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Titelthema 05/11: Seelenhunger – Suchtentwicklung – Mut zur Veränderung

Seelenhunger – Suchtentwicklung – Mut zur Veränderung

Eine Bilanz. Wie Erwartungsdruck, Überforderung und mangelndes Selbstbewusstsein in die Abhängigkeit führen und mir eine schöne Welt vorgaugelten. Heute bin ich sieben Jahre trocken und verstehe, dass ich mich selber betrogen habe.

Hans-Jürgen Schwebke

Ich bin trocken. Seit sieben Jahren kein Alkohol, kein Zellgift. Ich habe nichts versäumt. Nun weiß ich durch die Therapie und meine ständige Auseinandersetzung mit mir: Ich konnte nicht mehr der mir in der Kindheit erworbenen bis ins maßlose überhöhten Bereitschaft, Erwartungsdruck zu registrieren und zu erfüllen, nachkommen – schon gar nicht ohne Alkohol. Mein ganzes Denken wurde durch diesen Druck, Fremderwartungen zu registrieren, dominiert und das führte zu permanenten Überforderungen. Und dann war der Alkohol zur Stelle. Ich habe nunmehr gelernt und erfahren, dass es eine andere, eine wesentlich gesündere Möglichkeit, mit Anforderungen und Erwartungen der Gesellschaft umzugehen, gibt und das ist eben Mut. Mut bedeutet auch, seine Gefühle nicht den Erwartungen anderer unterzuordnen. Ich machte die Erfahrung: Wenn ich mir Rückzug gestattete, fühlte ich mich freier! Dieses Gefühl zu erleben und kein Alkohol dazu mehr zu brauchen, hieß für mich, den Alkohol in seinen Funktionen, wie ich sie im Folgenden beschreibe, zu entmachten. Wie viel Mut, Kraft und Selbstveränderung ich aufbringen musste und muss, wird vor diesem Hintergrund deutlich. Vielleicht auch, warum es so viel Zeit brauchte mich auf den Weg aus der Sucht zu begeben.

Alkohol. Mit Alkohol konnte ich viel Freudvolles erleben und doch führte er mich in die Verelen­dung. Ich gebrauchte ihn als Medizin und merkte nicht seine Wirkung als Gift. Er war für mich Nahrungsmittel, weil kalorienreich, ohne es gewahr zu werden, dass ich durch seinen Miss­brauch das Essen ver­lernte. Als besonders wertvolles, geeignetes Geschenk für schöne An­lässe und sehr gute Freunde, zur persönlichen Aufwertung, als soziales Geselligkeits- und Bindungsmittel diente er mir häufig – und doch vereinsamte ich. Ich entspannte, verdrängte Probleme (eine wichtige Funktion und Fähigkeit des Menschen) und bekam Lust. Aber der Genuss von Alkohol führte bei mir ebenso zu Ängsten, krankhaften Ängsten und Stress in vielfältigster Art, ja er ver­stärkte die entstandenen Leiden nur noch mehr.

Alkohol. Er wird bis heute besungen und literarisch verehrt, es wird ihm gehuldigt. In der Studentenzeit sangen wir bei seinem Genuss Lieder und verherrlichten ihn. Nur Wenige ver­teufelten ihn. Und ich schwankte sehr lange zwischen diesen beiden Polen. Bis ich nach fast dreißig Jahren zu der Überzeugung kam: Ich will keinen Alkohol mehr trinken, weil mir der Preis zu hoch ist, den ich beim Weitersaufen zahlen muss. Erst die Gesundheit zu ruinieren und dann auch schneller zu sterben. Dennoch hatte er für mich durchaus positive Wirkungen. Ein im nassen Zustand nicht zu erkennender, nicht aufzulösender Widerspruch.

Ich trieb mich mit Alkohol zu Höchstleistungen, wuchs als Einzelner über mich und andere hinaus. Er war mir als soziales Schmiermittel zu Nutze, so wie ich auch mit ihm geschmiert habe. Ich ließ mich von ihm verführen und genoss ihn. Er war mein Durstlinderer und – lö­scher. Was ich nicht erfühlen konnte, war der Wandel vom Genuss zum Muss. „Der Teufel steckt im Detail“ sagt ein Sprichwort. Aber nicht der Alkohol selbst ist der „Teufel“, sondern ver­teufelt schwer kann angemessenes Verhalten im Umgang mit Alkohol fallen.

Alkohol. Ich trank ihn in hoher Qualität zu festlichen Anlässen, bei Konzerten, russischen Heldenverehrungen, in rumänischen Palästen, zu großen Empfängen, in diplomatischen Zusammenhängen und auch in armer, verdreckter, stinkender Umgebung, allein auf Parkbänken dahinvegetierend, in Toiletten und während der Arbeit heimlich und unheim­lich.

Ich lernte ihn in kultischen Handlungen kennen. Er war für mich in guten wie in schlechten Zeiten ein Tröster und Verführer. Schlechte Abschlüsse, Noten oder Prüfungsergebnisse wa­ren ebenso Anlass für sein Runterstürzen wie das Begießen meines mit „Gut“ abgeschlossene Abiturs oder des mit „Sehr gut“ abgeschlossenen Diploms als Staatswissenschaftler (Außen­politik). Er begegnete mir in familiären Zusammenhängen, die ich nur bei anderen als Au­ßenstehender kennen lernte. Ich hatte ja keine Familie, dabei wollte ich so gern dazu gehören. Ich bin heute noch den vielen „Fremden“, die mir als Heimkind einen Einblick in ihren zwi­schenmenschlichen und individuellen Bereich ermöglichten, dankbar. Dort hatte Alkohol oft eine tiefere soziale und kulturelle Bedeutung, als man gemeinhin bewusst wahrnimmt: Ge­burtstage und Jubiläen, Tod und Freitod, Hochzeiten, Scheidun­gen, Beförderungen und Nichtberücksichtigung bei denselben waren immer zugleich Anlässe, bei denen getrunken wurde. Ich trank mit. Weil wir nicht mehr so jung zusammenkommen. Weil ich zu den Er­wachsenen dazu gehören will. Weil es so üblich ist. Weil ich nicht Schwä­che zeigen will. Auch, weil ich den Alkohol brauche? Wann trat dieser Zeitpunkt ein? In mei­ner unbändigen und immer ungestillten Sehnsucht nach Familie genoss und soff ich mit. Es reizte mich, als gleichwertig standfester Trinker mitzuhalten. Und ich hatte dabei auch Aner­kennendes zu hören bekommen. Ich war ebenbürtig und gehörte dazu. Das Gelernte, wozu auch familiäre wie gesellschaftliche Bräuche und Sitten gehörten, gab mir im Laufe meiner Abnabelung aus den strengen Fesseln des Kinderheimes draußen in der Welt scheinbar „Si­cherheit“ im Auf­treten sowie auch zeitlich begrenzt das tiefe Gefühl der Zufriedenheit, Glückseligkeit und des Vergessens meiner elternlosen Situation. Meine ersten Vollräusche erlebte ich in einigen dieser Familien mit 15/16 Jahren.

Ich konnte mich mit Alkohol selbst belohnen, Ruhe finden, dem Alltag im Kinderheim durch rauschähnliche Zustände entfliehen. Freunde wie Feinde sollte ich beeindrucken. Im Rausch ließ ich wie andere auch meine individuellen Grenzen hinter mir, folgte der Masse ohne Rücksicht auf persönliche Verluste, die der Gesundheit, der Freiheit zu entscheiden, wann ich trinke und wann nicht, wie viel oder wenig. Und ich ließ mich zu Taten hinreißen, für die ich mich im nüchternen Zustand schämte.

Ich befand mich im ständigen Spannungsfeld zwischen Disziplin, Anstand, Konventionen, Ordnung, Kontrolle und Selbstkontrolle, Leistung und Bestehen, Ein- und Unterordnung so­wie dem Angenehmen, dem  Rausch, der Entrücktheit und der daraus resultierenden totalen Übersteigerung meiner Emotionen und meines Tuns. Beides in Balance zu halten gelang mir infolge der unbemerkten, schleichenden Dosissteigerung zunehmend weniger.

Alkohol. Und beruflich: Bei festgefahrenen, in die Sackgasse geratenen Verhandlungen und internationalen Konferenzen war der Alko­hol ebenso anwesend wie bei erfolgreichen Vertragsabschlüssen und den Feiern von histori­schen Anlässen. Ich bestand im Beruf. Der gesellschaftliche Umbruch „beförderte“ meine Alkoholkarriere steil nach unten. Es wurde immer schwieriger Arbeit zu bekommen, weil ich in meinem Zustand zum Schluss nicht einmal mehr zu einem Bewerbungsgespräch gehen konnte, ohne als Alki aufzufallen.

Alkohol wurde von mir als wertvolle Medizin gegen Grippe und Schlafstörungen benutzt. Ich beruhigte mich mit ihm, trank mich in den Schlaf und konnte Nervosität mit ihm unterdrü­cken. Meine Flugangst bekämpfte ich mit ihm. Vor Prüfungen und öffentlichen Reden, bei Ar­beitsanforderungen und Leistungsdruck erlöste er mich von dem Übel der Versagensangst, machte mich lockerer. Die erwarteten Leistungen erbrachte ich weit über das Maß hinaus. Ich war glücklich und stieß bei jeder Gelegenheit darauf an.

Ich schloss mich den Ritualen des Trinkens der Kameraden in der Kaserne freiwillig und un­freiwillig zugleich an, um nicht als Außenseiter, der ich ohnehin war, aufzufallen. Faschistoi­den Auswüchsen in der Armee, die unter Alkoholeinfluss der Soldaten geschahen, widersetzte ich mich mit dem Mut der Verzweiflung, der Angst vor körperlichen Angriffen, die ich nicht verhindern konnte.

Alkohol. Ich trank ihn auch zur Vorprüfung für die Fahrerlaubnisprüfung. Ich nahm dieses Tabu gar nicht wahr. Zu meiner ersten selbständigen Fahrt trank ich mir Mut an und es dau­erte mal gerade 30 Sekunden Ausfahrens aus einer Parklücke bis zum ersten und letzten Un­fall. Ich entzog mir sofort den Führerschein und schloss ihn in eine Stahlkassette weg. Das war Anfang der 90er Jahre – also 20 Jahre vor dem Ende der Alkoholkarriere. Anderen ge­genüber erklärte ich, dass ich nicht gut fahren würde und wegen meiner Verantwortung vor mir und für meine Mitmen­schen lieber nicht fahre. Wer würde mich eines Alkoholproblems verdächtigen? Ich betrog mich selbst und belog andere.

Alkohol. Als Appetitanreger, Verdauensbeförderer und Geschmacksverstärker lernte ich den Alkohol kennen und schätzen. Ich verwendete ihn in meiner Küche, wie ich ihn kennen gelernt hatte bei Freunden zu Hause und in Gaststätten. Ich kochte für andere bei mir und schuf mir so auch eine „virtuelle Großfamilie“. Das tat mir gut.

Zu Rock- und Popkonzerten, in Schuldiscos und bei Tanzabenden nahm ich ihn mit oder „tankte“ aus Geldgründen sowie notwendiger Verheimlichung seines Konsums vor Erziehern und Lehrern und dem Verrat von Mitschülern sowie Heimkameraden vorher. So verstärkte ich meinen Rausch, die Illusion des Entfliehens aus der realen Welt. Die Welt war für einen Mo­ment wieder „heil“. Ich konnte Grenzen ausloten und überschreiten, Grenzen, die mir nicht durch engste Familienangehörige sondern durch die staatlich bestellten Erzieherinnen und Erzieher gesetzt wurden. Und wer wollte diese Grenzen nicht hinter sich zurücklassen – wenn es sein musste, auch durch den Rausch. Und Musik im betrunkenen Zustand versetzte mich durchaus in wohlige Ekstase. Ein guter Freund fragte mich bei einem Konzert zwischendurch, ob ich weiß, was ich meinem Körper antue. Ich erschrak, verstand nicht, merkte es mir aber. Darüber hatte ich mir noch nie Gedanken gemacht. Ich war 28 Jahre alt.

Alkohol. Als Kind entfloh ich durch ihn den mir zugefügten körperlichen und seelischen Schmerzen schon durch heimlichen Genuss und verschaffte mir damit Erleichterung – ich war neun oder zehn Jahre alt, als ich die rauschende Wirkung bewusst verspürte. So nahm ich „freiwillig“ Hausarbeiten in der Küche, im Keller und der Speisekammer bei meiner Pflegemutter wahr und erledigte erniedrigende Strafarbeiten und nicht nur mit Gram, weil es die Gelegenheit gab, die alko­holischen Neigen aus den Gläsern und Flaschen auszutrinken. Es war eine, meine geeignete Strategie des Überlebens.

Unaufgeklärt von Pflegeeltern, Heimerzieherinnen und Heimerzieher, Lehrerinnen und Leh­rern, abstinent von Liebe durch Eltern und durch Selbstversuche unter Gleich­altrigen ver­suchte ich meine sexuelle Unerfahrenheit, Befangenheit, die sich bis zu Angst steigern konnte, Unsicherheiten und Scham vor Nacktheit beim Sex mit Hilfe von Alkohol zu mildern. Gefühle entstanden und verwirrten. Ich wurde immer unsicherer und unglücklicher, glaubte und meinte, versagt zu haben, es nicht zu können und fand mich irgendwann asexuell. Der Missbrauch durch einen Mann im Ju­gendal­ter, unter Einfluss von gepflegt getrunkenem qualitativ hochwertigem Alkohol vor und zu wie nach den Mahlzeiten, hinterließ Jahrzehnte lange Ängste und quälende Fragen nach meiner sexuellen Orientierung. Ich ertrank diese allzu oft mit Alkohol.

Alkohol. Unbemerkt, heimlich, heimtückisch, verführerisch entfaltete der Alkohol seine negativen Seiten durch die Sucht, in der ich mich inzwischen befand. Viele der ihm positiv zugeschrie­benen Funktionen und Wirkungen, die ich erfahren und nutzen konnte, schlugen im Verlauf von fast 30 Jahren in ihr Gegenteil um. Alkohol konnte meine Gefühle nicht mehr positiv verändern. Die Sehnsucht nach anderen Gefühlszuständen, nach Unerreichbarem, nach Glück und dem „Paradies auf Erden“ in Familie, Geborgenheit sowie neuen Abenteuern und Erleb­nissen war und ist offensichtlich größer als der notwendige Widerstand gegenüber unüberseh­baren Gefahren. Mein Rückgrat wurde mir durch die Bedingungen in denen ich aufwuchs gebrochen. Mein Widerstand gegenüber alkoholbedingten Gefahren wurde durch den Alkohol erst einmal über lange Zeit auch gebrochen. Die gesundheitlichen, psychischen und sozialen Folgen führten mich notwendigerweise in die Suchtfachklinik. Bis dahin hatte ich mich, hatte der Alkohol mich entmündigt. Er gab mir immer wieder Ratschläge. Er lenkte mich von au­ßen, engte mich ein, machte mich krank. Er bevormundete mich. Ich wurde zu einem Süchti­gen und litt. Ich war dabei, mich aufzugeben. Depressionen, Ängste, Herzrasen, Übergewicht, und ein immer schlechterer körperlicher Zustand waren die Folge. Minderwer­tigkeits- und Schamgefühle, Selbstwertzweifel und Selbstvorwürfe, Hemmungen und Selbst­verachtung ebenso. Ich war nicht mehr Herr meiner Sinne und meines Schicksals.

Janusköpfiger Alkohol: Nicht unerwähnt soll sein, dass Alkoholgebrauch und -missbrauch eine Quelle von Armut ist ebenso wie ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, als Erwerbsquelle und Werbeträger. Wie viele Menschen verdienen durch ihn?!

Ich versteckte den Alkohol, ich versteckte mich. Ich spielte die Folgen vor mir selbst und an­deren gegenüber herunter, verharmloste sie. Ich begann anderen die Schuld für meine Situa­tion zu geben. Der Vermieter war Kapitalist und wollte mich durch Mietwucher knebeln, da­bei wollte er nur meine Vertragserfüllung, die pünktliche Zahlung der monatlichen Summe. Ich war Opfer und ein armes Schwein. Ich machte mich dazu. Ich verwendete all meine Ener­gien und Kräfte zur Aufrechterhaltung einer scheinbar heilen Welt. Mit Hilfe des Alkohols konnte ich die mir Angst machende Realität besser ertragen. Veränderungen wurden dadurch nicht notwendig. Und so wurde ich auch blind für die Suchthilfesysteme.

Meine Hausärztin, Frau Dr. Gerda Weiße, thematisierte das Problem bereits 1992 in einem sehr ruhigen Aufklärungsgespräch. Ich wiegelte ab, ahnte, wusste und konnte doch nicht. Es sollten weiter mehr als 10 Jahre vergehen, bis sie mich fachlich klug, sensibel und auch mit sanftem Druck durch meine ersten Schritte der Umkehr begleiten durfte.

Die Vorstellung, ein ganzes Leben ohne Alkohol zu leben, trieb mich in unerträgliche Angst- und Zwangszustände. Denn der Alkohol war inzwischen der einzige „Überlebensgarant“ ge­worden. Jeder auch nur leise gedachte oder an mich u. a. von meiner Lebensgefährtin K. he­rangetragene Gedanke an Veränderung, die zwangsweise mit Reduktion dessen und vollstän­digem Verzicht einher gehen sollte und eigentlich musste, versetzte mich täglich, ständig in unglaubliche Angstzustände und Panik.

  Der Weg hinein und wieder heraus aus der Sucht war unendlich lang, quälend, eine schmerz­hafte Erfahrung. Außenstehende wussten früher von meinen Problemen als ich ihrer gewahr wurde. Hilfsangebote, habe ich überhört. Andeutungsweise Fragen nach meinem Konsum empfand ich ausschließlich als Angriff.

Alle Überlebensstrategien, ausgebildeten Fähigkeiten und Fertigkeiten, soziale Kompetenzen sowie eingeübten positiven Seiten der Rituale wurden verschüttet. Mein Lebensbegleiter sollte nun von einem auf den anderen Tag nicht mehr geeignet sein für mich! Selbsthilfe war für mich doch kein Fremdwort. Ich hatte mir doch selbst geholfen! Ich habe Alkohol getrun­ken, um damit meine Probleme zu lösen. Und nun sollten diese, meine Probleme auf unge­fährliche Weise gelöst werden. Aber wie sollte es ohne Alkohol gehen?

2003 – Weitere Zuspitzung der Krise durch den drohenden Verlust meines Obdachs, meiner Wohnung. Das war ein wirkungsvoller Schlag ins Gesicht, ich begann langsam aufzuwachen. Ich irrte panisch umher, pumpte mir Geld, verschuldete mich, soff vor Selbstmitleid weiter und immer mehr. Ich traute mich nicht. Vertraute ich überhaupt jemandem? Dreimal stand ich vor der Haustür der Suchtberatungsstelle und kehrte dreimal um. War mindestens fünfmal vor der Schuldnerberatungsstelle und zog ohne hineinzugehen in die nächste Kneipe und versoff das gepumpte Geld, statt Miet- und Stromschulden zu bezahlen und machte neue. Einmal wurde der Berater weggerufen und ich nutzte die kleine Wartezeit zur unbemerkten Flucht. Die freundliche und zugleich sehr energische Stimme einer Frau vom Sozialamt, Abteilung zur Verhinderung von Obdachlosigkeit am Telefon, die mich schon zweimal angeschrieben und ihre Hilfe angeboten hatte, sprach aus, was ich nicht sagen konnte. Sie fragte, ob ich ein Alkoholproblem hätte. Ich sagte erlöst nur: JA! – Funkstille, Leere, Pause und dann: „Kom­men Sie! Es gibt Wege zur Verhinderung der Umsetzung der Räumungsklage“. Und dann ging ich wieder los und soff noch sieben Monate, bis ich in die Suchtfachklinik in Motzen (Brandenburg) einzog. Hausärztin, Sozialpsychiatrischer Dienst; Sozialamt, Abteilung zur Verhinderung von Obdachlosigkeit; Umschuldungsverhandlungen mit der Bank; Offenlegung meiner Situation gegenüber dem Amtsgericht, um die Räumungsklage abzuwenden; Mieter­beratungsgespräch mit unermesslicher Schamesröte im Gesicht, Schuldnerberatung; Briefe an den Vermieter; Besuch der Suchtberatungsstelle; Verhandlungen mit dem Stromanbieter mit dem Ziel der Schuldenregelung und des Zuschaltens von Strom; Verhandlungen mit dem Te­lefonanbieter, um wieder telefonieren zu können; Teilnahme an zahlreichen Gruppensitzun­gen in der Suchtberatung, bei denen ich immer noch und immer wieder von meinem Alkohol­konsum zwischen den Sitzungen berichtete; Erklärungen an die Krankenkasse wegen der lan­gen Krankschreibung, Anamnese und dazwischen immer wieder Pausen fürs Trinken um zu „überleben“. Und: Einbeziehung meiner Lebenspartnerin, engster Freunde in die Planungen für die Entwöhnungsbehandlung – also Offenlegen, dass ich Alkoholprobleme habe.

  Wenn Alkohol Probleme macht – und das war Erkenntnis und Gewissheit für mich geworden – ist Alkohol das Problem. Ich sah ein, alkoholkrank zu sein. Und dann brauchte ich noch ein­mal eine Zeit bis ich aussprechen konnte: Ich bin Alkoholiker!

Der erste Schritt nach so vielen ersten Versuchen und Schritten. Die Alkoholkrankheit entwi­ckelt sich ohne eigenes Wollen, und nur mit gutem Willen kann sie nicht aufgehalten werden.

Heute bin ich mehr als sieben Jahre trocken. Was für ein berauschendes Gefühl.