. Mir fehlen weder der Alkohol noch irgendwelche anderen Drogen. Ich fühle mich befreit und habe das Gefühl, endlich im Rahmen meiner Möglichkeiten entscheiden zu können.
Hierbei hilft mir, dass ich kurz nach Beendigung der Therapie meine Ehefrau Ellen kennenlernte. Ellen brachte einen Sohn mit in die Beziehung und zwei Jahren später bekamen wir unsere Tochter Naima.
Innerhalb unserer Beziehung, unserer Ehe, lernte ich, Verantwortung zu übernehmen. Dieses war mir zu Zeiten meines Konsums nicht möglich und schreckte mich ab. Im Rückblick sehe ich, dass ich an dieser Verantwortung gewachsen bin.
Ich habe gelernt, mich und mein Lustprinzip nicht mehr so wichtig zu nehmen. Dieses hilft mir, entspannter mit mir und meinen Mitmenschen umzugehen.
Hohe, nicht erreichbare Maßstäbe sind in den Hintergrund getreten. Ich gehe liebevoller mit mir und meinen Mitmenschen um.

Meine Selbsthilfegruppe LichtBlick e.V. besuche ich auch nach 35 Jahren der Abstinenz immer noch wöchentlich. In den ersten Jahren war der LichtBlick mein Übungsfeld. Hier konnte ich wieder Vertrauen in mich und meine Mitmenschen fassen. Dieses Vertrauen war mir während der Jahre meiner Abhängigkeit verloren gegangen: Am Ende, kurz vor Beginn meiner Therapie, fühlte ich mich nicht mehr als Teil der menschlichen Gemeinschaft. Ich verachtete mich und meine Mitmenschen. Ich bin heute dankbar, die Verachtung überwunden zu haben, mich als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen.

Ich übernahm Verantwortung

… für den LichtBlick e.V. und bin seit 1995 Vereinsvorsitzender.

Die AA sagen: „Gib es weiter“: Dieses tue ich heute. Mit großer Freude berichte ich anderen Gruppenbesuchern über meinen Weg. Ich weiß, dass ich für viele ein Vorbild bin, bilde mir hierauf aber nichts ein. Jeder steht auf einer anderen Stufe seines Weges und kann von den anderen lernen. Ich hatte das Glück, dass ich meinen Weg ohne Suchtmittel gradlinig gehen kann. Ich baute keine Rückfälle und lebe nun 35 abstinent. Hierbei helfen mir meine Gruppe, meine Familie und vieles mehr.
Was soll ich sagen, ich habe mich nicht vom Saulus zum Paulus gewandelt. Ich besitze noch immer meine Fehler und meine Schwächen. Ich habe allerdings gelernt, dass diese Schwächen meine Menschlichkeit ausmachen. Wie gesagt, ich bin milder geworden.
Die Erziehung unserer Kinder stellte eine wichtige Erfahrung für mich dar. Als Familienmann habe ich die beiden erzogen. Ich lernte hierbei, mich nicht immer im Vordergrund befinden zu müssen.
Erziehung bedeutet Selbsterziehung und das Vorleben der geforderten Werte. In meiner Ursprungsfamilie erlebte ich keine Stabilität, keine Liebe oder Geborgenheit. Ich war bemüht, die Fehler meiner Eltern nicht zu wiederholen. Das bedeutete Selbstdisziplin und Arbeit an mir.

All die geschilderten Dinge, und vieles mehr, lassen mich heute zufrieden nüchtern sein.

Ich bin dankbar, diesen Weg gehen zu dürfen …

… und bereue nichts. Dieser, mein Weg, hat mich zu dem Menschen werden lassen, der ich heute bin.
Mit dem heutigen Klaus bin ich einverstanden und ich liebe mich.

Im Jahr 1992 begann ich mich mit meiner Lese- und Rechtschreibschwäche zu beschäftigen.
Schon in Bad Tönisstein hatte ich damit zu kämpfen, meinen täglichen Tagesbericht abzuliefern. Lag ein Blatt Papier vor mir, brach mir der Schweiß aus und ich hörte die Worte meines Deutschlehrers: „Rechtschreiben, das lernt der Junge nie!“
Ich setzte mich hin und schrieb einen Lebensbericht. Ich sammelte Lebensberichte anderer Abhängiger und stellte diese zusammen. Schrieb ein Vorwort und fand im Fischer Taschenbuch Verlag einen Verlag, der dieses Buch veröffentlichte. Titel des Buches: „Trocken und clean, Süchtige berichten“.
Ich fand Freude am Schreiben und stellte fest, wie gut es für mich ist, meine Gedanken und Gefühle schriftlich festzuhalten. Seit dieser Zeit schreibe ich immer wieder kleine Artikel für Suchtzeitschriften. Reichte einen Artikel zu dem Projekt „Stationen Alkohol: Wege in die Sucht, Wege aus der Sucht“ im TrokkenPresse Verlag ein, welcher unter der Überschrift: „Auch das tiefste Elend bietet eine Chance“ in das Buch aufgenommen wurde.
In etwa zur selben Zeit arbeitete ich an einem Film-Projekt des Medienprojektes Wuppertal mit. Unter dem Titel „Pillenlos“ berichte ich 33 Minuten über meine Abhängigkeitserkrankung.

All diese Projekte nahmen mir das Schamgefühl und ich begriff, du bist mit deiner Krankheit nicht allein und was viel wichtiger war, es ist keine Schande, krank zu sein, es ist nur eine Schande, nichts gegen diese Krankheit zu unternehmen.

Für die letzten Jahre meines Lebens wünsche ich mir, Zeit mit meinen Lieben verbringen zu können. Meinen Enkel aufwachsen zu sehen und noch viele Jahre an diesem spannenden Leben nüchtern teilnehmen zu dürfen.

Mein Name ist Klaus, ich bin alkohol-, medikamenten- und drogenabhängig und damit einverstanden.