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Titelthema 06/11: Suchtgedächtnis

Wie ich das Suchtgedächtnis begriffen habe

Von Rüdiger-Rolf Salloch-Vogel

Ich bin Alkoholiker und länger abstinent. Vor einiger Zeit fiel ich etwa 1,80 m auf eine Betonplatte in die Tiefe, so dass sämtliche Bänder der rechten Schulter gerissen waren und ich operiert werden musste.

Natürlich kam der Anästhesist zu mir und natürlich teilte ich mit, dass ich Alkoholiker bin und keine suchtverlagenden Medikamente wollte. Bei der Prämedikation, also dem Mittel, das man noch im Bett zur Narkoseeinleitung bekommt, konnten wir uns noch einigen und er verordnete mir eine schwache Tablette, die nicht süchtig macht, die ich mir von einer Wirkung her im Grunde auch auf die Stirn hätte kleben können.

Anders bei der Narkose.

Als ich sagte: ,,keine Opiate“, lächelte er und antwortete: ,,Dann können wir Sie heutzutage auch nicht operieren.“ Wenn ich heute meine Schulter wieder perfekt bewegen kann, muss ich immer an diese Situation denken, aber auch an die vorzügliche Oberärztin, die sich zweieinhalb Stunden für die Operation Zeit nahm. Ich erwachte bester Laune aus der Operation und machte meine Witze darüber, dass ich keinerlei Schmerzen hatte, denn bis dahin hatte ich Schmerzen von Prellungen und fünf gebrochene Rippen, und die waren nun total fort. Dann sprühte ich – wie ich meinte – weiter vor Witzigkeit, bis die OP-Schwester sagte: ,,Es würde uns schon reichen, wenn sie nur in ihr Bett stiegen!“

Fröhlich faselnd und redend wurde ich dann in mein Zimmer gefahren und bot meiner Frau an, noch gleich mit mir auf dem Flur spazieren zu gehen. Und auch diese antwortete mir seltsamerweise: .Es wäre schon gut, wenn du erst mal in Dein Bett gingest und liegen bliebest bei deiner verwaschenen Sprache.“

Immerhin war ich abends schon soweit klar, dass ich der Schwester, die mir zur Nacht die „segensreichen“ Tropfen empfehlen wollte, die mir auch in der Narkose geholfen hatten, eine deutliche Absage erteilte. Aber andererseits verkündete ich auch munter, die Narkose sei so angenehm gewesen, dass ich, wenn mir jemand sagen würde, es wäre bei der OP ein Fehler passiert, sofort und gerne einer erneuten Operation zustimmen wollte. Ich blieb dann noch etwa 5 Tage im Krankenhaus und ging mit dem Gefühl heim, dass ich diese intensive Operation meiner Schulter wirklich gut gemeistert hätte.

Und dabei blieb ich auch, stellte allerdings fest, dass ich unruhig war, zwar keine direkten Trinkwünsche hatte, aber gegen eine Operation hätte ich auch nichts gehabt. Ich sprach zweimal in meiner Gruppe darüber, die meinen Bericht, der sich ähnlich wie oben beschrieben anhörte, gelassen und distanziert zur Kenntnis nahm. Ich nahm keinerlei Kritik oder eine auf mich bezogene Aussage wahr. Nach etwa 6-8 Wochen war ich immer noch der gleichen Ansicht, die ich geschildert habe. Getrunken hatte ich nicht, aber ich war unruhig und war aus heutiger Sicht „trocken besoffen“. Bis ich eines Tages fern von meinem Wohnort unseren Sohn und seinen jungen Hund in die Hundeschule gebracht hatte und in einem Park spazieren ging. Es war ein schöner warmer Junitag und ich bewegte mich auf einen alten Mann zu, der auf einer Bank saß und rauchte, was das Zeug hielt. Ich ging näher heran und spazierte genüsslich durch den Rauch, und plötzlich hörte ich in mir einen Gedanken, fast eine Stimme: ,,Rauchen könntest du übrigens auch mal wieder eine!“ Meine letzte Zigarette habe ich 1984 geraucht und diese absurde Aufforderung brachte mich endlich wieder zu meinem Verstand und ich fühlte: ,,Mensch, da meldet sich Dein Suchtgedächtnis! Endlich kommst du wieder zu Dir!“ Ich fühlte mich enorm erleichtert und befreit, denn ich war wieder zuhause in meiner gewohnten, eher ruhigen Abstinenz. In der Gruppe sagte eine Freundin, die zweimal kurz hintereinander hatte operiert werden müssen, bei meinem Bericht: ,,Rüdiger, ich habe zweimal zu Deiner Aussage Stellung genommen und Dir genau das, was Du erlebt hast, gesagt, aber ich habe Dich nicht erreicht.“ Daran konnte ich mich nicht erinnern.

Schon vor etwa 20 Jahren schrieb Prof. Jobst Böning, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie:

,,Es gibt ein individuelles, erworbenes (sog. personales) Suchtgedächtnis, das lebenslang erhalten bleibt.

  Dabei handelt es sich um „suchttypisch“ konditioniertes Verhalten und Erleben, das in belohnungsabhängigen, verstärkend wirksamen Hirnsystemen zum molekular und psychisch fixierten „Suchtgedächtnis“ transformiert wird.

  Deshalb ist einem – von der molekularen Trägerebene über die neuronale Musterebene bis zur psychologischen Bedeutungsebene – neurobiologisch engrammierten Suchtgedächtnis therapeutisch auch so schwer beizukommen. Die „Gnade des Vergessens“ kennt dieses „episodische Gedächtnis“ wohl nicht.“

Damals hatte ich zwar verstanden, dass dieses Gedächtnis sehr im Gehirn verankert war und es gewissermaßen wie ein Tisch mit drei Beinen zerebral verankert ist: einmal über die Verbindung der Moleküle, zum zweiten über die neuen Verbindungen im Gehirn, die durch z. B. das Trinken geschaffen worden waren und drittens durch das, was Böning ‚psychologische Bedeutungsebene‘ genannt hat, zum Beispiel die entsprechenden Gefühle, die das Trinken auslöst. Ich selbst hatte mich in meinem Größenwahn wie der Jüngling im Märchen gefühlt, der immer herumlief und sagte: .Ach, wenn es mich doch gruselte!“

Mir war es so gegangen, dass ich mir das Suchtgedächtnis einfach nicht vorstellen wollte. Ich hatte zwar verstanden, dass es so etwas gab und es durchaus gefährlich war, da ich aber nicht so weit zu mir vordringen wollte und vielleicht auch nicht musste (dachte ich: die lange Abstinenz), sperrte sich auch etwas in mir, diese Erkenntnis wenigstens zu glauben. Wir Süchtigen müssen ja so manches glauben, was wir persönlich nicht erlebt haben.

Irgendwie – Gott sei Dank!

– weiß ich jetzt, dass es ein Suchtgedächtnis gibt, das mir zwei Wege weist: Etwas zu glauben, was ich bisher persönlich noch nicht erfahren habe und mich so zu schützen, oder rückfällig zu werden.