TrokkenPresse 1-25: Frau und Sucht

Frau und Alkoholsucht heute, Teil 1:

Weshalb immer mehr Frauen alkoholabhängig werden …

Immer wieder gab es im letzten Jahr solche Schlagzeilen wie: Immer mehr Frauen trinken riskant, immer mehr Frauen werden wegen Alkoholkrankheit behandelt, immer mehr Frauen sterben an alkoholbedingten Folgeerkrankungen. Stimmt das denn? Die TrokkenPresse hat recherchiert, was dahinterstecken könnte.

Zahlenbrei mit Fazit

Erstmal … Verwirrung. Wenn Zahlen sich streiten könnten, dann täten sie das jetzt: Wer ist die wahre? Denn es gibt, verflixt, kaum vergleichbare, gesicherte statistische Auskünfte zu dieser einfachen Frage: Wie viele Frauen waren in Deutschland vor zehn Jahren alkoholabhängig und wie viele sind es jetzt – ist die Zahl tatsächlich gestiegen?

Es findet sich nur ein Sammelsurium aus ungleichen Berechnungsarten von verschiedensten Institutionen. Aus Befragungen mit Eigenauskunft, aus statistischen Erhebungen in der Bevölkerung, von Ärzten, Krankenkassen und Rentenversicherern.

Für 2012 zum Beispiel erklärt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 1,4 Prozent der Frauen zwischen 18-64 Jahren als alkoholabhängig (Männer 3,4 Prozent). Für 2023 dagegen sind von den Krankenkassen fast 490 000 Frauen wegen Alkoholkrankheit in Behandlung gewesen. Wie wollen wir das nun vergleichen?

Aber in diesem Falle konnte „Wunderwaffe“ KI helfen. Aus vielen verschiedenen Statistiken im Hintergrund berechnete sie in Windeseile: Im Jahre 2012 waren geschätzt 200 000 Frauen mit Alkoholkrankheit in Behandlung. Also wahrlich mehr als eine Verdoppelung!

Aber solche Daten werden doch immer nur grobe Schätzungen bleiben. Zu viele Dinge bleiben unberücksichtigt. Denn diese Zahl der Frauen, die in einer Suchtberatungsstelle Rat suchten, eine Entgiftung und Therapie besuchten und so in der Statistik auftauchen können: Sind das wirklich ALLE alkoholabhängigen Frauen? Viel eher sind es doch viel mehr, die eben nicht den Weg ins Hilfesystem nehmen.

Hinzu kommen zum Beispiel auch veränderte Definitionen der Alkoholabhängigkeit, die ebenfalls noch kaum eine Rolle in den Erhebungen spielten oder spielen: Im amerikanischen Kategoriensystem von Krankheiten gibt es lediglich nur noch den Begriff Alkoholkonsumstörung, der Missbrauch und Abhängigkeit in verschiedenen Schweregraden einschließt. In der aktuellen internationalen Klassifikation von Krankheiten (ICD 10) dagegen kann man nun auch ohne die „klassischen“ Symptome wie Entzugserscheinungen bereits als alkoholabhängig gelten.

Auch beim riskanten Alkoholgebrauch, dem „Missbrauch“, gibt es Entwicklungen in den Bewertungskriterien. Daher beruht die Schätzung, dass 2012 etwa 6,5 Prozent der deutschen Frauen zwischen 18 und 64 Jahren riskant tranken und 2021 bereits etwa 14 Prozent, also doppelt so viele, auch auf etwas wackligen Füßen. Denn damals lag der Maßstab für weitgehend unbedenklichen Genuss von Alkohol bei 12 Gramm Reinalkohol für Frauen (Männer 24 g). Das entsprach etwa einem Glas Wein. Das wandelte sich mit der Zeit in 10 g. Und inzwischen mahnen zum Beispiel die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), das Deutsche Krebsforschungsinstitut und andere an, dass es gar keinen unbedenklichen Konsum von Alkohol gibt. Grundlage dafür sind Studien, die einen linearen Zusammenhang z.B. zwischen Krebs und Alkoholkonsum beweisen. Was ist also mit riskantem Alkoholverhalten gemeint, einmal im Monat einen Rausch zu haben oder dreimal die Woche mehr als ein Glas Wein zu trinken oder jeden Tag ein großes? Das ist alles ein bisschen verschwommen.

Aber eines können wir wohl hier sicher zusammenfassend festhalten: Es sind doppelt so viele Frauen wegen einer Alkoholkonsumstörung in Beratung und Behandlung als vor zehn Jahren. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass mindestens auch doppelt so viele Frauen aus riskantem Alkoholkonsum in die Abhängigkeit gerutscht sein müssten.

Und das leider sehr viel schneller als Männer …

Rascher abhängig, schneller krank

Bei einer gleichen Trinkmenge wird eine Frau schneller und stärker betrunken als ein Mann. Das liegt zum Beispiel an den physiologischen Unterschieden: Der Körper einer Frau besteht nur zu etwa 60 Prozent aus Wasser (Mann: 70 Prozent), dafür aus ein paar Fettzellen mehr. Alkohol wird also weniger „verdünnt“ im Blut. Auch hormonelle Veränderungen wie Menstruation können die Wirkung verstärken. Zudem ist die weibliche Leber etwas kleiner, produziert also auch weniger Enzyme, die den Alkohol abbauen können. Ganz einfach gesagt: Die Gifte verweilen länger im weiblichen Körper, zum Beispiel auch das krebserregende Acetaldehyd der ersten Abbaustufe. Frauen leiden deshalb, wie wissenschaftliche Studien belegen, in weniger Alkoholkonsumjahren als Männer viel früher an alkoholbedingten Folgen wie Leber-Erkrankungen, Herz-Kreislaufproblemen und Krebs – und häufiger auch an psychischen Folgeschäden. Und eine aktuelle Querschnittsstudie aus den USA belegt, dass dort die Zahl der alkoholbedingten Todesfälle bei Frauen deutlich stärker ansteigt als bei Männern.

Trinken Frauen anders?

Hier erstmal ein kurzes, einfaches JA.

Zu Beginn ein Kurzausflug in die Geschichte. Seit der Antike, so ist es überliefert, tranken auch Frauen Alkohol. Ob Wein, Bier oder Gebranntes. Doch je nach Kultur, Epoche, Religion und gesellschaftlichem Rollenbild der Frau war es erlaubt oder gar verpönt. Aus dem Mittelalter kennen wir die „Biersuppe“ als Nahrungsmittel für alle, und Bier als normales Getränk statt des verkeimten Wassers aus den öffentlichen Brunnen. Adlige Damen nippten gesittet ihr Weinchen. Später, im europäischen 19. Jahrhundert zum Beispiel, zechten Männer in den Wirtshäusern, auch Arbeiterinnen waren da zu Gast, aber eher selten. Aber für Frauen, besonders die des Bürgertums, ziemte sich das gar nicht. Und so ging es noch eine ganze Weile weiter … bis ganz langsam, im Grunde erst richtig nach dem 2. Weltkrieg und mit dem Wirtschaftswunder in der BRD, Frauen endlich mehr sein durften als nur Hausfrau und Mutter, nämlich ebenfalls arbeiten konnten. Das alte Rollenbild der Frau begann zu zerbröseln, dank der feministischen Bewegungen, die Gleichheit und Selbstbestimmung forderten und immer mehr durchsetzten. Der Genuss von Bier, Wein, Spirituosen und Cocktails, auch öffentlich, wurde nun zunehmend akzeptiert, aber: Bitte nur gesittet! Betrunkene Frauen sind oft sogar heute noch ein No-Go. Für die Männer. Und auch für sich selbst, gerade bei Frauen der älteren Generationen …

Denn aus dieser tiefverwurzelten Tradition, bloß nicht öffentlich zu saufen oder gar dann herumzutorkeln, erklärt sich vermutlich auch die Art des heutigen missbräuchlichen Trinkens der Frauen: Nämlich heimlich. Nicht wie Männer lärmend in Gesellschaft draußen, sondern am besten allein und zuhause, im Verborgenen. Still und ohne aufzufallen, nicht den Kollegen und Chefs, nicht den Bekannten. Bloß nicht. Die Scham ist zu groß, sitzt zu tief. Frauen saufen nicht!

Wobei wir hier inzwischen Generationen unterscheiden sollten: Ganz junge Mädchen machen meist keinen Hehl mehr daraus, sie konsumieren, den Jungen ebenbürtig und „selbstbestimmt“, egal wo, egal wann. „Junge Menschen werden bei uns zum Glück in einer Welt groß, wo jungen Frauen die gleichen Möglichkeiten und auch die gleichen Risiken offenstehen wie jungen Männern“, stellte der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie Falk Kiefer, unlängst in einer MDR-Sendung fest. Es sei naheliegend, dass sich auch das Trinkverhalten angleiche.

Und auch die etwas älteren, aber noch jugendlichen Frauen der Generation Y trinken heute ohne Scheu ihren Aperol Spritz oder den Weißwein zu Mittag im Café. Nur das Mehr, das sie vielleicht irgendwann brauchen, das bleibt dann geheim.

Andere Trink-„Gründe“ als Männer?

Frauen trinken nicht nur anders als Männer – sondern meist auch aus anderen Gründen. Was Christina Schadt von der Fachstelle für Suchtprävention Berlin in einem früheren TP-Interview erklärte, ist auch heute noch aktuell: „Viele Frauen kümmern sich auch heute noch zuerst um andere und wollen um jeden Preis funktionieren und ihren Alltag bewältigen. Anders als Männer richten Frauen sich meist an den Anforderungen von außen aus. An dem, was andere von ihnen wollen. Nicht daran, was sie selber wünschen. Frauen wollen heute beides, einen Beruf, der sie erfüllt und den sie gut ausfüllen, aber gleichzeitig auch gut die Familie versorgen. Diese Doppelbelastung kann zu Überforderungssituationen führen. Denn noch immer erhalten Frauen traditionell zu wenig Unterstützung von der Familie, vom Partner. Solche Situationen der hohen Belastung versuchen Frauen – im Gegensatz zu Männern – mit sich selbst zu klären. Und trinken Alkohol, weil sie sich zum Beispiel entlasten und entspannen wollen.“

Und im Therapiekonzept der Fachklinik Legau, einer Suchtklinik nur für Frauen, heißt es: „Wie jede andere persönliche Leidensgeschichte einer Frau ist auch die Entwicklung hin zur Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit im Ganzen nur zu verstehen, wenn wir die Rolle der Frau in der Gesellschaft betrachten. So wird in der Regel die Entwicklung des Mädchens/der Frau z. B. stärker geprägt sein von der Erfahrung der Anpassung und der Abhängigkeit in Beziehungen, einer intensiveren Bindung an die Familie, einer geringeren Chancengleichheit … Nicht selten machen Frauen schon sehr früh Erfahrungen mit männlicher Unterdrückung und sexueller Gewalt. Viele Patientinnen waren über eine lange Zeit einer Mehrfachbelastung ausgesetzt: Sie sind gleichzeitig berufstätig, führen den Haushalt alleine und ziehen Kinder groß. Oft versorgen sie auch noch hilfsbedürftige Angehörige.“

Etwas Entspannung finden von all der alltäglichen Verantwortung. Sorgen oder die Ängste, etwas nicht zu schaffen, ein wenig betäuben. Wie z. B. Food-Journalistin und Buchautorin Eva Biringer zusammenfasst: „Wenn man den ganzen Tag nicht weiß, wo einem der Kopf steht als Frau, vielleicht auch noch als Mutter, aber auch als Frau, die einen Job hat, der sie fordert … dann ist da das Glas Wein am Abend der erste Moment, in dem man sich mal was Gutes tut – mal durchatmen, mal Zeit für sich.“ Und dies kann schleichend immer mehr werden bis hinein in die Abhängigkeit. Selbst der bloße Druck im Beruf kann da genügen, wie bei Jovana aus Berlin, sie hatte einen Job im Silicon Valley, in ihrem nachfolgenden Bericht (s. S. X) erzählt sie: „Während das Leben in Kalifornien von außen betrachtet perfekt ist, hole ich mir meinen Ausgleich auf eine Weise, die niemand sieht – vor allem nicht ich selbst. Jeden Abend brauche ich mehr, um runterzukommen. Ein Glas Wein reicht schon lange nicht mehr, um diesen Zustand zu erreichen.“

Emanzipation auch im Innen nötig?

Viele unserer Leserinnen und Autorinnen beschreiben in ihren Erfahrungsberichten, dass sie etwas ganz Bestimmtes lernen mussten, um zufrieden trocken bleiben zu können: Nämlich sich auf sich selbst zu Besinnen. Die eigenen Bedürfnisse nicht mehr hintenan zu stellen, sondern endlich vornedran. Was möchte ich, was möchte ich nicht? „Jetzt bin ich ICH“, stellt Heike in ihrem Bericht auf S. X fest. „Nein. Das ist ein ganzer Satz“, stellte Alexandra in einer anderen Ausgabe der TrokkenPresse fest. Die ureigenen Bedürfnisse zu erkennen und sie ernst zu nehmen, das scheint für Frauen ein Haupt-Weg aus der Sucht zu sein.  Und vielleicht auch, um gar nicht erst hineinzurutschen?

Das Einfache, das schwer zu machen ist … denn es bedeutet, sich einer Konditionierung, die über hunderte Generationen hinweg immer weitergegeben worden ist, zu stellen:

Ich bin damit aufgewachsen wie Millionen anderer Mädchen auch: Meine Oma hat immer zuerst dem Opa Essen das Essen aufgetan, sich selbst ganz zuletzt. Hat die verstoßenen Babykaninchen mit der Flasche gefüttert, uns Enkeln die Wärmflasche ins Bett gelegt, meine Schnittwunde liebevoll gepflastert … Oma, immer Oma. Daheim hat meine Mutter für Essen und Sauberkeit gesorgt, trotz ihrer Arbeit als Lehrerin. Und mir viel Verantwortung für den kleinen Bruder auferlegt. Und fürs Mitputzen und Einkaufen ebenso. Diese „Vorbilder“ und erlernten Verhaltensweisen speichern sich in Kindheit und Jugend nachweislich un-hinterfragt im Unterbewusstsein ab: Fürsorge, Anpassung, Opferbereitschaft, immer die anderen zuerst. Noch heute mahnt mein Mann mich, als inzwischen 62-Jährige: „Immer denkst du zuerst an die anderen. Denk doch mal zuerst an dich!“

Aha! Ich sehe es, ich weiß das, kann es aber wohl doch kaum abschalten. Und gebe es dann, allein durch mein bloßes Verhalten, unbewusst wieder weiter an Kind und Enkelin …

Mein Fazit: Gleichberechtigung im außen, sogar gesetzlich verankert – Frauen lernen, studieren, arbeiten, werden Bauingenieurin, KFZ-Schlosserin oder Politikerin –, ist „nur“ das eine. Ich denke, wir Frauen müssen uns ganz bewusst auch in und vor uns selbst emanzipieren, alte Rollenbilder auslöschen, uns befreien davon. Und sie nicht wieder weitergeben an unsere Töchter und Enkelinnen.

Und dazu gehört auch, Emanzipation nicht falsch zu verstehen: Wenn Frauen arbeiten wie die Männer, „dürfen“ sie natürlich heute auch gesellschaftlich anerkannt trinken wie die Männer. Aber wir MÜSSEN DAS NICHT.

Oder was meinen Sie dazu?

Liebe LeserInnen, es gäbe noch viel, viel mehr zu sagen zu diesem großen Thema, aber wir führen es in der nächsten Ausgabe ja fort. Im Teil 2 geht es darum, dass Frauen eine auf ihre Bedürfnisse angepasste Therapie benötigen …

 

Anja Wilhelm

 

Die TrokkenPresse 2/25 erscheint …

Die Ausgabe 02/25 der TrokkenPresse erscheint ab 15. April:

+++ Inhalt: trokkenpresse.de/aktuelle-trokkenpresse/titelinhalt/.

+++ Aktuelle Leseproben:

-Gedanken zur Zeit: trokkenpresse.de/aktuelle-trokkenpresse/kolumne/,

-Ich darf nochmal leben: trokkenpresse.de/aktuelle-trokkenpresse/thema/,

-Hausdestille: Die Insel: trokkenpresse.de/aktuelle-trokkenpresse/erfahrungen/.

+++ Zeitschrift erwerben: trokkenpresse.de/kaufen/


Hier stellen wir Ihnen auch weiterhin die Ausgabe, die coronabedingt nur elektronisch erscheinen konnte, kostenlos zur Verfügung. Hier der Link zum ganzen Heft:

TrokkenPresse 02-20

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TrokkenPresse 6/24: Mia Gatow über Buch und Nüchternheitsbewegung

Mia Gatow über ihr Buch, den SodaKlub und die Nüchtern-Bewegung:

Wir wollen das Stigma zerstören

Sie hat nicht nur ein bereits jetzt sehr erfolgreiches Buch geschrieben, „Rausch und Klarheit“ (Rezension S. XX) – sondern vor einigen Jahren schon mit Mika Döring       den SodaKlub Podcast gegründet. Der Podcast und das dazugehörige Online-Magazin       zum nüchternen Leben hat inzwischen eine große Gefolgschaft. Mia und Mika, beide waren selbst alkoholabhängig, wollen ihre Freude am klaren Leben ohne Alkohol mit vielen Menschen teilen: Sie sind Aktivistinnen der neuen Nüchternheitsbewegung. Die TrokkenPresse hatte viele Fragen an Mia Gatow …

Erstmal zu deinem Buch, liebe Mia. Warum hast du es geschrieben?

Ursprünglich hatte ich es angefangen, um mir selbst meine Abhängigkeit zu erklären. Um dieses Thema zu rekonstruieren, eindrücklich zu verstehen. Dann habe ich gemerkt, dass ich mit meinem lückenhaften Wissen darüber nicht alleine bin, weil es ganz wenig besprochen wird. Also wollte ich ein bisschen zur Aufklärung beitragen – und auch das Image der Nüchternheit verbessern. Denn zu der Zeit, als ich aufgehört hatte zu trinken, gab es in Deutschland noch keine Blogs, keine Podcasts, keine Aktivistinnen. Nur Selbsthilfegruppen, die total stigmatisiert waren, kaum Information darüber, wie geil es ist, nüchtern zu sein. Ich will mit dem Buch ausdrücken, dass es einfach der bessere Seinszustand ist. Dass man das feiern kann. Dass man keine Angst davor haben muss, im Gegenteil, dass man sich darauf freuen kann.

Warum hast du diese … Jahre getrunken?

Alle um mich herum haben getrunken, ich habe mich einfach meinem Umfeld angepasst. Meiner Familie, in der später auch Menschen      an Alkoholismus gestorben sind und dann auch mein       Freundeskreis, als ich im Nachtleben von Berlin gearbeitet habe. Da nicht zu trinken hätte einen Reflexionsprozess erfordert, ich hätte mich bewusst damit beschäftigen müssen, um sagen zu können, nee, ich will das nicht. Dafür hat man ja erstmal keinen Grund, wenn das normal ist. Ich hatte keine tieferliegenden besonderen Probleme. Ich habe das gemacht, weil es einfach Normalität ist in unserer Gesellschaft.

Trifft das so auf die meisten jüngeren Menschen zu? Oder haben jüngere Generationen noch besondere Trink-Gründe?

Ich glaube, jeder Mensch findet irgendwelche Trinkgründe. Leid, Schmerz, Unsicherheit, Angst, das ist alles Teil des Lebens und keine Generationenfrage. Wobei ich die Kriegsgeneration rausnehme, weil sie wirklich extreme Dinge erlebt hat und extrem untherapiert war. Aber du findest ja im Jahr 2024 genauso Gründe, dich zu besaufen. Rechte Parteien auf dem Vormarsch, Gewalt gegen Frauen, Krieg … es ist ja nicht so, als würde das Leben immer besser und besser werden, wenn man nur ein paar Generationen wartet. Die Generation Z, die trinkt ja weniger statistisch gesehen, mir würden jetzt aber spontan ganz viele Gründe einfallen, warum ich trinken würde, wenn ich 23 wäre: Die Politik gibt‘n Scheiß auf diese Generation, die sind krass in der Minderheit, der Planet wird zerstört vor ihren Augen … klar trinkt man da, würde ich jetzt denken.

Bei den AA sagt man übrigens, trinken kommt vom Trinken. Und die Suche nach Gründen ist eine Ablenkungsstrategie.

Aha?

Alkohol ist eine Droge, die macht abhängig und ist stark normalisiert in unserer Gesellschaft, da braucht man nicht wirklich Ursachen zu erforschen. Wenn du eine Substanz hast, die billig und überall verfügbar ist, dich betäubt, dein Leben weichzeichnet und alle um dich herum sie nehmen, dann machst du das halt.

Stichwort Anonyme Alkoholiker. Du hast dort deine Kapitulation erlebt. Warum bist du dort und nicht beim Kreuzbund oder den Guttemplern?

Ich bin zuerst zu den AA gegangen, weil ich das Gefühl hatte, das ist das Original, ich kannte das aus meinen amerikanischen Serien, es war mir als Marke bekannt. Die anderen Vereine halt nicht. In Berlin gibt es auch sehr viele Meetings zur Auswahl. Und mir hat meine Gruppe so gut gefallen, dass ich nichts anderes mehr brauchte. Es war sofort ein Treffer, ein großes Glück.

Du hast weder Entgiftung noch Therapie gebraucht, nicht täglich getrunken. Gibt es unter deinen Lesern und Hörern auch mal die Meinung, du wärest ja nur eine „Alkoholikerin light“?

Klar, gerade in den sozialen Medien oder wenn Interviews veröffentlicht werden, unter den Kommentaren. Da gibt es Leute, die sagen, was will die Kleine uns denn erzählen, die hat ja gar nix erlebt, die war ja noch nicht mal in der Klinik.

Das hatte ich so geahnt …

Leute, die einen extremen Tiefpunkt hatten, haben häufig das Bedürfnis, andere Leute, die den nicht hatten, als Mauerblümchen abzustempeln oder als Leute, die keine Ahnung haben …

Ich habe mich auch dabei ertappt … zum Beispiel habe ich gestutzt, dass mit deiner Kapitulation im ersten Meeting der Kampf vorbei war für dich. Für mich fing der Kampf in der Abstinenz erst richtig an.

Meine Krankheitseinsicht, meine Kapitulation, hatte für mich dieses innere Zerren beendet. Ich hatte aufgehört, zu versuchen, das Trinken zu kontrollieren. Damit war der Kampf mit dieser Substanz für mich vorbei. Das Leben war dann nicht automatisch geil, ich hatte ja immer noch Probleme. Aber ich hatte viel mehr Ressourcen, sie zu lösen, weil ich nicht dauernd geschwächt war. Ich weiß natürlich, dass es nicht für alle so „einfach“ ist. Ich kenne viele, die mehrere Male in Kliniken waren. Oft lag es daran, glaube ich, dass sie immer noch den Wunsch hatten, den Alkohol im Leben zu behalten und die Kapitulation nicht erlebt haben. Das ist vielleicht der Unterschied. Und hat vielleicht nichts damit zu tun, wie weit man schon körperlich abhängig war …

Ich war Pegeltrinkerin und wusste nach der Entwöhnung nicht, wie ich alles, vom Einkaufen bis zum Kochen oder gar Arbeiten, ohne Alk erledigen soll. Das war mein Kampf, und anderen ging es ebenso …

Ja, wenn du alles, was dein Leben betrifft, mit Alkohol machst, dann ist natürlich auch alles ein Trigger, und das hatte ich ja nicht. Ich hatte Tage und Tätigkeiten, bei denen ich nicht getrunken habe, ich hatte noch Inseln, auch Leute, die damit nix zu tun hatten. Deswegen war es vielleicht einfacher. Deshalb ist es ja auch so wichtig, viel früher, so früh wie möglich, zu intervenieren, wenn noch nicht das ganze Leben davon verseucht ist.

 Euch geht es ja gerade darum, den Tiefpunkt gar nicht erst erleben zu müssen, oder?

Absolut. Es geht darum, ob mit dem Buch oder dem SodaKlub und mit der neuen Nüchternheitsbewegung, dass die Leute viel früher ihr Trinken hinterfragen. Nicht erst dann, wenn ich schon extrem abhängig bin, sondern schon zu einem früheren Zeitpunkt. Und es geht uns um eine Entstigmatisierung. Dass wir irgendwann an den Punkt kommen, an dem Trinken nicht mehr normalisiert ist, sondern einfach klar ist, dass es ein Drogenkonsum ist – und keine Menge gut ist. Und dass die Menschen, die davon geschädigt werden, nicht irgendwie komisch oder charakterschwach sind, sondern dass es normal ist, von so etwas Schädigendem geschädigt zu werden.

Du meinst, das Stigma des Alkoholikers aufzulösen?

Im Schnitt vergehen noch 10 Jahre von den ersten Zeichen der Abhängigkeit an, bis sich die Leute Hilfe suchen. Eine komplette Dekade, das ist unheimlich lang. Aber wenn das Stigma aufgebrochen wird und die Leute sich nicht mehr schämen, wenn das normalisierter ist, dass man sich wegen Abhängigkeitserkrankungen Hilfe sucht, dann machen die Menschen es einfach früher. Das ist das Hauptziel dieser Bewegung, Entstigmatisieren und dadurch den Betroffenen früher Ressourcen zu bieten, etwa zu ändern.

Wie groß ist diese neue Nüchtern-Bewegung inzwischen?

Das wüsste ich auch gerne. Es werden definitiv immer mehr und mehr, wir merken das total, aber wir haben noch keine Zahlen.

Braucht es auch andere Wege in der Suchthilfe, um Menschen zu helfen, die frühzeitig aufhören wollen?

Die Suchthilfe ist stark unterfinanziert, das ist schon mal das größte Problem. Die Leute, die da arbeiten, sind total engagiert, haben richtig Bock, viel zu machen, aber müssen die Projekte ständig neu beantragen, viel Papierkram machen, sind überlastet. Es wird oft gesagt, dass die Betroffenen nicht erreicht werden, aber auch das hat, glaube ich, damit zu tun, dass die Suchthilfe nicht viele Ressourcen hat, die Leute zu erreichen. Und in der Therapie ist wahrscheinlich das größte Problem, dass Abstinenz vorliegen muss, damit man eine Behandlung bekommt und das verhindert, dass man Hilfe bekommt, wenn man sie m meisten braucht. Natürlich ist es auch ein Problem, dass die moderne Medizin-Ausbildung das Thema Sucht nicht zwingend behandelt. Der Themenkomplex ist nur eine Option, Mediziner werden nicht geschult darin. Das sind schon viele Stellschrauben, an denen man drehen könnte.

Wenn ich jetzt so trinken würde wie du damals, also eben auch mal Tage nicht, würde ich in der Suchtberatung nicht einfach wieder weggeschickt werden, weil ich noch nicht ganz unten bin?

Ich war mal mit 23 in einer Suchtberatung und habe gesagt, dass ich glaube, ein Problem mit Alkohol zu haben. Mir wurde erwidert: Versuchen Sie doch einfach mal, nicht zu trinken. Und ich meinte: Das ist gar nicht mein Problem. Wenn ich nicht trinke, dann ist ja alles ok, mein Problem habe ich ja, wenn ich trinke. Ich wollte sozusagen besser trinken von ihnen lernen … Die haben mich nicht weggeschickt, aber gesagt, naja, dann müssen wir halt mal gucken, ob es das klappt, zu regulieren … Nachher habe ich mir überlegt, das war null hilfreich. Aber andererseits, ja, was sollen sie auch machen? Weggeschickt wird man nicht. Aber man muss wirklich wollen, um dann auch wiederzukommen. Ein Symptom ist ja, dass man nicht wirklich aufhören will.

Ihr benutzt lieber Worte wie nüchtern, sober statt trocken oder gar Alkoholiker, warum?

Man muss jetzt nicht die alten Begriffe abschaffen, aber mal ein paar neue dazu? Nüchtern mag ich auch lieber als trocken, das ist mir zu altbacken, so düster. Und Alkoholiker ist ein sehr stigmatisierender Begriff, sehr negativ besetzt. Er suggeriert auch: Es gibt die normalen Leute, die mit Alkohol zurechtkommen, das ist die Norm, dass wir das moderat alle machen – und dann gibt es die Alkoholiker, die schaffen das nicht. Deswegen sind die komisch und krank, weil die das nicht hinkriegen. Obwohl ich glaube, wenn das Stigma langsam abgebaut wird, wird dann auch dieser Begriff vielleicht nicht mehr so extrem wahrgenommen, weil sich die Sprache der Realität anpasst.

Aber viele alkoholkranke Menschen benutzen den Begriff ja selbst?

Natürlich hat er eine lange Geschichte und viele Alteingesessene, die AA zum Beispiel, benutzen ihn sogar mit Stolz, das ist ja auch legitim. Aber der Ursprung ist eigentlich eine veraltete Auffassung von Alkoholismus: Er stammt noch aus der Zeit, als Alkoholismus nicht als Krankheit anerkannt war, sondern als eine Charakterschwäche gesehen wurde.

Ich habe den Eindruck, die neue Nüchternbewegung ist vorrangig weiblich?

Ja. Auch unter den Leuten, die medial arbeiten wie wir oder Nathalie Stüben und in unserer Gefolgschaft. Es gibt zwar auch Männer – ungefähr 30 Prozent würde ich schätzen – … wir würden selbst auch gerne wissen, wieso das so ist, es ist irgendwie rätselhaft. Ich kann mir vorstellen, dass es bei Frauen weniger stigmatisiert ist, wenn sie sich helfen lassen, wenn sie Schwäche oder das, was als solche ausgelegt wird, zeigen. Also dass Frauen sozial weniger dafür bestraft werden.

Welche Fragen haben deine Gäste bei deinen Buch-Lesungen?

Eine der häufigsten ist: Was kann ich machen, wenn einer, der mir nahesteht, zu viel trinkt? Oder: Wie komme ich klar, wenn alle um mich herum trinken? Und auch: Wie managt man das Liebesleben nüchtern? Es geht meist darum, wie Trinkende und Nichttrinkende zusammenkommen, das ist die Hauptsorge.

Solche Themen greifst du ja auch im SodaKlub auf. Wodurch unterscheidet ihr euch von anderen Podcasts zum Thema?

Wir bereiten wenig redaktionell vor, weil wir ein bisschen so wie aus dem Nähkästchen plaudern wollen, das war immer das Konzept. Wir haben auch Folgen, die eher fachwissenschaftlich sind, aber die meisten sind lässige Gespräche über die Nüchternheit, realistische Gespräche, die man auch mit nüchternen Freundinnen haben kann. Deshalb können wir schnell und viel produzieren, denn wir beide haben sowas in unserer frühen Nüchternheit ganz viel konsumiert, als Hintergrundrauschen für unser alltägliches Leben.

Wie viele Zuhörer habt ihr?

So etwa 30 000 Leute im Monat.

Das klingt viel …

Es ist trotzdem noch ein Nischenpodcast. Aber die Hörerschaft ist sehr eng verbunden mit uns. Wenn uns jemand hört, dann bleibt er auch dran. Es gibt wenige, die uns nur punktuell hören. Wir sind wirklich eine Community. Viele finden das sehr wichtig, eine starke Gemeinschaft.

Wer gehört zur Community?

Die meisten sind Frauen, 70 Prozent etwa, von Mitte 20 bis Mitte 50, die Kerngruppe. Aber es gibt auch ältere und jüngere Hörer. Menschen eben, die Podcasts hören. Also eher weniger Ältere, die das Medium normalerweise gar nicht konsumieren. Es gibt schon auch Leute, die stark abhängig waren. Die meisten sind aber Leute, die ohne Klinik an einem früheren Punkt aufgehört haben, so wie wir. Wir versuchen, mit unseren Gästen einen guten Mix herzustellen, egal, an welchem Punkt jeder aufgehört hat.

Euer Ziel mit dem Podcast?

Das Stigma kaputt zu machen. Wir wollen, dass alle Leute, die aufhören, stolz darauf sind, dass sie aufgehört haben. Dass das Anerkennung kriegt, dass es gefeiert wird, dass es nicht als Mangel wahrgenommen wird, sondern als was Positives, als Errungenschaft, als ein Gewinn – weil es das ja auch ist!

Für das Gespräch bedankt sich: Anja Wilhelm