Wie kann ich mit Schuldgefühlen umgehen?
Fast jeder alkoholkranke Mensch hat in der nassen Zeit Dinge getan oder versäumt, die heute, mit klarem Kopf, unverzeihbar erscheinen. Da ist das Kind, das man nicht so umsorgt hat, wie man es als Mutter hätte tun sollen, und das vielleicht heute selbst abhängig ist. Da ist die Promille-Autofahrt, durch die jemand zu Schaden kam. Da ist der Partner, den man psychisch verletzt hat. Da sind die KollegInnen, die viel zu oft wegen Krankmeldung einspringen mussten. Und vor allem: Da ist, dass ich überhaupt abhängig geworden bin … Das kann Schuldgefühle verursachen, die schwer auf der Seele lasten. Für immer? Wir wollen heute mit Winfried Lintzen, Suchttherapeut des PBAM e.V., klären, wie sie entstehen und wie man mit ihnen umgehen kann.
Was sind Schuldgefühle?
Ganz einfach gesagt: Sie entstehen, wenn ich so gehandelt habe, wie es nicht zu meinen Werten passt.
Sie entspringen also dem Gedanken, ich hätte dies oder jenes nicht tun dürfen laut meinen Vorstellungen?
Ja. Sie entstehen aus der Diskrepanz zwischen dem, was ich für andere sein will und dem, was ich tatsächlich getan habe. Die Fachleute nennen das kognitive Dissonanz. Da passt etwas überhaupt nicht zusammen. Und das kann auch schon entstehen, bevor etwas Schlimmes passiert ist: Viele, die mit mir reden, sagen zum Beispiel, dass sie Schuldgefühle haben, weil sie mit zwei Promille ein Auto gesteuert hatten und Gottweißwas hätte passieren können … dass es aber gar nicht zu ihnen passt, andere Verkehrsteilnehmer zu gefährden.
Was wir mittlerweile auch neuropsychologisch wissen, ist, dass diese Dissonanzen im Kopf Stress auslösen, ein richtig unangenehmes Gefühl. Und wie reagiert das Gehirn darauf? Es versucht, die Dissonanzen irgendwie wegzumachen.
Wie denn?
Teilweise auf redliche, teilweise auf unredliche Art und Weise.
Was ist damit gemeint?
Unredlich wäre zum Beispiel, wenn ich sage, ich bin eigentlich nicht schuld, der andere hat mich ja besoffen gemacht, nur deshalb bin ich mit Promille Auto gefahren. Oder unredlich ist auch, dass man lieber gar nicht dran denkt. Oder es bagatellisiert: „Ach komm, so schlimm ist das nicht. Die anderen fahren mit vier Promille noch Auto, ich hatte bloß drei …“ So machen wir uns Dissonanzen erträglich. Die redliche Art wäre eine Fehleranalyse, zum Beispiel zu sagen: „Wie konnte ich das bloß tun! Wie ist es erklärbar, dass jemand, der solche Werte hat wie ich, derart dagegen verstoßen konnte! Was muss ich jetzt in meinem Leben in Ordnung bringen, damit das nicht wieder passiert?“ – Ich nenne das, sich aus der Schuld eine Pflicht zu machen, eine Verpflichtung.
Eine Pflicht? Kann ich damit die Schuldgefühle auflösen?
Schuldgefühle auflösen? Nein, das geht nicht. Das ist auch nicht der Sinn von Schuldgefühlen. Der Sinn von Schuldgefühlen ist ja, dass ich daraus immer wieder Kraft beziehe, die Pflicht, die die Schuld mir auferlegt, zu erfüllen.
Ich verstehe das mit der Pflicht noch nicht. Ein Beispiel bitte …
Wenn eine Mutter zum Beispiel ihr Kind abends immer vor die Spielekonsole gesetzt hat, damit sie in Ruhe Wein trinken kann und dieses Kind heute spielsüchtig ist – wenn die Mutter darüber zerknirscht ist, zu was verpflichtet sie diese Schuld? Immer, wenn sie dieses Schuldgefühl spürt, hat das Gefühl nur dann einen Sinn, wenn sie sich sagt: „Diese Schuld habe ich auf mich geladen, das geht nicht weg, mein Kind ist heute spielsüchtig, was kann ich denn jetzt gutmachen, zu was verpflichtet mich meine Schuld?“ So ganz spontan als Idee: Die Mutter könnte mit dem Kind die ersten Schritte zu einer Therapie gehen, das wäre ein Anfang. Sie könnte dann selber in Therapie gehen, um herauszufinden, wie es soweit kommen konnte, dass sie ihr Kind vernachlässigt hat, und dann an sich arbeiten, dass sie in Zukunft für ihr Kind verlässlich da sein kann. Der Ansatz ist: Ich habe diese Sch… gebaut – was kann ich jetzt tun, um nach Möglichkeit viel wiedergutzumachen.
Beispiel betrunkener Autofahrer, verletztes Opfer: Da kann man doch nichts wiedergutmachen?
Das Wort ist in solchen Fällen irreführend, ja. Wenn jemand wegen mir eine Kopfverletzung hat und dadurch für den Rest seines Lebens regelmäßig wiederkehrende Kopfschmerzen, das kann ich nicht wiedergutmachen. Aber dann ist die Frage, zu was verpflichtet mich die Schuld.
Genügt dann die Verpflichtung, nie wieder unter Alkohol zu fahren?
Es kommt immer darauf an. In diesem Fall könnte die Verpflichtung z.B. noch sein, sich dafür zu engagieren, dass das Thema Trinken und Fahren noch besser in der Öffentlichkeit diskutiert wird. – Da gäbe es noch viel zu tun. Denn was für eine Saufkultur wir Deutschen haben, zeigt sich z .B. daran: Ausgerechnet in der Zeit, als hier alle Angst vor Terroristen hatten, hat das oberste Verwaltungsgericht es abgelehnt, die Promillegrenze, ab der jemand zur MPU muss, von 1,6 auf 1,1 Promille abzusenken, obwohl wir rund 300 Tote pro Jahr durch Alkohol um Straßenverkehr haben und wissenschaftlich erwiesen ist, dass schon ab einer Auffälligkeit im Straßenverkehr mit 1,1 Promille davon ausgegangen werden muss, dass keine verantwortliche Einstellung mehr zum Thema Trinken und Fahren besteht.
Machen Verpflichtungen die Schuldgefühle leichter? Wird es besser?
Wenn das jemand zu dir sagt: „Wer weiß, was für eine Last dein Kind durchs Leben schleppen muss, weil du getrunken hast“, dann kannst du entgegnen: „Ja, stimmt, da hast du recht. Ich habe da eine Schuld auf mich geladen. Aber dafür habe ich dann auch das und das gemacht. Das hätte ich nicht machen müssen, aber ich habe mich dazu verpflichtet.“ Wie fühlt sich das an?
Etwas leichter, klarer … stimmt. Aber ich hatte damit geliebäugelt, dass man Schuldgefühle doch auflösen kann. Wegzaubern.
Ich denke, es gibt den auflös- und nichtauflösbaren Teil. Schuldgefühle können manchmal übertrieben sein, weil man sich übertrieben verantwortlich fühlt für etwas. Da sind wir jetzt an dem Punkt, der weder von der Philosophie noch von der Wissenschaft verstanden wird. Das ist die Frage des freien Willens, der moralischen Verantwortung. Die einen sagen, es ist alles determiniert – dann hätte ich natürlich überhaupt keine Schuld. Denn wenn alles vorherbestimmt ist, kann ich auch nichts daran machen, wie ich handle. Die anderen sagen, wir haben einen freien Willen und die Verantwortung für das, was wir tun. Und nur daraus entspringen ja auch die Schuldgefühle.
Ich denke, dass ein gewisses Leiden unter den Schuldgefühlen tatsächlich auflösbar ist: Wenn sich jemand aus der Schuld eine Pflicht zieht, diese Pflicht erfüllt und trotzdem noch sehr leidet, dann ist meist eine Illusion die Ursache. Eine Illusion von seinen Ich-Kräften. Von dem, was einem Menschen möglich ist. Auch das kenne ich aus Gesprächen mit Betroffenen: „Jemand wie ich muss doch in der Lage sein, so eine Fehlentwicklung rechtzeitig zu erkennen und zu stoppen!“ Da sage ich dann immer: „Vielleicht haben Sie eine Illusion davon, was ein Mensch kann? Vielleicht wollen Sie ein Supermensch sein?“ Da wäre dann genauer in der Therapie zu schauen, welche Vorstellungen von der eigenen Selbstbestimmung es gibt, welche Selbstbewertung, und wie realistisch diese Bewertung ist. Wenn z. B. ein Mensch als Kind jahrelang vernachlässigt wurde und deshalb den Rest seines Lebens damit zu kämpfen hat, dass er heftige Gefühlsreaktionen hat, bei so einem Menschen wäre es unrealistisch, wenn er von sich verlangen würde, ohne Training seine Gefühle genauso gut regulieren zu können wie jemand, der es im Leben nicht so schwer hatte.
Eine grundsätzliche Frage: Wenn Alkoholismus eine Krankheit ist, bin ich denn dann überhaupt schuld an all den schrecklichen Dingen, die ich im Zusammenhang damit getan habe?
Ich denke, Alkoholismus ist gar keine Krankheit, sondern ein bösartiger Trainingseffekt. Alkoholabhängigkeit entsteht durch eine Fehlentwicklung. Man kann den Alkohol zu etwas gut brauchen und denkt: „Naja, ist nicht toll, wie ich trinke, aber irgendwie kriege ich das schon mit meinen Lebenswerten unter einen Hut.“ Natürlich funktioniert das immer weniger. Aber weil man immer mehr angewiesen ist auf den Alkohol, findet man immer mehr Rechtfertigungen, bis man irgendwann einsehen muss, dass man sich seit Jahren belügt.
Wir sind mitverantwortlich dafür, wie wir unsere Erfahrungen auswerten. Zum Beispiel, wenn jemand sagt, „Eigentlich weiß ich gar nicht, ob ich so abhängig bin, ich hatte jetzt ein halbes Jahr lang am Wochenende nur ein paar Bier getrunken. Vor drei Wochen war es doch mal ein bissel viel, da bin ich ausgerutscht und habe mir den Kopf aufgeschlagen, und das hätte auch weit schlimmer enden können. Trotzdem habe ich wieder getrunken. Ich dachte, ausrutschen kann man auch ohne Alkohol“ … Hier sehen wir, wie jemand Ereignisse so interpretiert, dass er weitertrinken kann. Er könnte ja auch sagen: „Das geht gar nicht, wenn ich einmal mit Alk ausgerutscht bin, dann ist für mich Schluss! Ich sehe doch, dass ich so trinke, dass das immer wieder passieren kann!“ Und wir sehen, welche Verantwortung wir bei einer Fehlentwicklung in unserem Leben haben. Doch es ist sehr menschlich, in eine Fehlentwicklung zu geraten, die so tückisch ist wie die Sucht. Jeder, dem das im Leben nicht passiert, muss erstmal beweisen, dass er unter vergleichbaren Bedingungen nicht auch beginnen würde, sich was vorzuflunkern, um weiter auf falschem Kurs zu bleiben.
Ich hatte aber nicht das Gefühl, noch entscheiden zu können, wie ich die Ereignisse interpretiere, an denen ich hätte ablesen können, in welchen Sog ich geraten bin, es war wie eine Fernsteuerung …
Dass du das sagst und deine Verantwortung für deine Abhängigkeitsentwicklung relativierst, das ist ganz, ganz wichtig. Deshalb haben Betroffene auch die richtige Intuition, sich in Selbsthilfegruppen zusammenzuschließen, weil es niemand anderen geben kann, der wirklich beurteilen kann, wie tückisch die Sucht ist und unter welchen Zwang sie einen stellt. Wie ferngesteuert sich das anfühlt, weiß nur jemand, der das selbst erlebt hat.
Wir werden auf die Frage hier keine Antwort finden. Deshalb ist es immer nur sinnvoll, dass jeder Mensch sich eine sinnvolle Antwort selbst gibt: „Mir ist das passiert, ich bin abhängig geworden, habe Sch… gebaut. Meine erste Konsequenz ist, dass ich abstinent lebe. Meine zweite, dass ich schaue, wie ich mir aus dem, was ich angerichtet habe, eine Verpflichtung auferlegen kann.“
Das wäre ein gutes Schlusswort. Aber nochmal zur Verpflichtung: Wie groß muss sie sein, wie schwer?
Ganz wichtig: Es gibt eine Pflicht zur Ökonomie der Pflichterfüllung! Zu denken, ich muss mich ganz toll engagieren, für die Alkoholabhängigen, für die Kinder, für was auch immer, das führt ganz schnell dazu, dass man keinen Bock mehr hat, weil es einen völlig überfordert. Und wenn es nicht dazu führt, führt es zum Burnout. Nein, egal was für einen Sch… jemand gebaut hat, wenn er sich seiner Schuld verpflichtet fühlt, hat das nur Sinn, wenn er die Verpflichtung so dosiert, dass er sie in sein Leben gut integrieren kann. Das Fundament darf nicht wackeln. Erst das Leben, dann die Pflicht.
Für das Gespräch bedankt sich: Anja Wilhelm