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Titelthemen 3/13: Politik trifft Sucht, Kontrolliertes Trinken

Politik trifft Sucht

Im Rahmen der Aktionswoche Alkohol veranstaltete „alkoholpolitik.de“ zusammen mit den „Guttemplern in Berlin“ eine Podiumsdiskussion mit hochkarätigen Gästen. Das Thema des Abends war „Alkohol. Nichts ist besser“. Es sollte um den Verkauf von Alkohol an Jugendliche und Kinder gehen.
Im Neuköllner Domizil der Guttempler, trafen Bundestagsabgeordnete Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD), Dr. Harald Terpe (Grüne) und Stefanie Vogelsang (CDU) auf die Praktiker Prof. Dr. Gerd Glaeske von der BCGH Initiative in Bremen und Thomas Staresetzki sowie Sandra Weckbecker von Skopos.
Rolf Hüllinghorst von „alkoholpolitik.de“ und ehemaliger Geschäftsführer der DHS leitete den gesamten Abend auf seine humorvolle Art, so dass auch Lacher nicht ausblieben. Eröffnet wurde der Abend mit der faktischen Aussage, dass jeder Deutsche statistisch zehn Liter reinen Alkohol pro Jahr konsumiert. Welche Alkohol-Präventionsmaßnahmen sind vonnöten, um die Jugend vor dem Nervengift zu schützen? Alle Politiker waren sich einig, dass es ein Kontrolldefizit beim Vollzug des Jugendschutzgesetzes gibt. Frau Sabine Bätzing-Lichtenthäler von der SPD und Dr. Terpe von den Grünen, plädierten für Testkäufe durch Jugendliche. Frau Vogelsang von der CDU gab zu bedenken, dass es immer Ältere gebe, die den legal erworbenen Alkohol an Jüngere weitergeben. Sie wies auf die legale Grauzone hin, die beim Testkauf durch Minderjährige besteht und sprach sich für ein Alkoholabgabealter ab 18 Jahren aus und forderte: „Alkohol gehört nicht in die Hände von Kindern und Jugendlichen!“. Frau Bätzing-Lichtenthäler forderte Punktnüchternheit in Verkehr, Beruf und Schwangerschaft. Terpe vertrat die Auffassung, dass die Verfügbarkeit von Alkohol durch ein Nachtverkaufsverbot für Alkohol eingeschränkt werden müsse.
Professor Glaeske aus Bremen stellte seine bemerkenswerte Initiative, Alkoholwerbung aus den Stadien und Sportarenen zu verbannen, vor. Der Professor forderte, den positiv besetzten Sport vom Alkohol zu trennen und rechnete vor, dass 550 Mio. Euro offiziell für Alkoholwerbung ausgegeben werden, aber zusätzlich noch einmal 400 Mio. Euro als Sponsoring. In Bremen konnte Glaeske den Senat der Hansestadt sowie Willi Lemke, den Ex-Manager von Werder Bremen, sowie hunderte weitere Unterstützer für seine Forderung nach einem Alkoholwerbe- und Alkoholausschankverbot in Sportstadien gewinnen.

Zum Thema Alkoholwerbung und Fußball erwähnte Bätzing-Lichtenthäler aus ihrer Zeit als Bundesdrogenbeauftragte Gespräche mit dem DFB, die allgemeine Heiterkeit über die Bigotterie der Fußballfunktionäre bei den zahlreichen Zuhörern hervorrief. Der Vertreter der Grünen sprach sich für ein europaweites Fernsehwerbeverbot für Alkohol aus. Frau Vogelsang erweiterte diese Forderung durch ein Internetwerbeverbot für Alkohol. Alle anwesenden Gesundheitspolitiker waren sich einig, dass ein Alkoholwerbeverbot kommen muss. Finanz- und Wirtschaftspolitiker lehnten dies aber ab.

Die Vertreter von Skopos stellten ihr Unternehmen vor, welches Testkäufe als Dienstleistung anbietet. Zum Abschluss fragte Rolf Hüllinghorst nach der Preisgestaltung für Alkohol. Alle Politiker waren sich einig, dass Alkohol zu billig ist und eine höhere Besteuerung nach Alkoholgehalt vonnöten ist.

Auch waren sich alle anwesenden Politiker klar darüber, dass eine Verstärkung des Jugendschutzes erforderlich ist. Die Werkzeuge sind bekannt: Werbeverbot, Abgabealter 18 Jahre, höhere Steuern, eingeschränkte Verfügbarkeit, Punktnüchternheit, verbesserte Kontrolle des Jugendschutzgesetzes.

Leider war die ansonsten sehr erhellende Veranstaltung nur eine Podiumsdiskussion, ohne Beiträge oder Fragestellungen aus dem Publikum. Gerne hätte ich den Vertreterinnen der drei Parteien die Frage gestellt, warum sie die erkannten Probleme mit den bekannten Werkzeugen nicht lösen. Die Argumentation, dass Finanz- und Wirtschaftspolitiker Verbesserungen des Jugendschutzes verhindern, entbehrt jeglicher ökonomischen Basis, da die volkswirtschaftlichen Alkoholkrankheitskosten in Höhe von mindestens 27 Mrd. Euro jährlich durch Alkoholsteuern bei weitem nicht gedeckt sind, das Branntweinmonopol zur Förderung des deutschen Schnapsbrennereiwesens ist erst in diesem Jahr auf Druck der EU beendet worden. Jeder Bürger unterstützt durch erhöhte Kranken- und Rentenkassenbeiträge sowie durch höhere Steuern das Geschäftsmodell der Alkoholindustrie, indem er für die Folgen zahlt. Angesichts von 74.000 Alkoholtoten jährlich und dem menschlichen Leid, das Alkohol schafft, sollten die Gesundheitspolitiker, wie sich an diesem Abend erfreulicherweise zeigte aller Parteien, Rückgrat zeigen und die als sinnvoll erkannten Präventionsmaßnahmen zum Schutz der Jugend massiv umsetzen.

Wir werden in Zukunft immer weniger Kinder und Jugendliche haben, daher müssen wir auf jeden einzelnen besser achten.

Torsten Hübler

Wenn jugendlichen Zuschauern in Fußballstadien Alkohol verkauft wird, ist es Zeit, über den Jugendschutz zu sprechen.
Denn zwei von drei im Mai 2013 untersuchten Fußball-Arenen haben die Bestimmungen des Jugendschutzes nicht eingehalten. Dies ergaben Testkäufe, die das Internetportal alkoholpolitik.de vom Mystery Research Institut SKOPOS NEXT hat durchführen lassen.
Vor, während und nach den Spielen haben die jugendlichen Tester, alle unter 16 Jahre alt, in zwei Stadien bei zwölf Versuchen neun Mal Alkohol erhalten. Selbst einem 13-jährigen Testkäufer wurde Bier ausgeschenkt.
Um die Einhaltung der Jugendschutzbestimmungen auch während der Tests zu gewähren, wurden die Jugendlichen von Erwachsenen begleitet. Die traten allerdings nicht in Erscheinung, um einen realistischen Test zu gewährleisten.
Von einem generellen Problem mit dem Jugendschutz in Fußballstadien kann jedoch nicht gesprochen werden: In einem dritten Stadion erhielt der jugendliche Tester bei keinem der sechs Tests alkoholische Getränke.
„Es stellt sich die Frage, warum es Jugendlichen in Fußballstadien möglich ist, Bier zu kaufen. Viele unserer Kunden stehen vor vergleichbaren Herausforderungen. Regelmäßig durchgeführte Tests haben beispielsweise in Tankstellenshops beim Verkauf von Alkohol oder bei Lottoannahmestellen bewirkt, dass das Verkaufspersonal heute viel genauer auf die Einhaltung des Jugendschutzes achtet“, sagt Thomas Starsetzki, Mitinhaber und Geschäftsführer von SKOPOS NEXT. „Anfängliche Befürchtungen, dies könne zu Lasten des Umsatzes gehen, traten nicht ein. Wobei es darum auch gar nicht gehen darf. Es gibt kein Wenn und kein Aber: Bei Waren, die dem Jugendschutz unterliegen, muss einfach nachgefragt und kontrolliert werden. Und Testkäufe sind hierbei ein zentrales Instrument.“

„Je früher Jugendliche mit dem Alkoholtrinken anfangen, desto größer ist das Risiko von Suchtproblemen im späteren Leben“ erläutert der Initiator von alkoholpoltik.de, Rolf Hüllinghorst. „Die Fußball-Bundesliga hat eine Vorbildfunktion. In der nächsten Saison sollten Konzepte für den Jugendschutz in allen Stadien umgesetzt werden.“

Auf einer öffentlichen Podiumsdiskussion am Montag, 3. Juni 2013, um 20:00 Uhr, in Berlin, Wildenbruchstraße 80 werden die Ergebnisse mit Abgeordneten des Bundestages und dem Forschungsinstitut SKOPOS NEXT im Rahmen der Aktionswoche Alkohol diskutiert. Für die Veranstaltung zugesagt haben Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD), Stefanie Vogelsang (CDU), Dr. Harald Terpe (Bündnis 90/Die Grünen).

Zu den Unternehmen:

Die SKOPOS NEXT GmbH & Co.KG gehört zu SKOPOS Group und ist spezialisiert auf Mystery Research. Hierzu zählen die Methoden Mystery Shopping & Calling Silent Monitoring sowie Jugendschutztests. Zur SKOPOS Group mit 40 Mitarbeitern gehören neben der SKOPOS NEXT, das Full-Service Marktforschungsinstitut SKOPOS Institut für Markt- und Kommunikationsforschung, sowie die internationale Tochter SKOPOS Market Insight in London und der Onlinepanel-Anbieter ODC Services in München. SKOPOS NEXT hat insbesondere im Bereich Jugendschutz seit Gründung des Unternehmens umfangreiche Expertise gesammelt und führt mittlerweile über 15.000 Jugendschutztests jährlich durch. Die Kunden nutzen dabei das SKOPOS NEXT eigene Jugendschutz-Tester-Feld. Das institutseigene Testerfeld und personelle sowie technische Ressourcen garantieren termingerechte Jugendschutz-Testkäufe in hoher Qualität.
alkoholpolitik.de ist eine Internet-Initiative der Guttempler in Deutschland, die sich für die Reduzierung des Alkoholkonsums auf der Grundlage evidenzbasierter politischer Maßnahmen einsetzt.

Rolf Hüllinghorst,

Tel: 0521 – 81535, / 0172 – 2743213,
www.alkoholpolitik.de,
www.guttempler.de

Kontrolliertes Trinken und Trinkmengenreduzierung

In der Suchtselbsthilfe noch ein Tabuthema

Geht man davon aus, dass nur acht Prozent der Abhängigen behandlungswillig sind, so liegt das auch daran, dass dem Süchtigen gesagt wird: du darfst nie wieder in deinem Leben auch nur einenTropfen trinken (ein Gramm konsumieren)! Das Suchtgedächtnis lässt sich nicht löschen und springt sofort wieder an. Gerade für junge Abhängige kann das eine hohe Hürde sein. Sie möchten zwar ihren Konsum reduzieren, aber nicht ganz aufgeben. Geht das überhaupt? Wenig ist unter trockenen Alkoholikern so mythenbehaftet bzw. stigmatisiert wie das kontrollierte Trinken. Zwischen profesioneller Suchthilfe und Suchtselbsthilfe wird das Thema seit Jahren kontrovers diskutiert.

1. Erkenntnis aus Erfahrung

Eine unschätzbare Hilfe auf dem Weg in die Trockenheit und für eine langjährige – im besten Fall – lebenslange Abstinenz – sind die Selbsthilfegruppen. Sie sind das niederschwelligste Angebot für Betroffene und Angehörige. Ich brauche keine Überweisung, es kostet mich nichts, ich bleibe anonym, ich treffe auf Menschen mit dem gleichen Ziel, nämlich das Suchtproblem in den Griff zu bekommen, über mein Leben selbst zu bestimmen und die Herrschaft nicht mehr dem Alkohol (oder anderen Drogen) zu überlassen.

Es gibt unzählige Versuche, die Wirksamkeit von Selbsthilfegruppen zu erklären. Nicht selten höre ich: „Die Gruppe hilft mir trockenzubleiben. Ich weiss zwar nicht wieso, aber es ist so.“ Das Wesentliche besteht wohl im Solidaritätsgedanken, in dem Wissen, dass ich mit meinem speziellen Problem nicht allein bin, dass es Menschen gibt, denen es ähnlich oder genauso geht wie mir und dass nicht wenige einen Weg gefunden haben, erfolgreich mit ihrem Problem umzugehen. Trotzdem bin ich auch in der Gruppe nur für mich verantwortlich. Andererseits ist es durchaus gestattet, aus der Erfahrung von anderen Betroffenen zu lernen. Und auch so mancher Tipp für eine spezielle Situation wird gerne angenommen. Verpönt sind Ratschläge wie „das musst du so und so machen!“ Auch wenn das Grundproblem – die Suchterkrankung – bei allen dasselbe ist, so spielen doch individuelle Faktoren eine wichtige Rolle: wieviel habe ich getrunken, wie lange habe ich getrunken, was habe ich getrunken, wo habe ich getrunken usw. Und – das sei an dieser Stelle vermerkt – es gibt auch andere erfolgversprechende Wege in eine dauerhafte Abstinenz.

Was die Selbsthilfegruppen so wertvoll macht, ist der Schatz an persönlichen Erfahrungen. Und es ist durchaus erlaubt, davon zu profitieren.

Selbsthilfegruppen sind so individuell wie ihre Mitglieder, das heißt, im Laufe der Zeit entwickelt jede Gruppe in stabiler Zusammensetzung ihr eigenes Profil. Das heißt für den Anfänger, dass er „seine“ Gruppe finden muss, die Chemie sollte schon stimmen.

Es gibt Gruppen, die dem Fortschritt in medizinischem und psychologischem Bereich wenig aufgeschlossen gegenüberstehen, nach dem Motto: was vor zwanzig Jahren gut war, kann heute nicht falsch sein, oder: ich bin auf diesem Wege trocken geworden, also muss er auch für andere richtig sein. Dieser Dogmatismus ist nicht per se abzulehnen, hat er doch Millionen geholfen. Aber kann ich auch einen anderen Weg gehen, der nicht völligen Verzicht bedeutet? Werden mehr als acht Prozent der Süchtigen erreicht, wenn ich weniger absolut an das Thema herangehe?

2. Missbrauch – Abhängigkeit

Es ist für einen Laien nicht immer leicht, sich in dem Gewirr der Definitionen zurechtzufinden, zumal, wenn es keine klaren Abgrenzungen gibt. Aber eine Einordnung ist wichtig, um die Chancen richtig einschätzen zu können.

Wenn in Selbsthilfegruppen der Begriff „kontrolliertes Trinken“ fällt, erfolgt ein kollektiver Aufschrei. Und das nicht zu unrecht. Es gibt kaum einen Süchtigen, der nicht schon selbst versucht hat, seinen Konsum zu reduzieren. Das reicht über das Festlegen einer bestimmten Tagesration bis zum Aufstellen eines „Trinkplanes“ mit deutlich reduzierten Mengen. Und gerne würden wir an dieser Stelle über Erfolge berichten. Allerdings ist mir – auch aus meiner Arbeit in der Suchtselbsthilfe – kein einziger Fall bekannt, in dem das funktioniert hat. Nach wenigen Tagen, oft nur nach Stunden, ist man dem alten Trinkschema wieder verfallen, also rückfällig. Deshalb wird in der Selbsthilfe zu Recht betont, dass ein kontrolliertes Trinken für den Abhängigen so gut wie unmöglich ist. Ich will hier nicht behaupten, dass es überhaupt nicht geht, genauso wenig wie es eine absolute Wahrheit gibt. Ich kenne auch Menschen, die ohne Gruppe dauerhaft abstinent sind. Aber ich würde gerne einen Alkoholiker kennenlernen, der es geschafft hat, nach jahrelanger Abhängigkeit kontrolliert zu trinken.

An dieser Stelle müssen wir unterscheiden zwischen den Abhängigen und den missbräuchlich Konsumierenden. Ein Abhängiger leidet lt. Definition der Weltgesundheitsorganisation an mindestens drei der folgenden Symptome:

– eine Art Zwang, psychotrope

Substanzen zu konsumieren,

– verminderte Kontrollfähigkeit über das Ausmaß des Konsums,

– körperliche Entzugserscheinungen bei Beendigung/Verminderung des Konsums,

– Nachweis einer Toleranz, also höherer Verträglichkeit/Dosierung der Substanz,

– Vernachlässigung anderer Interessen, erhöhter Zeitaufwand für den Konsum,

– Fortsetzung des Konsums trotz des Nachweises schädlicher Folgen.

Wie aber nun wird „Missbrauch“ definiert?

Es wird ja gerne unterschieden zwischen den „missbräuchlich Trinkenden“ und den „Abhängigen“. Dabei wird gleichzeitig betont, dass die Grenze zwischen Missbrauch und Abhängigkeit sehr schmal ist. Unter Missbrauch verstehe ich, dass mehr getrunken oder konsumiert wird als gesundheitlich unbedenklich ist. Und dafür lassen sich m. E. keine absoluten Zahlen aufstellen (20g Alkohol/d). Einer ist nach drei Bieren angetrunken, einem anderen merkt man nach zehn noch nichts an. Vermutlich werden Suchtstoffe auch individuell verschieden verarbeitet. Dafür spricht, dass bei dem einen schwere gesundheitliche Schäden auftreten, beim anderen keine Beeinträchtigungen. Missbrauch bedeutet für mich, mehr als normal zu trinken (aber was ist schon „normales Trinken“?), aber noch nicht abhängig zu sein. Das heißt, der missbräuchlich Trinkende kann jederzeit aufhören, während der Abhängige weitermachen muss. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Meinung, die ich kürzlich in der Jugendgruppe der Berliner Guttempler hörte: Jeder, der ein bestimmtes Trinkritual einhält (Feierabendbier, Wochenendbier, Bier im Garten, monatliches Besäufnis, Absacker, Verdauungsschnaps usw.), ist abhängig. Es kommt nicht auf die Menge an, sondern auf die Regelmäßigkkeit. Wie ist das eigentlich bei anderen Drogen (Kokain, Cannabis, Heroin usw.)? Gibt es auch da „normale“ und missbräuchlich Konsumierende oder nur Abhängige?

Da Abhängigkeitserkrankungen zu den psychischen Erkrankungen gehören, ist eine eindeutige Definition offensichtlich kompliziert (man denke auch an die Unterschiede zwischen Stimmungstief [normal], Burnout [Stresserkrankung] und Depression [schwere, behandlungsbedürftige Erkrankung] die aus Profitgründen gerne von der Pharmaindustrie durcheinandergewürfelt werden). Nicht umsonst haben einige gute Ärzte oder Psychologen selbst Erfahrungen mit der Sucht gemacht (wobei ich hier keinesfalls fordern will, dass gute Suchtmediziner während ihres Studiums bis zur Bewusstlosigkeit saufen sollten).

In diesen Zusammenhang passen auch die sehr unterschiedlichen Zahlen: bei missbräuchlich Trinkenden gibt es in Deutschland eine Bandbreite von vier bis zehn Millionen, bei Alkoholkranken reichen die Angaben von einer bis vier Millionen. Natürlich gibt es auch hier eine erhebliche Dunkelziffer.

Also, es gibt unbestreitbar eine Grauzone. Und abhängig davon, wo ich mich einordne, muss ich ganz auf den Suchtstoff verzichten oder ich kann kontrolliert damit umgehen. Ich bin kein Gegner des kontrollierten Trinkens, im Gegenteil: schon wenn es dazu dient, die Menge zu reduzieren, halte ich es durchaus für sinnvoll. Aber ich glaube auch, dass für Abhängige ein kontrolliertes Trinken nicht möglich ist.

3. Wissenschaft oder Geldschneiderei?

Der Diplompsychologe Prof. Dr. Joachim Körkel beschäftigt sich seit rund 20 Jahren mit dem Thema. Für viele Selbsthilfegruppen ist der Name ein rotes Tuch. Natürlich ist es richtig, für einen Abhängigen die Abstinenz als Ziel zu setzen. Durch die jahrelange Ausbildung des Suchtgedächtnisses, das nicht nur die schlimmen, sondern vor allem die angenehmen Seiten des Konsums (verbunden mit der Dopaminausschüttung) speichert, kann jeder Reiz in diese Richtung zum Rückfall führen. Deshalb ist jeder Abhängigkeitskranke gut beraten, auf das Suchtmittel, egal in welcher Form, gänzlich zu verzichten. Das ist auch der Standpunkt der Selbsthilfe. Wobei hier die Frage auftaucht: Gibt es ein Suchtgedächtnis überhaupt? Körkel bietet nun, allerdings mit Einschränkungen, das „kontrollierte Trinken“ an. 2007 erschien sein Buch „Damit Alkohol nicht zur Sucht wird – kontrolliert trinken: 10 Schritte für einen bewussteren Umgang mit Alkohol.“

Wer den Titel aufmerksam liest bemerkt, dass Körkel kontrolliertes Trinken für möglich hält, bevor Alkohol zur Sucht wird, also auch in diesem Fall vor allem für missbräuchlich Trinkende. Dem kann ich mich anschließen.

Nicht einverstanden bin ich mit den zahlreichen Angeboten im Internet, in welchen viele Kliniken ihre Wege aus der Sucht bewerben, ohne auf das Trinken generell verzichten zu müssen. Das halte ich für eine Illusion. Da wird versprochen, in nur drei Wochen den verantwortungsbewussten Umgang mit Alkohol zu lernen, wieder normal trinken zu können, wieder voll belastbar zu sein und manches mehr. Dabei wird in einigen Angeboten darauf hingewiesen, dass diese Methode nur dann in Frage kommt, wenn keine körperliche Abhängigkeit, also Entzugserscheinungen bei Mangel, vorliegt. Andere Angebote gehen großzügiger mit dem Begriff um und wecken unbegründete Hoffnungen bei Abhängigen. Ganz abgesehen davon, dass die meisten Klinikangebote auch nicht ganz billig sind.

Wärend bei einem Diabetes oder einem Grauen Star oder einer Meningitis die Symptome und somit auch die Diagnose eindeutig sind, entziehen sich Erkrankungen der Psyche, zu denen ja auch die Suchterkrankungen gehören, oft einer prägnanten Beurteilung. Und das, was der Mensch sich nicht völlig erklären kann, macht oft Angst, das Unbekannte besonders. Angst verunsichert letztenendes.

Und in diesem Klima gedeihen Mythen und Dogmen besonders.

Kontroverse Diskussionen sind gut, wenn sie zu einem Ziel führen. Sie sind wenig hilfreich, wenn Betroffene nicht mehr wissen, was sie glauben sollen und dürfen.

In den Gruppen gibt es eine Reihe von empfohlenen Regeln oder Verhaltensweisen, die sicher alle ihre Berechtigung haben und deren Missachtung eine Rückfallgefahr begünstigen kann. Aber: die meisten klammern sich daran, ohne zu wissen, ob es auch anders geht. Ich habe manche Dinge anders gemacht – nicht ohne von meinen Gruppenfreunden hart attackiert worden zu sein – und bin auch noch trocken. In der Medizin wird zunehmend nach individualisierten Behandlungskonzepten verfahren, und das lässt sich m. E. auch auf die Therapie von Suchterkrankungen übertragen.

4. Trinkmengenreduzierung

Zunehmend wird in der Forschung über Trinkmengenreduzierung statt Abstinenz diskutiert. Ausgangspunkt ist, den Konsumenten zu motivieren, sein Verhalten zu ändern. Wie oben beschrieben, kann eine Reduzierung des Suchtstoffes bei Missbrauch durchaus sinnvoll sein. Wie ist es aber bei Abhängigen? Natürlich wäre die Abstinenz der Idealfall. Für nicht wenige geistig und körperlich Abhängige ist das eine mental nur schwer zu überwindende Hürde. Wenn sie am Anfang ihres Weges in die Trockenheit gleich mit der rigorosen Forderung nach totaler und sofortiger Enthaltsamkeit konfrontiert werden, kann das ein scheinbar unüberwindliches Hindernis sein. Gerade einem jungen Menschen ist schwer zu vermitteln, dass er zeitlebens nie wieder Alkohol – egal in welcher Form – oder andere Drogen zu sich nehmen darf. Und hier halte ich den Versuch einer Reduzierung der Suchtmitteleinnahme als Erstmaßnahme für legitim. Dass die Abstinenz später das Ergebnis sein soll, wird ja dadurch nicht aufgehoben.

Das Thema “Trinkmengenreduzierung” spielt in der wissenschaftlichen Diskussion zunehmend eine Rolle. Hier stehen sich die “Profis”, also die trockenen Alkoholiker, und das forschende Personal ziemlich unversöhnlich gegenüber. Erstere sprechen aus ihren persönlichen und den Erfahrungen von Mitbetroffenen, also aus der Praxis. Auch ich vertrete die Auffassung, dass der kompromisslose Weg der erfolgreichere ist. Ich kenne viele Abhängige, die durch Experimente, Leichtsinn oder Euphorie wieder schlimmste Stufen des Rückfalls erlebt haben, und das nicht selten nach jahrelanger Trockenheit. Auch 20 Jahre Abstinenz schützen nicht davor. Andererseits frage ich aber, ob es hilfreich ist, alle diejenigen, die zu der absoluten Konsequenz (noch) nicht bereit sind, zurückzulassen.

5. Suchtselbsthilfe kontra professionelle Suchthilfe?

Ich will keine alten Gräben aufreißen, schließlich hat sich die Zusammenarbeit zwischen professioneller Suchthilfe (Forschung, Medizin, Psychologie) und Suchtselbsthilfe etwas entspannt, unter anderem auch durch die vom Blauen Kreuz gelieferten Vorschläge.

Der Ansatz des Anton-Proksch-Institutes in Wien, nämlich weg vom Einheitspatienten und hin zur personenzentrierten Therapie, ist zwar anspruchsvoll, entspricht aber heute der Forderung bei allen Therapien (vgl. www.springermedizin.at/schwerpunkt/standpunkte/?full=30084).

In gewissem Umfang folge ich auch dem Vorschlag von Prof. Dr. Thomas Hillenmacher (Medizinische Hochschule Hannover), der Abstinenz als oberstes Therapieziel definiert, aber gleichzeitig feststellt, dass dieses Ziel nicht für alle Abhängigen sinnvoll ist. Das beweisen auch die hohen Rückfallquoten von 70% im ersten und 90% im zweiten Jahr nach einer Therapie. Er fordert individuelle, an Schadensminimierung orientierte Therapieziele und bezeichnet die Risikoreduktion von Folgeerkrankungen sowie ein vermindertes Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko als Vorteile der Trinkmengenreduktion (in: Aktiva. 2. Symposium für eine aktive Alkoholtherapie. Berlin, 26. Juni 2012).

Zugleich aber bestätige ich die Auffassung der Suchtselbsthilfe, dass die Abstinenz der beste Weg für Abhängigkeitskranke ist. Alle Versuche einer Reduzierung des Suchtmittels, die ich in den Gruppen erlebt habe, sind gescheitert.

Wer heute zufrieden abstinent lebt, spielt mit seinem Leben, wenn er versuchen würde „kontrolliert“ zu trinken. Gleichzeitig aber sollte auch diese Möglichkeit z. B. bei jungen Betroffenen oder missbräuchlich Trinkenden in Erwägung gezogen werden entsprechend dem Motto: besser weniger trinken als gar nichts tun.

Die Redaktion würde sich freuen, wenn Sie, liebe Leser, sich sachlich und auf Erfahrung beruhende und nicht nur vom Hörensagen inspirierte Meinungen zu dem Thema äußern würden!

Jürgen Schiebert

Weitere Informationen:

www.a-connect.de/kt.php
www.bssb.uni-oldenburg.de
www.lieber-weniger.de/Projekt/Themensammlung/VI-mythos.htm
www.alkoholhilfe.de/kontrink.htm
alcoblog.blogger.de/topics/Kontrolliertes+Trinken/