Titelthema 5/18: Rapper SILLA: 4,9 Promille, klinisch tot, heute abstinent

Rapper Silla im Gespräch mit der TrokkenPresse:

4,9 Promille, klinisch tot – heute abstinent

Silla trat, wie in der letzten Ausgabe der TrokkenPresse berichtet, bei einer Podiumsdiskussion zum Thema Partydrogen auf. So öffentlich zu seiner Sucht und Suchtbewältigung stehend, hatte er 2016 schon seine Biographie herausgebracht: „Vom Alk zum Hulk“, in der er sein Leben von den Kindesbeinen an bis zum 32. Lebensjahr schonungslos offenlegt (siehe Lesehalle). Die TrokkenPresse wollte von ihm wissen, wie es danach weiterging und weitergehen wird mit dem Musiker, der einst Godsilla war.

Du hast in Deinem Buch „Vom Alk zum Hulk“ sehr öffentlich Rechenschaft über Dein Leben bis 2015 abgelegt. Weshalb?

Als ich da das erste Mal richtig lang abstinent war, 16 Monate, kam mein Platten-Label auf mich zu, sie hatten gute Kontakte zum Riva-Verlag. Das war für mich eine willkommene Sache, um aufzuzeigen, dass man es schaffen kann, dass es geht, auch wenn es ein ewiger Kampf ist. Viele Leute hatten mich angeschrieben, dass sie mich als so etwas wie ein Idol sehen und gefragt, wie ich es schaffe, trotz der Sucht meine Sachen auf die Reihe zu bekommen. Ich habe es ja ab und zu, Wochen, Monate … Ich bin ein Extremmensch, entweder Vollgas, Sport, korrekte Ernährung und einen durchstrukturierten Tagesablauf oder das komplette Abstürzen und zwei Wochen 1 Liter Schnaps trinken und alles dreht sich um den Konsum. Aber ich hatte immer wieder die Hoch-Zeiten und zeige, dass es doch geht. Und dass vor allem Strukturen nötig sind.

Dein Buch endet mit den Sätzen: „Ich bin bereit für den Kampf gegen mein Ich. Für das nächste Kapitel. Für einen neuen Anfang“. Wie sah der Neuanfang 2015 aus, nach der Klinik? Gab es noch mehr Anfänge seitdem?

Ich war acht Wochen in der Klinik. Der Grund war, dass ich eine große Trennung von einer Frau zu verschmerzen hatte. Da drinnen hatte ich meinen festen Tagesablauf, mich wieder super gefühlt, am Rande der Überheblichkeit: So, jetzt krempele ich mein Leben total um. Und dann hat es keine drei Wochen gedauert, bis ich meine Unzulänglichkeit begriff. Ich hatte in der Klinik noch mit der Frau Kontakt gehalten und dachte, versuch’ s noch mal. Aber sie hatte während der Zeit mit einem Neuen angebandelt. Das hat wieder meinen Selbstwert getroffen, so dass ich drei Wochen nach der Behandlung rückfällig wurde.

2016 bin ich mit dem Album vom „Alk zum Hulk“ auf Tournee gegangen, dann hatte ich auch das Buch fertig und meine jetzige Frau kennengelernt, von der ich mich allerdings jetzt wieder in der Scheidung befinde.

2016 war ein Superjahr, ich war abstinent bis auf zwei Tage.

Dann ging es wieder los, Probleme in der Ehe und wieder Alkohol als Stresslöser eingesetzt. Die Noch-Frau ist angehende Zahnärztin, sie meinte, die Sucht sei gar nicht mein Problem, Du hast eine Persönlichkeitsstörung, Du hast dies und Du hast das Problem. Wenn jemand so auf dich einspricht, dann beginnst du das zu glauben, du fängst an, darüber zu lesen und glaubst, du bist totalgestört.

Ich arbeite das aber gerade in der Therapie auf. Es sind Angststörungen, die ich habe und manchmal mangelndes Selbstbewusstsein, das Gefühl der Ablehnung und Konfrontation, diese vier Bereich sind Gründe, warum ich zum Stoff greife. Es ist natürlich nicht leicht, mit mir in Rückfallphasen mit mir umzugehen, weil ich nur an den Stoff denke, ich werde dann nicht gewalttätig oder so, ich bin dann in meiner Welt und versuche alles, um mir den Stoff zu besorgen. Drei, vier, vierzehn, mitunter fünfzehn Tage ging das so. Dann fing die Frau an, mir das Portemonnaie wegzunehmen … da bin ich in den Supermarkt und habe direkt aus dem Regal getrunken, einfach weil ich die Erleichterung brauchte in dem Moment. Ich erschrecke mich, wenn ich daran denke, wie schlimm das ist. Wenn man die Leute vor dem Supermarkt sitzen sieht, dann denkt man, der soziale Abstieg ist noch weit weg, aber ich weiß, wenn du den letzten Halt verloren hast, dann sitzt du mit ihnen da, das ist abschreckend, soweit darf’s nicht kommen.

Nach Deinen Rückfällen, hast Du Dir Hilfe geholt?

Nach der Klinik habe ich ganz normal die Nachsorge gemacht, bei der Caritas. Das war super. 2016 habe ich aufgehört, ich dachte, das brauch ich nicht mehr, jetzt bin ich auf einem guten Weg.

2017, nach meinen Rückfällen mit der Trennung, habe ich mit Verhaltenstherapie begonnen, um das Ganze aufzuarbeiten und mir Wege aufzeigen zu lassen, um endlich mal zum Kern vorzudringen. Das alles mit jemanden aufzuarbeiten und da richtig hineinzugehen, wo es weh tut … Das ist sehr anstrengend. Aber man muss es machen. Zum Beispiel Tagesabläufe, die Woche aufschreiben, was man gemacht hat, von A-Z, mit Verhaltensbarometer, wie war meine Anspannung, wie war mein Suchtdruck. Daran kann man sehen, was tut mir nicht gut, was tut mir gut. Wie sollte ich meinen Alltag gestalten, was ist schlecht, was muss passieren, damit ich Suchtdruck bekomme, wie kann ich diesen Situationen begegnen, das ist harte Arbeit an sich selbst. Es reicht nicht, zu sagen, „So, jetzt trinke ich einfach nicht“. Irgendwann wird es wieder ein Ereignis geben, bei dem der Alkohol der einzige Ausweg zu sein scheint.

Die Therapeutin hat gesagt, „Geh in Selbsthilfegruppen, ich will, dass da einmal die Woche steht: Selbsthilfegruppe.“ Ich war bei den NAs, da habe ich einen Schlüsselanhänger, da steht „Nur heute“ drauf, finde ich cool. Das klingt nicht so unrealistische wie „niemals“. Zu den NAs gehe ich jetzt regelmäßig, muss mich aber jetzt durchringen, weil jetzt wieder alles super läuft, die Karriere geht nach vorne, super Beziehung, alles wieder im Lot. Keinen sozialen Abstieg erfahren in den letzten Jahren, alles, was brach lag, wo ich dachte: So, das war’s, hat sich eingerenkt. Bei den NAs habe ich gehört, der sagte: „Wenn es einem schlecht geht, soll man in die Gruppe gehen und wenn es einem richtig gut geht, dann soll man in die Gruppe rennen.“

Wiederbelebung 2009 mit 5 Promille und „36 Stunden im Krankenhaus“ – wie ging es danach weiter?

Man wird komisch behandelt, die Ärzte schienen mir da überheblich, wahrscheinlich, weil sie denken, der ist bald wieder da. Sie haben auch gesagt, „Such dir Hilfe“, aber die haben mir nicht geholfen, mich zu vermitteln. Ich wollte das auch nicht, glaube ich, ich wollte dann auch gehen.

Du schilderst im Buch Deine Versuche mit Baclofen …

Im Ameisen-Buch steht ja, „Ich wurde geheilt“, das fand ich interessant. Im Nachgang weiß ich, dass es keine Heilung gibt, aber er hat sich ja mit einer hohen Dosis täglich zugeballert. Ich habe es mir von meiner Hausärztin verschreiben lassen. Ich habe die 16 Monate, meine längste Abstinenzzeit, morgens, wie das Zähneputzen, eine Tablette genommen und bin super in den Tag gestartet. Für mich war das ein kleines Hilfsmittel, mir ist aber auch klar geworden, dass ich ein Mittel durch das andere ersetze, aber immer noch besser als laufend Abstürze zu haben, so bin ich keine Gefahr für die Gesellschaft. Aber gehe dem eigentlichen Problem nicht auf den Grund. Ich nehme es aber trotzdem noch manchmal, wenn der Suchtdruck da ist, dreimal 25 mg, dann werde ich ruhiger.

Cannabis: Es scheint im Buch, dass seit der 7. Klasse fast durchgängig gekifft wird, bei Alkohol aber größere Trinkpausen eingelegt werden können, Du aber Alkohol als Dein Hauptproblem siehst.

Gekifft habe ich eigentlich täglich, um etwas auszugleichen oder um zu denken; das fördert meine Kreativität, auch um diese Leere zu füllen, die manchmal in mir herrscht. Man taucht in seine Welt ab und hat mit seiner Umwelt nicht mehr so viel zu tun. Ich bin manchmal auch für ein halbes Jahr abstinent, wenn ich merke, dass es nicht mehr so läuft. Das Suchtverlangen ist ganz stark ausgeprägt, zum Glück nur bei diesen beiden Stoffen, andere Drogen haben mich nie interessiert. Habe aber alles mal ausprobiert, bis auf die ganz schlimmen Sachen.

Aber Du strebst eine Abstinenz von Alkohol und Cannabis an?

Ja, weil ich fühle, weiß, sehe, bemerke, dass das die geilste Zeit meines Lebens ist, wenn ich nichts nehme. In dem Moment erscheint es nicht immer so, man muss die schlechten Gefühle und Probleme aushalten, aber man löst sie dann auch richtig gut. Es mag einem im Moment nicht so scheinen, dass es gut ist, aber wenn man zurückblickt: Vor einem Jahr, das hast Du ausgehalten …, dann fühlt man sich cool. Ich habe Eckart Tolle gelesen, „Die Kraft der Gegenwart“, das ist schwierig umzusetzen. In der Klinik hat mir eine Therapeutin abgeraten, ich wäre dann wieder fremdgesteuert, ich solle auf mich schauen, was ich will, irgendwie hat sie recht. Aber man sucht sich Stützen, wo man ansetzen kann.

Du bist jetzt trocken und clean. Wie arbeitest Du nun, besser oder schlechter?

Viel besser! Alles, was ich früher unter Alkohol gemacht habe, ist viel schlechter, auch wenn es Glücksfälle gab.

Du würdest nicht sagen, durch Suff und Drogen wird man kreativer?

Das reden sich die nur Leute ein, um die Sucht zu entschuldigen, um konsumieren zu können, glaube ich. Ich habe die besten Ideen, wenn ich clean bin, wenn ich sportlich unterwegs bin. Wenn ich trinke, sitze ich zuhause vor meinem PC und finde mich bemitleidenswert. Einen schlechten Tag hat ja jeder, aber das akzeptiere ich dann auch und harre aus und weiß, morgen ist dann wieder ein besserer Tag und gehe meinen Aktivitäten nach. Ich lass mich nicht mehr aus der Bahn schmeißen, denn ich weiß, ein schlechter Tag gehört dazu.

Du hast früh mit Kiffen und Trinken begonnen, erster Vollrausch mit 15. Sollte sich der Staat mehr für den Jugendschutz interessieren?

Jugendschutz ist sehr wichtig. Ich bin der Meinung, dass man alles Alkoholische erst ab 18 kaufen können darf. Dann ist man erwachsen, dann ist man Herr seiner Sinne. Mit 15-16 kann man noch nicht abwägen, was ist richtig, was ist falsch. Ich finde es gut wie in den USA, dass Alkohol erst ab 21 erlaubt ist und es auch Strafen gibt, wenn das missachtet wird. Das ist verantwortungsvoller. Im Bundestag wird gerade über Tattoos debattiert, dass man eine Frist einhalten muss, weil es ein Leben lang bleibt. Aber an einem Tattoo ist noch keiner gestorben, an Alkohol schon, man sollte schauen, dass man in dem Bereich mehr macht.

Wie wird in der Rapper-Szene auf Deine Abstinenz reagiert?

Ich war früher sehr erfolgreich, goldene Platten, vor 20.000 Leuten auf Festivals aufgetreten, das war die Phase, als ich vorher noch eine Flasche Whisky getrunken habe und dann ab auf die Bühne und Halligalli. Jetzt erzähle ich, dass ich den Sport entdeckt habe, das Album „Vom Alk zum Hulk“ war eher sportorientiert, hat auch seine Hörer gefunden, war Platz fünf der Charts. Aber kein Vergleich mit den Verkäufen von früher. Das gibt mir schon zu denken. Die Leute wollen hören: Alles Scheiße, ich geb‘ mir die Kante, man lebt nur einmal. Das ist das Rebellische im Pop, dieses Aufbegehren. Aber es gibt einen festen Kern von Leuten, die mir jeden Tag schreiben und mir die Bestätigung geben, so weiterzumachen. Wenn ich mehr Erfolg hätte, wenn ich das verherrliche, wäre das nicht echt, das ist nicht meine Geschichte. Mir haben Plattenfirmen gesagt, mach das wie früher, die Leute wollen den kaputten Silla haben. Das ist ein Teufelsgeschäft. Das kann ich nicht mehr mit mir vereinbaren, so bin ich glücklicher, auch wenn es eine Null weniger auf dem Konto ist. Ist mir lieber, als zu versacken, da bleibe ich meinen Idealen treu und die bedeuten, clean zu sein.

Ist Sport Deine Ersatzdroge oder eher ein Hilfsmittel bei der Alkohol-Suchtbewältigung?

Hilfsmittel, um trocken zu bleiben. Das ist Struktur. Als ich angefangen habe, nach meiner Wiederbelebung 2009, da stand ich um 6 Uhr auf der Matte, Haferflocken, Ernährungsplan, Training. Während die anderen noch schlafen, gehe ich meinen Träumen nach und muss alles aufholen, was ich bisher versäumt hatte. Es gibt mir eine Struktur, dass ich durchhalte, das gibt mir einen Sinn, du hast jetzt trainiert, dann musst du richtig essen, darfst keinesfalls Schnaps trinken, denn dann sind die Trainingsergebnisse futsch und du willst ja was erreichen. Man setzt sich so kleine Etappenziele. Der Sport gibt mir einen langen Atem, um dranzubleiben. Es dreht sich nicht alles um die Sucht, ich denke nicht jeden Tag nur daran, es ist aber ein omnipräsentes Ding, gerade in der heutigen Zeit, gerade in der Szene, man wird schon damit konfrontiert und man fühlt sich dann echt krank und komisch. Du bist auf dem Straßenfest, da steht dann heute: „Zwei Bier für einen Preis“, da steht ja nie: „Heute gesunder Tee im Angebot“.

Viele Leute haben kein Problem, die trinken und können damit aufhören, zumindest sieht es so aus. Man liest es und man denkt „Das darfst du auf keinen Fall!“ Man fühlt sich so krank und steht am Rande, wenn die anderen wieder können und machen. Um meine Linie zu finden, habe ich den Sport und lasse die anderen saufen.

Was war der Grund für Deine Teilnahme an der Podiumsdiskussion „Partydrogen …“ Warum gehst Du mit Deiner Suchtkrankheit so in die Öffentlichkeit; wen oder was willst Du erreichen?

Ich weiß, ich kann da mitreden. Ich bin ein bisschen stolz, dass ich so offen darüber reden und anderen helfen kann. Ich habe schon das Gefühl, dass ich da eine Vorbildfunktion habe. Vielleicht ist es auch ein bisschen sowas wie ein kleines Geltungsbedürfnis, vielleicht werden meine Wünsche nach Akzeptanz so erfüllt. Vielleicht kann ich der Welt so etwas mitgeben, denn außer durch meine Musik habe ich nicht das Gefühl, dass ich etwas Großes zu dieser Welt beigetragen habe. Ich habe die drei Stützen, den Sport, die erfolgreiche Musik und das öffentliche Reden über meine Sucht. Egal, wie ungemütlich die Frage ist, ich antworte ehrlich, sonst hilft man keinem. Warum wird Sucht nicht in der Schule thematisiert? Es wäre eine sinnvolle Präventivmaßnahme.

Was planst du in nächster Zeit? Musikalisch, sportlich und im Hinblick auf Deine Sucht?

Ich überlege, ob ich Seminare auf Sucht bezogen anbiete. Und meine neue Freundin und ich haben vor, in den nächsten Jahren nach Österreich zu gehen, Kinder zu kriegen, ein schönes Häuschen zu errichten, weg vom Großstadttrubel. Ich liebe Berlin über alles, ich werde hier immer eine Wohnung behalten, aber es ist mir oft zu stressig, gerade beim Fahrradfahren. Ich brauche viel Ruhe, um richtig agieren zu können, Stress und Chaos sind keine guten Wegbegleiter. Ich werde dann meiner Musik nachgehen, ein eigenes Plattenlabel gründen, wo ich Künstler unter Vertrag nehme. Einfach abstinent bleiben, dann öffnen sich Türen.

Aber ich sage auch immer, wenn man etwas plant, dann fällt das Schicksal lachend vom Stuhl, weil dann etwas passiert und alles anders kommt …

Das Gespräch führte Torsten Hübler

Titelthema 4/18: Trockenbleiben mit Sport?

Ob Laufen, Schwimmen, Wandern & Co:

Kann Sport tatsächlich „trocken halten“?

„Ja, ja, ja!“, werden einige von Ihnen, liebe Leser/innen, sofort begeistert rufen. Andere haben vielleicht mit körperlicher Betätigung noch nie viel im Sinn gehabt, weshalb also jetzt? Und wiederum einige unter Ihnen wissen, dass etwas mehr Bewegung gut täte, können sich aber selten überwinden. Und manchen hält vielleicht auch eine Krankheit davon ab.

Was auch immer Sie jetzt gerade über Sport denken – wir wollen versuchen, die obige Frage zu beantworten. Dazu gibt es so einige Theorien, Erfahrungen und Studien, sogar Hamster spielen eine Rolle …

„Kurze Pause, alle Paddel raus!“, tönt es vom Trainer hinten am Steuerruder.

Drachenboottraining in Berlin-Grünau. Der Klärwerk e.V. bereitet sich auf den Cup des Anti-Drogen-Vereins vor. Wir 12 Paddler keuchen bereits, nach 1000 nassen Metern über die Dahme. Schweiß mischt sich mit Flusswasser. Sonne glitzert auf den Wellen. Pause also. Atem schöpfen.

Wortfetzchen von hinten landen an meinem Ohr: „ … meine Bandscheiben … morgen Physiotherapie … ja, mein Knie auch …“ Hut ab, dass jemand trotz Beschwerden mittrainiert. Ich drehe mich mitfühlend um. Sofort kommt mir die Frage entgegen: „Und was hast Du so für Krankheiten?“

Oh. Ähm … ja stimmt. Arthrose in den Knie-und Ellenbogengelenken, kann ich also mitreden, aber dass ich davon nur noch wenig merke, seitdem ich regelmäßig Sport treibe.

Ich weiß auch, dass weiter vorn im Boot jemand sitzt, der chronische Kniebeschwerden hat. Eine Frau mit einer Halswirbelverschraubung auch. Aber jeder paddelt mit, so gut er eben kann. Weshalb?

Die Glücksgefühle, ja regelrechten Hochgefühle, die unser Auspowern mit sich bringt – noch verstärkt durch das Gemeinschaftsgefühl in einem Boot – , sind stärker und wichtiger als alle Zipperleins. Wir fühlen uns so lebendig auf dem Wasser und nach dem Training! Suchtdruck und Sehnsucht nach Bier? Keine Chance. Dafür eine Chance, alte Trinkmuster zu überschreiben, denn wir erleben: Ja, es geht, ohne Alk glücklich zu sein! „Mir geht’s jetzt so gut!“, „War das geil!“, Ich freu mich schon so aufs nächste Mal!“

Wenn wir ehrlich sind, haben doch die meisten von uns in ihrer Trinkzeit, in der nichts wichtiger war als der Alk, auch den Körper vernachlässigt. Arme, Beine, Muskeln, Sehnen, Knochen? Egal. Mir selbst ja auch. Vor meiner Entwöhnung vor fünf Jahren habe ich minutenlang gebraucht, um von der Bettkante aufstehen zu können, Arthritisknie, Gicht, Rücken. Mit erst 50! Aber das war mir damals egal. Hauptsache, ich schaffe es bis zum einzig wichtigen Regal im Supermarkt, irgendwie.

Sport? Na, wie denn …

Eben deshalb vielleicht ist es so schwer, unseren Körper wieder wahrnehmen zu müssen, ohne Betäubungsmittel und Fluchthelfer Alkohol. Mit allen Zipperleins. Er hat ja schwer gelitten.

Aber er ist nun mal unser Zuhause. Wollen wir uns Zuhause wohlfühlen? Wir könnten es wieder erlernen. Sich irgendwann wieder wohlzufühlen im eigenen Körper kann nämlich ebenso das Rückfallrisiko senken wie der Glückshormonausstoß beim körperlichen Betätigen:

Was Hamster uns beweisen

Sport kann in der Suchttherapie als eine Art natürliche und gesunde „Ersatzdroge“ wirken. US-Wissenschaftler J. David Glass belegte das in seiner Studie (2010). Er untersuchte das Verhalten von Hamstern, die sich – freiwillig – in einem sogenannten Hamsterrad bewegen konnten und Zugang zu Wasser mit Alkohol hatten, ohne dass sie gezwungen wurden, dieses zu trinken. Je mehr die Hamster liefen, desto geringer war ihr Alkoholkonsum. Die „fauleren“ Hamster hatten ein größeres Verlangen nach Alkohol und tranken mehr. „Das zeigt, dass körperliche Betätigung eine effektive, nützliche und nicht-medikamentöse Behandlungsmethode für Alkoholismus sein könnte”, schlussfolgerte Glass.

„Alkoholkonsum und freiwillige körperliche Betätigung scheinen zwei Verhaltensweisen zu sein, die von Natur aus belohnend sind”, sagt Alan M. Rosenwasser, Professor für Psychologie an der US-University of Maine. „Die belohnenden Effekte dieser beiden Verhaltensweisen könnten teilweise austauschbar sein. Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass die beiden Verhaltensweisen von überlappenden Systemen im Gehirn reguliert werden.”

Ein chinesisches Forschungsteam hat einmal alle verfügbaren Einzelstudien zu diesem Thema zusammenfassend analysiert. Das Ergebnis: Entzugsbehandlungen, die körperliche Aktivität beinhalten, erzielten höhere Abstinenzquoten und reduzierten die Entzugssymptomatik stärker als Behandlungen ohne körperliche Aktivität. Neben typischen Ausdauersportarten wurden auch fernöstliche „Mind & Body“-Aktivitäten wie Tai-Chi, Yoga oder Qigong untersucht. Sie verbessern die Abstinenzrate ähnlich wie klassischer Ausdauersport.

Und noch eine Studie: Dass Alkoholismus nicht nur die Leber, sondern auch Teile des Gehirns –besonders Nervenfasern –schädigen kann, ist bekannt. Sind auch diese neuronalen Schädigungen zumindest teilweise reparabel?, wollten US-Forscher wissen. Eine experimentelle Studie mit 60 Probanden ergab: Ja. Regelmäßige sportliche Betätigung kann solche Beeinträchtigungen verhindern oder gar reparieren (Alcoholism: Clinical & Experimental Research).

Kein Wunder also, dass Sport zu den Reha-Therapiestandards der Deutschen Rentenversicherung in den Entwöhnungskliniken gehört: Als Bewegungstherapie, Physiotherapie, Individualsport, Mannschaftssport.

Sport als Rückfallprophylaxe?

 Vielleicht erinnern Sie sich noch an Ihre ersten Bewegungsversuche in der Entwöhnungsklinik? Mit Spaß hatte das meist noch nichts zu tun, oder? Und dann dieser erste Muskelkater. Und dann doch wieder zum Kreistraining müssen, zum Schwimmen oder Ballspielen …

Wie neuropsychologische Untersuchungen an Alkoholkranken ergaben, ist die Gang-und Standbalance auch vier Wochen nach dem Entzug noch beeinträchtigt! Umso wichtiger, diese Anstrengungen durchzuhalten. Außerdem gibt dies am Ende auch Selbstvertrauen: Ich kann das ja doch! Ich kann mich wirklich durchkämpfen! Ich kann meinen inneren Schweinehund überwinden und etwas schaffen!

Dieserart erlebte Erfahrungen sind für den Einzelnen dann – ob bewusst oder unbewusst – auch übertragbar auf andere Lebensbereiche. Schwierigkeiten und emotionale Krisen können anders bewältigt werden.

Hinzu kommt, dass die gestörte Endorphin-Produktion nach einem Entzug durch körperliche Betätigung wieder angekurbelt wird. Nach den ersten vielleicht noch freudlosen Übungsstrecken setzt irgendwann wirklich Wohlgefühl ein beim Training. Es kann Freude bereiten, glücklich machen. Wer glücklich sein kann ohne Alk – ist weniger rückfallgefährdet …

Rolf Schneider formuliert es so in seiner Suchtfibel (14. Aufl., S. 339): „Sport in der Therapie dient also keineswegs der ,Beschäftigung‘, ,Ablenkung‘ oder Unterhaltung der Rehabilitanden und auch nicht nur der körperlichen Ertüchtigung, um fit für das Erwerbsleben und die Alltagsbewältigung zu sein, sondern ist ein spezielles Modul der Suchtbehandlung, das rückfallpräventiv darauf abzielt, das eigene Befinden und die Stimmungslage ohne psychotrope Substanzen befriedigend steuern zu können. Wenn das gelingt, ist ein großer Schritt von der Abhängigkeit zur Selbststeuerung getan.“

Sport als neues Freizeit-Hobby

Was fange ich nun, nach der Therapie, in meiner Freizeit an? Wenn die alten Kumpels im Biergarten sitzen oder Partys feiern?

Der Chefarzt der Hartmut-Spittler-Fachklinik Berlin, Dr. Darius Tabatabai, erklärt auf der Webseite der Klinik, dass es den meisten Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung schwer falle, sich ein Leben ohne Alkohol oder andere Suchtstoffe vorzustellen: „Zu Genesung und Aufbau einer stabilen seelischen Gesundheit muss die Gestaltung von Freizeit oftmals wieder erlernt werden. Dabei ist ein sportliches Miteinander ein gutes Training, seinen Teamgeist wieder zu entdecken und körperlich fit zu werden für den Alltag. Wir bieten während der Therapie an, verschiedene Formen der Freizeitgestaltung auszuprobieren.“ Neben Volleyball werden zum Beispiel auch Fußball und Schwimmen angeboten. Mit der Möglichkeit, auch nach der Therapie weiter daran teilzunehmen.

Das ist auch so eine zentrale Frage: Wo kann ich denn überhaupt in einem trockenen Umfeld Sport treiben?

Natürlich kann jeder alleine für sich joggen gehen, daheim auf dem Ergometer trainieren oder seine Bahnen in der Schwimmhalle ziehen. Aber wer Spaß im Team sucht, braucht ja denn auch tatsächlich eins.

Ein tolles Beispiel ist der Drogenliga e.V. in Berlin. Eine Suchtselbsthilfegemeinschaft, die 1980 von Betroffenen für Betroffene gegründet wurde. Fußball und Volleyball werden gemeinsam trainiert.

Ein anderes Beispiel in Bochum: Innerhalb des neuen Projektes „Sucht-Selbsthilfe geht neue Wege“ des Blauen Kreuzes in Deutschland gibt es das Sportcafé „Ziemlich gute Freunde“ Hier treffen sich Suchtkranke, Angehörige und Freunde, um gemeinsam Sport zu treiben. Ob Hallenfußball, Badminton und Tischtennis, es gilt für alle: Kein Alkohol, keine Drogen! Man kommt miteinander ins Gespräch, lernt andere Menschen kennen. Ein Teilnehmer berichtet: „Vor einem Jahr habe ich aufgehört, Alkohol zu trinken. Sich freitags mit anderen auszupowern und den Stress der Woche hinter sich zu lassen, tut richtig gut. Und das ohne Alkohol!“

Ein weiteres Beispiel ist der Elefanten-Cup in Berlin, den der Anti-Drogen-Verein e.V. jährlich organisiert (s.S. X). 30 Mannschaften aus verschiedenen Suchtvereinen und Suchthilfeeinrichtungen genießen dieses Drachenboot-Event jedes Jahr alkohol-und drogenfrei – und trainieren oft schon Wochen vorher dafür gemeinsam.

Vielleicht gibt es ja auch in Ihrer Region ähnliche Angebote? Auf der Suche danach können Ihnen die jeweiligen Landesstellen für Suchtfragen und die regionalen Selbsthilfe-Kontaktstellen weiterhelfen.

Eine Alternative könnte auch sein, dass Sie den Treff Ihrer Selbsthilfegruppe nach draußen verlegen und gemeinsam um den nächsten See wandern. Oder Sie gründen selbst eine Gruppe für „Trocken-Sport“?

 

Übrigens: „Vom Alk zum Hulk“. In der nächsten Ausgabe möchten wir unser Thema gerne fortsetzen. Wir planen ein Interview mit dem Rapper-Star Silla, der in seinem Buch mit anfangs genanntem Titel seine persönlichen Erfahrungen beschreibt.

Anja Wilhelm

 

Adressen:

www.drogenliga.de

www.anti-drogen-verein.de

www.facebook.com/ziemlichgutefreunde

 

 

Titelthema 3/18: Die Tücken der Sucht

Neue Serie:

Die Tücken der Sucht

Von Winfried Lintzen

Suchttherapeut der PBAM Berlin-Schöneberg

Viele Abhängige finden den Weg zur Abstinenz, bevor viel im Leben zu Bruch geht, nur wenige bringt die Sucht ins Heim oder ins Grab. Doch jeder Rückfall kann für das Gelingen des Lebens gefährlich werden. Je weniger Rückfälle, desto besser. Deshalb lohnt es sich, die Tücken der Sucht zu kennen.

(1) Sucht ist ein bösartiges Gewächs im Kopf

Hirn wächst: Die Zellen vernetzen sich und das Netz wird umso stärker, je öfter sich etwas wiederholt und je heftiger es mit Gefühlen einhergeht.

Wird über lange Zeit regelmäßig ein Suchtmittel konsumiert, entsteht ein Nervenzellnetzwerk, in dem alles gespeichert ist, was mit dem Konsum zu tun hat: wieviel und wie oft konsumiert wurde; wie der Konsum wirkt und was man damit anfangen kann; wie man vor sich selbst das nötige Lügen und Verheimlichen rechtfertigt usw. – Sobald es durch einen Auslösereiz aktiviert wird, sorgt das Verhalten komplett für sich selbst, es findet den Weg zu seinem Ziel buchstäblich „wie im Schlaf“, sogar dann, wenn die Betroffenen es gar nicht mehr wollen. Es ist wie das Gängeschalten im Auto, das ebenso „instinktiv“ und nebenbei abläuft und keine bewusste Steuerung mehr braucht.

Je stärker das Suchtnetzwerk ist, desto öfter setzt es sich gegen alles durch, was im Leben wichtig ist. Langsam aber sicher wird das ganze Leben der Sucht untergeordnet, gnadenlos: die Interessen, der Beruf, die Familie, die Gesundheit, das Leben. – Stoppen kann diesen Prozess nur die Abstinenz.

(2) Sucht stellt sich tot

Nervenzellnetzwerke werden nicht abgebaut, selbst wenn sie jahrelang nicht mehr aktiviert werden. Bekannt ist dieser Effekt vom Radfahren, auch das kann man nicht mehr verlernen. – Abhängige, die die Abstinenz beenden, müssen damit rechnen, dass ihnen früher oder später der Konsum wieder entgleist.

Bei manchen stellt sich bereits nach kurzer Zeit das alte Konsumverhalten wieder her. Andere jubeln, wenn sie es schaffen, mehrmals zu konsumieren, ohne das frühere Verlangen zu spüren. Das ermutigt sie, wieder öfter zu konsumieren. Manchmal muss es dann erst zur Katastrophe kommen, bevor sie zur Abstinenz zurückkehren: Jemand hatte nach einem Jahr Abstinenz mehrmals bloß ein Bier getrunken, ohne weiteres Verlangen. Doch dann waren es plötzlich einmal vier, und er kam auf die Idee, mit dem Wagen noch schnell was zu erledigen. Auf dem Rückweg rammte er mehrere parkende Autos. Mit dem Führerschein musste er auch seinen Garten abgeben, seine größte Quelle von Erholung und Freude, denn der Garten lag an einem idyllischen kleinen See, weit ab von Bussen und Bahnen, er konnte ihn nur mit dem Auto erreichen. Dabei hatte er noch Glück gehabt, keinen Radfahrer erwischt zu haben …

Manchmal stellt sich auch ein völlig anderes problematisches Konsummuster ein: Manche Abhängige, die überwiegend täglich konsumiert haben, entwickeln einen episodischen Konsum (bekannt als „Quartalstrinken“): Sie konsumieren dann zwar nur alle paar Wochen mehrere Tage, dafür aber exzessiv. Die Betroffenen halten das für einen Fortschritt – aber ihr Gehirn nicht, ihre Angehörigen auch nicht, oft auch nicht ihr Arbeitgeber und manchmal nicht mal die Polizei …

Generell gilt: Die Sucht hat den längeren Atem. Angenommen, jemand entscheidet sich mit 35 für die Abstinenz, lebt 15 Jahre rückfallfrei, beginnt mit 50 wieder mit dem Konsum und schafft es tatsächlich, zwei Jahre so zu konsumieren, dass nichts zu Bruch geht. Dann sagen alle: „Der kann wieder kontrolliert trinken!“ – Gut, aber wie lange? Er ist erst 52! – Die Sucht grinst. – Was ist, wenn er mit 54 wegen Alkohols am Steuer seinen Führerschein verliert, an dem der Arbeitsplatz hängt? Mit 54 arbeitslos – na Klasse! – Und wie sieht es dann mit der Motivation zur Abstinenz aus, wenn es eh egal ist, ob er trinkt oder nicht? – Abgesehen davon: Was heißt es schon, wenn über zwei Jahre „nichts zu Bruch geht“? Auch ohne dass die Ehefrau oder der Arbeitgeber sich trennen, kann man sich auf Dauer um Kopf und Kragen konsumieren. Mit 60 einen Schlaganfall zu haben ist auch nicht so toll … – Sucht ist tückisch. Sucht hat Zeit. Sucht grinst …

Die Sucht ist ein Monster, das mit jeder Futtergabe wächst, und es kann selbst nach Jahren des Aushungerns seine alte Stärke wieder herstellen, sobald es wieder Futter kriegt – denn es hungert nicht, es schläft einfach ein, wenn es nicht mehr gefüttert wird, es kann nicht auszehren und nicht schrumpfen …

(3) Sucht drängt sich vor

Unser Gehirn belohnt gutes Verhalten mit guten Gefühlen: ein sinnvolles Werk verrichten, etwas Gutes essen, mit netten Menschen zusammen sein, tanzen, lieben, Erfolg haben, Musik hören usw. Unser Gehirn „macht“ die guten Gefühle: Gefühle sind neuronale Stoffwechselzustände, also Biochemie. Und das birgt die Möglichkeit, der Chemie etwas nachzuhelfen und die gewünschten „Stoffwechselzustände“ durch Zufuhr einer chemischen Substanz herzustellen, statt durch das Tun des Richtigen. Nutzen wir diese Eselsbrücke lange genug, ziehen wir sie irgendwann allen anderen Wegen zum Glück vor, der Suchtmittelkonsum nimmt dann selbst den attraktivsten Aktivitäten „den Wind aus den Segeln“: Jemand malt in seiner Freizeit und hat viele tolle Ideen, die er unbedingt realisieren will. Aber immer, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt, sagte er sich: „Ach, erstmal einen Wein!“ – Auf Dauer spürt er immer seltener die Energie, die er fürs Malen braucht. Er findet das zwar nicht toll, aber zunächst auch nicht besonders schlimm, denn er sagt sich: „Die Bilder laufen schon nicht weg!“ Nur fällt ihm irgendwann auf, dass er regelmäßig den Wein demjenigen vorzieht, was ihm wirklich am Herzen liegt. Er wundert sich und denkt: „Das kann doch nicht sein!“ Er geht ein paar Mal bewusster mit dem Alkohol um. Aber nach ein paar Wochen muss er feststellen: Tatsächlich, egal, wie wichtig und faszinierend das Malen für ihn ist: den Suff zieht er vor!

Sucht ist ein autonomer Wille, der sich völlig ablösen kann von dem, was ein Mensch eigentlich will, wertvoll findet und anstrebt. Die Sucht behält ihre Macht selbst dann, wenn der Betroffene das, womit sie ihn belohnt, gar nicht mehr mag. Viele Abhängige sagen nach einem Rückfall: „Ich weiß doch, dass es nicht mehr so toll wird wie früher – verflixt nochmal, wie war das möglich, dass ich es trotzdem wieder gemacht und dabei so viel riskiert habe?“

(4) Sucht unterläuft Einsicht und Vorsatz

Die Fähigkeit, uns auf eine Sache zu konzentrieren, besteht darin, alles zu blockieren, was die Konzentration stört. Wenn wir bei der Flucht vor dem Tiger an den Ärger mit dem Chef denken würden, hätte der Tiger es leicht. Es ist immer nur ein Nervenzellnetzwerk voll aktiv, und es wird aktiviert, indem es die anderen Nervenzellnetzwerke runterfährt. Diesen Effekt der „reziproken Hemmung“ kennt jeder: Manchmal ist ein Film oder ein Fußballspiel so spannend, dass man gar nicht mehr merkt, wie stark eigentlich die Blase drückt.

Je attraktiver eine Vorstellung ist, desto heftiger hemmt sie alle anderen Vorstellungen, wir denken  immer stärker nur noch an sie. Und je stärker wir an sie denken, desto weniger fragen wir uns, ob wir wirklich so stark an sie denken wollen. Doch selbst, wenn wir uns das fragen würden, hätten wir keine Lust, uns die Frage zu beantworten und es fiele uns schwer, uns überhaupt darauf zu konzentrieren.

Das Tückische des Prinzips der reziproken Hemmung besteht darin, dass sie auch das Bewusstsein hemmt, dass gerade etwas gehemmt worden ist, wir kriegen das nicht mit, im Bewusstseinsstrom erleben wir keinen Bruch. – Wird das Verlangen geweckt, blockiert es den Kontakt zur Lebenserfahrung, zur Einsicht, zu Vorsätzen und Vorhaben. Die Betroffenen denken nicht mehr an die Gründe für die Abstinenz, und wenn, dann ist es so anstrengend wie mit dem Rad steil bergauf zu fahren, während alle anderen Wege bergab gehen. Es blitzen automatisch Gedanken auf, die die Abstinenz in Zweifel ziehen: ob man die Abstinenz denn wirklich so konsequent durchhalten muss – ob man nicht mal eine kleine Ausnahme machen kann – dass es doch gehen müsste, wenn man sich ganz stark vornimmt, nur wenig zu konsumieren – gegen so ein bisschen kann doch keiner was haben … – Das Aufblitzen genügt, um die Erlaubnis zu erteilen, die Weiche in Richtung Konsum zu stellen und Einsicht und Vorsatz zu hemmen, es ist aber gleichzeitig so kurz, dass die Einsicht kaum eine Chance hat, dazu Stellung zu nehmen, bevor sie gehemmt wird. So schafft es die Sucht, den Willen zu unterlaufen. – Die Betroffenen stehen hinterher verwundert da und berichten, die Argumente für das Durchhalten der Abstinenz seien wie weggewesen, wie bei einem Black-out.

Abstinenzfähigkeit erfordert, zu trainieren, die unwillkürlichen Zweifel an der Abstinenz bewusster wahrzunehmen und darauf mit einem „Stopp, was mach ich hier gerade!“ zu reagieren.

Selbst Menschen, die seit Jahren abstinent leben, die die Tricks der Sucht kennen, die ihren Frieden mit dem Abschied vom Suchtmittel gefunden und eine attraktive Vision entwickelt haben für die Nutzung der durch die Abstinenz entbundenen Potentiale – selbst die können noch von der Sucht ausgetrickst werden. Aufgrund ihrer Erfahrung und Willensbildung müssten sie eigentlich Eins und Eins zusammenzählen: „Wie komme ich darauf, dass ich jetzt schaffen könnte, was ich trotz so vieler Versuche nie mehr geschafft habe? – Und wozu überhaupt so ein Risiko eingehen?“ – Wir Menschen können uns an solchen Fragen vorbeistehlen. Wie ist das möglich? Kann man sich einfach sagen: „Ich weiß zwar, dass es Irrsinn wäre, aber das interessiert mich jetzt nicht“? Nein, das kann man nicht, jedenfalls nicht so einfach. Sich an der eigenen Lebenserfahrung vorbeizustehlen geht etwa so: „Wenn du so ein gutes Gefühl hast, es schaffen zu können, dann zermartere dir doch nicht das Hirn mit deinem Scheiß-Wissen! Folg doch einfach mal deinem Gefühl! Außerdem: Du hast dich in der Zeit der Abstinenz doch bestimmt weiterentwickelt, vielleicht kannst du es dadurch wieder besser kontrollieren!“ – Das Verlangen nach Alkohol führt zu dem Gefühl, es diesmal schaffen zu können, so zu trinken, dass nichts zu Bruch geht. Dieses Gefühl führt dazu, die Abstinenzbeendigung als „mutig“ zu bewerten und jeden Einspruch als altkluge Bedenkenträgerei. Und für „Rückendeckung“ sorgt die Spekulation, dass die Weiterentwicklung in der Abstinenz vielleicht die Kontrollfähigkeit verbessert habe. – So verschafft Sucht eine Erlaubnis, die Erlaubnis zur Abstinenzbeendigung nicht in Frage zu stellen …

Auf „Vielleichts“ fallen nicht nur Süchtige rein, „Vielleichts“ haben in der Weltgeschichte viel verdorben, unsere Bestechlichkeit durch das „Vielleicht“, durch die spontanen Gewissheitserlebnisse bei der Entdeckung von Erklärungsmöglichkeiten, wird von der Sucht bloß ausgenutzt. – Alle Menschen sollten sich beizeiten angewöhnen, ihre „Vielleichts“ zu identifizieren und kein „vielleicht“ stehenzulassen ohne ein: „Und was, wenn nicht?“

Doch was ist nun mit dem Gefühl, es unter den besonderen, in dieser Situation gerade gegebenen Bedingungen schaffen zu können, so zu konsumieren, dass kein Schaden entsteht? Kann man dem denn gar nicht mehr trauen? – Nein, dem kann man nicht mehr trauen. In diesem Gefühl nutzt das Prinzip „Der Wunsch ist der Vater des Gedankens“ (Punkt 6) die irreführenden Alltagsintuitionen aus, die die Komplexität unseres Gehirns verkennen.

Die Fortsetzung folgt in der nächsten Ausgabe der TrokkenPresse mit:

(5) Sucht trickst unsere Intuition aus

 

Titelthema 2/18: Abstinenz und Sinnfindung

Viktor Frankl und die Wirkung seiner „Sinnfindung“ auf Suchtkranke: Teil 2

Welche Fragen stellt das Leben an mich?

 Von Rüdiger-Rolf Salloch-Vogel

 Ich hatte mich gerade am Schreibtisch niedergesetzt, um zu arbeiten, als mich ein Anruf erreichte: Hermann F., den ich länger als zwölf Jahre kannte, war am frühen Morgen tot in seinem Bett gefunden worden. Seine Frau teilte mir mit, F. sei auf der Seite liegend eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht, eher entspannt, mit einem feinen Lächeln im Gesicht.

Ich hatte Herrn F. in der Klinik in B. kennengelernt, in der ich damals mit alkohol- und drogenabhängigen Menschen arbeitete, und unsere Beziehung dauerte so lange, weil Herr F. polytoxikoman war, in erster Linie von Alkohol und Opiaten abhängig, und sich immer wieder meldete. Oft haben wir uns in der Hoffnung verabschiedet, er werde in absehbarer Zeit dauerhaft abstinent bleiben. Die Summe seiner Rückfälle war bei seinem Ableben nicht mehr zu zählen.

Der freundliche, jungenhafte Mann wurde beinahe ein Freund von mir, ich mochte ihn und er mich wohl auch. Zu einer engeren Freundschaft kam es in den folgenden Jahren nicht, denn in regelmäßigen Abständen erhielt ich Arztbriefe von stationären Aufenthalten und Bitten des Patienten um einen erneuten Termin bei mir. Jedem Gesprächsversuch, die Schwierigkeiten der Abstinenz und des Arbeitslebens in den Fokus zu nehmen, wich der Patient jedoch aus.

Nach der Verabschiedung folgte regelmäßig eine längere Pause, aus der ich entnehmen musste, dass F. ein gutes Geld verdiente, mit einer Lebensgefährtin gut zurecht kam, von Zeit zu Zeit in eine Selbsthilfegruppe ging und eine neue Wohnung fand. Viele Jahre später, die ähnlich aussahen, arbeitete F. im englischsprachigen Raum und absolvierte aufgrund eines Rückfalles eine Therapie in Minnesota.

Danach tauchte er wieder bei mir auf, alles begann von vorn und ich verpulverte meine therapeutischen Möglichkeiten. Meine Freundlichkeit und meine Geduld nahmen ab und in der folgenden Zeit wartete ich geduldig auf den nächsten Rückfall. Aber meine Geduld wurde deutlich geringer und mein Interesse an dem Patienten auf eine merkwürdige Art auch. So, als ob wir beide im Nebel stünden.

Als Herr F. mir eines Tages bei einem Anruf mit schleppenden Worten mitteilte, er bekäme jetzt eine Berufsunfähigkeitsrente und wolle sich ein kleines Häuschen am Rhein bauen, wurde mir plötzlich übel vor Wut, und ich legte mit einem knappen Satz den Hörer auf, ohne Herrn F. eine deutliche Antwort auf seine Pläne zu geben. Was ich hätte sagen wollen, war: „Ich bin ihre dauernden Lügen so leid, ich kann nicht mehr, hören Sie auf damit, wenn Sie nicht sterben wollen, Sie sind ja eh schon halb tot. Ihr ganzes Leben besteht nur noch aus Lügen.“ Aber ich konnte das alles nicht aussprechen.

Wenn ich mir meine Akten vornahm und spazieren ging, dachte ich oft an meinen  Patienten und fiel es mir nicht schwer, mir die körperlichen und seelischen Veränderungen des Herrn F. vorzustellen, und ebenso das Bemühen der Psychologen und Ärzte, diesen grausamen Zustand zu bessern und zu verhindern.

Wenn ich aber auf mich schaute, musste ich zugeben, dass meine Genesung in den ersten fünf Jahren nur sehr langsam vorangegangen war und ich große Schwierigkeiten hatte, ehrlich zu mir selbst zu sein.

Sucht als Lebenslüge?

Ich habe mir oft über den Begriff „Lebenslüge“ im Verlauf meiner Sucht und der anderer Menschen Gedanken gemacht: Mein Sponsor Peter war es, kurz nach dem Beginn meiner Abstinenz, der mich auf die „Sucht als Lebenslüge“ hingewiesen hatte. Und ich war mir klar darüber, dass sich die chronische Gehirnvergiftung, die sich z.B. Alkoholiker im Laufe der Zeit zuziehen, beim weiteren Trinken und z.B. bei gleichzeitigem Kiffen und der Einnahme von Opiaten sogar noch verschlimmert. Im Grunde konnte man, wie in der Geologie, von einer Erosion des Hirngewebes sprechen – das bezieht sich im Übrigen auch z.B. auf die Muskulatur – , bei der wie in der Landwirtschaft bei chronischen Unwettern ganze Landschaften eines fruchtbaren Ackerbodens bis zur Unfruchtbarkeit erodiert werden und nichts mehr taugen.

Die wenigsten Süchtigen haben den Mut, sich im Laufe der Zeit einzugestehen, dass dieser Erosionsprozess unser ganzes Leben bereits verändert hat, besonders, wenn sich unsere Gefühle verändern und auch – wenn man großes Pech hat – eine Liebe dabei zu Grunde geht.

Erst als ich an jenem Nachmittag das Buch von Viktor Frankl, seine Lebensgeschichte und seine therapeutischen Gedanken teilweise begreifen konnte, löste sich ein großer Druck in meinem abstinenten Leben.

Viktor Frankl schreibt zu Recht, dass die Seele und der Geist des Menschen im Leben stets nach einem Sinn suchen, um ein zufriedenes Leben führen zu können.

Je älter und erwachsener wir abstinent werden, desto mehr spüren wir dieses Gefühl der Sinn-Sehnsucht, und nicht selten, beim Hören von Nachrichten oder Lesen in einer Zeitung, spüren wir schmerzhaft die Sinnlosigkeit innerhalb der Gesellschaften, die uns umgeben.

Aufgeladen mit unterschiedlichen Drogen oder auch abstinent voll mit theoretischem Gefasel und stolz auf die cleanen Tage, diskutieren wir mit Freunden und wandern nach Hause, fallen in irgendein Bett und schauen wach vor dem Einschlafen in die Dunkelheit, spürend, dass irgendetwas nicht stimmt.

Ich selbst, aber auch mein Patient, waren an diesem Nachmittag am Telefon genau an diesem Punkt angekommen. Wir lebten nämlich nicht zufrieden – weder mit noch ohne unsere Drogen und begriffen nicht, dass wir unsere persönliche Wahrheit, abstinent oder rückfällig, verloren und noch nicht wiedergefunden haben.

Und weitergehend in Sinnlosigkeit lebten. Und dieser zu entrinnen, ist alleine nicht zu schaffen. Dieser Zustand wird von nicht wenigen Erwachsenen „Lebenslüge“ genannt.

Edith Stein, die Karmelitin, welche im KZ Birkenau hingerichtet wurde, hat es auf den Punkt gebracht: „Wer die Wahrheit sucht, sucht Gott, ob er es glaubt oder nicht.“

Dieser Satz machte mir klar, dass Fortschritte in meiner Entwicklung eine langfristige, ehrliche Arbeit in der Abstinenz an der persönlichen Sinnfindung bedeuten würden.

Mitten in meiner Trockenheit begann ich, mich um Viktor Frankl und die Sinnfindung zu kümmern, und das dauert mittlerweile schon einige Jahre und ergänzt meine Gruppenbesuche vortrefflich.

Homo sapiens bedeutet „einsichtsfähiger Mensch“, das heißt: Wir Menschen können uns

Gedanken machen über uns selbst, wir sind kritikfähig und entwicklungsfähig. Und wie bei jedem Kranken schädigt die Sucht uns unterschiedlich und ganz persönlich (individuell s.u.).

Aber auch, wenn wir von unterschiedlichen „Bereichen“ oder „Teilen“ des Menschen sprechen (von dem körperlichen, dem seelischen, dem geistigen und dem spirituellen Bereich), steht dennoch fest: Der Mensch ist und bleibt immer eine persönliche Ganzheit, ein unverwechselbares Individuum, ein Unteilbares. Jeder Mensch lebt und reagiert also auch auf eine Sucht/Abhängigkeit persönlich (wie z.B. auch auf eine Blinddarmentzündung). Dieser ganze Mensch, dieses menschliche, individuelle Ganze ist aber insofern besonders, als es nicht völlig abgegrenzt ist, sondern immer noch in einer Beziehung steht zu einem anderen, zu anderen, gleichen Wesen seiner Art, und wohl solange er auf der Erde ist.

Das gilt wohl für die gesamte Natur: Ein Atom ist ein Ganzes, aber auch ein Teil von einem Ganzen, einem Molekül. Viele Moleküle sind ein Teil einer ganzen Zelle und viele Zellen sind ein Teil eines ganzen Organismus. Nichts ist ausschließlich ein Teil oder ausschließlich ein Ganzes.

Das bedeutet: Wir Menschen sind zwar unverwechselbare Individuen, wir unterscheiden uns aber von anderen Menschen durch die Eigentümlichkeit unseres Wesens (Identität). Wir sind keine abgegrenzten Einzelwesen, sondern miteinander verbunden und wir brauchen diese Beziehungen, um uns gesund zu entwickeln und gesund zu bleiben. Denken Sie nur an die im Verhältnis zu anderen Wesen auf dieser Erde sehr lange dauernde Kindheit von 18-25 (!) Jahren.

Sehnsucht nach Lebenssinn?

Die oben genannte Sehnsucht nach Lebenssinn reicht interessanterweise über meine persönliche Welt hinaus: Wenn wir über Liebe, Krankheit, Geburt und Tod nachdenken und nachfühlen, wenn wir träumen, wenn wir lieben und wenn wir an eine höhere Macht glauben (Gibt es nicht Erlebnisse und Erfahrungen, nach denen wir spüren: „Dieses Erlebnis war göttlich!“?).

Das Transzendente überschreitet die Grenzen der Erfahrung und einer sinnlich erkennbaren Welt, es ist „übersinnlich und übernatürlich“.

Der Mensch muss um diese drei Seiten seiner Art wissen:

  1. Seine Einzigartigkeit,
  2. die Beziehungen zu anderen und
  3. seine Sehnsucht nach einem Bereich, der über seine Welt hinausgeht.

Ein Ersatz kann keine echte, persönliche Transzendenz nachbilden. Sinnlosigkeit fördert Süchtigkeit, Kriege, Auseinandersetzungen, Lug und Trug. Wenn man sich mit dem Buch „Mein Kampf“ von A. Hitler beschäftigt, wird sofort klar, dass diese ganze Schrift ein einziger (miserabler) Ersatz ist, also untauglich, Sinn zu ersetzen. Die Folge: „Adolf Hitler, mein Kampf, meine Lebenslüge.“

Wenn viele Menschen in bestimmten Lebensphasen in Sinnlosigkeit stecken bleiben, wird es immer wichtiger, Literatur daraufhin zu untersuchen, ob eine veröffentliche Arbeit inhaltlich Sinnlosigkeit fördert und unsere Verhaltensweisen nicht selten dem entsprechen.

So komme ich zu etwas besonders Wichtigem, das sich schon angedeutet hat: Mein Sinn ist etwas, das mich allein betrifft, ich kann immer nur von meinem Sinn sprechen. Mein Lebenssinn, den es zu finden gilt. Der Begriff „Sinnfindung“ unterscheidet sich in seiner Klarheit von der „Sinnsuche“ und „Sinnfrage“. Der erste Begriff öffnet eine Tür und führt auf einen Weg, dem ich langfristig folgen kann.

Wie ist denn der Schaden nun zu differenzieren?

Es gibt mehr als 15 ernst zunehmende Psychotherapieformen, an deren Kardinalsymptomen (Beispiel VT oder Tiefenpsychologie) sich eine manifeste Sucht wie ihre Besserungen in Richtung Abstinenz in Einzelgesprächen und Gruppentherapien (wie Gruppen des Kreuzbundes, Blaues Kreuz, Guttempler/IOGT und Anonyme Alkoholiker – hier besonders die 12 Schritte) zeigen lassen. Diese Entwicklungen sind zeit- und gruppenabhängig. Andere Hilfen sind das Jellinek-Schema und Ähnliches.

Gleichzeitig können wir bis an unser Lebensende etwas lernen und dies weitergeben (Prinzip Lernen und Lehren).

Deshalb fasse ich noch einmal zusammen: Wir leben einerseits in unserem innerweltlichen Leben (alles, was wir spüren, erkennen und erfahren können), entwickeln uns und lernen bis an unser Lebensende etwas.

Inhaltlich erkennen wir und erfahren zum Beispiel Raum, Zeit, Materie, Kausalität-Naturgesetze, Geburt, Lebenswelt und Tod. Im Unterschied dazu hatte ich das Transzendente genannt, das jenseits von Erfahrung und Erkenntnis Liegende („das geglaubt Werdende“), das die Bewusstseinsgrenzen überschreitet und zu einer Überwelt gehört und „das Göttliche“ genannt und als solches empfunden wird.

Frankl erkannte und entschied, dass es ein sinnloses Leben generell nicht geben kann, auch wenn wir Momente in unserem Leben für sinnlos halten oder sie so erfahren. Er schrieb dazu: „… die Frage ist falsch gestellt, wenn wir nach dem Sinn des Lebens fragen. Das Leben selbst ist es, das dem Menschen Fragen stellt …“

Diese Feststellung in seinem Buch „… trotzdem Ja zum Leben sagen …“ zu lesen, war für mich, wie gesagt, eine enorme Erleichterung. Das lag offensichtlich daran, dass ich zwar abstinent war und in meine Gruppen ging, auch arbeitete, aber bis zu dieser Erfahrung nicht zufrieden war.

Zum Experten meiner selbst werden

Ich hatte im Verlauf meines süchtigen Lebens, meines Fleißes und der Arbeit zum Trotz, große Flächen, Berge und Täler sowie breite Flüsse an Sinnlosigkeit angesammelt. Rückblickend finde ich, dass außer mir nicht wenige jüngere Menschen im ersten Drittel ihres Lebens sinnlose Seiten des Lebens ausprobieren mit Suchtstoffen und Verhaltensweisen.

Mich hatte die Sucht belogen und betrogen, aber am Ende konnte ich mit stationären und ambulanten Maßnahmen trotzdem abstinent bleiben, woran mir nahestehende Menschen durchaus beteiligt waren. Ganz langsam wurde mir klar, dass ein Weg in mein eigenes, nüchternes Leben länger dauern würde, nicht einfach ist, und es bis zu einer „zufriedenen Nüchternheit“ einige Jahre dauert.

Viktor Frankl und andere in den Gruppen oder Einzeltherapien haben mir gezeigt, wie ich ein Experte meiner selbst werden kann. Dabei lernte ich:

  1. 4 l Kaffee und 60 Zigaretten bedeuten keine Abstinenz.
  2. Ich besuche meinen Hausarzt regelmäßig, um feststellen zu lassen, ob ich körperlich gesund bin, zusätzliche Krankheiten bekommen habe und arbeiten kann.
  3. Benötige ich körperlich oder seelisch eine weitere ärztlich-psychologische Behandlung?
  4. Kann ich Beziehungen gestalten?
  5. Wie kann ich mit meinen Gefühlen umgehen?
  6. Wie gelingen meine Beziehungen zu drogenfreien Menschen?
  7. Wie schwer fällt es mir, drogenfrei zu leben?
  8. Ich schließe mich einer Selbsthilfegruppe an.

(Schneider schreibt dazu in seiner „Suchtfibel“ Seite 323: Viele Alkoholiker und andere Suchtkranke gelangen einzig und allein durch Selbsthilfegruppen zur dauerhaften Nüchternheit. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor der Selbsthilfe besteht darin, dass sie die Verantwortung vollständig beim Betroffenen lässt. Es gibt keinen neutralen Experten, nur selbst betroffene Experten in eigener Sache.)

Es war für mich nicht einfach, die Verantwortung für die Fragen zu übernehmen, die das Leben oder die Menschen, mit denen ich abstinent leben wollte, mir gestellt haben.

Wenn ich die Verantwortung für den Beginn auf dem Weg meiner Sinnfindung übernehmen will, schlägt Frankl drei Wegzeichen vor:

  1. a) Ich erlebe, was als gut oder schön und bereichernd erfahren werden kann,
  2. b) zu verändern und zum Besseren – und nicht nur für mich Besseren – zu wenden, wo und was immer möglich ist,
  3. c) wo es nötig ist, die Umstände zu ertragen, gilt es nicht, sie einfach passiv hinzunehmen, sondern an ihnen trotz allen Leidens selber zu wachsen und zu reifen.

 Etwa 1940 hat einer der beiden Gründer der AA, Bill W., in einem Büchlein über die zwölf Schritte darauf hingewiesen, dass es sich zu Beginn der Abstinenz und auch dauerhaft um die „Bereitschaft“ handeln sollte, gegen meine Sucht und die gesamten damit verbundenen Lebensumstände regelmäßig etwas zu tun, um nicht rückfällig zu werden und zufrieden leben zu lernen.

Manchmal werde ich gefragt, warum ich mich nicht für die Abstinenz entschieden hätte.

Als meine Abstinenz begann, war ich gar nicht fähig, etwas zu entscheiden. Dazu hatte ich in vielen Jahren Alkoholismus gelernt, wie unfähig ich für Entscheidungen zur Abstinenz seit Jahrzehnten gewesen bin, sodass ich mir eine solche Entscheidung auch gar nicht mehr zutraute. Wenn ich mich damals in der Psychiatrie gegen meinen Alkoholismus entschieden hatte, so war das keine großartige Eigenleistung, sondern weil ich leben und mich nicht umbringen wollte. Heute steht für mich der Begriff „Bereitschaft“ wie ein ständiger Regenbogen über allem, um mich zu behüten und täglich gegen meinen Alkoholismus etwas zu unternehmen, aber auch für mich und die Meinen zu sorgen.

 

Fortsetzung folgt in einer der nächsten Ausgaben mit Teil 3

Titelthema 1/18: Abstinenz und Sinnfindung

Viktor Frankl und die Wirkung seiner „Sinnfindung“ auf Suchtkranke

Vom Parkplatz im Regen ins Gehirn und von dort in die Seele

Von Rüdiger-Rolf Salloch-Vogel *

Mittlerweile bin ich nun 78 Jahre alt geworden. Ich bin lange abstinent und gehe seit vielen Jahren in meine Selbsthilfegruppe. In den Jahren der Abstinenz musste ich nicht rückfällig werden, und oft wird auf diese Tatsache mit dem Satz geantwortet: „Da sind sie doch sicherlich stolz drauf.“ Nach all diesen Jahren des Trinkens und der Genesung ist „stolz“ keine Bezeichnung, für die ich mich noch interessieren würde.

Der Alkohol hatte mich, als ich mit dem Trinken aufhören konnte oder musste, derartig zugerichtet, dass ich völlig am Boden war und Angst, Panik, Scham und ein dauerhaft schlechtes Gewissen für Jahre mein Leben bestimmten, und ich deshalb sehr lange keine lobenden Beiworte mehr auf mich anwenden konnte und wollte. Ich hatte an meinem Schreibtisch einen Abschiedsbrief geschrieben und diesen noch einmal gelesen, als ich eine Stimme in meinem Kopf – wörtlich und klar – hörte: „Du musst sofort einen Psychiater anrufen, du willst dich umbringen.“ Bis heute nehme ich an, dass es entweder eine Seite von mir selbst war, die leben wollte oder mein Gott, der noch etwas mit mir vorhatte. Ich nahm den Telefonhörer in die Hand, es meldete sich der Oberarzt einer großen psychiatrischen Klinik, mit dem ich aus Weiterbildungen gut bekannt war, und meine Entwöhnung begann.

Von der damals diensthabenden Ärztin an bis zum heutigen Tag haben mir sehr viele Menschen auf die eine oder andere Art geholfen, besonders die, deren Zuneigung, manchmal Liebe, ich spüren konnte, und meine Schwestern und Brüder mit dem Programm meiner Selbsthilfegruppe. In der langen Zeit meiner Abstinenz habe ich einige Male auch therapeutische Hilfe in Anspruch genommen.

Es gab auch eine Reihe von Menschen, die mich bis heute immer noch am liebsten von hinten sehen, darunter ein weibliches Wesen, das laut und fest behauptete, ich sei überhaupt kein Alkoholiker und hätte mich nur in der Selbsthilfegruppe festgesetzt, um ein Buch zu schreiben. (Eine ganze Weile hat mich die Frage beschäftigt, wie ich mit einer solchen Aussage umgehen sollte, denn ich konnte und wollte ja nicht das Gegenteil dieser Behauptung beweisen.)

Trotzdem es mir viele abstinente Alkoholiker schon gesagt hatten, dauerte die Zeit, bis ich zufriedener wurde, eine Frau kennenlernte, mit der ich bis heute sehr gerne zusammenlebe, und bis ich gut arbeitsfähig wurde, etwa 3-5 Jahre, auch wenn ich aus der Wissenschaft wusste, dass die Abstinenzrate nach zwei Jahren Trockenheit und bei regelmäßigem Gruppenbesuch zuverlässig anstieg.

Bis auf den heutigen Tag nehme ich von Zeit zu Zeit bis heute bestimmte Ereignisse wahr, die ich schmunzelnd als Wunder bezeichne, wie zum Beispiel Folgendes: Ich kam etwa acht Monate nach Abstinenzbeginn an einem Nachmittag müde und verwirrt von der Arbeit aus dem Krankenhaus, als ich eine Buchhandlung bemerkte, die ich meinte, noch nie gesehen zu haben, als es zu regnen begann und ich eine trockene Stelle suchte. Vor mir stand in einer Reihe von Taschenbüchern ein schmales Taschenbuch, das mich durch ein großes Bild des Eingangstores vom Konzentrationslager Auschwitz anzog, mit dem Titel „… trotzdem ja zum Leben sagen/Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“. Mich hatte dieses Thema immer schon mit Scham erfüllt und interessiert, darüber hinaus war ich schon viele Jahre am Jüdischen Krankenhaus in Berlin tätig. Mich ekelte, seit ich denken und fühlen konnte, die Tatsache, dass eine deutsche Ärztekammer dem Autor Viktor Frankl den Titel Arzt aberkannte (etwa um 1936) und er sich „Jüdischer Krankenbehandler“, wie alle jüdischen Ärzte, nennen musste. Trotz meiner internistischen und psychiatrischen Ausbildung und auch langjährigen psychotherapeutischen Erfahrungen stellte sich mir immer wieder die Frage, wie Menschen sich in Tiere verwandeln können, und dann wieder zurück in Menschen, um zu Hause mit den Kindern Weihnachten zu feiern, wie die Mörder in den KZ es in der Regel machten.

Ich blätterte in dem Buch, kaufte es, fuhr mit dem Auto auf den Parkplatz des Volksparks und las in vier Stunden das gesamte Buch.

Viktor Frankl hatte es sechs Monate nach Kriegsende geschrieben, ein Arzt für Neurologie und Psychiatrie in Wien, der in vier verschiedenen Konzentrationslagern gewesen war und dessen gesamte Familie dort ausgerottet worden war. Aus meiner vermeintlichen Verzweiflung und Schwäche heraus suchte ich in den Monaten nach Beginn der Abstinenz immer wieder Menschen, die so etwas, was ich lächerlicherweise noch vor mir zu haben glaubte, schon hinter sich hatten, um daraus zu lernen, und nun fand ich mit einem Mal einen Bericht, der mein Leid bei weitem in den Schatten stellte und besonders mein Selbstmitleid ordnete und schrumpfen ließ.

Die Frage nach dem Sinn des Lebens beinhaltet die Frage nach der Bestimmung des Menschen und ist eng verbunden mit dem Vertrauen in mein Leben (Selbstvertrauen und Vertrauen in andere Menschen oder eine göttliche Macht).

„Unter dem Sinn des Lebens kann die Bedeutung der individuell gegebenen Lebenszeit eines Menschen verstanden werden, wobei es vorteilhafter ist,… vom Sinn (nur) MEINES Lebens zu sprechen.“(Jörg Riemeyer, „Die Logotherapie Viktor Frankls und ihre Weiterentwicklungen“, Bern, 2007) Was für einen Menschen sinnvoll ist, muss es noch lange nicht für den anderen Menschen sein. Dennoch:

Der Mensch hat immer eine Sehnsucht nach seinem Sinn. Im engsten Sinn ist damit die „Deutung des Verhältnisses, in dem der Mensch zu seiner Welt steht“ gemeint, wenn ich also etwas Sinnvolles erlebe oder tue und damit zufrieden bin.

Wir Menschen haben einen unzerstörbaren, gesunden Kern, der geschützt ist von unseren Ich-Grenzen und den wir „das Selbst“ nennen. Das Selbst bezeichnet das subjektive Erleben des Menschen. Das „Ich“ hat die Funktion, unser Selbst zu schützen, indem es bestimmte Reize von außen oder Ansprüche von innen reguliert. Ein sinnvolles Leben stellt sich durch die „Lebenserfahrung“ her, also durch unsere Vorbilder, durch Üben, aber auch durch schreckliche Erfahrungen oder durch die Erfahrung ehrlicher Liebe. Die Liebe und die Nächstenliebe spielen dabei eine ebenso große Rolle wie die Fähigkeit, zu glauben, also etwas oder an etwas glauben zu können und zu wollen.

Wie sich unsere Ich-Grenzen entwickeln und stabilisieren, lernen wir in der Regel im Elternhaus. (Im ersten Lebensjahr besonders beim Stillen durch die Mutter oder bei Menschen, die uns liebevoll/in Liebe über einen längeren Zeitraum „als Ersatz“ zur Verfügung stehen.) Mit und von diesen Vorbildern lernen wir, wenn wir gesund aufwachsen, innerlich frei (autonom) ein selbstbestimmtes Leben zu führen und uns einen Lebensweg zu wählen, den wir als sinnvoll erachten.

Sinnvoll erscheint uns ein Leben auch dann, wenn es so weitgehend wie möglich meiner (idealen) Wertvorstellung entspricht, und wenn mein Gewissen „Ja“ zu meinem Handeln und Leben sagt. Und ich als Folge zufrieden bin.

Wert und Bedeutung eines Vorganges oder einer Sache erhalten ihren Sinn durch geistige Vorgänge wie das Lesen, Verstehen, Interpretieren und Bewerten (Beispiel: Wie fühle ich mich, wenn ich geliebt werde?).

Wir spüren also das Sinnvolle auch: Wenn etwas einen Sinn hat und es für uns spürbar ist, sind wir zufrieden.

Der Begriff Sinnfindung ist neben anderen Menschen von Viktor Frankl erarbeitet worden, der sich damit bereits Mitte der Dreißigerjahre des vorigen Jahrhunderts beschäftigt hat.

Frankl war ein – wie ich meine, gut aussehender – eher kleiner Mann, Bergsteiger, Neurologe und Psychiater – klug, zäh und fit also, der sich Gedanken über die Sinnfindung im Rahmen seiner täglichen Arbeit an der Universitätsklinik Wien mit seelisch Kranken, besonders mit jugendlichen Selbstmördern oder Studenten, aber auch in Vorträgen und schriftlichen Arbeiten machte. 1942 kam er mit seiner Ehefrau, mit der er 18 Monate verheiratet war, und seinen Eltern in das KZ Theresienstadt und von dort nach Auschwitz-Birkenau, weil er Jude war. Nach seiner Entlassung konnte er dann 1946 das genannte Buch schreiben, das ich nun 1991 in Händen hielt.

„Dieses Buch will nicht Mitleid erregen oder Anklage erheben“, schreibt Riemeyer, „es kommt Frankl vor allem darauf an, zu beschreiben, durch welche Phasen der Entmenschlichung die KZ-Häftlinge gehen mussten, und wie es doch einigen von ihnen möglich war, innerlich zu vollbringen, ,trotzdem ja zum Leben (zu) sagen‘.“

An diesem schrecklichen und Menschen verachtenden Ort, in einer Atmosphäre, in der sozusagen stündlich die Möglichkeit bestand, das Leben zu verlieren, verzweifelten sehr viele Menschen und empfanden alles – ja das ganze Leben – als sinnlos, was es ohne jeden Zweifel im Konzentrationslager auch war. Frankl hatte, wie wohl jeder Mensch, eine sehr große Sehnsucht, seine Familie wiederzusehen, und so bemühte er sich, wie er sagt, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um am Leben zu bleiben. Er begann, über die Sinnlosigkeit, die alle Menschen in seiner Umgebung beklagten, genauer nachzudenken und kam zu dem Schluss, dass das Leben ganz allgemein niemals sinnlos sein kann, auch wenn wir selbst durchaus in eine Situation geraten können, die uns als sinnlos erscheint. Z.B. durch eine Sucht in einem fortgeschrittenen Stadium oder ständige Folterungen und Todesgefahr, so dass sich unsere Ich-Grenzen aufzulösen beginnen und das Selbst unmittelbar in Gefahr gerät. (Genau das wollen Folterer erreichen! Siehe „Spiegel“ 15/2016.)

Frankl fasste den Entschluss, auch in diesem tödlichen Umfeld für sich und sein Leben Verantwortung zu übernehmen. Er formulierte das so:

„… was hier Not tut, ist eine Wendung in der ganzen Fragestellung nach dem Sinn des Lebens: wir müssen lernen …, dass es eigentlich nie und nimmer darauf ankommt, was wir vom Leben noch zu erwarten haben, vielmehr lediglich darauf: was das Leben von uns erwartet!

Zünftig philosophisch gesprochen könnte man sagen, dass es hier also um eine Art … Wende in das komplette Gegenteil geht, so zwar, dass wir nicht mehr einfach nach dem Sinn des Lebens fragen, sondern dass wir uns selbst als die Befragten erleben, als diejenigen, an die das Leben täglich und stündlich Fragen stellt. Fragen, die wir zu beantworten haben, egal ob wir nicht entweder trinken oder Drogen oder Glücksspiele nehmen, auch nicht, indem wir nicht durch ein Grübeln oder Reden, sondern nur durch ein Handeln, ein richtiges Verhalten, eine bzw. die rechte Antwort geben. Leben (und in diesem Fall abstinentes Leben, sv) heißt letztlich eben nichts anderes als: Verantwortung zu tragen für die rechte Beantwortung der Lebensfragen, für die Erfüllung der Aufgaben, die jedem Einzelnen das Leben stellt, für die Erfüllung der Forderungen der Stunde.“

Es scheint also für jede/n in einer Therapie darum zu gehen, für die Erfüllung der Aufgaben, die jedem Einzelnen hier das Leben stellt, die Verantwortung zu tragen.

Da saß ich nun und vergaß diese Sätze bis zum heutigen Tag nicht mehr. Die Wende in das komplette Gegenteil nannte Frankl die Tatsache: „… dass wir uns selbst als die Befragten erleben, als diejenigen, an die das Leben täglich und stündlich Fragen stellt. Fragen, die wir zu beantworten haben …“ Und es gäbe eben nur die „rechte Antwort“ durch „ein Handeln, ein richtiges Verhalten“. Wie könnte jemand seine/ihre „rechte“ Antwort finden?

Es hat sich nun langsam herumgesprochen, dass dieser Vorgang Sinnfindung Zeit braucht: durch Lebenserfahrung, die wir im Umgang mit einzelnen Menschen oder in einer Gruppe ebenso wie bei der Arbeit finden können. Ich will das Ergebnis einer „rechten“ Antwort vorwegnehmen.

Ich habe in der salus Klinik in Hürth lange mit suchtkranken Menschen über die Sinnfindung zu sprechen versucht, und in der Regel bekam ich in den 90 Minuten von jedem irgendein Echo, wir sprachen miteinander und stritten auch. Oft wurde ich gefragt, was das Ganze denn solle und warum ich darüber sprechen wolle. Ich wurde nach meiner Geschichte gefragt, räumte dafür auch die Zeit ein, und logischerweise fiel gegen Ende das Wort „Gott“. Da passierte es schon mal öfter, dass im besonderen Drogenabhängige aufsprangen und mir mitteilten, für einen solchen Unsinn seien sie nicht in die Therapie gekommen. Das ging, je nach meiner Tagesform und wie ich mit der Ansprache umging, gelassen und höflich vor sich.

Aber einmal war ich nicht gut in Form, reagierte gereizt auf einen Angriff und antwortete: „Jetzt will ich Ihnen einmal zeigen, was bei dieser Therapie für Suchtkranke herauskommen soll!
Beginnen Sie den Tag mit einer Besinnung, egal ob religiös oder nachdenklich oder meditierend. Dann nehmen Sie sich für den Tag etwas vor, das sie auch leisten können, und vor allem hören Sie auf, zu lügen. Versuchen Sie den ganzen Tag bei ihrer persönlichen Wahrheit zu bleiben und benennen Sie Vorgänge oder Begriffe, so ehrlich sie können, mit dem rechten Namen: zum Beispiel „Nikotinsucht“, „ich kann heute nicht, weil ich kaum geschlafen habe und mich so schwach fühle“, „ich habe Heimweh …“, „ich habe solche Sehnsucht nach einem Menschen, der mir zärtlich begegnet und mich in den Arm nimmt …“

Davon ausgehend verhalten Sie sich bitte den gesamten Tag so, dass sie sich abends zufrieden in ihr Bett legen können.

Aus dem, was ich gesagt hatte, ergab sich:

Sinnfindung kann sich nur herstellen aus meiner persönlichen Ehrlichkeit, aus einer gewissen Demut, aus Ruhe und Erholung, aus Zärtlichkeit bzw. Liebe und dem Beginn eines Glaubens daran, aus Beziehungen und, dass es in meinem Leben vielleicht Sehnsüchte gibt, die über meinen Geist hinausgehen, vielleicht in eine „Welt“, die ich nicht verstehen kann.

Ich kann die Fragen des Lebens nicht beantworten und die Sinnhaftigkeit meines Lebens entdecken, wenn ich pro Tag 5 l Kaffee trinke, rauche (10-60 Zigaretten) und nicht verordnete Tabletten schlucke, und schon am zweiten Tag meiner Therapie die Partner/in meines Lebens finde.

Die Schwierigkeit dabei scheint zu sein, dass es meine Aufgabe sein möge, die Verantwortung für etwas zu tragen, was ich teilweise noch gar nicht verstehen kann, und vielleicht habe ich auch Angst vor dem Ergebnis (es gibt Gruppen und in ihnen Regeln, um das zu lernen, und es gibt für Suchtkranke abstinenzorientierte – darauf müssen Sie achten! – Psychotherapeutische Einzeltherapien).

Der Anfang einer Abstinenztherapie ist auch deshalb so mühsam, weil ich die Inhalte nicht im Lotto gewinnen kann, sondern täglich bereit sein muss, die Verantwortung für Fragen zu übernehmen, die das Leben oder auch vielleicht ein persönlicher Gott uns stellen. Und das unter abstinenten Bedingungen.

Die geistige Grundlage unseres Lebens ist das Grundvertrauen bzw. Lebensvertrauen, und ich habe noch keinen manifest Süchtigen – mich eingeschlossen – erlebt, der so etwas bei Beginn seiner Suchttherapie hatte.

Ich werde mir also Zeit nehmen müssen, um vieles wieder zu erwerben, und dabei gibt es durchaus Hilfen für Sie: Es gibt nämlich zwei „Thermometer“ für das Ausmaß der Sinnhaftigkeit in meinem Leben, das eine ist unser Gewissen und das zweite ist der Grad unserer Zufriedenheit.

Diese Hilfen und weitere „Thermometer“ finden Sie in der folgenden Arbeit (Teil 2 in der nächsten Ausgabe, d.Red.).

Außerdem bitte ich Sie um Gedanken und Kommentare, Fragen, auch Unsicherheiten, Unklarheiten zu diesem Text. Ich würde das gerne im zweiten Teil „ausbügeln“ und beim Verständnis helfen. Schreiben Sie also bitte bis zum 5. März an die TrokkenPresse, Crellestr. 42 a, 10827 Berlin, info.trokkenpresse@pbam.de.

Ich ende heute mit einem Gedicht von Hermann Hesse und freundlichen Grüßen,

Ihr Rüdiger-Rolf Salloch-Vogel.

Stufen

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend

Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,

Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend

Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.

 

Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe

Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,

Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern

In andre, neue Bindungen zu geben.

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,

Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

 

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,

An keinem wie an einer Heimat hängen,

Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,

Er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.

Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise

Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,

 

Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,

Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde

Uns neuen Räumen jung entgegen senden,

Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden …

Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

 

Herrmann Hesse

 

*Rüdiger-Rolf Salloch-Vogel ist Dr. med., Arzt und Psychotherapeut – und abstinenter Alkoholiker. Jahrelang arbeitete er als Chefarzt der Abteilung für Abhängigkeitskranke am Jüdischen Krankenhaus Berlin. In der TrokkenPresse schrieb er regelmäßig über seine Erfahrungen – und seine Kolumnen als Rolf Zweifel waren nicht nur beliebt, sondern wurden auch in seinem Buch „Im Zweifel ohne“ veröffentlicht (TrokkenPresse Verlag).

Titelthema 6/17: Sexualität und Sucht

Sexualität und Sucht

Ein Tabubruch

Von Dr. Andreas Dieckmann

Über die wichtigen Dinge im Leben redet man nicht: Einkommen, Wahlen, Glauben und – natürlich – Sexualität. Dabei sind das spannende Themen des Lebens. Dagegen ist der Austausch über den ausgebliebenen Sommer ein Dauerthema. Wir sprechen nicht gern über Intimes. Auch in Therapien vermeiden Betroffene nicht selten das Thema ebenso wie deren Therapeuten. Vermutlich fürchten wir verletzliche Situationen.

Nur für Erwachsene

Ein Erlebnis mit einem alkoholkranken Patienten hat den Eindruck bestärkt: Im Zusammenhang mit der Frage der Rückfallvermeidung suchten die Teilnehmer an der Informationsstunde nach Alternativen zum Rückfall. Kontakt aufnehmen, in eine Gruppe gehen, sich ein gutes Buch nehmen und einige andere Vorschläge veranlassten einen der Betroffenen zu der Bemerkung: „Wenn ich so unter Druck stehe, dann suche ich nach etwas geil Entspannendem, nicht nach dem erwartbaren drögen Rat, ich solle mir Gedanken machen, was bei einem Rückfall am Ende herauskommt. Das weiß ich selber.“

Was denn „geil entspannend“ sein könnte, wurde erfragt. Es begann ein Kichern und Murmeln wie unter pubertierenden Jugendlichen unter den Anwesenden. Der Gruppenleiter sprach dann die Sexualität direkt an und es setzte eine Diskussion ein, dass man in solchen Situationen ja wohl nicht immer einen Partner oder eine Partnerin zur „Verfügung“ habe und „das Puff kann ich mir nicht leisten“. Im weiteren Verlauf deutete ein Teilnehmer sehr vorsichtig die Möglichkeit zur Selbstbefriedigung an. Wieder musste der Moderator den „Fall“ beim Namen nennen. Während der gesamten Therapie ließ der Teilnehmer nur wenige Gelegenheiten aus, um zu bemerken, der Doktor selber habe gesagt, er solle sich „einen herunterholen“, wenn er „Durst“ habe.

Damit sei angedeutet, wie kompliziert es für viele – besonders männliche Menschen – ist, über Sexualität in angemessener Weise zu reden. Es hat ja auch sein Gutes, den Hauch des Besonderen zu wahren. Wenn wir aber jetzt über das Thema Sucht und Sexualität sprechen, dann ist Offenheit erforderlich. Und der Schutz derer, die mit diesem Thema noch nichts anfangen können. Also Weiterlesen: Nur für Erwachsene!

Der Stoff regt an

Wer sich mit der Funktion süchtigen Verhaltens auseinandersetzt, der stößt sehr bald auf die Wirkungen des Suchtmittels bei längerem Gebrauch. Der gelegentliche Nutzer von bewusstseinsverändernden Genussmitteln schätzt die stimmungsaufhellende Wirkung als Bereicherung der Lebensqualität. Ein nicht süchtiger Mensch kann Drogen sogar für eine zeitlich begrenzte Ekstase, also einen Rausch, nutzen. Dieses Verhalten kennen wir bei ritualisierten Festen wie Karneval oder auch in mystischen Religionen. Menschen mit einer entsprechenden Veranlagung schaffen es in religiösen Gemeinschaften sogar, auch ohne ein bewusstseinsveränderndes Mittel einzunehmen, sich über ihre Vorstellung der Nähe zu Gott in ekstatische Zustände zu bringen, aus denen sie nach der Zeremonie wieder „erwachen“. Ein glückseliges Erleben.

Manchmal beschreiben auch süchtige Menschen während ihrer aktiven Krankheitsphase ihre Erlebnisse in ähnlicher Weise. Manche Künstler haben ihre kreativen Phasen unter Einsatz von Substanzen, die das Erleben beeinflussen, optimieren können. Ich kenne aber auch einen ehemaligen Verkäufer von vielfältig nutzbaren Haushaltsgeräten, der mir berichtet hat, dass er in den ersten Jahren des Einsatzes von Alkohol mit seinen Verkaufsfähigkeiten über sich hinausgewachsen ist. Erst mit dem Einsatz der Entzugserscheinungen und der Unfähigkeit der selbstbestimmten Regulierung der Trinkmenge stellte er an seinem Umsatz fest, dass „die schöne Zeit vorbei“ war.

Befriedigung im Tran

Sehr viele Suchtkranke mussten aber die Erfahrung machen, dass angenehme Zeiten und Erlebnisse eng verbunden waren mit dem Rausch, anschließend indes als angenehme im Innern zu bewahrende Erlebnisse nicht mehr zur Verfügung standen. Sie müssen feststellen, dass wohltuendes Erleben überhaupt nur im Rausch möglich ist, hinterher aber nicht mehr für die nachhaltige Erinnerung als Befriedigungsmöglichkeit zur Verfügung steht. „Ich bin wie ein Sieb”, formulierte es einmal ein Betroffener. Deshalb, so meinte er, habe er stets im „Tran“ bleiben müssen, um sich einigermaßen wohl zu fühlen. Zuletzt ging es nur noch darum, Gefühle des Unwohlseins zu vermeiden – lange nicht mehr um Genuss.

Ein wesentliches Problem der Sucht ist der mehr oder weniger ausgeprägte Verlust der Genussfähigkeit, sollte sie denn zuvor bestanden haben. Genuss kann man vor allem in dem Wechsel von Spannung und Entspannung erfahren. Nehmen wir nun endlich die Sexualität als Beispiel: Sex ist wunderbar, wenn er sich langsam von der Freude darauf, über die flirtende Kontaktaufnahme und die allmähliche Annäherung mit zärtlicher Erotik zu einer Spannung aufbaut, die sich im günstigen Fall im gleichzeitigen Orgasmus entlädt. Anschließend kann es dann in den Armen des Partners zu dem wohligen Gefühl der Befriedigung, zärtlicher Berührung und sanftem Einschlafen kommen. War die Partnerin oder der Partner mit Bedacht gewählt, kommt nach dem süßen Schlaf statt der erschreckten Ernüchterung die wunderbare Erinnerung.

Die Lust versiegt in den Promille

Das ist ein Genuss, der sich anfänglich sogar mit Genussmitteln steigern lässt. Eine Nase Kokain soll die vielfache Stärke eines Orgasmusgefühls vermitteln. Längerfristiger Alkoholkonsum dagegen dämpft die sexuelle Lust auf Dauer. Das hängt mit einigen biologischen Faktoren zusammen. Insbesondere das im Limbischen System des Gehirns liegende Gebiet, in dem die angenehmen Empfindungen aus dem Körper zusammenfließen, wird durch viele Suchtstoffe „unempfindlich“ für Genüsse. Der unglückliche Begriff des „Belohnungssystems“ verschleiert die vielfältigen Genüsse, die etwa mit Erotik zusammenhängen, von den Schmetterlingen im Bauch über die anregende Wirkung von Blicken, die Zärtlichkeit, das Gefühl der Zusammengehörigkeit und natürlich die differenzierten Gefühle der Sexualität bis zum Orgasmus.

Wenn chronischer Alkoholkonsum das Limbische System verändert hat, kann die Freude an der Sexualität, die Libido, sehr eingeschränkt werden. Man könnte vielleicht sagen, dass der Alkohol und andere Drogen die Sensibilität des Empfindens verringern. Es braucht stärkere Reize, um Wohlbefinden auszulösen. Im Genusstraining haben sich die Rehabilitanden über Düfte oder feine Geschmacksnuancen häufig lustig gemacht, weil sie die Unterschiede nicht wahrnehmen konnten. Die feinen Signale sind es aber auch bei der Sexualität, die die Bereitschaft und Vorfreude über das Limbische System bahnen.

In der Abstinenz das Genießen neu erlernen

Es gibt Potenzprobleme, unter denen Männer oft sehr leiden, wenn sie einen nicht geringen Teil ihres Selbstwerterlebens aus der Stärke ihres Glieds beziehen. Das muss aber nicht so bleiben, wenn sich Betroffene darüber klar sind, dass mit der Abstinenz auch das Genießen wieder erfahren und gelernt werden muss. Dazu gehört auch die Bereitschaft, Genuss neu zu verstehen: Es gibt dann keine Dauerentlastung von unangenehmen Empfindungen, keinen giftigen „Dauerorgasmus“ mehr, sondern eher den Genuss aus den Gegensätzen: Nur wer das Gefühl des Hungers gespürt hat, kann den Genuss des Sattwerdens erleben. So paradox es klingt: Wer dauernd isst, wird nicht satt.

„Er steht wieder, jetzt fehlt nur noch `ne Frau“, sagte einmal ein Rehabilitand in der Klinik. Er lebt in der Erwartung, dass etwas passiert, auf ihn zukommt. Er hat nicht mehr das Gefühl der Selbstwirksamkeit, dass sich etwas ändert, wenn er etwas tut.

Die Funktionsfähigkeit des Limbischen Systems ist sehr komplex. Sie wird von biologischen und seelischen Komponenten beeinflusst. Deshalb lässt sich auch kein Zeitraum angeben, wann nach dem Abstinenzbeginn das Genießen wieder einigermaßen funktioniert. Die zur Sexualität gehörenden physiologischen Vorgänge unterliegen ohnehin noch vielen anderen Einflüssen des Körpers. Diesen ist man aber nicht völlig hilflos ausgesetzt, sondern kann sie positiv beeinflussen.

In partnerschaftlichen Beziehungen muss die Kommunikation über Sexualität nicht ausschließlich unter die Gürtellinie gehen. Vielleicht ist es ungewohnt, aber das Gespräch über die gegenseitigen (geheimen) Wunsche und Vorlieben kann Störungen des sexuellen Miteinanders auflösen oder mildern. Manche mögen auch den verbalen erotischen Austausch, andere Menschen bevorzugen „dirty speaking“, wieder andere belassen es bei Zärtlichkeiten und einigen sich über die Art und Weise des Beisammenseins.

Ja, es gibt auch potenzfördernde Medikamente, die viele Urologen den Männern rasch bei Erektionsproblemen verordnen. Solche Substanzen wirken dann häufig schnell, lösen aber das Problem nicht. Für Frauen gibt es ohnehin kaum ungefährliche Substanzen neben der Gabe von Hormonen. Das sind Lösungen, die auf Dauer nicht tragfähig bleiben. Zudem: Wollen wir wirklich Sexualität auf Abruf? Außerdem greifen die Nutzer solcher Möglichkeiten wieder in die Physiologie ihrer Sexualität ein und verhindern die Normalisierung des hormonellen Rhythmus.

Das sexuelle Sahnehäubchen musst du dir erspüren

In der nachsüchtigen Lebensgestaltung geht es auf vielen Gebieten eher um geduldige Aktivität. Die Zeit der passiven Wunscherfüllung ist dann vorbei. Die Hinwendung zur Realität umfasst auch die Akzeptanz der eigenen Empfindungen. Es gibt so viele Formen der Sexualität wie es Menschen gibt und keine Norm quantitativer Sexualität. Daher lohnt es sich, sich seiner eigenen sexuellen Orientierung, seiner Wünsche und Bedürfnisse bewusst zu werden. Wer mit wenig sexueller Aktivität zufrieden ist, lebt kein schlechteres Leben als jemand mit starken sexuellen Bedürfnissen.

Zum Wiedergewinnen sexueller Lust kann es gehören, sie sich allmählich wieder anzueignen. Das bedeutet praktisch, dass nicht jede erotische Situation zum Orgasmus führen „muss“. In einer Partnerschaft gibt es immer wieder gute Gelegenheiten, den anderen und sich selber zu erkunden, die Wünsche und Empfindungen kennen zu lernen. Man kann das Zusammensein, die Zärtlichkeit, eine gute erotische Atmosphäre und die Sexualität in den einzelnen Bereichen genießen und als Ganzes erleben, ja man kann es vielleicht als wohltuendes Erlebnis beim gegenseitigen Blick in die Augen wiederbeleben.

Manche Menschen, die das Gefühl haben, sie seien wie ein Sieb und können nichts (be-)halten, können so üben, sich zu erspüren und nachhaltig zu genießen: Die Erinnerung wird wach, wenn man sich Koseworte zuflüstert oder vielleicht sogar beim gemeinsamen Einkauf spürt, wir gehören zusammen. So kann Sexualität aus der Sonderrolle herauskommen und sich als Teil des umfassenden Lebensgefühls integrieren. Diese Entwicklung bedarf der Geduld, die man zu zweit leichter aufbringen kann, wenn man sich darüber immer wieder verständigt.

Das ist nicht suchtspezifisch. Insbesondere in Beziehungen zwischen Frau und Mann hilft das Reden über die gegenseitigen Bedürfnisse, weil die Geschlechter tatsächlich deutlich unterschiedlich empfinden. Generell kann man davon ausgehen, dass Frauen wechselnde Phasen von Lust und Zärtlichkeitsbedürfnis haben und Männer eher stets sexuell aktiv sind. Dazwischen gibt es jedoch äußerst differenzierte Variationen, weswegen auch gleichgeschlechtliche Partnerinnen und Partner nicht davon ausgehen können, dass die oder der andere ebenso empfindet wie sie oder er.

Die geheimen Wünsche

Beim gegenseitigen Entdecken wird man auch auf die Schätze der Vielfalt von Praktiken stoßen. Wenn die Art der Sexualität niemandem Schaden zufügt, kann sie die Lebensqualität wunderbar erhöhen. Mit wachsendem Vertrauen dürfen dann auch geheime Wünsche ausgetauscht werden. Hier kommt es wieder darauf an, sich gegenseitig zu respektieren. Gerade Süchtige haben gelegentlich die Vorstellung, andere Menschen empfinden ebenso wie sie. Deshalb müsse man gar nicht so viel reden. Wenn man es aber probiert, lernt man bereichernde andere Empfindungs- und Denkweisen kennen – nicht nur auf dem Feld der Sexualität.

Eine partnerschaftliche Beziehung ist ein guter Nährboden für befriedigende Sexualität. Der beschriebene Umgang mit gegenseitiger Sexualität ist eine Verbindung, mit der sich Beziehungen stabilisieren. Mit den Jahren entwickelt man sich in eine Phase, in der möglicherweise aktive Sexualität nicht mehr so eine entscheidende Bedeutung für die Lebensqualität hat wie das Gefühl der Zusammengehörigkeit, etwa in der Elternzeit, nach Operationen, aber auch manchmal mit zunehmendem Alter. Sexualität ist ja auch keine Pflichtleistung, sondern eine Lebensqualität, die durch andere Sinnesgenüsse abgelöst werden kann.

Sex an und für sich

Einige Menschen mit süchtigem Verhalten machen die Erfahrung, dass ihnen die Gestaltung und Erhaltung einer Partnerschaft nicht gelingt. Sie entscheiden sich für ein Leben in Eigenverantwortung, ohne die Verbindlichkeiten der Zweisamkeit. Das kann nach reiflicher Abwägung eine abstinenzerhaltende Entscheidung sein. Was machen diese Singles mit ihrer Sexualität?

Es würde das Thema erheblich erweitern, wenn wir hier erörtern würden, warum jemand diese Lebensweise wählt oder aber auch keine andere Wahl hat. Daher beschränken wir uns auf die Sexualität: Viele Aspekte entsprechen der Sexualität zwischen Partnern, insbesondere die beschriebenen Gedanken zur Genussfähigkeit.

Singles sind stärker als Paare mit dem Thema der Selbstbefriedigung konfrontiert. Auch bei dieser Art der Sexualität kann man sich kennenlernen, darauf achten, dass es ein Erlebnis wird und nicht lediglich eine notwendige gelegentliche Spannungsabfuhr. Auch dabei kann süchtiges Verhalten auftreten und den Spannungsbogen zerstören. Es gibt aber auch die Möglichkeit des liebevollen Umgangs mit sich selber, der Erzeugung einer guten Atmosphäre und des Genusses durch Schaffung einer Spannung. Zwischen dem Erleben des Bedürfnisses und der Sexualität selber gibt es Raum und Zeit für Vorfreude und Phantasie.

Manchen Menschen gelingt es auch, Sexualfreundschaften zu pflegen, also gemeinsamen Sex zu haben ohne umfassende Beziehung. Das „Pflegen“ spielt dabei eine besondere Rolle, weil wir in unseren Lebensvorstellungen fast alle die Sexualität mehr oder weniger intensiv mit umfassenderer Beziehung verbinden. Deshalb entstehen dann oft Erwartungshaltungen, deren Enttäuschung vorhersehbar ist. Aufmerksamkeit ist auch bei dieser Konstellation wichtig, wenn es nicht zu „abhängigen“ und eventuell missbrauchenden Beziehungsgestaltungen kommen soll.

Die Freunde des „One-night-stands“ verfügen häufig über eine gute Portion Annäherungsfähigkeit und klagen vermehrt über ein schales Gefühl. Ein solches Arrangement kann sexuell befriedigend sein, ist aber mit einem hohen Risiko der Enttäuschung und den Nebenwirkungen der Sexualfreundschaften verbunden.

Sex gegen Bares

Der Erwerb käuflicher Liebe ist nicht nur ein Singlethema. Auch hier entfallen bei unserer Beschäftigung mit Sexualität wichtige Aspekte, die wir wenigstens als Fragen benennen wollen: Wie denke ich ethisch über das (Ver-)Kaufen von Sexualität? Habe ich Achtung vor dem Sexarbeiter? Gibt es andere Möglichkeiten zu gemeinsamem Sex ohne die Verbindlichkeit einer Beziehung? Die Beschäftigung mit diesen und anderen Fragen hat Einfluss auf die Art und Weise, wie unsere Seele diesen Genuss verarbeitet. Dabei geht es tatsächlich mehr um die Sorgfalt – heute spricht man auch von Achtsamkeit (als wäre sie neu erfunden worden) – mit sich und anderen, als um eine allgemeine Moral.

Anregend wirkt für manchen Menschen auch die Beobachtung sexueller Aktivität und Erotik. Zeitgemäße Medien bieten dafür die Möglichkeit, leicht an Material zu kommen, um Sexualität zu sehen. Pornografie ist eine Erscheinungsform, von der behauptet wird, 80 Prozent der Männer würden sich ihrer „erektiv“ bedienen. Auch der Umgang mit diesem Angebot wirft einige Fragen auf: Tun die Akteure das freiwillig und selbstbestimmt? Wozu muss ich mich anregen? Warum warte ich nicht, bis mein eigener Wunsch oder ein möglicher Partner Anregung genug ist?

Sex mit Kontrollverlust und ohne Lust

Oder benötige ich immer mehr und mehr Sex, um zur Befriedigung zu gelangen? Es gibt Menschen, die sich ständig sexuell stimulieren müssen und ihr Verhalten wie in einer zweiten Welt abseits der Realität leben. Dann ist Sexualität selber zur Sucht geworden, manchmal auch im Sinne der Suchtverlagerung. In Fällen des Kontrollverlustes ist der Weg in die Selbsthilfe oder zu professioneller Behandlung dringend anzuraten.

Viele dieser Themenbereiche lassen sich schwer alleine klären. Deshalb ist es günstig, sich Menschen zu suchen, mit denen man vertrauensvoll in eine Auseinandersetzung mit diesen Themen kommen kann. Gelegentlich finden sich Selbsthilfegruppen, denen eine solche Gesprächskultur gelingt. Manchmal helfen auch Seelsorger, ein Arzt oder ein Psychotherapeut, um spezielle Fragestellungen zu klären wie hormonelle, andere biologische Störungen, seelische Belastungen wie sexuelle Wünsche, die gesellschaftliche oder ethische Tabuzonen betreffen oder die Unsicherheit über die eigene sexuelle Identität. Manche Menschen merken eine Parallelität zwischen sexueller Aktivität oder deren Versagen und ihrem Selbstwertgefühl.

Prävention und Sexualität

Haben Menschen mit süchtigen Verhaltensweisen generell eine andere Sexualität? Ja, weil Sucht und deren seelische und biologische Hintergründe den ganzen Menschen betreffen, wie wir sehen konnten. Und: Nein, weil die Aneignung einer befriedigenden und würdigen Sexualität Chance und Problem aller Menschen ist.

Sexualität als Teil der Lebensqualität scheint präventive Möglichkeiten im Umgang mit einer Krankheit zu bieten, die Betroffene lediglich zum Stillstand bringen können. Die offensive Gestaltung des abstinenten Lebens bietet Chancen, sein Leben so zu bewältigen und zu genießen, als habe man die Erkrankung nicht. Das betrifft eben auch den Umgang mit Sexualität.

Sex und Liebe – Liebe und Sucht

Kann man über Sexualität sprechen, ohne die Liebe zu erwähnen? Diese Perspektive auf die Sexualität eines süchtigen Menschen eröffnet ein neues Kapitel – des Zusammenhangs von Sucht und Liebe. „Was soll ich über die Liebe sagen, da ich mich selber fast zerstört habe“, äußerte ein kluger Betroffener, als es um Beziehungen ging. Er hielt sich nicht für fähig, sich einem anderen Menschen so zuzuwenden, dass dahinter sein Egoismus zurücktritt und seine starke Zuneigung aus der Selbstachtung kommt.

Sicher, er hat offensichtlich einen hohen Anspruch. Aber hat er nicht auch einen guten Blick darauf, dass seine Krankheit ein Beleg dafür ist, dass er zumindest sich selber nicht geliebt hat. Liebe ist sicher nicht die Dankbarkeit für die Zuwendung eines anderen. Für ein Kind mag das sogar stimmen, weil die Mutter oder eine andere enge Bezugsperson die Liebe bedingungslos schenkt.

Liebe und Sexualität haben sicher Überschneidungspunkte, sind aber wohl eher Themen, die nicht in einem direkten Zusammenhang stehen müssen.

Let’s talk about…

In diesem Artikel wird darauf verzichtet, die neurophysiologischen Zusammenhänge und die hormonellen Regelkreise wissenschaftlich korrekt zu beschreiben. Sie sind die körperlichen Begleiterscheinungen gelebter Sexualität. Es soll nicht der Anschein erweckt werden, Sexualität sei eine reine Funktion der Biologie. Das unterscheidet uns von den Tieren. Bei uns geht der Sex durch den Kopf. Oder anders formuliert: Die gewählte Sexualität ist eine Frage unserer Einstellung dazu. Der Tabubruch, den Mantel des Schweigens zu lüften, kann helfen, sich und andere zu finden. Dass Taktgefühl dabei hilfreicher ist als Exhibitionismus in der Kommunikation, versteht sich – wenn auch nicht von selbst.

Dieser Beitrag stellt keine wissenschaftliche Expertise zur Sexualität Süchtiger dar, sondern ist als Versuch zu verstehen, Menschen über Widerspruch und Zustimmung zum Nachdenken anzuregen. Vielleicht erfühlt sich der eine oder andere eine Haltung zu diesem Tabuthema, das längst keines mehr ist. Es gibt die Ehe für alle – vielleicht ein Signal für eine verantwortliche Freiheit. Auch für dieses Thema gilt: Es ist alles erlaubt, wenn die Grenzen der Würde des anderen und Deiner selbst gewahrt bleiben.

Die Kernsätze:

  • Genussfähigkeit braucht den Wechsel von Anspannung und Entspannung
  • Kurzfristig regt Alkohol an – auch die Sexualität
  • Langfristig hemmt Alkohol die Genussfähigkeit – auch die Sexualität
  • Genussfähigkeit lässt sich durch geduldiges Erspüren der eigenen Wünsche und die des Partners aneignen
  • Die geheimen Wünsche gehören in das intime Gespräch
  • Selbstbefriedigung kann eine Form individueller Sexualität sein – auch Rückfallprävention
  • Sexualität und Liebe haben (nicht immer) miteinander zu tun
  • Eine verantwortliche selbstbestimmte Sexualität ist frei(er als mancher denkt)
  • Die Würde des Menschen und seine Sexualität stehen in Verbindung