Orgel, Jazz und null Promille

20 Jahre Kunst und Kultur in der Krankenhauskirche Wuhlgarten

Orgel, Jazz und null Promille

Am Rande des grünen Wuhletales in Berlin, zwischen hohen Bäumen, eine kleine Kirche. Seit über hundert Jahren hat sie ihren Platz auf diesem Krankenhausgelände. Ihre Geschichte? So wechselhaft wie die Zeiten selbst. Heute jedenfalls sind Unfallkrankenhaus, Augenklinik und die Tagesklinik für Suchtkranke ihre Nachbarn. Und heute feiert die Krankenhauskirche Wuhlgarten e.V. in Berlin-Marzahn/Hellersdorf ein besonderes Jubiläum. Seit der Einweihung nach ihrem Wiederaufbau sind nun 20 Jahre vergangen. Gewürdigt wird das mit einer großen Ausstellung, vielen Künstler-Gästen und einem Festgottesdienst im November. Die TrokkenPresse war neugierig und besuchte die Kirche:

Stille.
Flüstern.
Eine Kaffeetasse klirrt leise beim Absetzen.
Vier Tische mit blaugepolsterten Stühlen laden im Kirchenschiff, umgeben von Säulen, zu Besinnung ein, bei Kaffee und Kuchen. Das dicke Gemäuer schluckt das Draußen, hält es fern. Egal, was das Draußen für jeden Besucher bedeuten mag: Ob die Hektik auf der Klinik-Station. Die Baugeräusche gegenüber. Der Lärm des eigenen Verstandes. Hier darf jeder zur Ruhe kommen, ob Patient, Schwester, Arzt oder Besucher. Von 14-17 Uhr täglich gibt es im Café der Stille der Krankenhauskirche den Frieden umsonst – und auch den Kaffee fast: Nur 60 Cent die Tasse, 80 Cent ein Stück Kuchen.
Stille.
Aber manchmal geht es hier auch ganz, ganz anders zu: Orgelklänge erfüllen die Kirche. Oder Choräle, Cello, Harfe, Jazz. Auch Kabarett und Lesungen gibt es. Gottesdienste. Und bis zu fünf Mal im Jahr Ausstellungen, die Wände bleiben niemals leer. In den 20 Jahren seit ihrer Wiedereinweihung ist die Krankenhauskirche ein kulturelles Zentrum für den ganzen Stadtbezirk Berlin-Marzahn/Hellersdorf geworden – und sogar darüber hinaus. Ein Ort, an dem sich Menschen begegnen und gemeinsam am Leben freuen. Ob umgeben von Stille, von schönen Klängen oder Bildern.

Das war einmal auch ganz anders …

Als 1893 die „Anstalt für Epileptische Wuhlgarten bei Biesdorf“ eröffnet wurde, eine parkähnliche Krankenhausanlage mit Aufnahme- und Koloniehäusern, Gutshof und Wirtschaftseinrichtungen, eigener Strom- und Wasserversorgung, Gärtnerei, Werkstätten – bekam sie auch eine Kirche. Die Patienten wohnten und arbeiteten auch hier und blieben oft viele Jahre. Der in der Mitte des 19. Jahrhunderts vom Nervenarzt Wilhelm Griesinger entwickelte Gedanke des Verbindens von Therapie und Milieuwirkung wurde hier verwirklicht.

Mit dem Nationalsozialismus begann das dunkle Kapitel: Die „Vernichtung unwerten Lebens“ machte auch vor dieser Klinik nicht halt. Die meisten Patienten wurden 1941 im Rahmen des Euthanasie-Programmes in Tötungsanstalten gebracht. Bombenangriffe und das Vorrücken der Roten Armee in den letzten Kriegstagen forderten weitere Opfer. Die Anstalt, die nach der Vernichtung der psychiatrischen Patienten als Lazarett und Infektionskrankenhaus diente, war überfüllt mit Flüchtlingen. Innerhalb kurzer Zeit mussten Bombenopfer, Tote aus Infektionshäusern und umgekommene Flüchtlinge beerdigt werden. Dazu hob man ein Massengrab auf dem südlichen Wuhlehang unweit der Hauptallee aus und bestattete dort in den ersten Maitagen 1945 180 Tote. Ein Gedenkstein erinnert daran.

Nach 1950 entwickelte sich die Einrichtung zum modernen neurologisch-psychiatrischen Fachkrankenhaus Wilhelm Griesinger. 1989 erhielt das Krankenhausgelände mit seinen Gebäuden den Status Bau- und Gartendenkmal. 1997 fusionierte das Wilhelm- Griesinger- Krankenhaus mit dem Krankenhaus Kaulsdorf zum „Krankenhaus Hellersdorf“, das später „Vivantes Klinikum Hellersdorf“ wurde (heute an anderen Standorten).

Auch die Kirche wurde im zweiten Weltkrieg stark beschädigt. Danach diente sie als Lagerraum, verkam zu einer Ruine. Denkmalspflegerische Maßnahmen waren der DDR zu teuer. Gottesdienste fanden in einem Kellerraum eines Hauses statt.

Anfang der 90er Jahre begann der Wiederaufbau. Mit finanziellen Mitteln aus Wirtschaft, Bund und Ländern und Eigenmitteln des Wilhelm-Griesinger-Krankenhauses. Am 18. November 1997 fand die feierliche Wieder-Einweihung statt.

Seit 2009 betreibt der Wuhlgarten e.V. die Krankenhauskirche. Für einen symbolischen Euro von Vivantes gekauft durch die „Wuhletal – psychosoziales Zentrum gGmbH“, deren Gesellschafter der Wuhlgarten e.V. ist. Und die IG (Interessengemeinschaft) Kirche, die etwa 20 ehrenamtliche Mitglieder hat – Vereinsmitglieder, Krankenhausmitarbeiter, Seelsorger, Anwohner/innen – gestaltet, organisiert und begleitet das Programm heute.

Garantiert alkoholfrei

Der Sprecher der IG Kirche, Detlev Strauß, war einst selbst Mitarbeiter des Griesinger-Krankenhauses, im Wirtschaftsbereich. Vielleicht liegt ihm auch deshalb dieses historische Kleinod und seine Nutzung so am Herzen. Ihm würde es gefallen, wenn auch Menschen sogar zum Trommeln herkämen oder junge Leute Rock präsentierten. Die Kirche sei ein Raum für Kunst und Kultur, sagt er.

„Unser Uranspruch war und ist: Eine Krankenhauskirche zu sein für Gesunde und Kranke, offen für Patienten, Anwohner, Besucher, Personal. Wir wollen Menschen Raum geben, die soziale Probleme haben und wir wollen Kultur bieten. Neben bekannteren Künstlern bewusst auch regionalen ein Forum geben, auch Laien – und auch zum Beispiel therapeutisch Malenden. Wir gehören keiner Kirche, weder die evangelische noch katholische besitzt uns – aber wir bieten natürlich Gottesdienste an, die von Krankenhausseelsorgern gehalten werden.“

Auch wenn Rock und Trommeln in der Kirche erwünscht wären: Es gibt dennoch gewisse Grenzen, wie das Leitbild des Vereins beschreibt: Betrieb und Nutzung der Kirche orientieren sich im Wesentlichen an der Handreichung „Kirchen – Häuser Gottes für die Menschen“ (Hrsg. Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz 2006). Die Angebote und Veranstaltungen dürfen dem Geist und der Intention der Kirche nicht widersprechen. Dies gilt auch für Mietnutzungen durch Dritte.

So wird kein Besucher, nur zum Beispiel; vor rassistischen, rechten Parolen Angst haben müssen in diesem Gebäude. Und übrigens: Auch trockene Alkoholiker finden hier ihren Schutzraum. „Hier gibt es keinen Alkohol mehr, früher war das anders.“ Auch nicht bei den Ausstellungs-Vernissagen? „Nein. Wir vom Wuhlgarten e.v. bringen Menschen erst gar nicht in Versuchung, sie müssen schon woanders genug Versuchungen widerstehen. Und wenn die Kirche mal vermietet wird: Auch dann nur alkoholfrei. Wir haben ja auch im Personal gefährdete oder betroffene Menschen.“

Und nun noch die übliche Frage, denn die meisten Veranstaltungen sind eintrittsgeldfrei: Wer bezahlt denn das alles, die Künstler, die laufende Fußbodenheizung im Winter und und und?

„Die Betriebskosten übernimmt die Wuhletal gGmbH“, erklärt Detlev Strauss. „Was innerhalb stattfindet, müssen wir selbst finanzieren. Wir bitten um Spenden. Von Fremdnutzern nehmen wir Miete. So liegen wir plus minus null im Jahresdurchschnitt.“

Das scheint zufriedenstellend zu sein, denn schon schweifen seine Augen wieder durch das Kirchenschiff und seine Ohren lauschen vergangenen Konzerten nach und freuen sich auf die künftigen: „Die Akustik ist so toll hier! Wenn Sie hier drin Vivaldi hören, oder das Weihnachtsoratorium, oder die Kausldorfer Kantorei … wunderschön! Wunderschön!“

 

Anja Wilhelm

 

 

Titelthema 5/17: Alkoholismus – Schicksal oder Staatsversagen?

Suchtpolitik

Alkoholismus: Schicksal oder Staatsversagen?

 Mit dem Kanzlerkandidaten Martin Schulz hatte zum ersten Mal ein bekennender trockener Alkoholiker einen Anlauf auf eines der höchsten Staatsämter genommen. Leider hat die Krankheit des Kandidaten aber keinerlei Auswirkung auf den Umgang seiner Partei mit den Themen Alkohol und Sucht. Seine Partei ist nicht allein, sie befindet sich in schlechter Gesellschaft aller anderen Parteien, wie die Antworten auf unsere Wahlprüfsteine in der letzten Ausgabe zeigten.

In Deutschland verhält es sich mit dem Alkoholproblem ähnlich wie mit dem Tempolimit auf den Autobahnen: jeder weiß, dass ein Tempolimit Menschenleben retten, das klimaschädliche CO2 verringern würde usw., kurz, es wäre vernünftig. Aber kein Politiker mit Karrierewunsch würde ernsthaft ein Tempolimit fordern. Autobahnrasen gilt als deutsches Kulturgut, dass der Rest vernünftige Tempobeschränkungen hat, interessiert das Wahlvolk nicht. Als ein weiteres deutsches Kulturgut gilt neben Goethe, Schiller und Bach auch das Saufen. Auch hier gilt: Es verursacht tausende Tote, kostet die Allgemeinheit Milliarden und bringt Leid über Millionen Kinder und, vorwiegend, Frauen in durch den Suff zerrütteten Familien. Ein deutscher Politiker mit Karrierewunsch wird das Problem vielleicht erkennen, aber etwas ändern am deutschen Alkoholproblem wird er nicht wollen, denn dies wäre vorerst das Ende seiner politischen Karriere.

Kampfstern Alkoholoica

Ein Kampfungetüm, vergleichbar mit dem Science-Fiction-Stern, stellt sich ihm in den Weg: Da sind nicht nur der Verband der Deutschen Schnapsbrenner und Schnapsimporteure, es sind deutsche Kulturträger wie der Deutsche Brauerbund („Reinheitsgebot …“) mit tausenden „Kulturschaffenden“ in den Biersiedereien und der Deutsche Weinbauverband mit tausenden Winzern, die die „Kultur“ des Weintraubenverfalls vermarkten. Weitere Teile des Kampfsterns sind internationale „Investoren“ („Heuschrecken“ wurden sie mal genannt), die sich Alkoholkonzerne wie z.B. Anheuser-Bush InBev oder Heineken als Gewinnoptimierer anschaffen, aber auch Lebensmittelkonzerne wie Dr. Oetker verdienen an der Droge Alkohol. Ein weiterer Gegner der einsichtigen Politikschaffenden „ist aufm Platz“, der DFB. Kein Kreisklassenspiel ohne Sponsoring durch den lokalen Bierbrauer, keine Bundesligaspitzenmatch ohne Suff-Sponsor, keine Präsentation eines Fußballspiels im TV ohne alkoholischen Partner. Der Deutsche Fußballsport hängt selber an der Droge Alkohol. In allen Deutschen Bundesligastadien gilt standardmäßig Alkoholverbot, gemäß DFB. Von diesem kann aber durch eine Ausnahmegenehmigung in Absprache mit der Polizei abgewichen werden, diese wird regelmäßig für alle Stadien erteilt, es darf gesoffen werden. Soweit zur Unvereinbarkeit von Sport und Drogen. Auf dem Kampfstern sitzen aber auch noch die Zeitungs- und Zeitschriftenverlage, TV- und Radiosender, die Werbeagenturen, der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband und noch weitere Lobbyisten.

Diese geballte Macht kann schon eine Politiker/innenkarriere auf das Abstellgleis führen, wenn die Forderungen zur Eindämmung der deutschen Alkoholseuche zu konkret werden.

Das Umsetzungsproblem

Spätestens seit 1968 dürfte allseits Klarheit herrschen, Alkohol ist ein krankheitsverursachendes Nervengift, letztinstanzlich wurde vom Bundessozialgericht festgestellt: Alkoholismus ist Krankheit. Aufgrund dessen werden Jahr für Jahr Milliarden Euro zur Behandlung Alkoholkranker ausgegeben. Diese Milliarden werden von allen gesetzlich Versicherten in der Kranken- und Rentenkasse getragen, also einem Großteil der Bürger, behandelt werden aber lediglich etwa zehn Prozent der behandlungsbedürftigen Alkoholiker, mit einer recht bescheidenen Erfolgsquote. Beim Alkohol-Pro-Kopf-Verbrauch liegt Deutschland in der EU regelmäßig auf den vorderen Plätzen. Der Staat versucht, schädliche Einflüsse auf seine Bevölkerung, gerade bei der Jugend, zu verhindern. Keine Schusswaffe ohne Waffenschein, kein hochwirksames Medikament ohne ärztliches Rezept, keine Autofahrt ohne Führerschein … lediglich bei den Volksdrogen Alkohol und Tabak, mit tausenden Todesopfern, herrscht freiheitliches Denken vor. Beim Tabak wurde das Problem erkannt und zaghaft angegangen, da vorwiegend ausländische Tabakkonzerne betroffen sind und die deutschen Arbeitsplätze (Wähler) in der tabakverarbeitenden Industrie weitgehend ins Ausland abgewandert sind. Beim Alkohol scheint es, dass die Politik das Problem auch erkannt hat, die Bundesdrogenbeauftragten mühten sich redlich, die aktuelle Bundesdrogenbeauftragte Marlene Mortler (CSU) hat sich sogar für einen Verzicht auf Alkoholwerbung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgesprochen — warum nur im öffentlich-rechtlichen und nur im Fernsehen? Aber hier geht es um Gewinninteressen deutscher Konzerne und Betriebe von Brauereien, Winzern und Spirituosenherstellern und um deutsche Arbeitsplätze (Wähler), daher besteht wenig Mut, das Problem, ähnlich wie beim Tabak, anzugehen. Es wird allerorten von der Politik die Verhaltensprävention beim Alkoholverbrauch propagiert, die auf das verantwortliche Verhalten des Einzelnen abzielt – „Don´t drink and Drive“, „Alkohol? Kenn Dein Limit“, „Kein Tropfen Alkohol in der Schwangerschaft“ – , das Individuum. Bei Drogen, Waffen und anderen gefährlichen Dingen gilt hingegen die Verhältnisprävention: Werbung für (legale) Waffen oder (legale) verschreibungspflichtige Medikamente ist in der Öffentlichkeit verboten, diese dürfen auch nur in speziellen Geschäften, z.B. Apotheken verkauft werden, beim (legalen) Tabak gelten lediglich Werbeeinschränkungen und die Nikotinprodukte dürfen an jeder Ecke vertickt werden. Begründet werden die Einschränkungen der freien Wirtschaft und des freien Bürgers mit Gefährdung der Allgemeinheit, speziell der Jugend. Wie ist es nach dieser Logik haltbar, dass Jugendliche legal an Alkohol gelangen und umworben werden, Kinder in fast jedem Supermarkt problemlos an Alkohol gelangen, wie vielerlei Testkäufe zeigen? Das durchschnittliche Alter bei Alkoholerstkonsum liegt bei 13,8 Jahren! In allen großen Ländern Europas gilt ein Alkoholersterwerbsalter von 18 Jahren, ob Russland, Polen, Frankreich, Großbritannien, Italien, in Deutschland beginnt der legale Rausch mit 16. Alkoholisierte Autofahrer können (legal) umherfahren, obwohl sich in jedem Betrieb Alkohol und gefahrgeneigte Tätigkeiten ausschließen, tausende Alkoholunfälle mit etlichen Toten werden jährlich dokumentiert.

Häusliche Gewaltvorfälle gegenüber Partnern oder Kindern laufen meist unter Alkoholeinfluss ab. Ein hoher Anteil der Gewaltkriminalität wird unter Alkoholeinfluss begangen oder erlitten. Hier geht es nicht speziell um alkoholkranke Menschen, sondern um Menschen, die „normal“ im Alltag mit Alkohol umgehen.

Ein Erkenntnisproblem gibt es nicht. Fachleute, z.B. der Deutsche Verkehrsgerichtstag, fordern 0,0 Promille im Straßenverkehr, der Deutsche Ärztetag setzt sich für ein Verbot der Alkoholwerbung ein etc. Im Ausland sieht man die Alkoholseuche als gesellschaftliches Problem und geht Alkoholprävention konsequent und erfolgreicher an, z.B. mit Werbeverboten, Mindestpreisen für Alkoholika, Beschränkung der Verfügbarkeit und drastischen Steuern. Apropos Steuern: In Deutschland wird mittels Steuern der Alkoholverbrauch im Sinne der deutschen Alkoholwirtschaft gesteuert. Alkopops, also Fertigmixgetränke aus Spirituosen und Limonaden (ca. 5,5 Vol.%), die vorwiegend von internationalen Konzernen produziert werden, werden mit 55,00 Euro je Liter reinen Alkohols besteuert, (vorwiegend deutsches) Bier (ca. 5 Vol.%) mit 1,97 Euro, (vorwiegend deutscher) Wein mit 0,00 Euro, also gar nicht besteuert. Eine logische Begründung für das Steuerchaos wurde noch nicht vorgelegt, eine Initiative von Finanzpolitikern, zu einer konsistenten Alkoholsteuerpolitik zu gelangen ist mir nicht bekannt und auch für die nächsten vier Jahre nicht zu erwarten. Aber kühler Kopf und Sachverstand ist beim Thema Alkohol weder bei den Alkoholverbrauchern noch bei den Politikern zu erwarten. Denn bei kühler Rechnung müsste man bei einem Gesamtumsatz der Alkoholindustrie in Deutschland im Jahre 2015 von ca. 12 Mrd. Euro (DHS) und Alkoholsteuereinnahmen von ca. 3,2 Mrd. (DHS) Euro bei einem volkswirtschaftlichen Schaden von über 40 Mrd. Euro (DHS) erkennen, dass nicht nur die Trinker, sondern auch die deutsche Gesellschaft ein schlechtes Geschäft macht, denn die Allgemeinheit der Bevölkerung zahlt die Differenz durch höhere Lohnsteuern und höhere Beiträge bei den gesetzlichen Renten- und Krankenkassen.

Nebenbei, es wird gerade ein neuer Markt aufgemacht, da durch die demographische Entwicklung – die Deutschen werden älter und muslimischer – der Alkoholabsatz sinkt, wird demnächst der große Cannabis-Markt legalisiert, Politiker fast aller Parteien sind dafür. Die Hedgefonds reiben sich schon die Finger. Der erste Schritt ist schon gemacht, Cannabis auf Rezept, bezahlt von den Krankenkassen, Frau Mortler jubelt auf ihrer Website „Cannabis: Rund 80 Prozent mehr Verordnungen zwischen März und Mai 2017“ …

Geschätzt etwa 2,5 Millionen Bundesbürger gelten allein als alkoholkrank, die Dunkelziffer ist wesentlich höher. Was würde passieren, wenn diese große Vielzahl an Menschen nicht mehr saufen würde, sondern nachfragen, was die Damen und Herren Politiker sonst so machen, außer mit den Alkohol- und anderen Lobbyisten festlich zu tafeln. Man kann den Eindruck gewinnen, dass in Deutschland der Alkoholverkauf an alle, zu jeder Zeit, an (fast) jedem Ort System hat. Politikerinnen und Politiker in der neuen Regierung sollten sich aber als erstes dafür einsetzen, dass die Droge Alkohol im Gesundheitsministerium und nicht wie z.Zt. auch im Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher angesiedelt wird. Alkohol ist kein Ernährungsmittel oder normales Wirtschaftsgut, es ist ein Nervengift.

Torsten Hübler

Titelthema 4/17: Trockene Freizeit: Was tun?

Trockene haben plötzlich mehr Zeit, aber wie die Leere füllen?

Was wollten Sie denn schon immer mal tun?

Neue Freiräume aktiv zu nutzen hilft, abstinent zu bleiben

Plötzlich ohne den Alkohol zu sein –  das heißt für die meisten Suchtkranken erst einmal, ü b e r leben zu lernen ohne ihn. Wie aber geht es weiter? Wie lernt man wieder, auch zu l e b e n ohne ihn? Und wenn es geht, auch noch zufrieden, gar fröhlich!

In meiner ersten Therapiewoche in der Fontaneklinik fand, wie jeden vierten Samstag, ein Treffen mit Ehemaligen statt. Da stand nun dieser oder jener von ihnen auf und beantwortete Fragen der Patienten. Eine davon lautete: Ist das dann nicht ein sehr, sehr langweiliges Leben, ganz ohne Alkohol? Ein älterer Herr, seit zehn Jahren trocken, schwang sich daraufhin sportlich von seinem Stuhl hoch und begann, diese Frage mit vielen Beispielen enthusiastisch zu verneinen: Er besuche mit seiner Frau einen Tanzkurs, das würde so viel Freude bereiten, das hätte er nie gedacht vorher. Er verbringe viel fröhliche Zeit mit seinen Enkeln und könne das endlich genießen. Er habe begonnen, wieder zu lesen, ins Kino zu gehen und zu radeln … Ungläubige Blicke meiner Mitpatienten rundum. Echt jetzt? Kann man an all sowas Spaß haben ganz ohne Pegel?

Die unzähligen Beispiele langjährig Trockener beweisen es. Natürlich können wir wieder lernen, freudig zu leben. Wenn wir die viele Zeit, die wir einst mit dem Alkohol verbrachten, ob trinkend daheim oder in der Kneipe, dumpf schlafend oder dahindämmernd – als neue Freiräume betrachten. Als Freie-Zeit-Geschenk. Und etwas damit anstellen. Einfach etwas T u n. Uns aktiv beteiligen am Dasein, im Umfeld, mit unseren Fähigkeiten und Talenten. Zwei Beispiele dafür finden Sie in unseren folgenden Textbeiträgen. Und vielleicht für sich auch die Antwort darauf, weshalb aktives Tun – egal ob Stricken, Englischlernen, Schwimmen oder Malen – uns Süchtigen helfen kann, zufrieden trocken zu bleiben …

Anja Wilhhelm


Finden Sie etwas, das Sie richtig gerne machen, denn:

„Sinnvolles Tun“ ist Bedürfnis jedes Menschen

Von Astrid Rave, Ergotherapeutin

Wer ein Hobby oder eine befriedigende Beschäftigung gefunden hat, ist auf dem Weg zu psychischer Stabilität und Zufriedenheit klar im Vorteil. Weshalb?
Kennen Sie das trostlose Gefühl, die Zeit „totzuschlagen“? Langeweile, nichts zu tun, die Uhrzeiger bewegen sich im Zeitlupentempo? Wenn der abendliche Rückblick auf den Tag „eigentlich nichts“ zeigt? Nichts gemacht, nichts passiert – Sie blicken auf „nichts Besonderes“ zurück und fühlen sich unzufrieden?
Oft passiert das Menschen, die mit einem neuen, trockenen Lebensabschnitt beginnen. Der Alltag ist ungewohnt und der Ablauf jedes einzelnen alkoholfreien Tages erscheint zunächst ereignisarm und gleichförmig. Soziale und berufliche Bindungen sind oft zerrüttet, alte Fähigkeiten vergessen und die zentrale Bedeutung einer befriedigenden Beschäftigung ist vielen Menschen nicht bekannt.

Ich bin Ergotherapeutin und erfahre dadurch jeden Tag mehr über die heilsamen Auswirkungen von Tätigkeiten. Ergotherapeuten treten vor allem durch gemeinsames Tun mit anderen Menschen in Kontakt. Sie ergründen gemeinsam mit Ihren Klient*innen deren Fähigkeiten und Interessen, sie informieren, leiten an oder geben praktische und theoretische Hilfen.

Tätigkeiten helfen, den eigenen Selbstwert zu erleben und zu erhöhen.

„Ich kann’s immer noch“, staunt eine Frau in der Beschäftigungs-Tagesstätte, die ewig nicht genäht hat und nun an der Nähmaschine sitzt. Mit anderen zusammen stellt sie Taschen her, die später ausgestellt und verkauft werden. Das macht stolz, denn das eigene Selbstbild hat in den Jahren des massiven Alkoholkonsums sehr gelitten.

Erfolgserlebnisse sind sehr wichtig, wenn die suchtgebeutelte Psyche sich wieder erholen soll. „Ich kann anderen helfen, wenn ich sie zu schwierigen Terminen begleite“ – diese Erfahrung ist ebenfalls ungewohnt. Herr K. fühlt sich selbst als suchterfahrene Person „schwach“ und kann trotzdem durch die unterstützende Begleitungstätigkeit anderen helfen, die sich den Gang allein zum Arzt oder zu Behörden etc. nicht zutrauen. So etwas stärkt das Vertrauen in die eigenen Kräfte.

In meinem Berufsalltag lerne ich immer wieder Menschen kennen, in denen erstaunliche Fähigkeiten „schlummern“: alte berufliche Kenntnisse, besondere Interessen und Talente, Hobbys oder besondere Wünsche, etwas „immer schon mal“ machen zu wollen. Viele entdecken beim praktischen Tun ihre Freude an den unterschiedlichen Tätigkeiten. So entwickelt ein älterer Herr mit umfangreichen Bahn- und BVG-Kenntnissen Freude beim Planen von Gruppenausflügen. Ein künstlerisch begabter Mann initiiert die Gründung einer kleinen Musikgruppe gemeinsam mit anderen interessierten Leuten. Eine Klientin baut begeistert ein Vogelhäuschen, andere kochen gern Marmelade und ein Tagesstätten-Besucher wollte „immer schon“ Mosaike legen – das macht er jetzt seit einiger Zeit mit sehr hübschen Ergebnissen.

Wichtig ist das Aktivsein an sich – der Inhalt der Tätigkeit sollte für die Akteure möglichst befriedigend sein, ist aber zweitrangig

Wer etwas tut, kann eigene Kompetenzen erleben. Manche Beschäftigungen finden „im stillen Kämmerlein“ statt, da sammelt jemand Teddybären oder schöne Steine, andere fotografieren gern oder sind täglich mit dem Fahrrad unterwegs. Ich kenne eine Frau, die bei nächtlicher Schlaflosigkeit stundenlang Mandalas ausmalt. Inzwischen hat sie viele mit sorgfältig ausgemalten kleinen Mustern gefüllte Ordner zuhause, es haben sich mehrere hundert Bilder angesammelt. Auch bei diesen Tätigkeiten erlebe ich, dass ich etwas leiste, etwas lernen oder etwas erschaffen kann.

Viele Beschäftigungen bringen mich mit anderen Menschen zusammen: Sammler*innen stellen aus, tauschen oder verkaufen die Objekte. Auch Fotos können ausgestellt werden, es gibt Fotowettbewerbe und Kurse zum Erlernen neuer Techniken. Radausflüge in Gruppen werden auch im alkoholfreien Selbsthilfebereich gemeinsam unternommen, da können sich Interessierte anschließen. Der Kontakt zu anderen Leuten ist ein wichtiges Bedürfnis, hier helfen gemeinsame Tätigkeiten oder Interessen beim Kontaktaufbau. Wenn Sie zu den Menschen gehören, denen es schwerfällt, andere kennen zu lernen, ist der Weg über gemeinsames praktisches Tun wesentlich erleichtert. Wer zusammen kocht oder gärtnert oder Vogelspinnen züchtet, kommt leicht ins Gespräch. Versuchen Sie es mal.

Jeder Mensch hat das Bedürfnis nach Anerkennung

Gerade die positive Rückmeldung anderer Menschen macht die eigene Tätigkeit besonders wertvoll. „Du hast wirklich sehr lecker gekocht“ oder „ich höre dir sehr gern beim Vorlesen zu“ – das sind Komplimente, die das Selbstwertgefühl wachsen lassen. Oft bemerken Andere Fähigkeiten, die den Akteuren noch gar nicht aufgefallen sind. „Du hättest Schauspieler werden sollen“ hören manche Laiendarsteller plötzlich. „In diesem Bereich hast du wirklich besondere Fähigkeiten.“

Viele Beschäftigungen finden in Gruppen statt, es gibt Theatergruppen, Spielegruppen, Schachvereine, Sportangebote, Kurse zu unterschiedlichsten Themen, Freizeitgruppen, und … und … und. Für viele Menschen ist es wichtig, einer Gemeinschaft anzugehören und sich im Kreis Gleichgesinnter regelmäßig zu beschäftigen. So können sich Talente und Interessen ergänzen, es gibt Kooperationen und Hilfen untereinander. Ein gemeinsames Interesse erleichtert es Neuankömmlingen, in die Gruppe hineinzufinden. Und besonders engagierte Menschen können ja auch selbst eine Gruppe gründen, wenn sie ein besonders seltenes Hobby haben oder für sich keine geeignete Gruppe finden konnten.

Es stimmt, manche Tätigkeiten kosten Geld. Vereine erheben Beiträge, Kurse sind oft kostenpflichtig und zum Ausüben vieler Beschäftigungen muss Material gekauft werden. Die Möglichkeiten einer individuell befriedigenden Beschäftigung sind allerdings derartig vielfältig, dass sich ganz bestimmt für jede und jeden auch ohne finanziellen Einsatz etwas findet. Es gibt die Möglichkeit, kostenlose Kleinanzeigen in kleineren Bezirkszeitungen oder auch hier in der TrokkenPresse aufzugeben. Dort könnten Sie gleichgesinnte „Mittäter*innen“ suchen, nach Räumlichkeiten (z.B. für eine Spielerunde, Entspannungsgruppe, …) fragen oder Menschen suchen, die Materialien (Farben, Wolle, Holz, Stoffe, Werkzeug,…) preiswert oder kostenlos abgeben. Vielleicht findet sich auf diesem Weg ein „Leihhund“ in der Nachbarschaft, der gern regelmäßig mit Ihnen Gassi geht. Oder ein soziales Projekt, welches Unterstützer*innen gebrauchen kann.

Das Gefühl, anderen mit einer Tätigkeit zu helfen, kann besonders zufriedenstellend sein. Der große Bereich der Ehrenämter bietet hier zahlreiche Möglichkeiten, für alle Interessierten eine geeignete Beschäftigung zu finden: Manchmal sind es nur ein oder zwei Termine in der Woche, die eine Struktur in Ihren Alltag bringen und das erfüllende Gefühl, „etwas helfen zu können“, mit den eigenen Fähigkeiten gebraucht zu werden. Über Ehrenämter in Ihrer Nähe informieren Ehrenamts-Börsen, Freiwilligenagenturen, das Internet, viele Netzwerke in den Bezirken und berlinweit der „Tag des Ehrenamtes“ mit großer Börse am Roten Rathaus.

Wir alle sind neugierig und können auch im höheren Alter noch Neues erlernen

Mit meinem Artikel möchte ich Ihnen Mut machen, entweder alte Fähigkeiten wieder „auszugraben“, sich auf Ihre Neigungen und Talente zu besinnen oder sich eine für Sie geeignete ganz neue Beschäftigung zu suchen. Was haben Sie früher gern gemacht? Was wollten Sie immer schon mal ausprobieren? Welches Hobby könnte Ihnen Freude machen?

Es geht darum, dass Sie etwas tun. Befriedigende Beschäftigungen helfen jedem Menschen dabei, sich psychisch stabil zu fühlen und sich selbst als aktiv zu erleben. Probieren Sie es aus, unbedingt auch regelmäßig über einen längeren Zeitraum – Sie werden sehen, dass sich eine erfüllende Tätigkeit positiv auf Sie auswirkt.


ADV-Elefanten-Cup 2017 – und noch mehr

„Wir sitzen alle im selben Boot“

Diese Redewendung passt wortwörtlich. Klitschnass fühlt sie sich auch noch an in diesem Falle. Nach Drachenboot eben … Seit 18 Jahren findet in Berlin der Elefanten-Cup statt, der Drachenbootwettkampf des Anti-Drogen-Vereins e.V. Ein großes Fest, an dem ca. 30 Teams teilnehmen. Sie nennen sich Lagonauten, Fontanisten, Spittler, Fit ohne Sprit usw.. Allen gemeinsam ist: Sie treten abstinent an (und beenden so natürlich auch den Tag!) und starten für Suchtkliniken, Suchthilfevereine, Gesundheitsämter. Die meisten Teilnehmer sind trockene und cleane Menschen. Jeder kann mitmachen, ob dick oder dünn, jung oder älter, Liegestützheld oder nicht.TrokkenPresse-Redakteurin Anja Wilhelm wollte diesmal genauer wissen, was da so los ist. Und, eingeladen ins Team von Klärwerk e.V. zum Training, auch herausfinden: Was macht gemeinsamer Sport mit einem Suchtkranken? Kann er irgendwie vielleicht sogar dabei helfen, trocken zu bleiben?

Bisschen paddeln. Aaach, das werde ich schon schaffen. Dachte ich zumindest v o r dem ersten Training …

Regattastrecke Grünau. Hier dürfen sich die Klärwerker seit drei Jahren vorbereiten auf den Cup. Jeweils sechs Mal ab Juni für eine Stunde. Ohne Hilfe wäre das nicht möglich, zu teuer. Aber: Die event-Agentur „Starke Teams“ stellt das Boot. Und ehrenamtlicher Trainer ist seitdem „Hase“ Karsten Haseloff von den Wann-Sea-Dragons, die mehrfach Vizewelt- und Europameistertitel gewannen.
Wir sind 14 Leute. Regina, Nina, Susanne, drei Andreasse, Frank, Holger … ich kann mir nicht alle neuen Namen und Gesichter merken. Aber das wird später noch. Und: Alle sind wir trocken und clean.

Wie steigt man in ein 12-Meter Boot, ohne dass es kentert? Wir beginnen vorne, besetzen Bank für Bank. Zuerst die Erfahrenen, hinten dann die Neulinge wie ich. Es kippelt, schwankt. Die Sitzbänke sind schmal und hart. Und wohin nur mit den Füßen? Paddeleinweisung von Zweimeter-Mann „Hase“: Wie hält man das Stechpaddel? Wie bewegt man es durchs Wasser? Wie bewegt man sich selbst mit?

Dann legen wir ab. Die Kommandos kommen von hinten geröhrt. Da steht Hüne Hase am Steuerruder, seine Stimme schallt bis zur ersten Bank vorne. Die dort sitzen, sind die Schlagleute. Wir, alle hinter ihnen, machen, was sie tun. Gemeinsamen Schlag zu halten sei das A und O.

Nach den ersten 1000 Metern denke ich das erste Mal, ich kann jetzt nicht mehr weiter … Puste raus, Arme zittern. Aber ich sehe 12 Rücken vor mir, die sich im Takt nach vorne biegen. 24 Arme, die Paddel einstechen, durchziehen. Das Wasser platscht, spritzt, gluckst dazu. Ich höre Stöhner zwischen dem gemeinsam gebrüllten Takt Eins! Zwei! Drei! … Pausieren, wenn andere schuften? Das wäre unfair. Also Zähne zusammenbeißen. Ich kann an nichts anderes mehr denken. Nur an Paddel und Wasser und ziehn. Immer weiter. Plötzlich Kommando: Boot stoppen! Hase steigt bis zu mir über Bänke: „Guck mal, so gehts: Hintern ganz an den Bootsrand, Paddel nicht drehen, und nur bis in Hüfthöhe durchs Wasser ziehen. Nach vorne gucken, zum Schlagmann, nicht aufs Paddel!“ Aha. Danke!

Und weiter. Eins. Zwei. Drei … Im Takt der Schlagmänner vorne. Sehr ungewohnt für mich, eigentlich würde ich lieber meinen eigenen Rhythmus nehmen. Aber wo kämen wir dahin allesamt? Wasserkreisel auf der Dahme … Ich begreife langsam: Darauf kommt es an. Es kommen nur alle gemeinsam mit dem Boot voran, wenn man sich dem gemeinsamen Takt beugt. Zeitweise Freiheitsberaubung zugunsten aller sozusagen.

Über die ganze Regattastrecke hallt unser Takt-Schlachtruf. Andere Paddler zeigen Daumen hoch und grinsen. Heiser werde ich langsam. Schweiß mischt sich mit ausgiebig Dahme-Wasser.

In den kurzen Verschnaufpausen einen Blick für die Götter haschen: Rundum sonne-glitzerndes Wasser, Fischreiher über unseren Köpfen, weit hinten taucht das Ufer-Grün in den hohen blauen Himmel ein. Durchatmen … Bis zum wie immer markigen Hase-Spruch: „So Leute, jetzt noch die 500 Meter bis nach Hause! Los, damit uns nicht die Eierstöcke abfriern … Und wer morgen keinen Muskelkater hat, hat heute was falsch gemacht!“

Ersticktes, stöhnendes Kichern. Gemächliches Paddeln zum Steg. Ich schaue rundum, alle sind erschöpft. Die Shirts kleben klatschnass am Körper, die Haare wirr und feucht, und die Augen leuchten. Gegenseitig helfen wir uns aus dem Boot. Alle scheinen glücklich und zufrieden. Fröhliche Auswertung des Trainings, Sprüche, Lachen. Adrenalin und Endorphine wirken. Bei mir auch. Fast schwebe ich zur Straßenbahn, trotz weicher Knie und Arme. Erfrischt von grüner Luft, Wasser, Bewegung, Sonne und – Gemeinschaft. Wir haben zusammen etwas geschafft … dasselbe Boot 3000 m über die Dahme bewegt. Ohne zu kentern.

Nur zusammen seid ihr stark!

Die nächsten Trainings verlaufen ähnlich. Zusätzlich üben wir das schnelle Paddeln, das wir für die Sprintlänge 250 Meter beim Wettkampf brauchen. Und den Start. Immer kommandiert von Hase, er hält uns im Takt und bei mentalen Kräften: „Mal alle her hörn: Das internationale Startzeichen ist All your ready? Attention: GO! Und wir machen los, und das nicht erst beim O! Der Start ist das Wichtigste, sonst schaut ihr nur noch hinterher. Ach ja: Gegner gibt’s nicht! Es gibt nur Opfer!!!“ Motivation a la Hase.

Natürlich haben wir nicht immer nur Friede-Freude-Eierkuchen an Bord … Mal ein Aua für das versehentliche Paddel des Hintermannes im Rücken. Mal ein Sorry für einen Wasserschwall Richtung Vorderfrau. Und mal überlege ich, wie weit der Teamgeist geht: Meine Vorderfrau zieht ihr Paddel zu weit nach hinten zu mir. Es ist mir oft im Weg, deshalb kann ich den Takt nicht halten. Sag ich es ihr? Und wenn ja, wie? Grübel grübel. Ich bitte sie dann wirklich, das zu verändern, ganz lieb und vorsichtig. Im Interesse des ganzen Teams, denke ich mir. Sie ist tatsächlich nicht sauer und achtet dann darauf.

„Nur zusammen seid ihr stark!“ Das hören wir so oft, das geht ins Blut über. Karsten Haseloff, für den dieses Training sein persönliches Charity-Projekt ist, wie er sagt, meint: „Beim Drachenbootsport lernt man, dass man nur im Team was erreicht, wenn alle mitziehen.“

 Der Cup 2017

Wassersportheim Gatow an der Havel. Auf der großen Wiese bis hinunter an Wasser und Steg blitzt kaum mehr ein Stück Grün: Mannschaften haben ihre Pavillons aufgebaut. Darunter Ausruh-Decken, Handtücher, Getränkekisten (alkoholfrei!), Kühlboxen mit Obst, Stullen, Hackbällchen, Salaten. Familienangehörige sind da, Kinder lachen, Hunde bellen. Das Haus Lenné brutzelt und kocht Leckeres wie Champignonpfanne, Asianudeln, Würste, Fleisch – preiswert verkauft zum Selbstkostenpreis. Vom Wasser schallen Anfeuerungschöre von Mannschaftsfreunden. Und über allem hallt die Stimme des Diskjockeys, der nicht nur die Teams zum Start bittet, sondern auch die Mugge aufgelegt: Für jeden Geschmack etwas dabei. Getanzt wird, wo gerade Platz ist. Einfach so. In purer Freude. Ohne jeglichen Alk. Wohl aber mit Vorglühen: Von der ab Mittag endlich strahlenden Sonne und Wettkampf-Fieber. Teams stecken die Köpfe zusammen, werten aus, vergleichen Zeiten. Im Klärwerk-Team werde ich heute eine Position nach hinten platziert, weil ich beim Training am Vortag unkonzentriert war. Das knabbert mir etwas am Selbstwert, aber ich lasse das Ego ziehen: Es geht ums Team. Und Nina, Co-Organisatorin, ruft nochmal alle auf: „Haltet diese paar Minuten zusammen. Egal ob ihr euch gerade lieb habt oder nicht!“

Nach drei 250 Meter-Zweikämpfen dann unser Ergebnis: Mittelfeld. 16. Platz.

Traurig kann darüber niemand recht sein, am Ende dieses sportlichen, ausgelassenen Tages: Es war ein wundervolles Fest, das alle Beteiligten klaren Geistes und mit allen Sinnen genießend verlebt haben: Unter Gleichgesinnten.

Ach so, ja, die Frage eingangs …

Mein Fazit: Sich zu bewegen, aktiv zu sein, kann Freude bringen. Das Gefühl von Lebendigsein. Und wenn man dies noch in einer Gruppe tut mit einem gemeinsamen Ziel, verstärkt sich dieser Effekt anscheinend. Das Tun wird zum sogenannten Flow (Mihaly Csikszentmihalyi, „Flow-Das Geheimnis des Glücks“), in dem für Gedanken an Gestern, Morgen, an Job oder familiäre Sorgen gar keine Zeit und Gelegenheit ist. Das Selbst ist ausgeschaltet. Man geht ganz auf in dem, was man gerade tut. Das kann auch Abstand schaffen von Problemen. Und so neue Lösungen ermöglichen. Und wenn man eigene Fähigkeiten entdeckt und nutzt – und auch durch die Anerkennung in der Gruppe wächst das Selbstwertgefühl. Wir entdecken die Freude am alkoholfreien Dasein. So zumindest hab ich es erlebt …

Anja Wilhelm

 

Titelthema 3/17: Wellenreiten mit dem Suchtdruck

Vorgestellt: MBRP als neues Rückfalltraining

Wellenreiten mit dem Sucht-Druck

Wie kann ich einen Rückfall vermeiden?

Diese Frage ist für jeden Alkoholkranken eine Überlebensfrage.

Inzwischen gibt es Trainingsprogramme in Suchtkliniken und Ambulanzen, um zu lernen, gar nicht erst in Rückfallsituationen zu geraten – oder besser mit ihnen umgehen zu können. Seit vielen Jahren wird dafür das Rückfallpräventionstraining S.T.A.R. genutzt. Es bietet u.a. Übungen zum Erkennen und Bewältigen von persönlichen Risikosituationen an, zum Umgang mit Gefühlen und Verlangen.

Seit einiger Zeit aber verbreitet sich auch eine weitere Methode: Die Achtsamkeitsbasierte Rückfallprävention, MBRP (Mindfulness-based relapse prevention). Genutzt wird sie, oder Elemente daraus, in immer mehr Kliniken, wie zum Beispiel den salus-Kliniken, der AHG Klinik Tönisstein, den Helios Kliniken, der Asklepios Klinik Hamburg u.a. Bisher gibt es zwar nur empirische Erkenntnisse über die Wirksamkeit, die aber lassen vorsichtig daraufhin deuten, dass die Rückfallquoten der Teilnehmer niedriger seien als bei Nichtteilnehmern, das Craving (Verlangen) reduziert sei und im Verlaufe eines Jahres weniger Tage mit Substanzkonsum stattfänden.
Entwickelt von Marlatt (Bowen, Chawla, Marlatt, 2012), verbindet MBRP bisherige Ansätze zur Rückfallprävention mit Meditationspraktiken. Laut Marlatt sei meditative Achtsamkeit eine der nützlichsten Bewältigungsfertigkeiten bei Suchtmittelverlangen. Die Teilnehmer lernen verschiedene Übungen kennen, z.B. die Rosinen-Übung, Geh-Meditation, Sitzmeditation, body-Scan, sober space, urge surfing (Erläuterungen ab S. 3). Das Ziel: Zunächst einmal den Körper bewusst wahrnehmen zu lernen. Weshalb? Die TrokkenPresse wollte genauer wissen, was MBRP bedeutet und bringen kann. Wir haben dazu mit Christiane Bock gesprochen. Sie arbeitet bei vista (Verbund für integrative soziale und therapeutische Arbeit) als Heilpädagogin in der Suchtberatung Pankow. Und als zertifizierte MBSR-Lehrerin gibt sie auch MBRP-Kurse und Achtsamkeitsworkshops in der KBS Mitte von StadtRand gGmbH in Moabit. Ihr Projekt heißt „Berlin Sucht Achtsamkeit“.

Draußen vorm Café „Frau Krüger“, am Mauerpark in Berlin Prenzlauer Berg. Amseln singen heiter aus ihren Straßenbäumen. Der Tee kommt, in hohen Gläsern. Und schon nähern wir uns dem Thema MBRP an. Denn Christiane Bock bittet zu einer kleinen Übung. Eigentlich würde ich jetzt einfach die Tasse nehmen und einen Schluck nehmen … aber halt: Einmal bitte mit der Hand das Glas umfassen. Kannst du Glas und Wärme fühlen? Jeden Finger einzeln spüren? An manchen Stellen ist es vielleicht ein bisschen heißer? Und welche Farbe hat der Tee? Meiner ist golden. Und dann mal dran riechen …

Achtsamkeitserfahrungen fangen ja bei den Sinnen an, sagt Christiane Bock. Sich Zeit zu nehmen, die Sinne zu benutzen, das Schmecken, Riechen, Hören, Fühlen, Sehen … sich das erstmal überhaupt bewusst zu machen. „Und das setzt sich den Kurs über – einmal zwei Stunden jede der acht Wochen – fort, diese Sinne stehen im Vordergrund, dazu gibt es bestimmte Übungen, Meditationen.“

Hmm. Was hat diese Tee-Übung nun mit Rückfallprävention zu tun?

Achtsamkeit (mindfulness) ist ja, den Fokus darauf zu richten, was eigentlich gerade los ist mit mir. Gedanken, Körperempfindungen, Gefühle wahrzunehmen, mitzukriegen. Wie fühle ich mich gerade in meinem Körper, welche Gedanken beschäftigen mich gerade. Und das ist der entscheidende Moment für die Rückfallprophylaxe: rechtzeitig mitzubekommen, wenn etwas kippt, wenn ich anfange, mich unwohl zu fühlen, in Situationen reinschlittere, die eine Gefährdung für mich sein könnten. Da reagiert der Körper schon, ohne dass uns das manchmal bewusst ist, Gefühle manifestieren sich häufig zuerst über den Körper. Da kann ich, bevor meine Gedanken –  wenn ich das Fühlen mehr trainiere – ein Unwohlsein früher bemerken. Durch bestimmte Übungen wie z.B. den Bodyscan, die das Körperempfinden schulen, kann ich früher bemerken, wenn etwas nicht stimmt.

Bodyscan?

Bodyscan ist eine formale Übung, kurz gesagt, geht man mit der Aufmerksamkeit, angefangen bei den Zehen, durch den ganzen Körper. Es geht darum, meine Aufmerksamket, meine Konzentration zu schulen, indem ich meine Aufmerksamkeit immer wieder auf den Körper richte, mich immer wieder neu fokussiere. Der andere Aspekt ist, vom Kopf/Verstand in den Körper zu kommen und all dem, was sich zeigt, mit einer offenen, freundlichen Haltung gegenüberzutreten, es anzunehmen, denn es ist ja schon da.

Was könnte man denn beim Bodyscan so fühlen, wahrnehmen?

Genau das, was du wahrnimmst …

Weshalb ist das so wichtig für Suchtkranke?

Menschen mit Suchterkrankungen haben meist ein sehr gespanntes Verhältnis zum Körper. Er wird stiefmütterlich behandelt oder vernachlässigt. Der Körper ist der Austragungsort, das Schlachtfeld. Ein Ort, wo Trauma, Verletzungen geschehen sind. Viele gehen deshalb lieber weg von ihrem Körper, weil das so ein schwieriger Ort für sie ist. Aber um vollständig zu sein, brauche ich ihn, er ist unsere Heimstatt, ich kann ihn nicht vollständig abspalten. Der Bodyscan ist eine Möglichkeit, den Körper wieder neu zu erfahren, eine Möglichkeit der Integration von schwierigen Empfindungen. Ganz wichtig: meine Haltung von Freundlichkeit mir gegenüber. Das müssen viele erst lernen. Und auch das: Alles darf sein, es gibt kein richtig und kein falsch beim Bodyscan, es gibt das, was da ist, und das anzunehmen wird geübt.

Im Vergleich zum klassischen Rückfallpräventionstraining (RPT), in dem mögliche gefährliche Situationen durchgespielt werden: Was ist anders bei MBRP?

Die meisten wissen, was ihnen nicht gut tut, was sie in Notsituationen tun müssen. Der Punkt ist nur, dass sie trotzdem manchmal schnell in solch eine Situation reinrutschen können, also den Moment mehr oder weniger verpassen, wo es vielleichtes sinnvoll gewesen wäre, anders zu handeln. Denn man kann immer noch handeln. Das ist ganz wichtig für mich in dem Programm zu vermitteln: Ich habe immer die Möglichkeit, es ist nie zu spät … auch im Rückfall kann ich mich entscheiden, den Rückfall zu beenden. Der Rückfall muss nicht die Katastrophe sein, ich kann immer wieder neu anfangen, jeden Tag kann ich wieder neu anfangen. Das ist etwas, was auch mit der Meditation so geübt wird: Ich schweife immer wieder ab, das ist ganz normal, verliere ich mich in Gedanken und gehe immer zurück wieder auf meinen bodyscan. Ich kann mich immer wieder neu fokussieren. Oder bei der Atemmeditation: Verliere ich den Fokus auf meinen Atem, gehe ich immer wieder hin, ich kann immer wieder zurückkehren. Das ist das, was bei diesem Programm sehr gestärkt wird. Ich kann neu beginnen.

Was ist noch anders?

Ein anderer wichtiger Punkt ist dieser Raum, dieser Entscheidungsraum zwischen Reiz und Reaktion, der sich erweitert. Wir gleiten ja oft in unsere alten Muster hinein, ohne bewusst zu entscheiden. Aber es gibt diesen Raum. Wir haben nur das Gefühl, dass Auslöser/Reiz und Reaktion zusammenkleben. Diesen Entscheidungsraum zu erweitern übt z.B. sober space, eine Kernübung im Programm. Da übe ich, Raum zu schaffen, indem ich mich erst mal entscheide: Ich halte jetzt inne. Ich mache jetzt mal ne Pause, einen Stop. Ich schaue, wie geht es mir gerade, checke Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen. Dann wende ich meine Aufmerksamkeit auf meinen Atem, um ihn zu beobachten, ein paar Mal durchzuatmen. Damit bin ich schon mal im Hier und Jetzt, raus aus den Gedanken, die ich gerade habe. Dann wende mich dem ganzen Körper zu, und schau mal, ob ich alles, was sich da jetzt so zeigt, in dieser offenen Art halten kann … und ob ich in der Lage bin, aus diesem Halten heraus eine Entscheidung zu treffen, die für mich im Moment gerade richtig ist. Eine Minute, fünf Minuten, wann und wo immer man möchte, kann man das tun. Ich habe einen Raum zwischen dem anfänglichen Unbehagen, wo ich merke, irgendwas stimmt hier nicht, und der Reaktion. Das wird geübt und dann erweitert auf Risikosituationen.

Und noch etwas: Es geht bei MBRP nicht um Vermeidung von Suchtdruck oder Situationen. Das ist zwar für viele ein sehr wertvoller Ansatz, damit können sie umgehen. Das kann aber auch die Lebensqualität einschränken, wenn ich immer wieder etwas vermeiden muss, den Sachen aus dem Weg gehen muss. MBRP lehrt, wie ich damit umgehen kann, lehrt, mich hinzuwenden, mit Neugier …

Dem Suchtdruck hinwenden, wie geht das denn?

Eine Übung dazu ist das Wellenreiten (urge surfing). Alles wird mit einer Art Neugier betrachtet, auch mein Verlangen, das auftaucht: Ah, da ist Verlangen! Wie fühlt sich das an …? Welche körperlichen Erfahrungen mache ich, welche Gedanken sind da. Ich führe dann die Kursbesucher durch eine Imaginationsübung. Sie stellen sich vor, sie befinden sich auf einer Welle. Und der Atem ist mein Surfbrett. Das Suchtverlangen ist die Welle und diese Welle läuft irgendwann auch wieder aus. Die Angst von vielen ist ja, dass sich der Suchtdruck steigert und steigert und sie nicht wieder runterkommen. Aber die Realität sieht anders aus. Das Craving kann abebben, wenn ich es nicht nähre mit Gedanken und Ängsten – sondern stattdessen versuche, eine Beobachterposition einzunehmen, eine andere Perspektive. Ich bleibe auf der Welle mit Hilfe meines Atems, gehe NICHT unter und die Welle ebbt ab. Das wird geübt. Das zu verstehen, hilft vielleicht dieses Bild: Ich setze mich v o r die rotierende Waschmaschine, die voll mit meinen wirbelnden Gefühlen ist. Ich sitze nicht mit drinnen. Sondern davor und gucke hin … Praxis hilft, sich das immer wieder anzuschauen, was passiert mit mir, mit meinem Atem, dem Körperempfindungen und das aus einer Beobachterposition heraus – und trotzdem in der Beziehung mit meiner Erfahrung zu bleiben.

Nach und nach wird man feststellen: Ich muss eigentlich weniger machen. Ich muss eigentlich nichts tun. Wir sind ja alle so konditioniert, wir müssen immer was tun, mehr, besser werden und wenn ich mich mehr anstrenge, gelingt es mir, abstinent zu bleiben, ich muss mich nur noch mehr anstrengen. Nee, für mich ist es umgekehrt. Loslassen, Weniger-machen, mich dem zuwenden und mal nix machen. Und dann kann die Welle auslaufen. Eine Emotion dauert normalerweise, wenn ich nix damit tue, sie sein lasse, zwischen einer bis zwei Minuten, dann geht sie wieder …und dann ist Raum da für eine neue Erfahrung.

Das könnte ja auch helfen, wenn schwierige Situationen auftauchen, in denen ich früher trinken „musste“ – zum Beispiel, wenn ein gelber oder ein Behördenbrief kam?

Ja. Aus der o.g. Beobachterposition heraus kann ich betrachten: Oh, da ist jetzt der Brief da. Was macht es mit mir, da steigt vielleicht Panik auf, kommen Gedanken wie Sorgen, Angst, ich spinne die Geschichte weiter, grübele. Ich bemerke: Ah, das ist ein Muster, ist eine alte Geschichte. Ich hab aber die Möglichkeit, anders zu reagieren und muss nicht automatisch saufen, um das zu bewältigen, weil ich ja schon die Erfahrung gemacht habe, dass es anders geht.

Womit wir uns auch beschäftigen, sind alte Muster, Glaubenssätze, denen wir auf die Schliche kommen, Selbstbilder von mir, die ich habe, z.B. „Ich kann das nicht, das schaffe ich nie, das war schon immer so“. Das taucht oft in der Reflektion zu den Übungen auf.

Wem bringt MBRP etwas? Wirkt es bei jedem?

Das Entscheidende ist die Eigenmotivation und die Bereitschaft, auch wirklich hingucken zu wollen, und auch das Interesse an Achtsamkeitsmeditation und dem Abenteuer, dem eigenen Geist zu begegnen. Besonders zu empfehelen als Nachsorgebehandlung. Nicht zu empfehlen ist MBRP bei aktuellem Konsum, Psychosen und unbehandelter PTBS.

Gerade jetzt, nach fast zwei Stunden bei Tee und ohne Zigarette, habe ich „Rauch-Druck“! Was tun?

Wo ist die Körperempfindung zum Gedanken: Ich möchte rauchen? Bei mir saß sie früher hier, unter dem Brustbein …

 Ja, Moment … so ähnlich, ein leichter Druck … ich nehme jetzt nur das wahr, lass es so … nicht nachdenken … es vergeht gerade wieder langsam … Jedenfalls für den Moment jetzt.

Das ist genau d a s: Wenn ich keine Energie hineingebe … ist das nur ein Gedanke, eine Körperempfindung, ich nehme es zur Kenntnis, das ist der Moment vorm Loslassen, und dann lass ich es gehen.

Das Interview führte Anja Wilhelm

 

Nächste Termine:

„Wie wir uns trotzdem wohlfühlen können“, Workshop für Frauen mit achtsamer und trauma-sensibler Körperarbeit

  1. September 2017, 10-15 Uhr, Selbsthilfe- Beratungs-und Kontaktstelle Mitte, Perleberger Straße 44, Berlin-Moabit: In Bewegung kommen – uns spüren – genießen und in Stille sein – annehmend und akzeptierend mit unserer ganzen Verletzlichkeit und unserem unerschöpflichen Potential

Auf Spendenbasis – Erlös geht an die Frauenrechts- und Hilfsorganisation Medica mondiale e.V.

Infoabend MBRP

  1. Oktober 2017, 18-19.30 Uhr, Selbsthilfe-Kontakt-und Beratungsstelle Mitte s.o.

Berlin

Neuer Kurs MBRP

  1. Oktober bis 18. Dezember, montags 17-19.15 Uhr

Anmeldung für alle Termine:

Tel.: 030/ 3946364

Mail: kontakt@stadtrand-berlin.de

www.berlinsuchtachtsamkeit.de

Titelthema 2/17: Wie wird man zufrieden abstinent?

Die Grundlagen einer dauerhaften, zufriedenen Abstinenz

Von Christian Wossidlo

Wie immer bei solchen Themen berichte ich von meinen eigenen Erfahrungen und Überlegungen. Natürlich beziehe ich mit ein, was ich von anderen höre oder bei ihnen erlebe. Aber meinen Aussagen liegen keine wissenschaftlichen Studien oder Untersuchungen zu Grunde. Ich schreibe „aus dem Bauch“ und durchaus auch mit Verstand.

 I Erste Grundlage oder Voraussetzung ist die Fähigkeit zur Zufriedenheit überhaupt.

 Wir kennen alle diese skeptische, nörgelige, im Voraus schon abwertende und miesmachende Art mancher Menschen:„Was soll denn daran schon gut sein? Wie das schon aussieht?“„Hier wird man doch immer beschissen!“„Da ist doch alles voller Mücken und Wespen!“„Dieser ausländische Fraß schmeckt doch sowieso nicht.“„Wie soll man denn hier schlafen können?“
Natürlich schmeckt es in dem Restaurant nicht! Natürlich schläft man schlecht! Natürlich sind da viele Mücken! Wenn man schon mit solcher „Stimmung“ an eine Sache heran geht, kann es nicht gut werden.
Zufriedenheit ist auch eine Charaktereigenschaft. Aber man kann dafür auch etwas tun, man muss nicht als Miesmacher durchs Leben „nölen“. Sonst kannst du das Wort „Zufriedenheit“ aus deinem Wortschatz streichen und damit auch die zufriedene Abstinenz.
Ich konnte mir, als ich begann, auf die Abstinenz hinzuarbeitete, nicht vorstellen, dass da je eine Zufriedenheit zu erreichen ist. Im Großen und Ganzen bin und war ich ein zufriedener Mensch, aber eben auch ein Alkoholiker, ein Abhängiger. Wie kann ich ohne den Stoff zufrieden sein!
Heute weiß ich, man muss der Zufriedenheit eine Chance geben, wenn man sie haben will.
Ich betone das am Anfang so, weil ich heute eine Abstinenz erlebe, die mich sehr zufrieden sein lässt. Ich glaube sogar, in Unzufriedenheit ist sie gar nicht durchzuhalten. Unzufriedenheit programmiert das Scheitern oder macht zumindest die Gefahr des Rückfalls in die alten Muster sehr wahrscheinlich.

II Die zweite Voraussetzung ist – und das klingt wie selbstverständlich –, dass man aufgehört hat, zu saufen.

Es ist es auch, sollte aber doch betont und genannt werden, denn es gibt ja immer wieder diese Narren, die meinen; na, ja, mal mit anstoßen, das wird man ja wohl dürfen.
Ja, man darf es. Man darf alles als freier Mensch in einem freien Land. Aber man sollte wissen, was man tut, und obige Haltung ist absolut tabu für den Beginn einer Abstinenz. Und nach dem Beginn dann ohnehin. Rien ne va plus!

III:) Das Dritte sind zwei Punkte, die an Wichtigkeit gar nicht hoch genug eingeschätzt werden können. Die Überschrift ist: Kopfsache!

Ich vertrete die These: Abstinenz ist eine Kopfsache, und zwar doppelt.

-Ich muss mir immer wieder einhämmern: Ich will nicht mehr trinken! Ich will nicht wieder zurück. Ich will trocken sein. Ich will, ich will!!!
-Ich muss begriffen haben und es mir immer wieder sagen: Ich kann nicht gegen den Alkohol an. Er ist mir über. Ich kann es nicht. Im Fachjargon nennt man das Kapitulation!
Es ist nicht nur mir schwer gefallen, zugeben zu müssen, dass ich es nicht kann. Ich bin doch sonst so tüchtig. Dem Alkohol gegenüber bin ich ein Versager!
Ich weiß, die Versuchung lauert, es nicht wahrhaben zu wollen oder Ausreden zu suchen, Schuldzuweisungen zu finden … alles Sackgassen oder schlimmer noch, Wege in den Absturz.
Ich kann nicht mit Alkohol leben! Ich will es auch nicht mehr!
Das muss im Kopf verankert sein.

IV.) Der nächste Schritt ist: Diese „Kopfsache“ muss zum Lebensgefühl werden, sie muss auch „Bauchsache“ werden.

Ich fühle mich wohl ohne Alkohol.
Ich fühle mich wohl, wie es jetzt ist. Es soll so bleiben. Alkohol? Was ist das?
Dies alles zu Wege zu bringen ist Arbeit. Es passiert nicht von heut auf morgen. Das Saufen hat auch klein angefangen, warum sollte es beim Trockenlegen anders sein?
Für diese Arbeit, mein Denken neu auszurichten und in der neuen Richtung zu stabilisieren, und mein Fühlen auch umzukrempeln und so Abstinenz zur Selbstverständlichkeit werden zu lassen, dass es auch durchsickert in mein „Unterbewusstsein“ und zum „Bauchgefühl“ wird, für diese Arbeit haben wir Werkzeug.

  1. Erinnerung an den Tiefpunkt, d.h., dieses Gefühl, am Ende zu sein, nicht mehr zu können, die Verzweiflung, die dabei mitschwingt, die Scham darüber, was man seinen Partnerin und Kindern angetan hat – das alles nicht zu vergessen. Statt dessen sich zu erinnern, aber nicht, um sich selbst zu demütigen nach dem Motto: das war doch eine Schande, sondern einmal sich zu erinnern mit dem Zusatz: Das will ich nie wieder haben, und sich zu erinnern, dass der Entschluss, der aus diesem Tiefpunkt erwuchs, nicht mehr zu trinken, eine Heldentat war. Vielfach sogar die beste und folgenreichste im positiven Sinne, die man je getan hat. Steh zu deinem Tiefpunkt und vergiss ihn nie!
  2. Offenheit ist ein wichtiges Werkzeug. Ich schütze mich selber, wenn ich mit der Krankheit offen umgehe. Es schützt mich davor, in versuchungsträchtige Situationen zu geraten. Offenheit hat nichts zu tun mit „bloßstellen“, sondern zeigt die Ehrenhaftigkeit der Abstinenz.
  3. Wachsamkeit für das, was alles so angeboten wird: Mixgetränke, Saucen, Torten, Pralinen etc. Nicht, dass eine Kognakbohne einen von uns umwerfen würde! Es geht hier auch um Ehrlichkeit gegen sich selbst und andere. Es geht ums Prinzip: keinen Alkohol mehr. Wachsamkeit auch in der Richtung, auf welche Gesellschaft ich mich einlasse. Vatertagsausflüge muss ich mir nicht antun, und Bruderschafts- und Schwesternschaftstrinken auch nicht. Den Kuss ja, den Schnaps oder Sekt nein.
  4. Den Genussmenschen in mir zufriedenstellen. Alkohol ist ein Genussmittel, auch ein Beruhiger, ein Schönfärber, ein Aufheiterer, ein Stimmungsmacher. Wo finde ich jetzt meinen Genuss, das Schöne, was macht mich ruhig, was macht mir Freude und heitert mich auf, bringt mich in eine gewünschte Stimmung? Theater? Kino? Schokolade? Tanzen? Bücher? Spielen? Spazierengehen? Sport, aktiv oder auch passiv? Fotografieren? Chorsingen? Es gibt so viele Möglichkeiten, zu genießen. Genusspunkte sammeln als neue Lebensaufgabe. Geht auch zu zweit.
  5. Hilfstruppen suchen und nutzen. Zuallererst natürlich ist da die Familie gefragt. Wenn die nicht mitzieht, ist man arm dran. Sie müssen nicht alle abstinent werden, aber immer wissen und daran denken, dass du es bist und bleiben willst. Ob die Wohnung damit alkoholfrei wird, ist per Absprache zu klären. Einfacher ist es sicher, wenn es so ist. Dann die Freundschaft. Freundinnen und Freunde müssen dir den Rücken stärken, dich achten und dich schützen. „Den Nachtisch nimm lieber nicht, da ist Alkohol drin.“ Wenn bei den üblichen Einladungen dir immer noch gedankenlos der Begrüßungssekt angeboten wird, dann ist da etwas schiefgelaufen in der Kommunikation oder mit dem Begriff Freundschaft. Such Gesellschaft, aber suche sie dir gut aus und wenn du neue kennenlernst, oute dich bald. In der Einsamkeit wird man schnell komisch oder kippt um.
  6. Schaffe Klarheit an deinem Arbeitsplatz, auch wenn es vielleicht schwer fällt. Da musst du durch. Es ist wichtig fürs Überleben.
  7. Bedenke, dass es Rückfälle gibt. Mache dir einen Plan, wen du anrufst oder ansprichst, wenn die Schlange lockend zischelt. Auch dazu, ansprechbar zu sein, sind die Hilfstruppen da.
  8. Sieh und betone die positiven Seiten der Abstinenz:
    – es ist gesünder, keinen Alkohol zu trinken;
    – du brauchst nie mehr an deiner Fahrtüchtigkeit zu zweifeln;
    – du kannst stolz auf dich sein, denn du schaffst, was 90 Prozent der Alkoholkranken nicht schaffen;
    – du hast alle Chancen, einen eigenen Lebensstil zu entwickeln, in dem du dich auch ohne Alkohol wohlfühlen kannst.
    9. Lass dich nicht auf Abenteuer ein, etwa: „Einen Schnaps werde ich wohl wegstecken können!“ Das mag sein, aber es kann auch anders sein. Wenn du Abenteuer brauchst, mach Fallschirmspringen oder setzt dich im Olympia-Stadion in den Hertha-Fan-Block und feuere die gegnerische Mannschaft an.
    10. Du brauchst Selbstbewusstsein. In nicht ganz wenigen Fällen haben die Menschen genau das verloren im Suff und in der Sucht. Achte dich selbst, trau dir was zu, entdecke Neues, beteilige dich an Aktivitäten in deiner Nachbarschaft, lebe und freue dich, dass du lebst.
    11. Schließlich: Es gibt Selbsthilfegruppen. Ich will nicht behaupten, ohne Gruppenbesuche ginge es nicht in der Abstinenz. Das geht wohl auch, mit Gruppe ist es leichter und schöner. Wenn es die richtige ist. Die gilt es allerdings zu finden. Dann tu alles, um in ihr heimisch zu werden. Und du wirst all das, was ich bisher geschrieben habe und noch viel mehr dort vergnüglich lernen. Wie überhaupt so eine Gruppe sehr vergnüglich sein kann und sehr lehrreich. Sieh zu dem noch den Vorteil, dass immer kompetente Fachleute da sind, sowohl Fachleute für Abstürze und wie man da wieder raus kommt sowie für alle anderen Vorkommnisse und Fragen in der Abstinenzwerdung.

Und wenn du dann noch Guttempler wirst oder dich in einer der anderen Abstinenzvereine einbringst, bist du noch einen Schritt weiter als alle andern, du gehörst zu einer gesellschaftlich anerkannten Organisation. Und damit baust du auch weiter an deinem Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl.

So, mehr fällt mir heute nicht ein. Ich bin sicher, dass ich das eine oder andere vergessen habe. Aber für heute ist dies alles auch genug. Wenn du das jetzt Aufgezählte verinnerlicht hast und beherzigst, wenn Kopf und Bauchgefühl trocken sind, dann bleibst du es auch. Auf der ganz sicheren Seite sind wir nie, dazu ist die Krankheit zu heimtückisch und unsere Gesellschaft zu „alkoholisiert“.

Aber zur zufriedenen, dauerhaften Abstinenz reicht es allemal.

 Dieser Artikel beruht auf einem Vortrag des Autors in seiner Selbsthilfegruppe, der „Halensee“ im Guttemplerorden.

 

Titelthema 1/17: Ist Sucht eine Chance?

Titelblatt TrokkenPresse 1701_31Kann Alkohol-Sucht eine Chance sein?

Wer wäre ich heute, wenn ich nicht alkoholkrank geworden wäre?

Wie wäre mein Leben weiter verlaufen ohne den Alkohol und die Jahre des Leidens unter ihm? Stellen Sie sich auch manchmal diese Fragen, liebe LeserInnen?

Ich kann für mich selbst feststellen, dass ich heute, nach vier Jahren Trockenheit, zutiefst zufrieden lebe. Das war vor dem Beginn meiner Sucht an fast kaum einem Tag der Fall. Mein Alltag war von Ängsten schwer, von Sorge, von Traurigkeit. Und von der Suche nach dem Gegenteil: nach Glücklichsein. Alkohol wurde zum Fluchthelfer in leichtere Momente. Aber der Helfer wandelte sich irgendwann zum Feind. Therapie. Abstinenz. Ich wollte trocken weiterleben. Aber wie? Vor Ängsten und Kummer konnte ich nun nicht mehr, wie einst, flüchten, in dem ich sie betäube. Ich musste lernen, mit ihnen anders umzugehen. Sie wahrzunehmen, sie anzunehmen im Moment ihres Entstehens und herauszufinden, was sie wirklich sind: Einzig Gedanken und Gefühle. Sie lassen sich aushalten und gehen auch wieder … Seit ich dies weiß und lebe, muss ich nicht mehr jagen nach dem nächsten Moment, der vielleicht glücklicher sein würde als der jetzige. Ich bin (meist) in innerem Frieden mit dem, was jetzt gerade ist. Die Diagnose Alkoholkrankheit bedeutete für mich also nicht das Ende des Lebens, sondern das Ende des vergangenen Lebens, einen Neubeginn. Es war die Chance, alte Denkweisen, Verhaltensweisen, Konditionierungen aufzuspüren und ändern zu können. Und zufriedener zu leben als je zuvor.

Was sind Ihre Erfahrungen, liebe LeserInnen?

Kati aus Berlin schreibt zum Beispiel: „Am 10.1.2010 bin ich in die Entzugsklinik … Ich hatte keine große Hoffnung …15 Jahre Alk und Drogen sollten vorbei sein? Aber dann entwickelte sich dieses Verlangen, doch irgendwann glücklich zu sein. Durch Zufall lernte ich Darius kennen, die Liebe meines Lebens, mein Fels in der Brandung! Jetzt, sieben Jahre später, haben wir unsere kleine Motte, unser schönster ,Unfall‘. Alk oder Drogen sind so weit entfernt, wie es nur sein kann … ich lebe, ich lebe glücklich, ich liebe! Ohne meine Vergangenheit gäbe es meine Gegenwart nicht!“

Dr. Rüdiger-Rolf Salloch-Vogel (ehemals Leiter der Suchtklinik im Jüdischen Krankenhaus Berlin und selbst alkoholkrank) eröffnet den Erfahrungsaustausch zu unserem Thema. Bitte schreiben auch Sie uns ihre Meinungen dazu …

Anja Wilhelm

Das Leben läuft an mir vorbei

Teil 1
Rüdiger-Rolf Salloch-Vogel

Irgendwann, vor langer Zeit, habe ich mit Trinken aufgehört.

In den vielen Jahren habe ich viel erlebt. Mein Leben hat sich verändert, aber vor allen Dingen bin ich abstinent alt geworden. Hier im Rheinland gehe ich wie in Berlin immer noch einmal in der Woche in meine Selbsthilfegruppe, im Gegensatz zu früher höre ich in erster Linie zu und melde mich seltener. Heute wissen wir nämlich – und es ist unbestritten –, dass der regelmäßige Besuch einer solchen Gruppe die Prognose meiner Suchterkrankung deutlich bessert.
Ich spreche immer noch häufig mit Menschen, die sich für die Abstinenz entschieden haben und solchen, die einen diesbezüglichen Rat von mir wollen. Nach den vielen Jahren geht es mir nicht mehr darum, wie früher ellenlange Gespräche zu führen, sondern so ehrlich wie möglich und so schnell wie möglich deutlich zu machen, was zu tun ist und dass ich den Zustand der „Totalabstinenz“ bevorzuge, denn ohne sie könnte ich diesen Artikel nicht schreiben. (Entsprechend unseren gesellschaftlichen Veränderungen gibt es mittlerweile mehrere Formen der „Abstinenz“, die aus meiner Sicht keine ist, und wahrscheinlich Wenigtrinker in der chronischen Phase des Alkoholismus darstellt.) Abstinenz bedeutet seit Jahrhunderten „Enthaltsamkeit“, die in erster Linie dem Alkoholismus galt. Nach Jahrzehnten des Behandelns bleibt immer noch etwa ein Drittel der Behandelten dauerhaft abstinent, höhere Zahlen lassen sich nur bei ausgesuchten homogenen Kollektiven mit besonderer Behandlung (z.B. über zwei Jahre) finden.

Den Moment, an dem die Abstinenz beginnt, kennen wir zunächst nicht, sondern sie wird aus Not und Elend geboren. Nicht wenige schreiben dem Leben einen Abschiedsbrief, können gerade eben noch eine therapeutische Hilfe finden, um am Leben zu bleiben, in die Ruhe eines Klinikbettes zu fliehen, um eine so genannte Entgiftung und Entwöhnung zu beginnen.
Für mich begann damals an jenem Tag, allem persönlichen Bemühen zum Trotz, ein wirklich hartes und karges Leben, das ich ohne Dr. Hartmut Spittler, einen sehr erfahrenen Therapeuten, ohne meinen Sponsor Peter und später auch Jürgen, und ohne meine Selbsthilfegruppe niemals geschafft hätte, denn mir war nach Jahrzehnten des Trinkens die Lebenssicherheit abhandengekommen, und so war ich kaum noch ein Ehemann und kein Vater. Ich arbeitete, so gut ich es konnte und behielt durch ein Wunder meinen Arbeitsplatz, sodass ich meine Familie ernähren konnte, aber in den ersten Jahren meiner Abstinenz war ich nach der Arbeit derartig erschöpft, dass ich überwiegend in meinem Bereitschaftszimmer schlafen musste, was natürlich zur zunehmenden Entfremdung von meiner damaligen Frau beitrug. Voller Angst und Sorge ging ich mehrere Jahre zwei bis dreimal in der Woche in meine Selbsthilfegruppe, zunächst gar nicht wegen des Programmes, sondern weil dort nicht getrunken wurde und ich sah, wie Frauen und Männer längerfristig abstinent leben konnten, denn sie sprachen von ihrem Alltag, und wie mir schien, lebten sie noch nicht einmal schlecht.

Schon vor meiner Entwöhnungsbehandlung hatte ich Ängste und Panikattacken, die so weit gingen, dass ich nicht mehr Auto fahren konnte, besonders nicht mehr auf der Autobahn. Zwei Jahre lang schlief ich nachts kaum oder auch schon mal gar nicht. Und es gab Momente, in denen ich an den freien Tagen mehrere Stunden mit einem Buch auf dem Parkplatz einer psychiatrischen Klinik zubrachte und abends zum Essen nach Hause fuhr.
Alkohol trank ich nicht, andere Drogen nahm ich auch nicht, aber es gab nicht wenige Tage und Stunden, an denen ich, um nicht zu trinken, einfach zu Hause blieb. Es dauerte eine Weile, bis ich die Menschen aus der Selbsthilfegruppe bitten konnte, mich mit ihnen oder meiner Familie zum Essen in einem Restaurant zu verabreden, ins Kino zu gehen oder mit den Kindern auf einem Boot zu fahren.
Wenn ich versuchte, meine persönliche Not in der Gruppe ehrlich auszusprechen, kam es schon einmal vor, dass mir vorgeworfen wurde, ich wolle ja nur angeben und mich wichtig tun. Ich bin dennoch in meine Gruppen gegangen, habe Ausschau gehalten nach Frauen und Männern, die länger abstinent waren, freundlich und warmherzig, regelmäßig arbeiteten, nicht mit einem Krankenschein angaben, und so etwas wie „zufriedene Nüchternheit“ zu leben schienen. Ich suchte mir einen Sponsor. Dieser Mann, Peter, war etwa zehn Jahre trocken, ging regelmäßig samstags in seine Gruppe, hatte nach der Therapie eine abstinente Alkoholikerin geheiratet und war unverdrossen freundlich zu mir. Er hatte geradlinige Vorschläge. Der erste Vorschlag war zu meiner großen Verblüffung, mir einen Leseausweis für die Stadtbücherei zu holen, und die Bücher in einer Woche auszulesen. Diese Maßnahme sollte – wie er sagte – „mein Gehirn ordnen“. Das war ein interessanter Vorgang, denn wenn ich mir 100 Suchtkranke vorstelle, denen ein solcher Vorschlag gemacht wird, komme ich zu dem Schluss, dass eine große Mehrheit diesen Vorschlag für Unsinn gehalten hätte. Ganz tief in meinem Inneren spürte ich aber irgendwie, dass manche Menschen in ihren Aussagen Recht hatten, damals fuhr ich z.B. zum Gelände der alten Bundesgartenschau und kaufte mir eine Dauerkarte, um, wie mir jemand in seiner Aussage in der Gruppe geraten hatte, mehr Sauerstoff an mein Gehirn zu lassen. So begann zwei oder drei Jahre meine Frischlufttherapie, die bis heute anhält, allerdings mit Hund und nicht mehr mit Frau und kleiner Tochter, die mittlerweile selbst zwei kleine Kinder hat.

Was begann also mit meiner neuen Abstinenz? Worum handelte es sich bei diesen für mich und andere seltsamen Begegnungen mit abstinenten Alkoholikern?
Zum ersten Mal begann ich etwas zu glauben, was mit meiner gerade begonnenen Abstinenz zu tun hatte, Vorschläge, die zwei schon länger abstinente Menschen mir gemacht hatten.
Beide Vorschläge klangen für mich seltsam bis absurd. Und dennoch unterstellte ich, dass sie mir helfen wollten und tat, was sie empfohlen hatten:

1. Ich begann Menschen also zu glauben, dass sie mir helfen wollten und entwickelte eine gewisse Bereitschaft, diese Hilfe auch zuzulassen. Dazu gehörte dann auch, dass ich so ehrlich wie möglich in meiner Gruppe sprach.

Nach dieser langen Einleitung hoffe ich, dass ich den Beginn der Abstinenz und die Schwierigkeiten, die dabei entstehen, für jeden einzelnen Menschen recht gut habe darstellen können. Die Abstinenz ist deshalb ein komplizierter Vorgang, weil sich, abhängig vom Lebensalter und Geschlecht, Menschen, die „eine Therapie machen“, dann in einer Selbsthilfegruppe treffen. Menschen, deren Suchterkrankung unterschiedlich schwer ist, was die Folgen anbelangt, die sich in erster Linie im Gehirn abspielen, die eine Persönlichkeit verändern, alle sozialen Bezüge stören und im besonderen Liebe und Freundschaft erodieren. Meine KollegInnen und ich haben damals von einer „generalisierten Beziehungsstörung“ gesprochen, womit gemeint war, dass Drogen (und Alkohol ist eine harte Droge!) die Beziehung zu mir selbst und anderen stören und zerstören, in jedem geistig-seelischen Bereich. Wir sind aber auf Beziehungen sehr angewiesen, weil wir zum Beispiel durch sie lernen und lehren, von Ruhe und Zufriedenheit in einer Familie gar nicht zu sprechen. Es wird schnell deutlich, welche zerstörende Folgen eine Suchterkrankung in diesem Umfeld hat haben muss.
Ich war etwa acht Jahre abstinent, als ich Viktor Frankl „begegnete“. Der Psychiater und Neurologe starb am 2. September 1997 und ist neben Freud und Jung der Begründer der dritten Schule der Psychotherapie („Logotherapie und Existenzanalyse“). Er ist KZ-Überlebender, der 1945 nach seiner Befreiung in neun Tagen das Buch: „Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“ geschrieben hat. Unter dem Titel standen die Worte:„… trotzdem Ja zum Leben sagen.“ Das war ein sehr wichtiges Buch und ein Geschenk in meinem trockenen Leben.
Das Büchlein stand im Schaufenster einer Buchhandlung in der Nähe des Arbeitsplatzes und als ich während der Heimfahrt das Auto anhielt und zu lesen begann, konnte ich nicht mehr aufhören. Als Kind von Nationalsozialisten hatte ich mich ja oft und lange mit den Konzentrationslagern beschäftigt, und da ich zu diesem Zeitpunkt schon über 20 Jahre im Jüdischen Krankenhaus Berlin arbeitete, hatte ich mich mit diesem Thema schon lange auseinandergesetzt. Sehr verkürzt muss ich sagen, dass mir dieses Buch wie ein Geschenk des Himmels vorkam, denn als vormals selbstmordgefährdeter Mensch und abstinenter Arzt hatte ich damit begonnen, mich mit dem Sinn meines Lebens zu beschäftigen. D.h. ich war etwas vernünftiger geworden und dachte zunächst nur über die Frage nach, warum ich noch am Leben war, und welche Bedeutung das hatte, und wer dafür verantwortlich war, wo ich doch im Laufe meines Lebens als Arzt und Alkoholiker viele Menschen hatte vorzeitig sterben sehen und mir auch bekannt war, dass die Gamma-Alkoholkrankheit das Leben um 20 Jahre verkürzt.

Ich hatte mich für meine Abstinenz entscheiden müssen, weil Gott, das Leben, die Natur oder das Weltall (wie jeder es auch nennen möchte) mich deshalb hatte diese schreckliche Zeit überleben lassen, weil er noch Aufgaben für mich hatte und ich meine Lebenszeit auf eine einfachere Art und Weise dazu nutzen sollte, anderen Suchtkranken etwas zu sagen, wenn sie es hören wollten. Und ich spürte, dass ich dafür diese „Verantwortung übernehmen“ sollte. Und genau in diesem Moment meiner Entwicklung fiel mir das Buch Frankls in die Hand.

Der Mensch hat immer eine Sehnsucht nach Sinn

Frankl hatte sich ja schon seit Mitte der Dreißigerjahre des vorigen Jahrhunderts mit dem Begriff „Sinnfindung“ beschäftigt, und arbeitete damals schon in einer Selbstmordambulanz für gefährdete Studentinnen und Studenten, um sich in diesem Bereich weiterzuentwickeln. In der Zeit im Konzentrationslager arbeitete Frankl neben harten Bauarbeiten im Auftrage der Nazis als Oberarzt und Helfer in einer Baracke mit am Fleckfieber erkrankten Ärzten. Die Selbstmordrate dieser Menschen war sehr hoch, viele rannten in den Elektrozaun und die meisten sprachen etwas aus, über das kaum gesprochen wurde: „Es ist ja hier alles so sinnlos.“ Frankl hatte bei seiner Arbeit mit den StudentInnen folgendes verstanden: Die Frage nach dem Sinn des Lebens beinhaltet die Frage nach der Bestimmung des Menschen und ist eng verbunden mit dem Vertrauen in das Leben (Selbstvertrauen und Vertrauen in andere Menschen oder eine göttliche Macht). Der Mensch hat immer eine Sehnsucht nach Sinn. Im engsten Sinn ist damit die Deutung des Verhältnisses, in dem der Mensch zu seiner Welt steht, gemeint, wenn ich also etwas Sinnvolles tue oder erlebe und damit zufrieden bin. Franke fasste also den Entschluss, auch in dem tödlichen Umfeld für sich und sein Leben Verantwortung zu übernehmen – im Übrigen ganz schlicht, weil er alles dafür tun wollte, seine Lieben wiederzusehen und am Leben zu bleiben. Er formulierte das so:

2.„… Was hier nottut, ist eine Wendung in der ganzen Fragestellung nach dem Sinn des Lebens: wir müssen lernen …, dass es eigentlich nie und nimmer darauf ankommt, was wir vom Leben noch zu erwarten haben, vielmehr lediglich darauf, was das Leben von uns erwartet.“

Dieser Satz war plötzlich trotz aller Ausbildungen und Psychotherapie das zentrale Geschenk meines Lebens. Wenige Jahre später lernte ich den Menschen kennen, den ich wirklich lieben konnte, und vor diesem Hintergrund übernahm ich dankbar die Verantwortung für die Aufgaben meines Lebens.
Wenn wir etwas länger abstinent sind, uns körperlich und geistig erholen, werden wir uns zunehmend mehr Gedanken und Gefühle über den Sinn des Lebens machen, und mit den Menschen, die uns nahe stehen, über diese Frage sprechen: „Welche Frage stellt heute das Leben an mich?“
Urplötzlich werden diese wahnsinnigen Wünsche weniger: Geld verdienen, Menschen anbaggern, schnelle Fortschritte im Beruf und all so etwas. Ich werde über meine Lebensphasen nachdenken, über Gesundheit und Krankheit, was bedeutet Sinnfindung? Was bedeutet Transzendenz (wie wäre es mit dem Erwerb eines guten Lexikons, eines Duden und eines Fremdwörter-Duden?)
Wenn ich die genannten Begriffe beispielsweise als Frage oder Aufforderung des Lebens annehme, kann ich auch für eine Krankheit, Alter, Verlust geliebter Menschen, die Verantwortung für mich und andere übernehmen.
Und ich muss mir die hässliche Frage stellen, ob Dauerrauchen und 4 l Kaffee am Tag ohne Alkohol Abstinenz bedeuten.
Ich komme jetzt aus praktischen Gründen zum Schluss: Der Verlag hat mir 12 000 Zeichen mit Leerstellen gegeben, und eben war ich schon bei 12 500. Dennoch schreibe ich Ihnen noch etwas, aber auch die Zusage, dass ich in den nächsten ein oder zwei Heften der Trockenpresse das Thema der Sinnfindung und der Arbeiten Viktor Frankls beenden werde. Und nun zum Schluss:

3. Wenn ich vormittags in der Gruppe die Mitglieder frage, „Glauben Sie, dass sie heute Abend noch abstinent sind? Und glauben Sie, dass sie morgen früh noch abstinent sind?“, habe ich die Erfahrung gemacht, dass jedes Mal alle antworten: „Ja, dann sind wir noch abstinent!“

Dann erzähle ich noch eine kurze Geschichte: Vor etwa 30 Jahren haben zwei amerikanische Suchtforscher die Frage zu beantworten versucht, was der Hauptrückfallgrund bei Alkoholikern ist. Und nach einiger Zeit kamen sie auf den Begriff Unfriede.
Jede/r von uns weiß, dass man im Unfrieden nicht abstinent leben kann. Seit längerem bitte ich meinen Herrgott nahezu jeden Morgen um Hilfe, um abends zufrieden ins Bett gehen zu können. Dann kann ich kurz meinen Tag strukturieren und mich freuen, wenn meine Familie abends nach Hause kommt. Das entspricht genau dem „im Heute leben“ mancher Selbsthilfegruppen.

Nun habe ich gar nicht über das Thema gesprochen, aber das kommt noch.

 

Titelthema 6/16: …trocken. Und wo bleibt die Liebe?

cover-trokkenpresse-1606_printEndlich trocken – und wo bleibt die Liebe?

 Zerbrechende Partnerschaften, dramatische Trennungen: Die meisten Alkoholabhängigen werden im Verlaufe ihrer Krankheit damit konfrontiert. Denn Alkohol „löst“ im wahrsten Sinne auch Beziehungen auf … Aber wie beziehungsfähig sind wir Süchtigen dann, wenn wir endlich entgiftet sind und eine Therapie hinter uns haben? Im Kopf wieder klar, das Leben euphorisch neu beginnend, das Herz voller Sehnsucht nach einem Menschen, mit dem wir dies auch teilen können … Sind wir wirklich „reif“ für eine neue Liebe? Welche Chancen birgt sie, welche Gefahren? Die TrokkenPresse hat dazu trockene Alkoholiker nach ihren Erfahrungen befragt, den Suchttherapeuten Thomas Sioda und den Chefarzt der Hartmut-Spittler-Klinik Berlin, Dr. Darius Tabatabai, interviewt.

Sex, drugs and liebestoll! Alki sucht Frau – ein Selbstversuch

„Geduld“, sagt die Selbsthilfegruppe, „Meide Anlässe und Gelegenheiten, bei denen Alkohol konsumiert wird und wird‘ erstmal richtig trocken! Keine neuen Beziehungen im ersten Jahr und schon gar keine abendlichen Balzversuche in einschlägigen Lokalitäten!“

„Vorsicht“, sagt die Erfahrung. Denn am Anfang vom Ende jeder einzelnen meiner Trinkpausen stand eine leidenschaftliche Frauengeschichte. Sex, drugs und regelrecht liebestoll. Das Ganze endete zuverlässig mit einem „Rückfall“, jeder Menge Scherben und schlussendlich immer auf der Entgiftungsstation des nächstgelegenen Krankenhauses.

„Leg‘ endlich los“, sagt nun mein Sponsor. Denn ich lebe als süchtiger Mensch nun mal in einer konsumierenden und weitgreifend „selbst süchtigen“ Gesellschaft und habe die Wahl, mich vor einer echten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu verstecken oder es wirklich in die Hand zu nehmen.

Gewappnet mit diesen Hintergrundinformationen, dem Segen meines Sponsors und mit etwa einem Jahr Trockenheit im Nacken, machte ich mich auf die Suche nach dem verlorenen Leben – und der verlorenen Liebe. Leider hat mein Suchtmittel stets das Gleiche gesagt wie mein Sponsor, und so startete ich, voller Zweifel, einen waghalsigen Selbstversuch mit ungewissem Ausgang. Im Verlauf des Jahres gewann ich tatsächlich an Selbstvertrauen und sollte noch eine Menge wertvoller Erfahrungen sammeln. Die erste dieser zum Teil abenteuerlichen Geschichten, den Sprung ins kalte Wasser sozusagen, habe ich hier aufgeschrieben.

Anfang des Jahres bekam ich das Gefühl, es müsse irgendwas passieren. Ich wollte wieder unter Menschen, runter vom Abstellgleis und endlich zurück ins Leben. Und so begann ich eine Weiterbildung, nährte mein Selbstvertrauen und verknallte mich gleich zu Beginn in ein zartes, blondes Geschöpf mit sympathischem Lächeln und Masterabschluss. Die Dame arbeitete vor Ort, trug ihre blonden Haare offen und bis weit über das wohlgeformte Gesäß hinaus. Und sie ließ bei unserem Aufnahmegespräch ständig ihre Unterlagen fallen, was ich sehr sympathisch fand, weil sie dabei krampfhaft versuchte, einen souveränen Eindruck zu machen. „Das liegt an mir!“, dachte ich und haderte trotzdem, denn ich hatte noch nie vollkommen nüchtern eine Frau angesprochen. Nach drei Tagen bat ich recht unbeholfen und ziemlich unsicher um einen Termin, zwecks näheren Kennenlernens. Das Unglaubliche geschah und sie bejahte, worauf ich vor Schreck erst mal zur kopflosen Flucht ansetzte, den Raum verließ und beinahe hyperventilieren musste. Ich schwebte auf Wolke sieben und schmiedete Heiratspläne. Leider hatte ich in all der Hektik total vergessen, das bevorstehende Date in irgendeiner Form konkret abzusprechen, was mich zwei weitere Tage des Zauderns und Zweifelns kosten sollte. Letztendlich kamen wir überein und verabredeten uns am Ostkreuz.

Und schon ging das Kopfkino los. Was mache ich, wenn Sie was trinken gehen will? Wie fängt man(n), ohne einen im Tee, ein Gespräch mit einer Frau an und hält es am Laufen? Ich kann doch diese Form von „Bewerbungsgespräch“ unmöglich mit dem Satz beginnen: Mein Name ist soundso und ich bin Alkoholiker. Das käme irgendwie einem vorauseilenden Trennungsgesuch gleich. Und was mache ich eigentlich, wenn sie mir Fragen zu meinem bisherigen Leben stellt? Auch das wäre fatal und ganz sicher das sofortige Ende, denn ich hatte ein paar eher weniger erfolgreiche und sehr turbulente Jahre hinter mir und im Vollrausch so manches eingerissen. Keine normale Frau hätte sich das länger als eine Minute angehört.

Bei dieser Gelegenheit wurde mir wieder einmal klar, wie sehr ich in meiner Rolle als Alkoholiker gefangen war. Meine ganze Identität, mein Vokabular und meine potentiellen Gesprächsthemen waren einfach nur süchtig. Und so legte ich mir Ausreden zurecht, führte fiktive Dialoge und fühlte mich plötzlich unwohl. Ich dachte an Abbruch. Um es kurz zu machen: Wir trafen uns, und es regnete in Strömen. Meiner aufrichtigen Befürchtung, sie könne schnurstracks in die nächste Cocktailbar rennen, trat sie mit ihrem Vorschlag, irgendwo ein Eis essen zu gehen, überraschend entgegen. „Warum will sie denn keinen Cocktail mit mir trinken?“, dachte ich mir und war sogar ein bisschen gekränkt. Ich wischte den Gedanken schnell wieder beiseite und auf einmal war ich es, der krampfhaft versuchte, einen souveränen Eindruck zu machen. Wir liefen also durch den nasskalten Regen und suchten nach einer Eisdiele. Nach etwa einer Stunde des erfolglosen Suchens (nach Eis und Themen für‘s Gespräch), landeten wir dann doch in einer Cocktailbar. Da saß ich nun. Mit ‘ner Apfelschorle in der Hand und ‘nem gewaltigen Stock im Arsch, suchte ich verkrampft nach einem Einstieg. Die Getränkebestellung verlief relativ unspektakulär, auch wenn ich meinte, dass sie darauf zu warten schien, was ich bestellte und etwas irritiert auf die Schorle in meiner Hand glotzte. Derweil kam sie nicht mal auf die Idee, mir irgendwelche Fragen zu stellen und spielte ständig mit Ihrem Handy herum. Jetzt bestellte auch sie endlich – einen alkoholfreien Cocktail. Ich fand, es lief ganz gut für mich. Irgendwie.

Wir begannen ein oberflächliches und humorloses Gespräch über ihren Ex-Freund. Das war ein potentielles Minenfeld, denn meine letzten drei Beziehungen scheiterten allesamt an den Folgen meines Alkoholkonsums. Doch noch immer keine Fragen von ihr. Dafür legte sie jetzt richtig los. Vor mir saß eine Masterabsolventin, eine „Intellektuelle“, die Stein und Bein darauf schwor, dass es nichts auf der Welt gäbe, was unterhaltender wäre als „Big Brother“. In der Folge wurde es immer schlimmer und sie lobte das gesamte Grusel-Programm von RTL2 rauf und runter! Doch damit nicht genug: Ihre Vorstellungen von einem gelungenen Leben, das ganze konforme, nachgeplapperte und meinungslose Geschwafel, wurden mir schnell unerträglich. Vielleicht, weil sie ihr Leben im Griff hatte und ich nicht. Vielleicht auch, weil ich mich auf meinem Weg in die Trockenheit doch sehr verändert hatte. Man müsse schließlich sein Potential entfalten, trällerte sie, und etwas Richtiges aus sich machen. So gesehen konnte ich gar nichts Richtiges sein.

Ich fand einfach keinen Einstieg in ihre Themen und begann fataler Weise nun doch, von mir und meinem Leben zu erzählen. Ich deutete die Katastrophen der Vergangenheit und meinen Dachschaden an und sparte dabei den Alkoholismus aus, was das Ganze nur schlimmer erscheinen ließ. Aber sie hatte entweder nicht zugehört oder ein gewaltiges Brett vor dem Kopf. Und während sie, parallel zu unserem Date, die aktuellen „Wisch und Weg“-Angebote auf Tinder checkte, mit ihren „Fakebook“-Freunden chattete und ihren Ex verfluchte, fragte ich mich wiederholt, ob denn nun ein Cocktail dieses Desaster nicht doch in irgendeiner Weise abschwächen oder erträglicher machen konnte. Konnte dieser eine Drink mir wirklich schaden?

Das war jetzt wirklich gefährlich und mir wohlbekannt. So kam ich zu der erschütternden Erkenntnis, dass ich mich ohne das erste Glas scheinbar einfach nicht locker machen konnte. Und vielleicht auch deshalb konnte sie, zumindest in meiner individuellen Wahrnehmung, einfach nicht damit aufhören, dämlich zu sein. Plötzlich „durfte“ ich wieder nichts trinken. Früher jedenfalls, hätte ich mir so eine ganz einfach schön, bzw. schlau gesoffen, sagte ich mir. Mit einem im Cocktail in der Hand, hätte ich mich skrupellos als eingefleischter Big Brother-Fan geoutet, Dieter Bohlen und von mir aus auch Helene Fischer zitiert und wäre erfahrungsgemäß zum Zuge gekommen! Denn sie war wirklich schön …Und da war es schon wieder: Das Gefühl des Verlustes. Hier saßen wir nun: Ein bekloppter Alki und eine smartphonesüchtige, optische Mogelpackung. Und beide wollten nach Hause. Ich schwor mir, dass ich künftig noch genauer hinsehen und nachfühlen würde!

Im Verlauf des Jahres folgten noch einige weitere dieser krampfhaften Trockenübungen. Mal mehr, mal weniger erfolgreich, aber immer trocken. Und mit jedem Mal gewann ich mehr Selbstvertrauen. Sicher hatte ich bei all dem auch Glück, aber zumindest in einem Punkt lag mein Sponsor richtig: Ich hatte mich dem Leben gestellt und es hatte sich tatsächlich etwas bewegt. Ich konnte wertvolle Erfahrungen sammeln und fühle mich heute bei meinen Dates, auch ohne das soziale Schmiermittel Nummer eins in der Hand, nicht mehr ganz so unsicher. Und schlussendlich durfte ich auch feststellen, dass ich mit meinem Junggesellendasein gar nicht sooo unzufrieden bin.

(mahebest)

„Es ist erlaubt, Single zu sein“

Interview mit Suchttherapeut Thomas Sioda (Suchtberatungsstelle Berlin-Hohenschönhausen, Gemeinschaftsprojekt von Gesundheitsamt und Stiftung SPI)

Sie begleiten Suchtkranke u.a.in Nachsorgegruppen und Einzelgesprächen. Wie ist ihre Erfahrung: Wie wichtig ist das Thema, neue Beziehung finden‘ nach der Therapie?

Thomas Sioda: Der Wunsch nach Partnerschaft ist auf jeden Fall da, das wird in vielen Gesprächen deutlich. Jeder Mensch hat Sehnsucht nach einer Beziehung, wenn er alleine ist. Viele Alkoholkranke haben ja Trennungen hinter sich durch den Alkoholkonsum. Andere wiederum konzentrieren sich nach der Therapie eher darauf, wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Wiederum andere bringen sich gleich einen neuen Partner aus der Therapie mit.

Ist es nicht zu früh, gleich während oder nach der Entwöhnung eine neue Beziehung zu suchen?

Es gibt kein Pauschalrezept. Jeder ist an einem anderen Punkt. Durch eine Therapie beginnt ein Prozess, der bei jedem anders verläuft. Für viele scheint es aber ein Makel zu sein, Single zu sein. Und manche denken: Lieber eine schlechte Beziehung als gar keine Beziehung. Bei anderen besteht die Gefahr, sich wieder gleiche frühere Beziehungsmuster zu suchen, Beziehungen, in denen sie abhängig sind oder wieder Gewalt erfahren werden.

Wir hinterfragen das hier bei uns genauer, statt Ratschläge zu geben, es ist immer eine individuelle Sache. Und wir empfehlen auch, nicht in die Klinik zur Therapie zu gehen, um dort einen Partner kennenzulernen …

Weshalb wird das in Kliniken nicht gerne gesehen, dass man sich da verliebt?

Herzchen in den Augen könnten zwar die Therapie beflügeln – aber auch ablenken vom Behandlungsziel. Mein Rat: Kontakte aufbauen, ja – aber die Beziehung, wenn möglich, erst nach der Therapie beginnen, langsam aufbauen, unter dem Motto „Alles zu seiner Zeit“.

Es heißt, dass Entwöhnte im ersten Jahr nur Verantwortung für eine Pflanze übernehmen sollen, im zweiten dann für ein Haustier, und erst im dritten Jahr danach für einen Menschen …

Das ist mir so nicht bekannt. Aber der Kern ist wohl: Zuerst einmal Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Lernen, nicht immer nur für andere da sein zu wollen, wie Suchtkranke das so oft tun. Und wenn, dann – man kann sich ja nicht aussuchen, wann man sich verliebt – es langsam angehen, man muss ja nicht gleich zusammen ziehen und heiraten. Eine Beziehung kann man ja auch langsam wachsen lassen, man kann sich langsam annähern.

Man sollte sich immer fragen und ehrlich dabei sein: Bin ich innerlich schon so weit? Denn man muss schon stark sein für eine Beziehung, sie kostet Zeit und Energie, nach der ersten Verliebtheit kommen meist Konflikte, Streitigkeiten. Damit muss man umgehen können – und es sollte sich jeder hinterfragen, ob er das dann schon kann, nach nur ein paar Monaten Therapie.

Ihr Rat für Beziehungssuchende?

Unsere Empfehlung ist immer, nicht zwanghaft zu sein, nicht zu sehr nach einer Beziehung zu suchen. Partnerschaft ist ja nicht alles im Leben. Es ist erlaubt, Single zu sein. Sie sollten sich immer ehrlich befragen: Hängt für mich wirklich das ganze Lebensglück von einer Beziehung ab? Oder welche Ziele habe ich nach der Therapie überhaupt? Beruflich zum Beispiel? Oder wollen Sie doch überhaupt erst einmal grundlegend das Leben wieder konsolidieren, wieder an Selbstbewusstsein gewinnen, Selbstwert wieder aufbauen?

Ich rate dazu: Alles zu seiner Zeit, eins nach dem anderen. Was Priorität hat, muss sich jeder selber beantworten.

Welche Chancen haben Paare, die sich als trockene kennenlernen?

Wir führen da keine Statistik. Es ist wie mit jeder andere Partnerschaft auch, ich denke nicht, dass man schlechtere Chancen hat, wenn man abhängig ist. Wichtig ist, wie man die Beziehung gestaltet, wie gut man seine Bedürfnisse ausspricht. Mein Rat an trockene Paare:

Klare Regeln finden, solche wie zum Beispiel: ,Familienfeiern – bei uns gibt es keinen Alkohol, das wäre eine Riesengefahr‘. Oder: ,Gäste bekommen ein Glas Sekt, mehr nicht, das macht uns beiden nichts aus‘.

Welche Vorteile hat eine Beziehung zwischen Trockenen? Welche Gefahren birgt sie?

Es kann nur von Vorteil sein, wenn man sich outet und outen kann, wenn die Krankheit kein Tabu ist. Wenn beide abhängig sind, scheint es einfacher zu sein, als wenn der Partner daheim trinkt. Es ist leichter, Regeln aufzustellen wie zum Beispiel „kein Alk zuhause“. Gefahr besteht, wenn man nicht kommuniziert und keine klaren Absprachen trifft. Und wenn ein Rückfall auftritt, dass man sich dann gegenseitig runterreißt bis hin zu sehr dramatischen Situationen.

Beispiele: Wir haben ein Paar aus der Nachsorge, das inzwischen sogar geheiratet hat. Und wir haben auch ein Paar, da ist einer rückfällig geworden und an den Folgen verstorben. Das sind Extreme und dazwischen gibt es alles, ist alles möglich.

Das erste Date – sollte man sich gleich outen?

Wozu beim ersten schon? Es ist natürlich von der Situation abhängig. Aber den jeweiligen Menschen macht doch mehr aus als nur der frühere Alkoholkonsum, das ist doch nicht die Haupteigenschaft eines süchtigen Menschen. Es geht doch um gegenseitige Sympathie. Man kann sich ja erstmal in einem Café treffen zum Beispiel, nicht in einer Bar. Es erstmal abchecken und sagen, dass man keinen Alkohol trinkt. Und dann sieht man weiter, ob Nachfragen kommen.

Gar nicht davon reden geht nicht auf Dauer, der Moment kommt ja früher oder später …

Also: so offen wie möglich sein, aber man muss sich nicht gleich outen.

Das Interview führte Anja Wilhelm

Pairing/Paarbildung in der Entwöhnungstherapie: Chancen und Risiken neuer Beziehungen

Entwöhnungstherapien finden in einer sehr schwierigen Behandlungsphase statt. Nach der in den meisten Fällen erfolgten Entzugsbehandlung ist der Körper frei von akuten Entzugssymptomen, die Seele reagiert auf das Fehlen des zuvor konsumierten Stoffes jedoch noch sehr unwillig. Bis hin zum Gefühl, sich in einer fortgesetzten Notsituation zu befinden. Ein Teil der Betroffenen empfindet aber auch eine Art von Aufbruchsstimmung, ist beseelt vom Wunsch auf Veränderung und Wiedergutmachungsaspekten. Kliniken versuchen den Menschen in dieser Zeit einen Halt zu geben und den Weg zurück in die menschliche Beziehung zu finden. Die „Lockrufe“ des Stoffes bilden dabei eine Art Soundtrack im Hintergrund, der mal lauter, mal leise zu hören ist. Welche Rolle spielt das Aufkeimen von Liebesbeziehungen unter Therapieteilnehmern in dieser Phase der Behandlung? Zunächst ist es schwierig, Zahlen zu gewinnen. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema ist in der Theorie der Psychotherapie umfangreich, epidemiologisches Material ist jedoch rar. Begriffe wie der „Kurschatten“ signalisieren jedoch, dass es sich nicht um vereinzelte Phänomene handelt, sondern Pairing zum Alltag in der Entwöhnungstherapie gehört und die Kliniken zu einer transparenten Grundhaltung zwingt.

Anhand der in den letzten 10 Jahren erfolgten Veränderungen im Umgang mit Pairing in der Hartmut-Spittler-Fachklinik für Entwöhnung lässt sich eine solche Grundhaltung bespielhaft skizzieren:

 Das Pairing galt und gilt als Risikofaktor für eine erfolgreiche Therapie.

Auf das „warum“ gibt es eine ganz einfache Antwort, die jeder Mensch kennt, der schon einmal verliebt war und sich erinnert oder gar aktuell erlebt, wie sich dieser Zustand anfühlt: Das Verliebtsein kann etwas Rauschhaftes haben, der Alltag ist verzaubert, Banales bekommt eine völlig neue Bedeutung und von außen betrachtet wirken manche Menschen in diesem Zustand „nicht ganz zurechnungsfähig“ in einem ganz zugewandten Sinne … geschieht dies während einer Therapie, kann deren Verlauf dadurch natürlich beeinträchtigt werden, weil das Aufmerksamkeitsvermögen eingeschränkt ist, bzw. ganz fokussiert ist auf das „neue Objekt der Begierde“.

In psychoanalytisch orientierten ambulanten Settings wird das Sich-Verlieben während der Therapie mitunter als Widerstand (ein unbewusster Vorgang) gegen den therapeutischen Prozess gedeutet und kann zum Gegenstand zahlreicher Sitzungen werden. Auch in stationären Settings analytisch orientierter Entwöhnungstherapie wird das Pairing häufig als Widerstand gegen die Therapie eingeordnet. Die Antworten darauf in der Vergangenheit und heute können jedoch sehr unterschiedlich ausfallen.

Wurden vor zehn Jahren „neue Paare“ in der Hartmut-Spittler-Klinik identifiziert, wurde mit diesen über diese Situation gesprochen und meist eine getrennte Weiterbehandlung empfohlen, damit die Therapie eben ohne „die neue emotionale Schwankung“ fortgesetzt werden konnte. Gute Kontakte zur Fontane-Klinik ermöglichten einen recht unkomplizierten Wechsel zwischen den Kliniken.

Auch heute kann diese Vorgehensweise erforderlich sein, sie findet aber nur noch in seltenen Fällen statt. Auch hier stellt sich die Frage „Warum?“. Die Antwort darauf fußt auf der Erfahrung, dass die recht rigide anmutende drohende „Trennung“ der neuen Paare dazu führte, dass diese Paare viel daran setzten, dass ihr neues Glück nicht bemerkt wirkt, sie es in aller Heimlichkeit kultivierten. Der dabei von außen erlebte Druck stilisierte die Beziehung nicht selten künstlich hoch und das Paar hegte Assoziationen an „Romeo und Julia“ oder „West-Side-Story“. Trennungen erfuhren dann nur die Paare, „die so ungeschickt waren, sich erwischen zu lassen“. Die Situation hatte einen weiteren doppelten Boden, denn auch Therapeuten ahnten von Beziehungen, „aber so lange es keinen Beweis gibt“, sahen sie auch keinen Handlungszwang und umgingen auf diese Weise unbequeme Gespräche. Erstaunlicherweise hielt sich diese Praxis lange Jahre und wurde erst um 2010 systematisch hinterfragt, weil das „Abtauchen“ der neuen Paare doch immer offensichtlicher wurde und der doppelte Boden auch im Sinne des psychotherapeutischen Qualitätsmanagements bearbeitet werden sollte.

In dieser Auseinandersetzung wurde spürbar, dass der bisherige Umgang mit den Paarbildungen nicht nur in die Heimlichkeit führte, sondern auch eine moralische Implikation besaß, die für die therapeutische Zusammenarbeit eher einen destruktiven Charakter entwickelte. Das immer wieder anzutreffende Bestrafungsbedürfnis von Rehabilitanden (aufgrund von Schuldgefühlen bsw. gegenüber der Familie) traf manchmal auf unreflektierte sadistische Impulse der Behandler (aufgrund der typischen Enttäuschungen im Verlauf der Behandlung beispielsweise durch Regelverstöße oder Rückfälle). Diese von Agnes Ebi im Aufsatz „der ungeliebte Suchtpatient“ beschriebenen Prozesse sind vielen Suchttherapeuten vertraut, was aber nicht davor schützt, dass sie dennoch wirksam werden.

In einer kritischen Reflexionsphase in zahlreichen Teamsitzungen und Fortbildungseinheiten wurde in der Folge der Umgang mit dem Pairing veränderten Regeln unterworfen:

Das Pairing wurde unverändert als ein Phänomen eingeordnet, das Therapieprozesse gefährden kann, aber auch Ausdruck von nichtstoffgebundener Libido sein kann, was als Ressource zu verstehen wäre. Ein offener Umgang mit der veränderten Situation wird angestrebt, bei dem das „Offenlegen“ der Beziehungen und Vereinbarungen zum weiteren Therapieverlauf mit den beiden Bezugstherapeuten zum Standard gehören. Die Beziehung wird von den Bezugstherapeuten wertfrei und empathisch angesprochen, gleichzeitig aber auch einer Risikobewertung (ein technischer Begriff, der mit empathischer Grundhaltung unterlegt sein muss) unterzogen. Den Paaren werden dabei Vorschläge gemacht, wie sie einen sicheren Therapieverlauf beibehalten. Dies beinhaltet konkrete Schritte, wie den getrennten Besuch von Selbsthilfegruppen oder das Beachten von Verhaltensnormen innerhalb der therapeutischen Gemeinschaft (Rücksichtnahme auf Mitrehabilitanden orientiert an Normen aus dem Arbeitsleben). In der Praxis sind dies häufig sehr anstrengende aber auch fruchtbare Prozesse. Auf der „Therapiebühne“ bilden sich immer wieder die Grundschwierigkeiten der Rehabilitanden ab und dies gilt auch für die neue „Beziehungsbühne“. An einem Beispiel soll dies verdeutlichet werden:

Beispiel: Frau XX und Herr XY verlieben sich

Frau XX beginnt die Entwöhnungstherapie und wird der Gruppe 5, einer reinen Frauengruppe zugeordnet, weil sie bereits aus ihrer Ursprungsfamilie heraus wiederholt Gewalt durch den Vater erlitten hatte. Dieser hatte neben ihr auch die Mutter und die Geschwister regelmäßig alkoholisiert geschlagen. Die Mutter war nicht in Stande, sich und die Kinder zu schützen, so dass diese Situation über viele Jahre fortbestand und von Frau XX als quasi selbstverständlich erlebt wurde. Sie empfand immer wieder Hassgefühle gegenüber dem Vater, es irritierte sie aber auch, wie sehr sie ihn dennoch liebte. Auch der bagatellisierte sexuelle Übergriff eines Freundes des Vaters, als sie im Alter von 13 Jahren war, veränderte dies nicht wesentlich. Im Erwachsenenalter entwickelte Frau XX eine Präferenz für gleichsam gewalttätige und konsumierende Partner. Vom Vater ihrer Kinder trennte sie sich schließlich nach acht Jahren Ehe, nachdem sie zum dritten Mal von ihm so schwer verletzt wurde, dass sie mit einer Feuerwehr in ein Krankenhaus gebracht wurde. Im Verlauf der Entwöhnungstherapie verliebt sich Frau XX nun erneut in einen Mann mit Gewalterfahrungen: Herr XY wurde vor sechs Monaten aus einer zweijährigen Haft wegen Körperverletzung entlassen und ist danach erneut mit einem Gewaltdelikt unter Alkoholeinfluss aufgefallen. Vom Gericht wurde eine Therapieauflage verhängt und Herr XY signalisiert Veränderungswünsche, ist sich aber unsicher, ob er Abstinenz ein Leben lang aufrechterhalten möchte. Herr XY stammte aus einem Elternhaus, in dem der Vater ebenfalls regelmäßig Gewalt gegenüber den Kindern und der Ehefrau ausübte, meist unter dem Einfluss von Alkohol. In Gesprächen über den Vater nimmt Herr XY diesen in Schutz: „Hat sich den Arsch aufgerissen für uns, es fehlte uns an nichts, er war nur manchmal überfordert und wir waren auch wild, da musste er zuschlagen!“

Frau XX und Herr XY verbringen viel Zeit miteinander und sitzen in vielen Veranstaltungen nebeneinander, so dass die Bezugstherapeuten sie fragen, ob sie eine Beziehung eingegangen sind, was beide nach anfänglichem Zögern dann einräumen. Bei den darauf regelmäßig stattfindenden „4er Gesprächen“ mit den Bezugstherapeuten (ein klassisches Instrument beim Pairing in der Klinik) kann ansatzweise das Muster der Beziehungsaufnahme (Wiederholungsaspekt) bewusst gemacht werden unter der Vermeidung der (von beiden befürchteten) Entwertung der Beziehung. Nach fünf Wochen nehmen beide wieder Abstand voneinander, weil sie sehr unterschiedliche Erwartungen aneinander feststellten und der akute Rauschzustand des Verliebtseins bereits wieder „verflogen“ war. Frau XX wird in diesem Zusammenhang an einem Abend rückfällig, setzt aber nach kurzer Detoxikation die Therapie fort und berichtet in der Rückfallbearbeitung von Enttäuschung, aber auch Schuldgefühlen nach der Trennung. Deutlich schambesetzt berichtet sie, dass es zwischen den beiden zu heftigen verbalen Auseinandersetzungen mit Gewaltandrohungen von beiden gekommen war.

Dieses Beispiel skizziert die Gratwanderung zwischen Chancen und Risiken des offenen Umgangs mit dem Pairing während der Therapie anhand eines Falles, in dem missglückende Bewältigungsmuster und „süchtige“ Beziehungsgestaltung identifizierbar werden und korrigierende Erfahrungen gemacht werden können.

Auf der anderen Seite gibt es auch Beispiele für die Entwicklung tragfähiger Beziehungen, die aus dem Pairing während der Therapie erwachsen. Bei den Ehemaligentreffen zeigen sich immer wieder Paare, die sich während der Therapie kennenlernten und nun recht offen über ihre Situation Auskunft geben, wenn sie von aktuellen Rehabilitanden dazu befragt werden. In diesen Statements findet es immer wieder Betonung, dass die gemeinsame Erfahrung mit der Erkrankung in vielen Lebenssituationen sehr hilfreich ist. Ein Standpunkt, der auch aus der therapeutischen Perspektive nachvollziehbar ist.

Fazit zum veränderten Umgang mit Pairing während der Entwöhnungstherapie:

 Ein nicht kleiner Teil der Rehabilitanden weist eine Biographie auf, in der die Gestaltung der Beziehung durch die Elternteile von zahleichen Defiziten und Ausfällen geprägt ist. Dennoch verfügen alle Menschen über Ressourcen, mit denen sie das Leben zumindest in Teilen auch erfolgreich gestalten konnten. Die Entwöhnungstherapie bietet eine Bühne für Ressourcen und Defizite gleichermaßen. Bezogen auf das Pairing bietet der offene Umgang die Chance, Ressourcen weiterzuentwickeln und bestehende Risiken identifizierbar zu machen. Zur Risikobewertung gehören unter vielen anderen folgende Aspekte:

  1. das Erkennen der „Verwandtschaft der Rauschzustände“,
  2. die Identifizierung der Wiederholung von Beziehungsmustern, die einen schädigenden Charakter haben,
  3. die Beziehung dient nicht allein der Rückfallprophylaxe und genügt auch nicht als solche,
  4. bei der Übernahme von Verantwortung für einander sollte die Dosis strikt beachtet werden und eine Unabhängigkeit der „Nachsorgesysteme“ bestehen, damit die Beziehung unter äußerem Druck nicht wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt. Im Endeffekt gelten dann Regeln, die wir Menschen ohnehin in der Gestaltung von Beziehungen konstruktiv an den Tag legen sollten – die einzuhalten uns bei näherer Betrachtung aber auch immer wieder schwer fällt.

Therapeuten haben im Rahmen dieser Prozesse einzuschätzen, ob die Paarbildung konstruktiv gestaltet wird oder ob destruktive Entwicklungen (zum Beispiel Gewaltaspekte) überwiegen. In letzteren Fällen muss dann auf therapeutischer Seite die Entschlossenheit bestehen, einzugreifen um Schäden für Rehabilitanden abzuwenden. Wie in der Vergangenheit kann es dann auch wieder zur Indikationsstellung für getrennte Therapieorte kommen, orientiert an dem Grundsatz: wir müssen die richtige Therapiemaßnahme für die richtigen Rehabilitanden finden!

Dr. Darius Chahmoradi Tabatabai, MBA

Chefarzt Hartmut-Spittler-Fachklinik , Berlin