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TrokkenPresse 01/2012: Warum AA und AL Anon erfunden werden müssten, wenn es sie nicht schon gäbe

Alkoholismus: Familienkrankheit oder Warum AA und AL Anon erfunden werden müsste, wenn es sie nicht schon gäbe

Ines Frege* und Rüdiger-Rolf Salloch-Vogel*

Nach fast 60 Jahren Entwicklung mit eigenen klaren Vorstellungen über Sucht und deren Therapie – die nicht jeder teilen muss – nach der Gründung von etwa 3000 weiteren AA-Gruppen in Deutschland und unzähligen Lebensgeschichten der Betroffenen beeindruckt es durchaus, dass so wenige Professionelle die Anonymen Alkoholiker so wenig kennen. Wir wissen nicht, wer von ihnen jemals in einer AA-Gruppe gesessen hat, um sich zu orientieren und dabei die Ehrlichkeit und offene, ,,selbstbewusste“ Sprache der Betroffenen zu erfahren und wie weit die Beschäftigung mit diesem, aus ihrer Sicht wohl seltsamen, Programm je gegangen ist. Wir wissen aber aufgrund unserer eigenen Erfahrungen, wie schwer es ist, überhaupt einmal in irgendeine Selbsthilfegruppe zu gehen, geschweige denn, sich deren Programm zu öffnen.

Sogenannte Professionelle sind auch Menschen und verhalten sich deshalb-wenn man das erworbene Wissen einmal abzieht – im Grunde genau wie unsere Patienten auch: nur 30 -40 % in einer Stichprobe von etwa 30.000 Alkoholikern gehen in eine Selbsthilfegruppe und etwa ein Drittel davon zu den Anonymen Alkoholikern. Das Programm der AA, in erster Linie die 12 Schritte, wirkt aufgrund der etwas antiquierten Sprache und deutlichen Spiritualität und Sprache von ,,Gott, wie jeder ihn versteht“, vorsichtig ausgedrückt, nicht gerade anziehend auf viele Menschen. Auch wir Professionelle lernen, wie jeder Mensch durch Versuch und Irrtum, nicht selten unter Schmerzen, und versuchen Unbehagen zu vermeiden.

Da wundert es nicht, wenn bei einem Vortrag vor einigen Jahren ein Psychoanalytiker zu Salloch-Vogel sagt: ,,Wissen sie, Herr Kollege, um Süchtige mache ich immer einen großen Bogen.“

Süchtige bereiten den meisten Menschen Unbehagen, so natürlich auch Ärzten und Psychologen. Nicht selten verstärkt der Besuch einer Selbsthilfegruppe dieses Unbehagen zu- nächst mehr als es zu mindern. Das kann aber von Übel sein, wenn etwa 70 – 80 % aller Alkoholiker im Erstkontakt einen niedergelassenen Arzt aufsuchen. Diesbezügliche Zahlen über psychologische Praxen sind uns z. Zt. leider nicht bekannt, können aber ähnlich sein.

Als die TrokkenPresse uns gebeten hat, in möglichst verständlicher Sprache aus unseren Erfahrungen mit AA zu berichten, haben wir zunächst eine Weile überlegen müssen.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht bei unseren Überlegungen nicht darum, zwischen Selbsthilfe und professionellen Helfern Spannungen, Konflikte oder gegenseitige Überheblichkeiten zu bestätigen – ganz im Gegenteil, es geht um „Respekt, Akzeptanz und Kooperation“ (Feuerlein): mindesten 50% aller Anonymen Alkoholiker nehmen im frühen Verlauf ihrer Genesung die Hilfe von Ärzten oder Psychologen in Anspruch, wie die AA-eigene Statistik besagt, und auch wir haben nicht wenige Suchtkranke oder deren Angehörige psychotherapeutisch behandelt.

Es tat sich also ein großes Thema auf, und, um diesem ,,räumlich“ gerecht zu werden, haben wir unsere Erfahrungen auf zunächst vier Themen beschränkt.

  1. Was sind Sucht und Coabhängigkeit?
  2. Wie äußern sich beide im Alltag der Betroffenen?
  3. Wie kann man das nach einem Entzug professionell behandeln?
  4. Welche Rolle spielen AA und Al Anon dabei?
  5. Sucht und Coabhängigkeit

Als Jellinek 1952 sein bekanntes Schema veröffentlichte, stieß er besonders im deutschen Sprachraum auf Widerstand. Es sei nicht wissenschaftlich, und in der Tat ist es das auch genau! Es ist eine Sammlung von körperlichen, psychologischen und sozialen Daten, die aber den enormen Vorteil haben, dass sie wirklich einen Alkoholiker beschreiben, und zwar so, dass sich ein Betroffener, auch mit zwei Promille, darin wiederfinden kann (und die Mehrzahl der durchschnittlich 1500 Patientinnen der Abhängigenambulanz am Jüdischen Krankenhaus Berlin hatten beim Erstkontakt einen Alkoholgehalt von anderthalb bis zwei Promille in der Atemluft).

Im Erstgespräch gehen wir nicht auf die einzelnen Jellinek-Punkte ein, wir konzentrieren uns auf fünf Punkte und beurteilen diese.

Wir nennen sie:

  1. Zunehmender Verlust der inneren Freiheit im Umgang mit einer Droge und somit
  2. Zunehmende Zentrierung von Denken und Fühlen auf das Suchtmittel (Craving);
  3. Verlust der Kontrolle über das Suchtmittel (90%) oder Unfähigkeit zur Abstinenz (10%);
  4. Chronische Vergiftung besonders des Gehirns und

4 Alkoholismus: Familienkrankheit sowie

  1. Seelische und körperliche Entzugserscheinungen, mit oder ohne soziale Folgen.

 

Sucht kann man – wie wir sagen – .,erben oder erwerben“, wahrscheinlich haben spezifische, also auf das einzelne Individuum bezogene, Umgebungsfaktoren, wie zum Beispiel die Vorbildfunktion der Eltern und das Erlernen sozialer Kompetenz, einen ähnlich starken Effekt wie genetische Faktoren. Genvariationen, die unmittelbar eine Sucht auslösen, gibt es wohl nicht. Es gibt auch keine Suchtpersönlichkeit, keine für Suchtkranke typische Persönlichkeitsstörung, und keine typische Persönlichkeitsstruktur. So hat zum Beispiel eine abhängige Persönlichkeitsstruktur nichts mit Sucht zu tun. Sehr wohl haben aber etwa 40% der Patienteneine begleitende seelische Störungen wie eine Angsterkrankung oder eine Depression.

Und natürlich beinhaltet jeder Entzug von einer Droge auch einen depressiven Abschwung, der nicht unbedeutend ist und nicht selten einer medikamentösen Behandlung bedarf.

Es gibt viele Theorien zur Suchtentwicklung und es liegt auf der Hand, dass die Autoren auch daran glauben. Salloch-Vogel – damals den Kopf voll mit theoretischem Wissen, hatte am Anfang seiner suchtmedizinischen Ausbildung ein Erlebnis, das ihn für immer geprägt hat: zu später Stunde kam ein Maurer in die Sprechstunde und man sah ihm an, dass er sich auf diese Begegnung mit reiner Wäsche und reiner Kleidung ebenso vorbereitet hatte wie er sich an diesem Tage bemüht hatte, abstinent zu bleiben. Und es platzte aus ihm heraus: „Herr Doktor, ich kann nicht so trinken wie meine Freunde und Kollegen!“ Warum auch immer, der junge Arzt fragte: „Seit wann haben Sie das?“ und zu seiner Verblüffung antwortete der Besucher wie aus der Pistole geschossen: „Seit Mai 86!“ Er wusste das so genau, weil dieser ordentliche Mann damals zum ersten Mal seinen Arbeitslohn vertrunken hatte und das zuhause erklären musste. Da wusste also jemand genau, seit wann er alkoholkrank war bzw. den ersten Kontrollverlust hatte.

1. Psychosomatische Symptomatik bzw. reale körperliche Erkrankungen (Überlastungs- bzw. Entzugsreaktion)

Das Leitsymptom der Coabhängigkeit ist in Familien der Kontrollzwang im Gegensatz zum Kontrollverlust des Süchtigen, so dass Al Anon mit seiner Feststellung schon recht hat: „Was die Droge für den Süchtigen, wird der/die Süchtige für den Angehörigen“.

Einem von uns warf eines Tages eine Angehörige voller Verachtung einen Zettel auf den Tisch, sozusagen als Reklamation, während im Hintergrund der Alkoholiker angetrunken schaukelte, den wir zwei Monate zuvor entlassen hatten. Auf dem Zettel hatte sie minutiös alle Getränke vom 03. 08. – 10.09.01 verzeichnet, ergänzt von Bemerkungen wie „gestürzt“ und „Hausarzt angerufen“. Wer einmal versucht, so etwas nachzumachen, wird schnell ermessen können, wie viel Kraft diese unglückliche Frau für die Kontrolle und die dazugehörigen Gefühle hat verbrauchen müssen. Und auch die therapeutische Einrichtung als solche wurde in die Verachtung mit eingeschlossen.

Aus dem Leid der Angehörigen und ihrer sorgfältigen Beobachtung können wir schließen, dass Angehörige nicht selten eine Symptomatik von Krankheitswert haben, für die es nach vielen Jahrzehnten der Beobachtung immer noch keine genauen Bezeichnungen gibt, im Gegensatz zur Sucht ist Coabhängigkeit ja kein medizinisch anerkannter Begriff.

2. Wie äußern sich Sucht und Coabhängigkeit im Alltag der Betroffenen?

Es ist sinnvoll, bei dieser Frage die Gefühle und die Atmosphäre zu betrachten. In der Kürze der Arbeit können wir hier nur einige Hinweise geben.

In einer Untersuchung bei AL ANON fand Salloch-Vogel, dass unter zehn Grundgefühlen in suchtkranken Familien „Trauer“ und „Scham“ besonders ausgeprägt sind, während .Freude“ das Schlusslicht bildet, also selten vorkommt. Es scheint so zu sein, dass die chronische Vergiftung nicht nur die Organe, sondern auch die gesamte Atmosphäre in einer Familie zugrunde richten kann. Diese Atmosphäre ist geprägt von Härte und gleichzeitiger Verwöhnung, Grenzverletzungen und Beziehungsabbrüchen.

Die meisten Menschen machen sich nicht klar, dass Mensch unter Drogeneinfluss nur vordergründig kommunikativ wirkt, in Wirklichkeit hat er den echten Kontakt mit uns schon längst abgebrochen. Er ist irgendwie einfach nicht da. Kinder spüren das sehr genau.

Der Suchtkranke fühlt sich selbst darüber hinaus seelisch krank, kann er doch die Versprechen, die er sich selbst gibt, nicht einhalten. Scham, Ekel und Selbsthass halten Einzug in sein Leben .Er kann sich seinen Zustand ja nicht erklären. Wieso trinkt er so viel? Andere tun das doch auch nicht. Und er macht sich Erklärungen, muss sie sich machen, weil sonst verrückt würde, weil sein Zustand für ihn unverstehbar ist, und weil die Angehörigen ihn fragen.

Und das alles passiert langsam, schleichend, die Atmosphäre verändert sich ganz sachte. Lügen kommen hinzu.

Manchmal glauben wir uns unsere Lügen selber, auch wenn wir überhaupt kein Suchtproblem haben.

Süchtige müssen lügen, sonst müssten sie auf ihr Suchtmittel verzichten. Aus den Lügen kommt die Unsicherheit in die Beziehung: ,,Vielleicht spinne ich ja schon und er hat wirklich keine Fahne; vielleicht liegt es an mir, dass er kaum noch zuhause ist“.

Coabhängige sind genauso liebenswerte und fürsorgliche Menschen wie Suchtkranke, beide strengen sich unglaublich an, um nach außen und vor den Kindern das Familienmobile zu stabilisieren.

Ähnlich wie unser Körper mit einem System von Regelkreisen versucht, ein konstantes inneres Gleichgewicht zu halten, versuchen nämlich auch alle Mitglieder einer Familie, eine solche Ausgewogenheit in den Kräfteverhältnissen und Beziehungen zu halten, so dass der Vergleich mit einem Mobile durchaus gerechtfertigt ist. Mit ihm kann man sowohl das Verhalten in der Sucht erklären, als auch den Zustand, der entsteht, wenn der Süchtige seine Krankheit zum Stillstand gebracht hat:

Stellen Sie sich den Süchtigen als Schwergewicht vor, dessen Gewicht die Familie mit aller Kraft auspendelt. Jeder hofft, wenn die Abstinenz eintritt, wird alles gut und die Angehörigen hoffen, dass sie nicht mehr so viel Energie für die Balance aufwenden. Nun ist es aber leider so, dass ein Süchtiger nie mit Trinken aufhört, wenn die Familie es sich wünscht – sondern wenn es ihm selbst von einer äußeren oder inneren Dynamik – in der Regel einer Mischung von Beiden – vorgegeben wird.

Plötzlich verändert sich das Gewicht und das gesamte Mobile gerät aus dem alten Gleichgewicht. Und für die Angehörigen ist zunächst einmal gar nichts gut, geschweige denn „wie früher“. Der Süchtige selbst, dessen Not und Egozentrik sich nach dem Entzug zunächst nicht ändert, teilt der erschöpften Familie nun deutlich mit, das sei nun alles recht schön zuhause, aber er müsse jetzt seine Abstinenz pflegen. Und wir Professionellen unterstützen den Süchtigen oft darin, zu AA oder einer anderen Selbsthilfegruppe zu gehen, um nicht zu trinken. Allein schon bei der Vorstellung dieser Mischung von Enttäuschung und uneingelöster Sehnsucht der einzelnen Menschen kann man förmlich spüren, wie die Familie dekompensiert. Wir sagen manchmal liebevoll lapidar: .Etwa acht Wochen nach Abstinenzbeginn fallen uns die Angehörigen vor die Füße, weil sie ihren Arbeitsplatz verlieren.“ (Erstaunlicherweise hat in unserer damaligen Praxis eine Angehörige genau das geträumt).

3. Wie sieht nun die professionelle Hilfe für Süchtige und ihre Angehörigen nach dem Entzug aus?

Die Symptome der Sucht und die Beziehungspathologie sind sehr variabel und in der Regel nicht von Anfang an sichtbar. Wie immer in der Psychotherapie und in der Psychiatrie beschreiben wir eigentlich immer nur mehr oder weniger monströse Ausformungen von normalem Sein und Verhalten, die beginnen können und die zum Stillstand gebracht werden und heilen können, von der persönlichen Art eines Menschen einmal abgesehen. Und wir müssen ganz vorsichtig sein, dass wir einen Menschen nicht so sehr in das Korsett eines therapeutischen Modells einpassen, dass er sich nicht mehr bewegen kann. Insofern wird es wohl wichtig sein, bei der Therapie von Suchtkranken und ihren Angehörigen unterschiedliche Therapiemethoden integrativ miteinander zu verknüpfen.

Aufgrund der ausgeprägten Beziehungsstörung bei ihnen und ihren Angehörigen ist – wie überhaupt in der Therapie – die Beziehungskonstanz sehr wichtig. Diese Konstanz findet eher selten statt, denn nicht wenige psychiatrische „Suchtabteilungen“ – ausgenommen typische Fachkliniken – sind oft mit wechselndem Personal versehen („ein halbes Jahr in die Sucht“). Statt für ihre eigene Psychohygiene und gegen ihre eigenen coabhängigen Anteile eine Supervision oder Selbsthilfegruppe aufzusuchen, lehnen die Mitarbeiter„ so etwas“ bzw. die Suchtkranken eher ab oder sie lassen sich verbrauchen und brennen aus.

In den psychiatrischen Abteilungen, in denen wir gearbeitet haben, fiel bei Krankheit oder Personalmangel immer zuerst die Suchtgruppe aus. Oft mit dem Hinweis, dass die Suchtkranken ja schon mehrmals die Chance hatten, etwas für sich zu tun. So veröden die .Suchtabteilungen“ dann rasch zur Bewahranstalt für Süchtige mit der entsprechenden Atmosphäre.

Schon vor etwa 40 Jahren hat eine sehr kluge Psychoanalytikerin, Annemarie Heigl-Evers, erkannt, dass das klassische tiefenpsychologisch fundierte psychotherapeutische Vorgehen bei Süchtigen zunächst einigermaßen sinnlos ist.

Da Sucht kein isoliertes Symptom einer Neurose ist, sehr wohl aber erhebliche Störungen der Persönlichkeit aufweisen kann, entwickelte Heigl Evers damals ein Modell, welches das Vorgehen in der klassischen Tiefenpsychologie sozusagen auf den Kopf stellt. Die klassische Form der .Deutung“ tritt zurück hinter einem therapeutischen Vorgehen, das aus „Antworten“, ,,Konfrontieren“, .Leiten“, .Anregen“, .Einüben und Klären“ besteht, dem erst zuletzt das „Deuten“ folgen sollte. (Interaktionelle Einzel- und Gruppenpsychotherapie).

Die Therapeuten verhalten sich also hilfreich und stützendantwortgebend. Sie setzen damit in der Arbeit auf die Selbstheilungskräfte der Patienten ebenso wie die Selbsthilfegruppen. Neben zweimaligem Besuch der Selbsthilfegruppe ist in der Regel eine Therapiestunde pro Woche völlig ausreichend und wird auch nach den Psychotherapie-Richtlinien von den Krankenkassen bezahlt. Ja, sie ist in diesen Richtlinien sogar ausdrücklich vorgesehen. Mittel der Wahl ist bei einer Psychotherapie wegen der Beziehungsstörung in erster Linie die Gruppen-Psychotherapie. Nur in Einzelfällen oder nach längerer Abstinenz ist eine Einzeltherapie angezeigt.

Die Psychotherapie dient zunächst neben der Beziehungskonstanz der Festigung der Behandlungsmotivation und der Formulierung persönlicher Behandlungsziele. Das hört sich alles so sachlich an, aber bis vor gar nicht langer Zeit waren nicht wenige Therapeuten der Überzeugung, die Süchtigen müssten von selbst zur Einsicht und dann auch noch zu ihnen kommen.    Heute wissen wir, dass die Zeit des körperlichen Entzugs nicht nur körperlich eine vulnerable, d. h. empfindliche Zeit ist, sondern auch eine Zeit, in welcher der Süchtige weniger Möglichkeiten der seelischen Abwehr hat. Diese Zeit ist von erfahrenen Behandlern vorsichtig nutzbar.

Wann ändern wir denn was in unserem Leben? Doch nur dann, wenn wir es müssen!

Wir fühlen uns für die Motivationsarbeit verantwortlich, Motivationsarbeit ist also Aufgabe des Teams, unsere Aufgabe. Wir können den Süchtigen nicht am Trinken hindern, aber wir können versuchen, ihn dahin gehend zu unterstützen, eine Motivation zu finden, aufgrund derer von sich aus, er einen Schlussstrich ziehen kann. In der Suchtabteilung, in der wir gearbeitet haben, gab es nur drei Gründe, einen suchtkranken Menschen nicht aufzunehmen: eine Psychose, weshalb wir ihn in einer psychiatrischen Klinik unterbrachten, die Androhung körperlicher Gewalt und eine akute Suizidalität .Eine ambulante Vorbereitung ist sehr sinnvoll, aber 1/3 unserer Patienten kam im Notaufnahmeverfahren, ohne uns vorher zu fragen, zum qualifizierten Entzug.

Wenn wir heute davon ausgehen, dass Sucht ein autonomes Geschehen in einer Person ist, muss es wichtig sein, zunächst die Abstinenz als Voraussetzung für psychotherapeutische Arbeit zu stabilisieren, denn in der klassischen Psychotherapie würde in kurzer Zeit die „neurotische“ Symptomatik, man kann sie Komorbidität nennen, in der Therapie blühen, die Patienten können dem Druck nicht standhalten und gehen Trinken. Hier kommt neben dem Qualifizierten Entzug den AA und den anderen Selbsthilfegruppen eine entscheidende Bedeutung zu. AA und die SHG stabilisieren weiterhin die Abstinenz, wenn es in der Psychotherapie zu einer Instabilität kommt, d. h. sie stellen das genaue Gegenteil einer .Nebentherapie“ dar, die häufig von puristischen Therapeuten befürchtet wird.

Der „Qualifizierte Entzug“ der Angehörigen besteht aus „ vielen liebevollen Einzelgesprächen in der Psychotherapie und einer großen Packung Taschentücher“, wie eine erfahrene Therapeutin oft sagt.

Aber können wir das glauben und glauben uns das die Patienten? Was glauben wir denn überhaupt?

Es dauerte eine ganze Weile, bis wir uns klar darüber waren dass es in der Therapie gar nicht um Wissensvermittlung geht, sondern allein darum, ob die Patienten uns glauben können, dass Abstinenz und ein lebenswertes Leben möglich sind. Fest steht auf jeden Fall, dass vor über 70 Jahren die behandelnden Ärzte eines Börsenmaklers und eines Chirurgen ihren Patienten die Tatsache geglaubt haben, dass diese nach Trinkbeginn nicht aufhören konnten, und sie erfahren mussten, mussten, in welchem desolaten Zustand ihre Patienten danach wieder zur Behandlung kamen.

AA wurde nicht nur zur Hälfte von einem Arzt gegründet, sondern viele Ärzte, Psychologen und Seelsorger waren ebenfalls Paten der zukünftigen Entwicklung.

Warum ist nun eine Selbsthilfegruppe wichtig und was kann man in ihr lernen?

  1. Zunächst tut es immer gut, mit Menschen Leid zu teilen, besonders dann, wenn es dieselbe Krankheit ist. Da Sucht aber mit einem enormen Stigma versehen ist, dient der Besuch in der Gruppe neben der Verbesserung der Beziehungsfähigkeit, der Identifikation mit der abgewehrten Krankheit.
  2. Jeder Erzieher weiß um die Wichtigkeit von Disziplin und Ritualen im Leben.
  3. Kontrolle stärkt die Selbstkontrolle, besonders dann, wenn wir uns an Vorbildern orientieren.
  4. In Gruppen lernen wir Aushalten von Konflikten Gefühlen, den eigenen und den anderer Menschen. Ahn auch eine wärmende, freund. liehe Resonanz ist nicht zu unterschätzen.
  5. Worüber selten gesprochen wird, ist die heilende Kraft des Humors: es gibt Ereignisse Erfahrungen, darüber dürfen nur die Betroffenen lachen. beurteilen therapeutische Konzepte und Einrichtungen mittlerweile danach, ob dort gelacht werden darf, und wie sich Gesichter und Beziehungen zwischen den Therapeuten darstellen.

Wir sind immer wieder staunt, nachdem wir viele Stunden in Ausbildungs- oder Selbsterfahrungsgruppen gebracht haben, auf welchem psychotherapeutischen Niveau manche Gruppenstunde der AA oder AlAnon abläuft nicht zuletzt, weil Erfahrung. Kraft und Hoffnung dort ehrlich geteilt werden.

Der Schlüssel zum Verständnis der Arbeit in den Gruppen ist das eigene aus der Erfahrung entwickelte Programm der Schritte. Es ist ein spirituelles, freundliches und großzügiges Programm der Entwicklung und Selbsterkenntnis. Wir geben gerne zu, dass wir bei den ersten Begegnungen mit diesem Programm verunsichert und irritiert waren.

Mit zunehmender Erfahrung und Reifung kamen dann aber zu wichtigen Erkenntnissen als Therapeuten. Drei Aspekte werden – in welcher Therapie auch Immer – kaum bearbeitet: die Sinnfindung, der eigene Tod und die Suche nach Gott.

Alle drei sind aber für Suchtkranke in der Krise bei einem Neuanfang von existentieller Bedeutung. Der Weg aus der vermeintlichen Sinnlosigkeit. der tödliche Grenzbereich, in dem sich viele Suchtkranke zeitweilig aufhalten und der ausgeprägte Hunger nach seelisch-geistlicher Nahrung sind aus unserer Sicht Kernbereiche auf dem Weg in eine zufriedene Nüchternheit.

Auch aus Platzgründen gehen wir bewusst nicht auf einzelne Schritte oder Teile des Programms der 12 Schritte ebenso wenig ein, wie auf die Rituale im nichtdialogischen System. Das bleibt einer zweiten Arbeit vorbehalten.

Bei dem Programm handelt es sich um „Grundsätze spiritueller Art. Werden sie im täglichen Leben verwirklicht, nehmen sie den Zwang zum Trinken und helfen dem Kranken, ein zufriedener und nützlicher Mensch zu werden.“ (AA Originaltext).

Wenn einem dieser Originaltext der AA etwas seltsam vorkommt. kann man sich klarmachen, was daran verletzen könnte: es ist nämlich die Wahrheit, die wehtut. denn ein Trinker oder ein Coabhängiger in der Krise ist eben genau der nützliche und zufriedene Mensch nicht mehr, der jeder gerne sein möchte. Das Programm wurde von Menschen in einer ausweglosen Situation für Menschen in einer ausweglosen Situation geschrieben. Es ist aber nicht, wie es zu Anfang scheinen mag, ein kompliziertes Programm für einfache Menschen, sondern ein einfaches Programm für komplizierte Menschen. Deshalb erschließt es sich dem einen oder anderen nicht sofort. Trotzdem machen aber heute auch viele Nichtalkoholiker mit anderen Lebensproblemen von ihm Gebrauch.

Die Begrenztheit unseres eigenen therapeutischen Handelns, unsere eigene Begrenztheit, wird uns – allen Erfolgen zum Trotz – ja täglich vor Augen geführt. Aber eben auch die Freude über nüchterne Menschen und ihre Entwicklung. Eine klassische Psychotherapie hat aus gutem Grund nach einer gewissen Zeit ein Ende, und auch die Kirchenbesuche sind nach Ablauf der Krise für viele Menschen seltener geworden. Der spirituelle Hunger nimmt aber ständig zu und davon verstehen AA und AlAnon etwas, denn sie kommen aus einem kargen Land und sind Überlebende, die sich erstaunt die Augen reiben. Und genau in diesem Moment begegnen sie einem Programm, das sie, nicht gebunden an eine Konfession Sekte oder Institution. einfach für sich, lebenslang, haben dürfen. Das ihnen eben genau nicht vorschreibt. wie etwas gemacht werden muss, sondern welches eher als Selbstbedienungsladen aufgefasst werden kann, als Angebot: eben das Teilen, Mit-Teilen von Erfahrung Kraft und Hoffnung.

Das Programm müssen Sie nicht in einem Jahr verstehen, weil dann die Kosten auslaufen, sondern es genügt eine persönliche Bereitschaft, sich auf dieses Programm einzulassen. Im Übrigen – sagen AA und AlAnon – das Programm, seien lediglich Empfehlungen.

Wie gut, dass AA und Alanen nicht mehr erfunden werden muss, sonst hätten wir viele Jahre harter Arbeit vor uns.

Die Zwölf Schritte der Anonymen Alkoholiker

  1. Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind – und unser Leben nicht mehr meistern konnten.
  2. Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann.
  3. Wir fassten den Entschluss, unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes – wie wir Ihn verstanden – anzuvertrauen.
  4. Wir machten eine gründliche und furchtlose Inventur in unserem Inneren.
  5. Wir gaben Gott, uns selbst und einem anderen Menschen gegenüber unverhüllt unsere Fehler zu.
  6. Wir waren völlig bereit, all diese Charakterfehler von Gott beseitigen zu lassen.
  7. Demütig baten wir Ihn, unsere Mängel von uns zu nehmen.
  8. Wir machten eine Liste aller Personen, denen wir Schaden zugefügt hatten und wurden willig, ihn bei allen wieder gutzumachen.
  9. Wir machten bei diesen Menschen alles wieder gut – wo immer es möglich war-, es sei denn, wir hätten dadurch sie oder andere verletzt.
  10. Wir setzten die Inventur bei uns fort, und wenn wir Unrecht hatten, gaben wir es sofort zu.
  11. Wir suchten durch Gebet und Besinnung die bewusste Verbindung zu Gott – wie wir Ihn verstanden – zu vertiefen.

Wir baten Ihn nur, uns Seinen Willen erkennbar werden zu lassen und uns die Kraft zu geben, ihn auszuführen.

  1. Nachdem wir durch diese Schritte ein spirituelles Erwachen erlebt hatten, versuchten wir, diese Botschaft an Alkoholiker weiterzugeben und unser tägliches Leben nach diesen Grundsätzen auszurichten. (www.anonyme-alkoholiker.de)

* Ines Frege: Ärztin für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, leitende Ärztin der salusKlinik 50354 Hürth.

* Rüdiger-Rolf Salloch-Vogel: Arzt für Pharmakologie und Innere Krankheiten. Tiefenpsychologie. Psychotherapie. VT Gruppentherapie. Selbsthilfebeauftragter der salus-Klinik 50354 Hürth.