Titelthema 6/13: Blau auf dem roten Teppich

Blau auf dem roten Teppich

Die TrokkenPresse – Organ Abhängiger aller Genres und Gewerke – umwabern alljährlich abenteuerliche Gerüchte über die elf tollen Tage der Internationalen Berliner Filmfestspiele: Nachdem sich die Tabletts mit den angesagten Kaltgetränken und die Partyparketts geleert haben, füllen sich angeblich die Betten der Entzugskliniken. Um dieses diffuse Twilight zu beleuchten, führte HG-N, greises Groupie schöner Künste, mit dem Festivaldirektor und Intendanten der Internationalen Filmfestspiele Berlin, Dieter Kosslick, ein erhellendes Interview.

TrokkenPresse: Wollen wir dieses Interview in Du-Form führen? Unseren abhängigen TrokkenPresse-Lesern, die meist schon einen harten Weg durch Therapie, Selbsthilfegruppen oder konfrontative Trinkerheilanstalten gegangen sind, ist die Duzerei durchaus nicht fremd.

Dieter Kosslick: Klar.

TrokkenPresse: Nirgendwo wird so viel gesoffen wie überall – und bei euch?

Dieter Kosslick: Jeden Tag gibt’s eine Party, und wenn Du da jeden Tag ein Glas Wein trinkst, bist Du schon dran.

TrokkenPresse: Wird kein Wasser gereicht?

Dieter Kosslick: Doch. Einerseits sind die Leute sehr aufgeregt, manche scheu und andere unsicher. Es gibt viele Gründe, Alkohol zu trinken – ich meine nicht die Süchtigen, die trocken geworden sind, sondern die „Normalen“. Aber ich kenne auch einen Regisseur, der hat vor einem halben Jahr aufgehört zu rauchen und trinkt keinen Alkohol mehr.

TrokkenPresse: Sehr löblich.

Dieter Kosslick: Auslöser waren schlicht gesundheitliche Probleme. Er hat erst mal 15 Kilo abgenommen in dieser kurzen Zeit, obwohl er Kettenraucher war. Das Rauchen hat er konsequent aufgegeben und er hat mir gesagt, dass er wahrscheinlich auch gar nicht mehr anfangen wird zu trinken, weil dieses Gefühl, morgens aufzuwachen und klar im Kopf zu sein, der Körper funktioniert, es geht einem gut, man fühlt sich wohl und ist positiv gelaunt, einfach großartig ist. Das ist ihm viel mehr wert…

TrokkenPresse: Der Kandidat hat ein TP-Abo gewonnen!

Dieter Kosslick: Ich kenne den Mann schon seit 30 Jahren und bin erstaunt, dass das jemand so konsequent durchziehen kann. Obendrein beweist es ja eigentlich nichts anderes als dass es einem gut geht, wenn man keinen Alkohol trinkt.

TrokkenPresse: Du hast schon viel auf der Leinwand gesehen. Welcher Film, in dem Alkohol eine Hauptrolle spielt, käme dir ad hoc vor die Augen?

Dieter Kosslick: „Julia“, ein Thriller von Eric Zonca, der vor einigen Jahren auch bei uns im Wettbewerb lief mit unserer ehemaligen schottischen Jury-Präsidentin, Tilda Swinton in der Hauptrolle. In dem Film spielt sie eine vierzigjährige Alkoholikerin, notorische Lügnerin, manipulativ und unzuverlässig – hoch kompliziert. Es gibt viele Filme mit Alkoholexzessen. Einer der berühmtesten in der Filmgeschichte ist „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“. Bei dem Film wusste man nicht mehr, ob das noch Film oder die Realität zwischen Liz Taylor und Richard Burton war. Der ganz große Alkoholtrip, der auch nach 90 Minuten weitergespielt wurde und die Weltpresse in Atem gehalten hatte. Ansonsten in der Neuzeit auch eine Mischung, von der man nicht so richtig weiß, was passiert ist. Auf jeden Fall denke ich da an Charlie Sheen, der wegen seiner Alkoholkrankheit offensichtlich aus einer erfolgreichen Serie rausgeflogen sein soll. Da soll es so richtig rund gegangen sein. Da werden dann Realität und Film verwechselt. Probleme, die es in der Realität gibt, werden schließlich auch im Film geschildert. Das ist ja nichts anderes als eine Widerspiegelung von Themen und Exzessen. Ob das jedoch alles wahr ist, weiß ich nicht. Die bunten Blätter haben darüber ausführlich geschrieben.

TrokkenPresse: Und was ist deiner Meinung nach der schrägste Alkoholfilm nach Richard Burton? Rückfälle, Barfly, Julia, Leaving Las Vegas …?

Dieter Kosslick: „Barfly“, naja, der ist schon ziemlich schräg. Es gibt natürlich viele Filme über und von Bukowski, in denen Alkohol als Konzept dient. Die Message, dass man kreativer wird, wenn man Suchtmittel nimmt, ist ohnehin gefährlich.

TrokkenPresse: Aber das denken viele.

Dieter Kosslick: Ich glaube schon, dass viele der Meinung sind, aber das trifft auf keinen Fall auf eine längere Zeit zu. Man kann sich durch Sucht- und vor allen Dingen durch Rausch-Mittel relativ schnell ins Aus katapultieren. Trinken allein ist ja eigentlich gar nicht mehr so in. Das wird zwar immer noch gepflegt, wir wissen ja wie viel Alkohol getrunken wird in der Republik und dass das nach wie vor ein Riesenproblem ist. Aber in Wahrheit gibt es natürlich viele zusätzliche Drogen: Kiffen ist wieder modern, Pillen werden geschluckt, Schnee wird geschnupft.

TrokkenPresse:… gern auch Chrystal Meth, geht mehr los als Kokain und Heroin …

… und mit Alkohol runtergespült. Meiner Meinung nach führt das alles relativ schnell zum Aus. Ich kann nach einem Selbstversuch sagen: Als ich 1974 meine Magisterarbeit schrieb, hatte ich große Schreibhemmungen – was nicht wenigen Leuten passiert – und dann versuchte ich, mit Alkohol und Nikotin wieder in Schwung zu kommen. Das funktionierte ungefähr eine Stunde so. Danach war einfach die Birne leer. Alkohol öffnet dir die Venen und Nikotin zieht sie wieder zusammen. Dann bist du komplett gaga, da soll man sich nichts vormachen. Die Wahrheit ist, all die Leute, die selbst in bürgerlichen Normen trinken – sag ich jetzt mal so -, auch eine klassische Form des Alkoholismus, merken oft gar nicht, dass sie tatsächlich jeden Tag trinken.

TrokkenPresse: Zur Kreativität unter Alkohol: Im Rückblick vermehrte sich – bei mir – mit steigender Trinkmenge die Papierkorbfüllung nicht nur linear, sondern potenziell. Kannst du das nachvollziehen?

Dieter Kosslick: Ja, ich hab auch schon unter Alkohol geschrieben, Super-Geschichten. Und als ich meine Traktate dann am nächsten Tag gelesen habe, schwante mir, dass es meinen Geschichten sicher besser täte, sie nächstes Mal vielleicht nüchtern zu schreiben. So einen Schwachsinn sollte man weder schreiben noch lesen. Als ich mal in Havanna im Hotel National logierte, war ich so beeindruckt von dem, was da in diesem Riesenspeisesaal los war, in dem schon Hemingway gespeist …

TrokkenPresse:… und gesoffen hatte!

Dieter Kosslick:… und dann spielte dort diese Pianistin, der ich noch unauffällig fünf Dollar in die Hand drückte und die mir dann erzählte, dass sie eigentlich Lehrerin sei, aber das Geld brauche. Ich hatte lauter Schicksale gesammelt, die ich aufschreiben wollte. Alles schön auf meiner Serviette notiert und in die Tasche gesteckt, weil ich diese Geschichten, die ich da erlebt hatte – zwei Stunden lang allein an einem Tisch – unbedingt für die Nachwelt festhalten wollte. Dazu habe ich aber zu viel Wein getrunken, kubanischen. Am nächsten Tag entpuppten sich meine großartigen Skizzen als ein solcher Schwachsinn, dass ich dachte, es wäre sicher besser, wir läsen Hemingway direkt. Nein, es ist Quatsch, natürlich wird man dann nicht kreativer, man bildet sich das nur ein.

TrokkenPresse: Stichwort Kuba. Gibt es noch Filme, die Trink-Locations, wie Harry‘s Bar, Rick‘s Cafe, Alices Restaurant, Der blaue Engel kreiert haben?

Dieter Kosslick: Es gibt ein ganzes Genre, das zur Hälfte im Restaurant stattfindet: Western. Selten ein Western, in dem sie nicht in den Saloon reingehen, trinken, sich vier Flaschen schlimmsten Sprit durch die Gurgel jagen und sich dann niederschießen.

TrokkenPresse: Ja, die ballern nicht nur die Drinks weg.

Dieter Kosslick: Es gibt, glaube ich, fast kein anderes Genre, das so oft in der Bar oder dem Saloon spielt.

TrokkenPresse: Wie der Barkeeper den Bierkrug so längs …

Dieter Kosslick:… auf und über den Riesentresen schlittern lässt.

TrokkenPresse: Der dann stets passgenau leicht überschwappend vor dem Zecher stehen bleibt …

Dieter Kosslick:… oder wie der Keeper die Whiskey-Pulle unterm Tresen hervorangelt. Ja, wenn man sich jetzt damit beschäftigen wollte; in fast jedem dritten Film kommt irgendwie eine Bar, ein Restaurant oder Alkoholkonsum vor, das geht einfach gar nicht anders. Das sind eben Locations, wo sehr viele soziale interaktive Aktionen vorkommen, das darf man auch nicht vergessen. Und durch den Alkohol wird diese soziale Interaktion in etwas sehr Spezielles transformiert. Da können nicht einfach zwei Leute bei Mineralwasser sitzen und sich eine wahnsinnige Geschichte erzählen.

TrokkenPresse: Spiegelt sich der soziale Stand unserer Gesellschaft mit – all ihren Facetten – im Film wider?

Dieter Kosslick: Na klar.

TrokkenPresse: Gibt es auch ein Genre oder eine Sparte, die ohne Suchtstoffe auskommen? Wilsberg zum Beispiel? Da wird weder geraucht noch gesoffen.

Dieter Kosslick: Es gibt inzwischen viele Regeln, dass in bestimmten Filmen weder geraucht noch Alkohol konsumiert werden darf. Speziell in Amerika, wo man sehr vorsichtig sein muss und auf der Straße nicht mit einer Flasche Bier rumlaufen darf. Da sollte schon eine braune Tüte drumherum sein. Also in vielen Filmen gibt es weder Nikotin noch Alkohol, aber das wird nicht besonders promotet. In anderen Filmen wird stramm geraucht, weil die Zigarette vielleicht ein Stilmittel ist, um jemanden darzustellen, wie den Kommissar, der Tag und Nacht arbeitet und sich nur noch mit Kaffee und Zigaretten wach halten kann.

TrokkenPresse: Kann missbräuchliches Kinogucken in die Abhängigkeit führen?

Dieter Kosslick: Nee, das glaube ich nicht. Nur bei Kindern und Jugendlichen, die für sie ungeeignete Filme sehen und das Geschehen als Normalität empfinden, kann es einen negativen Sozialisationseffekt haben. Völlig klar, wenn man Leute immer rauchen und trinken sieht. In Amerika haben sie mal eine Statistik aufgestellt, die besagt, dass jeder Achtjährige tausende Morde pro Jahr im Fernsehen sieht. Dann ist es einfach automatisch so – da braucht man gar nicht in die Wirkungstheorie zu gehen – dass etwas als ganz normal angesehen wird, was im Prinzip eigentlich ein außergewöhnlicher Vorgang ist, nämlich Morden, Trinken und auch Rauchen. Ich habe aufgehört zu rauchen und jetzt gerade wieder so einen Film gesehen, in dem der Kommissar eineinhalb Stunden durchraucht. Ich hab das wirklich fast nicht mehr ertragen können. Bei diesem Film weiß ich, dass der Schauspieler privat Kettenraucher ist und deswegen haben sie ihm wahrscheinlich auch die Rolle so geschrieben.

TrokkenPresse: Günter Lamprecht erzählte mir mal, dass er Drehbücher verfasst hätte, in dem er seinem Haupt-Kommissar Markowitz den eigenen damaligen Nikotinstatus reingeschrieben hat – auch Kettenraucher.

Dieter Kosslick: Ja ja, das soll zudem zeigen, wie aufgewühlt diese Leute sind und wie dramatisch eigentlich das Geschehen ist, und dass sie das nur mit Zigaretten und Alkohol beherrschen können.

TrokkenPresse: Und was bitte nun ist dein Lieblingsgericht oder Rezept?

Dieter Kosslick: Mein Lieblingsgericht???

TrokkenPresse: Ja, frag ich die Leute gerne.

Dieter Kosslick: Ach, ich habe viele Lieblingsgerichte. Also eines, das kommt aus Baden-Württemberg, sind Maultaschen. Die schwäbische Küche liebe ich nach wie vor: Das bedeutet Maultaschen, Spätzle, Schupfnudeln. Das kann ich übrigens alles auch selber machen. Neulich habe ich zum ersten Mal Kartoffel-Gnocchi gemacht, und die gibt es morgen wieder. Also diese schwäbische Küche mit nicht zu viel Fett wird wohl immer meine Lieblingsküche bleiben. Ich schätze auch die Sterne-Küche, aber das ist ja nicht für jeden Tag. Wenn ich mir was zubereite, ist das relativ einfach. Ich esse kein Fleisch, bin Vegetarier geworden. Du und viele andere werden sicher nicht mit mir übereinstimmen: Aber auch Fleisch macht süchtig – nach mehr Fleisch. Der Fleischkonsum ist in einem Ausmaß gestiegen, dass man sich das überhaupt nicht mehr vorstellen kann. Ich will es auch nicht politisieren, will nur sagen, das war für mich auch so ein Vorgang, wo ich gesagt habe: Ich esse gerne, ich esse auch gerne gut, aber ich mache mich nicht von einer Sache abhängig.

TrokkenPresse: Ich versuche, mich nur abhängig zu machen von dem, was unabhängig macht.

Dieter Kosslick: Das ist auch genauso wie keinen Alkohol trinken und nicht rauchen. Ich fühle mich einfach besser, viel leichter und so weiter und so fort. So viel zum Kulinarischen.

TrokkenPresse: Und nun die Schlussfrage: Wer hat wann zuletzt blau auf den roten Teppich gekotzt?

Dieter Kosslick:?!, ?! Äh, meines Wissens niemand, jedenfalls in den letzten 13 Jahren. Ich gebe aber zu, dass es durchaus zu Geschehnissen dieser Art gekommen sein könnte, aber da war ich schon zu Hause.

TrokkenPresse: Vielen Dank für dieses Gespräch.

Interview: Heiko Gliesche-Neumann

 

Titelthema 5/13: MPU

Das tote Huhn im Auto

Die MPU – wie ich wieder zu meinem Führerschein kam

In der TrokkenPresse 3/2012 erschien ein Interview „Wie ein Musiker auf den Alkohol kam und dann auf den Hund und wie der Hund ihn gerettet hat“. Michael T., 58, erzählte von seiner Sucht, seinen Empfindungen und Gefühlen und seiner am Alkohol gestorbenen Freundin Claudia. Aber auch darüber, wie er es mit Hilfe seines Hundes „Bongo“ geschafft hat, trocken zu werden.
Vor wenigen Tagen bellte es vor der Tür unserer Redaktion. Michael und Bongo begehrten Einlass. Es gab nämlich wieder etwas zu erzählen: wie Michael den Führerschein wiederbekam.
Dazwischen lag eine lange Karriere als Abhängiger: mit 14 die ersten Drogen, seit über 30 Jahren Alkohol. Jetzt seit vier Jahren trocken. Den Führerschein erhielt Michael 1978. 2009 verursachte er mit 2,07 Promille einen Auffahrunfall, danach war der Lappen weg. Das war, so Michael, auch mit einer gewissen Erleichterung verbunden, weil er zunehmend „besoffen“ gefahren ist.

Was war denn mit dem Führerscheinentzug verbunden?

Na ja, im Strafbescheid stand: 9 Monate Führerscheinentzug und 2.500€ Geldstrafe. Und mir war auch klar, dass ich zum “Idiotentest“ musste, wenn ich den Schein wiederhaben wollte. Das ist ab 1,6 Promille vorgeschrieben.

War der Führerscheinentzug für dich mit ein Grund, mit dem Trinken aufzuhören?

Da kam einiges zusammen: innerlich war ich völlig aufgewühlt, durch den Tod meiner Freundin Claudia, auf die Reihe habe ich auch nichts mehr bekommen, meine Wohnung war verwahrlost und so weiter, und dann bin ich ins AVK (Auguste-Viktoria-Krankenhaus Berlin) gekommen.

Wie ging es dann weiter?

Aus dem AVK haben die mich nicht so schnell entlassen. Ich war fast zwei Monate dort, bis ich wieder einigermaßen geradeaus laufen konnte. Danach bin ich in die Beratung der PBAM gegangen, das hat mir sehr geholfen.

Hast du dann schon wieder ans Autofahren gedacht?

Nee, überhaupt nicht. Ich hatte so viel mit mir zu tun, der Tod meiner Claudia war noch nicht verarbeitet, die persönlichen Umstände waren auch nicht so glücklich, und da stand das Auto einfach rum. Erst 2011 habe ich dann den Antrag auf die MPU bei der IAS (Institut für Arbeits- und Sozialhygiene) in der Rheinstraße gestellt.

Wie lief das im Einzelnen ab?

Zum Glück habe ich einen Vorbereitungskurs besucht. Da habe ich erstmal erfahren, dass ich ein Jahr lang zum betreuten Pinkeln muss, und auch Haarproben abgeben. Die wollten feststellen, ob ich noch trinke oder Drogen nehme. Auch die Leberwerte wurden überprüft. Bei der Informationsveranstaltung wurde mir auch mitgeteilt, dass es bei der MPU nicht nur um medizinische Untersuchungen, Reaktionstests und ein Gespräch mit einem Psychologen geht, nee, da wird auch kontrolliert, wie die familiären Umstände und die sozialen Kontakte sind, in welchen Verhältnissen du lebst, wie regelmäßig du eine Selbsthilfegruppe besuchst. Da musste ich schon die Hosen runter lassen.

Hast du eine professionelle Vorbereitung bei einer Beratungsstelle gemacht?

Ja, ich war bei Haiko Ackermann in der Friedrichstraße. Der entwickelt einen „Plan B“, damit man gut vorbereitet in die Prüfung gehen kann. Da habe ich dann auch wichtige Tipps erhalten, so z. B. dass ich regelmäßig in eine Selbsthilfegruppe und zur Psychotherapie gehen soll und mir das alles auch schriftlich bestätigen lasse.

War denn die Führerscheinstelle in der Puttkammerstraße damit einverstanden, dass du die Fahrerlaubnis so lange dort hast „liegenlassen?

Weiß ich nicht, aber ich habe mich dort gemeldet und meine persönliche Situation geschildert und gesagt, dass ich jetzt noch nicht so weit bin, die MPU zu machen. Das hat dann keine Probleme gegeben.

Wie ist dann die eigentliche medizinisch-psychologische Untersuchung (MPU) abgelaufen?

Also da kam einiges zusammen. Zuerst war die ärztliche Untersuchung. Die wollten ja auch alle Ergebnisse der vorausgegangenen Urin- und Haarproben, die Leberwerte usw. sehen. Das Gespräch mit der Psychologin war auch nicht ohne. Die wollte alles genau wissen und bohrte immer nach. Wie meine Trinkzeit verlaufen ist, wie meine Familienverhältnisse waren und sind, welche persönliche Entwicklung ich in den letzten Jahren genommen habe, wie ich meine psychische Stabilität einschätze, welche Schlussfolgerungen ich gezogen habe und was ich zukünftig anders machen will. Ich kann dir sagen, da kam ich ganz schön ins Schwitzen. Und wenn dann die Chemie auch nicht so ganz ideal ist… na ja, ich hab‘s überstanden

Wie war denn das mit dem Reaktionstest? Da haben ja die meisten Bammel vor.

Das wusste ich, dass die Frage kommt. Also, da brauchen wir nicht drumherum zu reden, da bin ich gleich durchgerasselt.

Und?

Deswegen musste ich mit einem Fahrlehrer und der Psychologin im Auto eine Fahrstunde absolvieren. Hätte ich den Reaktionstest bestanden, hätte ich mir das sparen können, die Fahrstunde kostet ja 50 €.

Und die hast du beim ersten Mal auch verrasselt?

Ja klar, musste ja kommen. Ich habe einem von rechts Kommenden die Vorfahrt geschnitten.

Da du ja heute mit dem Auto hier bist, hast du es aber offensichtlich geschafft?

Ja, die zweite Fahrstunde hat dann geklappt. Da war ich konzentriert und auch an der Ehre gekitzelt.

Wie ist dein Resumee?

Also, einfach ist es nicht, vor allem, wenn du den Kopf noch voller anderer Gedanken hast. Es kostet auch ganz schön, insgesamt, mit den ganzen Untersuchungen, habe ich vielleicht 1.500€ bezahlt. Am Ende gibt es einen Abschlussbericht. Den bekommst nur du, nicht die Führerscheinstelle. Den solltest du dir zu Hause ganz genau durchlesen, ist ja nicht immer verständliches Deutsch. Und wenn du meinst, dass er positiv für dich ausgefallen ist, schickst du ihn der Führerscheinstelle. Aber nur dann! Die entscheidet dann endgültig, ob du die Papiere wieder kriegst. Wenn der Bericht nicht so schmeichelhaft ist, schicke ihn gar nicht erst hin, sondern mache die MPU nochmal.

Seit wann hast du deinen Führerschein wieder?

Seit dem 2. August 2013. Und ich bin froh darüber.

Wie lange hat dein Auto gestanden?

Über ein Jahr.

Und, ist es gleich wieder angesprungen?

Ja. Aber auf dem Rücksitz lag auch über ein Jahr lang ein ehemals tiefgefrorenes Hühnchen, gut eingeschweißt, im eigenen Saft.

Die TrokkenPresse dankt dir für das Interview und wünscht dir und Bongo immer genug Luft auf den Reifen!

Interview: Jürgen Schiebert

Ein Führerschein – „Lappen“ oder Medaille?

Ein Führerschein ist nichts Besonderes. Oft wird sogar von einem „Lappen“ gesprochen. Hat man den Lappen verloren, kann man den Lappen auch wieder bekommen, es kostet nur ein wenig Mühe und etwas Geld. Es handelt sich um ein alltägliches Ereignis, eben nichts Besonderes.
In diesem Fall steht aber hinter dem Verlust des Führerscheins ein Drama, eine Tragödie. Der Betroffene war auf dem Weg seine eigene Gesundheit zu verspielen. Der Alkohol hatte ihn und seine Partnerin fest im Griff. Am Ende war es für die Freundin zu spät. Sie wurde tot aufgefunden und er konnte gerade noch gerettet werden. In der Not war für ihn ein langer Klinikaufenthalt unerlässlich. Es folgten weitere Schritte auf dem Weg in die allmähliche Genesung. Er brauchte Zeit, er brauchte Geduld – ein langer Abschied von gestern. Wenn heute hier über die Wiedererlangung des Führerscheins berichtet wird, dann kommt es mir fast so vor, als handele es sich bei dem wieder erlangten Führerschein um eine Art von Medaille:
Eine große Anerkennung für das Durchhalten schwerer Stunden, für die Bewältigung des Abschieds von der Freundin, des Abschieds vom Alkohol und für den Beginn eines neuen Lebens. Die TrokkenPresse gratuliert!

Heidt-Müller

Wenn der Führerschein weg ist

Rund um die MPU

Kaum ein Thema ist so mythenbehaftet wie die „Begutachtung zur Fahreignung“, auch „medizinisch- psychologische Untersuchung (MPU)“ oder „Idiotentest“ genannt. Bei unseren Recherchen zum Interview „Das tote Huhn im Auto“ mussten wir feststellen, dass eine umfassende und verständliche Darstellung aller mit einer MPU verbundenen Themen kaum zu finden ist. Außerdem können wir uns des Eindrucks nicht erwehren, dass die Schwierigkeit der Informationsbeschaffung auch

Titelthemen 3/13: Politik trifft Sucht, Kontrolliertes Trinken

Politik trifft Sucht

Im Rahmen der Aktionswoche Alkohol veranstaltete „alkoholpolitik.de“ zusammen mit den „Guttemplern in Berlin“ eine Podiumsdiskussion mit hochkarätigen Gästen. Das Thema des Abends war „Alkohol. Nichts ist besser“. Es sollte um den Verkauf von Alkohol an Jugendliche und Kinder gehen.
Im Neuköllner Domizil der Guttempler, trafen Bundestagsabgeordnete Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD), Dr. Harald Terpe (Grüne) und Stefanie Vogelsang (CDU) auf die Praktiker Prof. Dr. Gerd Glaeske von der BCGH Initiative in Bremen und Thomas Staresetzki sowie Sandra Weckbecker von Skopos.
Rolf Hüllinghorst von „alkoholpolitik.de“ und ehemaliger Geschäftsführer der DHS leitete den gesamten Abend auf seine humorvolle Art, so dass auch Lacher nicht ausblieben. Eröffnet wurde der Abend mit der faktischen Aussage, dass jeder Deutsche statistisch zehn Liter reinen Alkohol pro Jahr konsumiert. Welche Alkohol-Präventionsmaßnahmen sind vonnöten, um die Jugend vor dem Nervengift zu schützen? Alle Politiker waren sich einig, dass es ein Kontrolldefizit beim Vollzug des Jugendschutzgesetzes gibt. Frau Sabine Bätzing-Lichtenthäler von der SPD und Dr. Terpe von den Grünen, plädierten für Testkäufe durch Jugendliche. Frau Vogelsang von der CDU gab zu bedenken, dass es immer Ältere gebe, die den legal erworbenen Alkohol an Jüngere weitergeben. Sie wies auf die legale Grauzone hin, die beim Testkauf durch Minderjährige besteht und sprach sich für ein Alkoholabgabealter ab 18 Jahren aus und forderte: „Alkohol gehört nicht in die Hände von Kindern und Jugendlichen!“. Frau Bätzing-Lichtenthäler forderte Punktnüchternheit in Verkehr, Beruf und Schwangerschaft. Terpe vertrat die Auffassung, dass die Verfügbarkeit von Alkohol durch ein Nachtverkaufsverbot für Alkohol eingeschränkt werden müsse.
Professor Glaeske aus Bremen stellte seine bemerkenswerte Initiative, Alkoholwerbung aus den Stadien und Sportarenen zu verbannen, vor. Der Professor forderte, den positiv besetzten Sport vom Alkohol zu trennen und rechnete vor, dass 550 Mio. Euro offiziell für Alkoholwerbung ausgegeben werden, aber zusätzlich noch einmal 400 Mio. Euro als Sponsoring. In Bremen konnte Glaeske den Senat der Hansestadt sowie Willi Lemke, den Ex-Manager von Werder Bremen, sowie hunderte weitere Unterstützer für seine Forderung nach einem Alkoholwerbe- und Alkoholausschankverbot in Sportstadien gewinnen.

Zum Thema Alkoholwerbung und Fußball erwähnte Bätzing-Lichtenthäler aus ihrer Zeit als Bundesdrogenbeauftragte Gespräche mit dem DFB, die allgemeine Heiterkeit über die Bigotterie der Fußballfunktionäre bei den zahlreichen Zuhörern hervorrief. Der Vertreter der Grünen sprach sich für ein europaweites Fernsehwerbeverbot für Alkohol aus. Frau Vogelsang erweiterte diese Forderung durch ein Internetwerbeverbot für Alkohol. Alle anwesenden Gesundheitspolitiker waren sich einig, dass ein Alkoholwerbeverbot kommen muss. Finanz- und Wirtschaftspolitiker lehnten dies aber ab.

Die Vertreter von Skopos stellten ihr Unternehmen vor, welches Testkäufe als Dienstleistung anbietet. Zum Abschluss fragte Rolf Hüllinghorst nach der Preisgestaltung für Alkohol. Alle Politiker waren sich einig, dass Alkohol zu billig ist und eine höhere Besteuerung nach Alkoholgehalt vonnöten ist.

Auch waren sich alle anwesenden Politiker klar darüber, dass eine Verstärkung des Jugendschutzes erforderlich ist. Die Werkzeuge sind bekannt: Werbeverbot, Abgabealter 18 Jahre, höhere Steuern, eingeschränkte Verfügbarkeit, Punktnüchternheit, verbesserte Kontrolle des Jugendschutzgesetzes.

Leider war die ansonsten sehr erhellende Veranstaltung nur eine Podiumsdiskussion, ohne Beiträge oder Fragestellungen aus dem Publikum. Gerne hätte ich den Vertreterinnen der drei Parteien die Frage gestellt, warum sie die erkannten Probleme mit den bekannten Werkzeugen nicht lösen. Die Argumentation, dass Finanz- und Wirtschaftspolitiker Verbesserungen des Jugendschutzes verhindern, entbehrt jeglicher ökonomischen Basis, da die volkswirtschaftlichen Alkoholkrankheitskosten in Höhe von mindestens 27 Mrd. Euro jährlich durch Alkoholsteuern bei weitem nicht gedeckt sind, das Branntweinmonopol zur Förderung des deutschen Schnapsbrennereiwesens ist erst in diesem Jahr auf Druck der EU beendet worden. Jeder Bürger unterstützt durch erhöhte Kranken- und Rentenkassenbeiträge sowie durch höhere Steuern das Geschäftsmodell der Alkoholindustrie, indem er für die Folgen zahlt. Angesichts von 74.000 Alkoholtoten jährlich und dem menschlichen Leid, das Alkohol schafft, sollten die Gesundheitspolitiker, wie sich an diesem Abend erfreulicherweise zeigte aller Parteien, Rückgrat zeigen und die als sinnvoll erkannten Präventionsmaßnahmen zum Schutz der Jugend massiv umsetzen.

Wir werden in Zukunft immer weniger Kinder und Jugendliche haben, daher müssen wir auf jeden einzelnen besser achten.

Torsten Hübler

Wenn jugendlichen Zuschauern in Fußballstadien Alkohol verkauft wird, ist es Zeit, über den Jugendschutz zu sprechen.
Denn zwei von drei im Mai 2013 untersuchten Fußball-Arenen haben die Bestimmungen des Jugendschutzes nicht eingehalten. Dies ergaben Testkäufe, die das Internetportal alkoholpolitik.de vom Mystery Research Institut SKOPOS NEXT hat durchführen lassen.
Vor, während und nach den Spielen haben die jugendlichen Tester, alle unter 16 Jahre alt, in zwei Stadien bei zwölf Versuchen neun Mal Alkohol erhalten. Selbst einem 13-jährigen Testkäufer wurde Bier ausgeschenkt.
Um die Einhaltung der Jugendschutzbestimmungen auch während der Tests zu gewähren, wurden die Jugendlichen von Erwachsenen begleitet. Die traten allerdings nicht in Erscheinung, um einen realistischen Test zu gewährleisten.
Von einem generellen Problem mit dem Jugendschutz in Fußballstadien kann jedoch nicht gesprochen werden: In einem dritten Stadion erhielt der jugendliche Tester bei keinem der sechs Tests alkoholische Getränke.
„Es stellt sich die Frage, warum es Jugendlichen in Fußballstadien möglich ist, Bier zu kaufen. Viele unserer Kunden stehen vor vergleichbaren Herausforderungen. Regelmäßig durchgeführte Tests haben beispielsweise in Tankstellenshops beim Verkauf von Alkohol oder bei Lottoannahmestellen bewirkt, dass das Verkaufspersonal heute viel genauer auf die Einhaltung des Jugendschutzes achtet“, sagt Thomas Starsetzki, Mitinhaber und Geschäftsführer von SKOPOS NEXT. „Anfängliche Befürchtungen, dies könne zu Lasten des Umsatzes gehen, traten nicht ein. Wobei es darum auch gar nicht gehen darf. Es gibt kein Wenn und kein Aber: Bei Waren, die dem Jugendschutz unterliegen, muss einfach nachgefragt und kontrolliert werden. Und Testkäufe sind hierbei ein zentrales Instrument.“

„Je früher Jugendliche mit dem Alkoholtrinken anfangen, desto größer ist das Risiko von Suchtproblemen im späteren Leben“ erläutert der Initiator von alkoholpoltik.de, Rolf Hüllinghorst. „Die Fußball-Bundesliga hat eine Vorbildfunktion. In der nächsten Saison sollten Konzepte für den Jugendschutz in allen Stadien umgesetzt werden.“

Auf einer öffentlichen Podiumsdiskussion am Montag, 3. Juni 2013, um 20:00 Uhr, in Berlin, Wildenbruchstraße 80 werden die Ergebnisse mit Abgeordneten des Bundestages und dem Forschungsinstitut SKOPOS NEXT im Rahmen der Aktionswoche Alkohol diskutiert. Für die Veranstaltung zugesagt haben Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD), Stefanie Vogelsang (CDU), Dr. Harald Terpe (Bündnis 90/Die Grünen).

Zu den Unternehmen:

Die SKOPOS NEXT GmbH & Co.KG gehört zu SKOPOS Group und ist spezialisiert auf Mystery Research. Hierzu zählen die Methoden Mystery Shopping & Calling Silent Monitoring sowie Jugendschutztests. Zur SKOPOS Group mit 40 Mitarbeitern gehören neben der SKOPOS NEXT, das Full-Service Marktforschungsinstitut SKOPOS Institut für Markt- und Kommunikationsforschung, sowie die internationale Tochter SKOPOS Market Insight in London und der Onlinepanel-Anbieter ODC Services in München. SKOPOS NEXT hat insbesondere im Bereich Jugendschutz seit Gründung des Unternehmens umfangreiche Expertise gesammelt und führt mittlerweile über 15.000 Jugendschutztests jährlich durch. Die Kunden nutzen dabei das SKOPOS NEXT eigene Jugendschutz-Tester-Feld. Das institutseigene Testerfeld und personelle sowie technische Ressourcen garantieren termingerechte Jugendschutz-Testkäufe in hoher Qualität.
alkoholpolitik.de ist eine Internet-Initiative der Guttempler in Deutschland, die sich für die Reduzierung des Alkoholkonsums auf der Grundlage evidenzbasierter politischer Maßnahmen einsetzt.

Rolf Hüllinghorst,

Tel: 0521 – 81535, / 0172 – 2743213,
www.alkoholpolitik.de,
www.guttempler.de

Kontrolliertes Trinken und Trinkmengenreduzierung

In der Suchtselbsthilfe noch ein Tabuthema

Geht man davon aus, dass nur acht Prozent der Abhängigen behandlungswillig sind, so liegt das auch daran, dass dem Süchtigen gesagt wird: du darfst nie wieder in deinem Leben auch nur einenTropfen trinken (ein Gramm konsumieren)! Das Suchtgedächtnis lässt sich nicht löschen und springt sofort wieder an. Gerade für junge Abhängige kann das eine hohe Hürde sein. Sie möchten zwar ihren Konsum reduzieren, aber nicht ganz aufgeben. Geht das überhaupt? Wenig ist unter trockenen Alkoholikern so mythenbehaftet bzw. stigmatisiert wie das kontrollierte Trinken. Zwischen profesioneller Suchthilfe und Suchtselbsthilfe wird das Thema seit Jahren kontrovers diskutiert.

1. Erkenntnis aus Erfahrung

Eine unschätzbare Hilfe auf dem Weg in die Trockenheit und für eine langjährige – im besten Fall – lebenslange Abstinenz – sind die Selbsthilfegruppen. Sie sind das niederschwelligste Angebot für Betroffene und Angehörige. Ich brauche keine Überweisung, es kostet mich nichts, ich bleibe anonym, ich treffe auf Menschen mit dem gleichen Ziel, nämlich das Suchtproblem in den Griff zu bekommen, über mein Leben selbst zu bestimmen und die Herrschaft nicht mehr dem Alkohol (oder anderen Drogen) zu überlassen.

Es gibt unzählige Versuche, die Wirksamkeit von Selbsthilfegruppen zu erklären. Nicht selten höre ich: „Die Gruppe hilft mir trockenzubleiben. Ich weiss zwar nicht wieso, aber es ist so.“ Das Wesentliche besteht wohl im Solidaritätsgedanken, in dem Wissen, dass ich mit meinem speziellen Problem nicht allein bin, dass es Menschen gibt, denen es ähnlich oder genauso geht wie mir und dass nicht wenige einen Weg gefunden haben, erfolgreich mit ihrem Problem umzugehen. Trotzdem bin ich auch in der Gruppe nur für mich verantwortlich. Andererseits ist es durchaus gestattet, aus der Erfahrung von anderen Betroffenen zu lernen. Und auch so mancher Tipp für eine spezielle Situation wird gerne angenommen. Verpönt sind Ratschläge wie „das musst du so und so machen!“ Auch wenn das Grundproblem – die Suchterkrankung – bei allen dasselbe ist, so spielen doch individuelle Faktoren eine wichtige Rolle: wieviel habe ich getrunken, wie lange habe ich getrunken, was habe ich getrunken, wo habe ich getrunken usw. Und – das sei an dieser Stelle vermerkt – es gibt auch andere erfolgversprechende Wege in eine dauerhafte Abstinenz.

Was die Selbsthilfegruppen so wertvoll macht, ist der Schatz an persönlichen Erfahrungen. Und es ist durchaus erlaubt, davon zu profitieren.

Selbsthilfegruppen sind so individuell wie ihre Mitglieder, das heißt, im Laufe der Zeit entwickelt jede Gruppe in stabiler Zusammensetzung ihr eigenes Profil. Das heißt für den Anfänger, dass er „seine“ Gruppe finden muss, die Chemie sollte schon stimmen.

Es gibt Gruppen, die dem Fortschritt in medizinischem und psychologischem Bereich wenig aufgeschlossen gegenüberstehen, nach dem Motto: was vor zwanzig Jahren gut war, kann heute nicht falsch sein, oder: ich bin auf diesem Wege trocken geworden, also muss er auch für andere richtig sein. Dieser Dogmatismus ist nicht per se abzulehnen, hat er doch Millionen geholfen. Aber kann ich auch einen anderen Weg gehen, der nicht völligen Verzicht bedeutet? Werden mehr als acht Prozent der Süchtigen erreicht, wenn ich weniger absolut an das Thema herangehe?

2. Missbrauch – Abhängigkeit

Es ist für einen Laien nicht immer leicht, sich in dem Gewirr der Definitionen zurechtzufinden, zumal, wenn es keine klaren Abgrenzungen gibt. Aber eine Einordnung ist wichtig, um die Chancen richtig einschätzen zu können.

Wenn in Selbsthilfegruppen der Begriff „kontrolliertes Trinken“ fällt, erfolgt ein kollektiver Aufschrei. Und das nicht zu unrecht. Es gibt kaum einen Süchtigen, der nicht schon selbst versucht hat, seinen Konsum zu reduzieren. Das reicht über das Festlegen einer bestimmten Tagesration bis zum Aufstellen eines „Trinkplanes“ mit deutlich reduzierten Mengen. Und gerne würden wir an dieser Stelle über Erfolge berichten. Allerdings ist mir – auch aus meiner Arbeit in der Suchtselbsthilfe – kein einziger Fall bekannt, in dem das funktioniert hat. Nach wenigen Tagen, oft nur nach Stunden, ist man dem alten Trinkschema wieder verfallen, also rückfällig. Deshalb wird in der Selbsthilfe zu Recht betont, dass ein kontrolliertes Trinken für den Abhängigen so gut wie unmöglich ist. Ich will hier nicht behaupten, dass es überhaupt nicht geht, genauso wenig wie es eine absolute Wahrheit gibt. Ich kenne auch Menschen, die ohne Gruppe dauerhaft abstinent sind. Aber ich würde gerne einen Alkoholiker kennenlernen, der es geschafft hat, nach jahrelanger Abhängigkeit kontrolliert zu trinken.

An dieser Stelle müssen wir unterscheiden zwischen den Abhängigen und den missbräuchlich Konsumierenden. Ein Abhängiger leidet lt. Definition der Weltgesundheitsorganisation an mindestens drei der folgenden Symptome:

– eine Art Zwang, psychotrope

Substanzen zu konsumieren,

– verminderte Kontrollfähigkeit über das Ausmaß des Konsums,

– körperliche Entzugserscheinungen bei Beendigung/Verminderung des Konsums,

– Nachweis einer Toleranz, also höherer Verträglichkeit/Dosierung der Substanz,

– Vernachlässigung anderer Interessen, erhöhter Zeitaufwand für den Konsum,

– Fortsetzung des Konsums trotz des Nachweises schädlicher Folgen.

Wie aber nun wird „Missbrauch“ definiert?

Es wird ja gerne unterschieden zwischen den „missbräuchlich Trinkenden“ und den „Abhängigen“. Dabei wird gleichzeitig betont, dass die Grenze zwischen Missbrauch und Abhängigkeit sehr schmal ist. Unter Missbrauch verstehe ich, dass mehr getrunken oder konsumiert wird als gesundheitlich unbedenklich ist. Und dafür lassen sich m. E. keine absoluten Zahlen aufstellen (20g Alkohol/d). Einer ist nach drei Bieren angetrunken, einem anderen merkt man nach zehn noch nichts an. Vermutlich werden Suchtstoffe auch individuell verschieden verarbeitet. Dafür spricht, dass bei dem einen schwere gesundheitliche Schäden auftreten, beim anderen keine Beeinträchtigungen. Missbrauch bedeutet für mich, mehr als normal zu trinken (aber was ist schon „normales Trinken“?), aber noch nicht abhängig zu sein. Das heißt, der missbräuchlich Trinkende kann jederzeit aufhören, während der Abhängige weitermachen muss. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Meinung, die ich kürzlich in der Jugendgruppe der Berliner Guttempler hörte: Jeder, der ein bestimmtes Trinkritual einhält (Feierabendbier, Wochenendbier, Bier im Garten, monatliches Besäufnis, Absacker, Verdauungsschnaps usw.), ist abhängig. Es kommt nicht auf die Menge an, sondern auf die Regelmäßigkkeit. Wie ist das eigentlich bei anderen Drogen (Kokain, Cannabis, Heroin usw.)? Gibt es auch da „normale“ und missbräuchlich Konsumierende oder nur Abhängige?

Da Abhängigkeitserkrankungen zu den psychischen Erkrankungen gehören, ist eine eindeutige Definition offensichtlich kompliziert (man denke auch an die Unterschiede zwischen Stimmungstief [normal], Burnout [Stresserkrankung] und Depression [schwere, behandlungsbedürftige Erkrankung] die aus Profitgründen gerne von der Pharmaindustrie durcheinandergewürfelt werden). Nicht umsonst haben einige gute Ärzte oder Psychologen selbst Erfahrungen mit der Sucht gemacht (wobei ich hier keinesfalls fordern will, dass gute Suchtmediziner während ihres Studiums bis zur Bewusstlosigkeit saufen sollten).

In diesen Zusammenhang passen auch die sehr unterschiedlichen Zahlen: bei missbräuchlich Trinkenden gibt es in Deutschland eine Bandbreite von vier bis zehn Millionen, bei Alkoholkranken reichen die Angaben von einer bis vier Millionen. Natürlich gibt es auch hier eine erhebliche Dunkelziffer.

Also, es gibt unbestreitbar eine Grauzone. Und abhängig davon, wo ich mich einordne, muss ich ganz auf den Suchtstoff verzichten oder ich kann kontrolliert damit umgehen. Ich bin kein Gegner des kontrollierten Trinkens, im Gegenteil: schon wenn es dazu dient, die Menge zu reduzieren, halte ich es durchaus für sinnvoll. Aber ich glaube auch, dass für Abhängige ein kontrolliertes Trinken nicht möglich ist.

3. Wissenschaft oder Geldschneiderei?

Der Diplompsychologe Prof. Dr. Joachim Körkel beschäftigt sich seit rund 20 Jahren mit dem Thema. Für viele Selbsthilfegruppen ist der Name ein rotes Tuch. Natürlich ist es richtig, für einen Abhängigen die Abstinenz als Ziel zu setzen. Durch die jahrelange Ausbildung des Suchtgedächtnisses, das nicht nur die schlimmen, sondern vor allem die angenehmen Seiten des Konsums (verbunden mit der Dopaminausschüttung) speichert, kann jeder Reiz in diese Richtung zum Rückfall führen. Deshalb ist jeder Abhängigkeitskranke gut beraten, auf das Suchtmittel, egal in welcher Form, gänzlich zu verzichten. Das ist auch der Standpunkt der Selbsthilfe. Wobei hier die Frage auftaucht: Gibt es ein Suchtgedächtnis überhaupt? Körkel bietet nun, allerdings mit Einschränkungen, das „kontrollierte Trinken“ an. 2007 erschien sein Buch „Damit Alkohol nicht zur Sucht wird – kontrolliert trinken: 10 Schritte für einen bewussteren Umgang mit Alkohol.“

Wer den Titel aufmerksam liest bemerkt, dass Körkel kontrolliertes Trinken für möglich hält, bevor Alkohol zur Sucht wird, also auch in diesem Fall vor allem für missbräuchlich Trinkende. Dem kann ich mich anschließen.

Nicht einverstanden bin ich mit den zahlreichen Angeboten im Internet, in welchen viele Kliniken ihre Wege aus der Sucht bewerben, ohne auf das Trinken generell verzichten zu müssen. Das halte ich für eine Illusion. Da wird versprochen, in nur drei Wochen den verantwortungsbewussten Umgang mit Alkohol zu lernen, wieder normal trinken zu können, wieder voll belastbar zu sein und manches mehr. Dabei wird in einigen Angeboten darauf hingewiesen, dass diese Methode nur dann in Frage kommt, wenn keine körperliche Abhängigkeit, also Entzugserscheinungen bei Mangel, vorliegt. Andere Angebote gehen großzügiger mit dem Begriff um und wecken unbegründete Hoffnungen bei Abhängigen. Ganz abgesehen davon, dass die meisten Klinikangebote auch nicht ganz billig sind.

Wärend bei einem Diabetes oder einem Grauen Star oder einer Meningitis die Symptome und somit auch die Diagnose eindeutig sind, entziehen sich Erkrankungen der Psyche, zu denen ja auch die Suchterkrankungen gehören, oft einer prägnanten Beurteilung. Und das, was der Mensch sich nicht völlig erklären kann, macht oft Angst, das Unbekannte besonders. Angst verunsichert letztenendes.

Und in diesem Klima gedeihen Mythen und Dogmen besonders.

Kontroverse Diskussionen sind gut, wenn sie zu einem Ziel führen. Sie sind wenig hilfreich, wenn Betroffene nicht mehr wissen, was sie glauben sollen und dürfen.

In den Gruppen gibt es eine Reihe von empfohlenen Regeln oder Verhaltensweisen, die sicher alle ihre Berechtigung haben und deren Missachtung eine Rückfallgefahr begünstigen kann. Aber: die meisten klammern sich daran, ohne zu wissen, ob es auch anders geht. Ich habe manche Dinge anders gemacht – nicht ohne von meinen Gruppenfreunden hart attackiert worden zu sein – und bin auch noch trocken. In der Medizin wird zunehmend nach individualisierten Behandlungskonzepten verfahren, und das lässt sich m. E. auch auf die Therapie von Suchterkrankungen übertragen.

4. Trinkmengenreduzierung

Zunehmend wird in der Forschung über Trinkmengenreduzierung statt Abstinenz diskutiert. Ausgangspunkt ist, den Konsumenten zu motivieren, sein Verhalten zu ändern. Wie oben beschrieben, kann eine Reduzierung des Suchtstoffes bei Missbrauch durchaus sinnvoll sein. Wie ist es aber bei Abhängigen? Natürlich wäre die Abstinenz der Idealfall. Für nicht wenige geistig und körperlich Abhängige ist das eine mental nur schwer zu überwindende Hürde. Wenn sie am Anfang ihres Weges in die Trockenheit gleich mit der rigorosen Forderung nach totaler und sofortiger Enthaltsamkeit konfrontiert werden, kann das ein scheinbar unüberwindliches Hindernis sein. Gerade einem jungen Menschen ist schwer zu vermitteln, dass er zeitlebens nie wieder Alkohol – egal in welcher Form – oder andere Drogen zu sich nehmen darf. Und hier halte ich den Versuch einer Reduzierung der Suchtmitteleinnahme als Erstmaßnahme für legitim. Dass die Abstinenz später das Ergebnis sein soll, wird ja dadurch nicht aufgehoben.

Das Thema “Trinkmengenreduzierung” spielt in der wissenschaftlichen Diskussion zunehmend eine Rolle. Hier stehen sich die “Profis”, also die trockenen Alkoholiker, und das forschende Personal ziemlich unversöhnlich gegenüber. Erstere sprechen aus ihren persönlichen und den Erfahrungen von Mitbetroffenen, also aus der Praxis. Auch ich vertrete die Auffassung, dass der kompromisslose Weg der erfolgreichere ist. Ich kenne viele Abhängige, die durch Experimente, Leichtsinn oder Euphorie wieder schlimmste Stufen des Rückfalls erlebt haben, und das nicht selten nach jahrelanger Trockenheit. Auch 20 Jahre Abstinenz schützen nicht davor. Andererseits frage ich aber, ob es hilfreich ist, alle diejenigen, die zu der absoluten Konsequenz (noch) nicht bereit sind, zurückzulassen.

5. Suchtselbsthilfe kontra professionelle Suchthilfe?

Ich will keine alten Gräben aufreißen, schließlich hat sich die Zusammenarbeit zwischen professioneller Suchthilfe (Forschung, Medizin, Psychologie) und Suchtselbsthilfe etwas entspannt, unter anderem auch durch die vom Blauen Kreuz gelieferten Vorschläge.

Der Ansatz des Anton-Proksch-Institutes in Wien, nämlich weg vom Einheitspatienten und hin zur personenzentrierten Therapie, ist zwar anspruchsvoll, entspricht aber heute der Forderung bei allen Therapien (vgl. www.springermedizin.at/schwerpunkt/standpunkte/?full=30084).

In gewissem Umfang folge ich auch dem Vorschlag von Prof. Dr. Thomas Hillenmacher (Medizinische Hochschule Hannover), der Abstinenz als oberstes Therapieziel definiert, aber gleichzeitig feststellt, dass dieses Ziel nicht für alle Abhängigen sinnvoll ist. Das beweisen auch die hohen Rückfallquoten von 70% im ersten und 90% im zweiten Jahr nach einer Therapie. Er fordert individuelle, an Schadensminimierung orientierte Therapieziele und bezeichnet die Risikoreduktion von Folgeerkrankungen sowie ein vermindertes Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko als Vorteile der Trinkmengenreduktion (in: Aktiva. 2. Symposium für eine aktive Alkoholtherapie. Berlin, 26. Juni 2012).

Zugleich aber bestätige ich die Auffassung der Suchtselbsthilfe, dass die Abstinenz der beste Weg für Abhängigkeitskranke ist. Alle Versuche einer Reduzierung des Suchtmittels, die ich in den Gruppen erlebt habe, sind gescheitert.

Wer heute zufrieden abstinent lebt, spielt mit seinem Leben, wenn er versuchen würde „kontrolliert“ zu trinken. Gleichzeitig aber sollte auch diese Möglichkeit z. B. bei jungen Betroffenen oder missbräuchlich Trinkenden in Erwägung gezogen werden entsprechend dem Motto: besser weniger trinken als gar nichts tun.

Die Redaktion würde sich freuen, wenn Sie, liebe Leser, sich sachlich und auf Erfahrung beruhende und nicht nur vom Hörensagen inspirierte Meinungen zu dem Thema äußern würden!

Jürgen Schiebert

Weitere Informationen:

www.a-connect.de/kt.php
www.bssb.uni-oldenburg.de
www.lieber-weniger.de/Projekt/Themensammlung/VI-mythos.htm
www.alkoholhilfe.de/kontrink.htm
alcoblog.blogger.de/topics/Kontrolliertes+Trinken/

 

Titelthema 2/13: Sucht im Alter

Auch die Sucht kommt in die Jahre

Die vernachlässigte Lebensphase des höheren Alters

Die demografische Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland lässt uns wissen, dass die Lebenserwartung im Jahr 2010 auf über 80 Jahre gestiegen ist und ein 55-Jähriger sogar leicht 95 Jahre alt werden kann. 2006 wurde festgestellt, dass im Jahre 2001 noch 12,4 Menschen auf einen über 75-jährigen Mitbürger kommen. Im Jahr 2050 werden es nur noch 5,5 sein. Da ist es kein Wunder, dass die Selbsthilfegruppen die „Überalterung“ beklagen. Die Zahl der Einzelpersonenhaushalte steigt parallel auf über 40 Prozent. Das bedeutet, dass auch jeder zweite Alkoholkranke allein lebt, wenn diese spezielle Gruppe der Bevölkerung nicht noch größer ist.

Das Leben im hohen Lebensalter ist deutlich einfacher geworden: für körperliche Gebrechen gibt es inzwischen viele Hilfsmittel, und die geistige Funktion muss mit dem Alter nicht selbstverständlich nachlassen. Und schließlich hat die Einstellung zum Altwerden sich deutlich verändert. Max von der Grün schrieb:

Als ich 5 Jahre alt war …

Als ich 5 Jahre alt war,
war meine Mutter 25,
und ich fand sie sehr alt.
Als ich 25 Jahre alt war
und sie 45, fand ich sie alt.
Als ich 45 Jahre war,
war sie 65, und ich fand
sie sehr jugendlich.
Als ich 48 Jahre alt war,
starb meine Mutter,
und ich fand, sie sei
sehr jung gestorben.

Schließlich hat sich auch die Einstellung zum Altwerden in der Gesellschaft verändert und damit auch diejenige älterer Menschen: Die Zeit, in der das Rentenalter die Vorbereitung auf den Tod war, ist vorbei. Eine lebendige Zeit kann die Phase, in der die Menschen nur noch für sich selber verantwortlich sind, durchaus noch werden. Deshalb wäre es gut, wenn auch die Selbsthilfegruppen sich nicht für „überaltert“ halten würden. Besser wäre es, sie würden sich mit frischen, lebensoffenen Gedanken beschäftigen und entsprechend ihrer Ausrichtung ihre Gruppen gestalten.

Natürlich ist es empfehlenswert, auch für junge Menschen eine attraktive Gruppengestaltung zu überlegen. Viele Jüngere, die in der Entwöhnung sind, sind lonely hearts (einsame Herzen) und suchen Anschluss. Allerdings haben sie andere Interessen als Menschen, die 30 oder 40 Jahre älter sind.

Aus der Forschung weiß man, dass die Menschen sich zumeist deutlich jünger fühlen, als es ihrem Lebensalter entspricht. Nur an den Grenzen der Lebensphasen – z. B. wenn man mit 65 aus dem Arbeitsprozess ausscheidet – wird einem die Bedeutung des biologischen Lebensalters deutlich. Wer aber durchschnittlich noch mit 15 Jahren Lebensqualität rechnen kann, der kann die These der Lebensspannen-Psychologie übernehmen: Der Mensch entwickelt sich lebenslang. Lebensqualität ist eine Frage der inneren Einstellung, nicht des Geldes, nicht des Berufsstandes und schon lange nicht des Alters.

Für die Gesellschaft ist es deswegen besonders wichtig, schon relativ früh mit der Vorbereitung auf die Zeit des „dritten Alters“ hinzuweisen. Wer sich auf diese Zeit vorbereitet, hat auch ein geringeres Risiko, den „plötzlichen Herztod“ kurz nach der Berentung zu erleben. Es lohnt, sich seiner vielen Interessen durchgehend bewusst zu sein und die Planungen für das „Alter“ konkret rechtzeitig zu beginnen.

Deshalb spricht natürlich auch nichts dagegen, noch im höheren Lebensalter eine Entgiftung und eine Entwöhnungstherapie durchzuführen. Für die Mediziner gilt das gleiche Behandlungskonzept. Lediglich in der Entwöhnung gibt es gelegentlich Variationen, je nach Zustand der Merkfähigkeit, der körperlichen Beweglichkeit und der seelischen Einstellung, aber auch der Frage, ob es sich um einen altgewordenen Alkoholiker handelt oder einen „Late onset“.

Late onset sind Menschen, die z. B. im Rahmen des Verlustes ihrer Tätigkeit zu trinken beginnen oder aber, weil sie einen Partner gefunden haben. Hier gibt es unterschiedliche Behandlungsmöglichkeiten. Übrigens ist natürlich auch Psychotherapie im Alter möglich. Darauf haben uns die Neurophysiologen in den letzten Jahren immer wieder hingewiesen. Psychotherapeuten kennen das Phänomen seit vielen Jahren und helfen älteren Menschen, die die Orientierung verloren haben.

Die Lebensqualität älterer Menschen beginnt nach Ende des hohen Alkoholkonsums sofort wieder zu steigen, und es zeigen sich gute Ergebnisse.

Alkoholkranke Menschen haben in ihrem Leben die Erfahrung machen dürfen, dass sie sich auch nach einer todbringenden Erkrankung mit der Abstinenz ein Leben mit hoher Lebensqualität erarbeiten können. Diese Erfahrung kann man mit 20, 40, 60 oder 80 Jahren machen.

Dr. Andreas Dieckmann,

ChA der Hartmut-Spittler-Klinik Berlin

Die süchtigen Alten

Die Medien haben die „komasaufenden Jugendlichen“ schon lange als Quotenbringer entdeckt. Was aber ist mit den Alten? In jeder Familie gibt es zunehmend ältere Menschen. Wie erkenne ich, ob Vater oder Mutter, Großvater oder Großmutter ein Suchtproblem haben? Was kann ich tun? Das Problem der Sucht im Alter wird noch immer unterschätzt bzw. entschuldigt: lass Opa doch sein Schnäpschen. Oft entzieht sich die Sucht im Alter der Wahrnehmung. Sie wird von Betroffenen und Angehörigen nicht erkannt oder geleugnet, aber auch von Ärzten und Pflegekräften. Auch eine abnehmende Alkoholtoleranz – Junge vertragen mehr als Alte – wird oft als „Entschuldigungsgrund“ angeführt.

Grundlagen

Bei meinen Recherchen für diesen Beitrag wunderte ich mich nicht bloß einmal. Zum Beispiel über ganz unterschiedliche Angaben in Statistiken zum Suchtmittelgebrauch oder ab wann von einem „alten“ Menschen gesprochen wird. Das beginnt in einigen Darstellungen bei 40 Lebensjahren und wird in der Mehrzahl ab 60+ betrachtet. Deshalb gehe ich im Folgenden von den über 60-Jährigen aus. Die Zahlen der Abhängigen über 60 schwanken erheblich. Das liegt auch daran, dass bei weitem nicht jedes Anzeichen auf eine Abhängigkeit zurückgeführt wird, da im Alter die Zahl von Erkrankungen insgesamt zunimmt. Wenn wir uns den Bevölkerungsschnitt ansehen, so leben in Deutschland 18,4% unter 20-Jährige, 55,3% 20-60-Jährige und 26,3% über 60-Jährige. 2030 werden es 16,7% unter 20, 47,1% zwischen 20 und 60 sowie 36,2% über 60 sein, d. h. die Zahl der Menschen über 60 erhöht sich um zehn Prozent. Somit ist auch davon auszugehen, dass die Zahl der Süchtigen in höherem Lebensalter deutlich steigen wird. Nach Schätzungen der deutschen Hauptstelle für Suchtfragen haben 400 000 ältere Menschen ein Alkoholproblem, ein bis zwei Millionen sind medikamentenabhängig. Mehr als zwei Millionen Menschen über 60 rauchen.

Erkannt ist das Problem anhand der demografischen Entwicklung schon seit längerem. Es gibt auch eine Vielzahl von Kongressen, Forschungsvorhaben und Veröffentlichungen zum Thema „Sucht im Alter“. Das Problem ist nur, dass wie so oft im Leben Theorie und Praxis unterschiedliche Wege gehen bzw. wichtige Erkenntnisse und Erfahrungen nicht einer breiten Bevölkerung bekannt sind. Wissen allein bedeutet allerdings noch nicht Veränderung. Auch im Alltag der Seniorenheime gibt es sehr gute und sehr mangelhafte Ansätze und Methoden. Letzteres liegt auch daran, dass eine Suchterkrankung nicht immer diagnostiziert wird, sondern oft nur die sichtbaren Begleiterkrankungen. So wird in Seniorenheimen bei 60% der alkoholabhängigen Patienten der Konsum von mehr als 60g/Tag nicht erkannt, ebenso weiß das Pflegepersonal von zwei Drittel der Betroffenen nichts von einem erhöhten Benzodiazepin-Konsum (angstlösende, beruhigende Medikamente). Im Bereich der Schlaf- und Beruhigungsmittel wird ein erheblicher Missbrauch bei älteren Menschen angenommen. Besonders tragisch: 85% der Heimbewohner bleiben ohne psychiatrische Versorgung (Tagung „Alter und Sucht“ am 4. 5. 2012 in der Christian-Doppler-Klinik Salzburg, interreg.zup-media.com).

Wie eingangs dargestellt steigt infolge der demografischen Entwicklung naturgemäß der Anteil der süchtigen Älteren. Die in jüngeren Jahren praktizierten Konsumgewohnheiten werden oft beibehalten. In unserer Wohlstandsgeneration hat der Konsum psychoaktiver Substanzen enorm zugenommen, damit ist auch eine Steigerung bei alten Menschen zu erwarten.

Auslöser und Wirkung auf ältere Menschen

Ich will mich in diesem Artikel vor allem auf Alkohol und Medikamente konzentrieren. Natürlich spielen auch Tabak und nichtstoffliche Süchte eine Rolle im Alter, würden aber den Rahmen der Betrachtung sprengen.

Eine wichtige Klassifizierung vor allem bei Alkoholikern erfolgt durch den Erkrankungsbeginn:

So spricht man von early-onset-Alkoholikern (EOA) wenn die Sucht bereits in jungen Jahren ausgebrochen ist. Oft erreichen diese durch frühen Tod kein höheres Lebensalter. Late-onset-Alkoholiker (LOA) sind demzufolge erst im höheren Lebensalter abhängig geworden. Rezidiv-Alkoholiker waren bereits erkrankt, sind aber trocken bzw. clean und im Alter wieder rückfällig geworden. Zwischen der Gruppe der EOA und der der LOA gibt es erhebliche Unterschiede.

Ältere Frauen neigen mehr zu Medikamenten und sind oft unauffälliger, während die Männer mehr zum Alkohol greifen.

In meiner Arbeit in der Suchtselbsthilfe mache ich immer wieder die Erfahrung, dass die Kraft und der Wille für eine dauerhafte Abstinenz dann am größten sind, je kürzer der Beginn der Abhängigkeit zurückliegt (unabhängig vom Lebensalter). Je länger ein Betroffener trinkt oder Medikamente nimmt oder beides gemeinsam, je mehr Rückfälle erlebt werden, desto geringer wird offensichtlich die Widerstandskraft gegen die Sucht. Ich kenne aber auch Fälle, bei denen erst nach acht und mehr Rückfällen eine dauerhafte Abstinenz zu verzeichnen war. Deshalb gilt in der Suchtselbsthilfe auch der Satz: Es gibt keine hoffnungslosen Fälle.

Bei den EOA wird die Sucht aus jungen oder jüngeren Jahren sozusagen mit ins Alter „übernommen“. Da aber viele vorher sterben, ist diese Gruppe nicht sehr groß. Wesentlich mehr gehören zu den LOA, die überhaupt erst im Alter süchtig werden. Als Ursachen kommen Trauer (Verlust des Partners), Krankheit, Vereinsamung, Verarmung, Wohnungsverlust, Abschied vom Berufsleben (Statusverlust), kein neuer Lebensinhalt (geistige und körperliche Leere), unerfüllbare Wünsche (nachlassen der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit), negative Lebensbilanz, Beschäftigung mit dem Tod und anderes in Frage.

Die Frage der Angehörigen lautet oft: wie erkenne ich, dass meine Mutter, mein Vater ein Suchtproblem hat? Folgende Auffälligkeiten können auf Alkohol- oder Medikamentenabhängigkeit hinweisen: glasiger Blick, Fahne, Gleichgewichtsstörungen (häufige Stürze), Appetitlosigkeit, starke Stimmungsschwankungen, Vernachlässigung des Äußeren, Antriebslosigkeit, meiden von sozialen Kontakten (Vereinsamung), Gedächtnisstörungen, Gliederzittern, Schweißausbrüche, große Klappe usw. Dabei ist eine Differenzierung zwischen Sucht und beginnender Demenz oder Depressionen für den Laien nicht einfach, weil sich manche Symptome gleichen oder die Erkrankungen parallel auftreten.

Was tun?

Bei allen geschilderten Problemen haben die late-onset-Abhängigen bessere Behandlungsprognosen als ihre jüngeren Leidensgefährten. Das liegt unter anderem daran, dass die Sucht erst im höheren Lebensalter auftritt, oft fehlen psychische Begleiterkrankungen, Ältere sind stabiler und verfügen über mehr Ressourcen (Peter Zeman, Deutsches Zentrum für Altersfragen: Sucht im Alter). Ganz entschieden muss ich der Einstellung widersprechen, dass sich der Aufwand einer Suchtbehandlung wegen geringer Therapiechancen „nicht mehr lohne“. Zeman spricht hier von einem „therapeutischen Nihilismus“.

Da ältere Menschen nicht selten eingeschränkt mobil sind, ist Unterstützung durch Familienangehörige oder Freunde wünschenswert. Auch Scham, eine Suchterkrankung einzugestehen, kann ein Grund sein, Hilfsangebote zu verweigern. Deshalb sollte eine möglichst vertraute Person zuerst mit dem Abhängigen über sein Problem sprechen, um sein Bewusstsein dafür zu schärfen. Denn auch bei Älteren – und hier nicht selten in Verbindung mit Altersstarrsinn – dauert es seine Zeit, bis der Betroffene bereit ist zuzugeben, dass er ein Suchtproblem hat. Dabei sind Anteilnahme und Motivation, nicht Verurteilung und Anklage, sehr wichtig, denn Oma oder Opa sind nicht charakterschwach, sondern krank. „Ich glaube, in letzter Zeit trinkst du etwas mehr als sonst, täusche ich mich da oder hast du ein Problem? Vielleicht finden wir gemeinsam einen Weg, um das einzuschränken“. Wenn Einsicht erfolgt, kann auch ein Hilfsangebot unterbreitet werden. Ist der Betroffene nicht bereit, sein Verhalten zu ändern, muss auch über Konsequenzen nachgedacht und gesprochen werden (Kontaktverbot mit dem Enkel, Führerscheinentzug). Wenig halte ich davon, bei Widerstand gleich mit der Abstinenz zu kommen, obwohl sie letzten Endes das Ziel sein muss; genauso allerdings lehne ich das sogenannte kontrollierte Trinken bei Alkoholikern ab. Aber die rigorose Forderung, sofort und für immer aufzuhören, stößt den Betroffenen eher ab, als dass er sie erfüllen wird. Eine planmäßige Trinkmengenreduzierung kann ein guter erster Schritt sein. Der betreuende Angehörige muss sich auch darüber im Klaren sein, dass nur der Abhängige selbst trocken oder clean werden kann. Das erfordert eben auch die entsprechende Bereitschaft, die man allerdings mit einfühlsamen Gesprächen beschleunigen kann. Gut ist es auch für den Helfer, sich vorab beim Hausarzt, in einer Beratungsstelle oder Suchtselbsthilfegruppe zu informieren, welche Möglichkeiten es gibt. Die einzelnen Schritte sind bei älteren Menschen nicht anders als bei jüngeren (Eingeständnis – Entzug – Entwöhnung – lebenslange Nachsorge). Immer muss Motivation vor Konfrontation stehen!

Besonders wichtig ist die Zusammenarbeit von Angehörigen mit Alters- oder Pflegeheimen. Wie oben geschildert, wird dort eine Abhängigkeitserkrankung nicht immer erkannt. Zeman schreibt dazu: „Erschwerend kommt hinzu, dass Suchtproblematik im Alter auf eine Lücke der Versorgungsstruktur zwischen den Zuständigkeiten und Qualifikationen der Suchthilfe, der Altenhilfe und des Medizinsystems trifft.“ Er fordert die Überwindung der „traditionellen Grenzen von Zuständigkeitsbereichen, Professionen, Leistungs- und Finanzierungsträgern.“ (Zeman, Peter: a. a. O.).

Nicht verschwiegen werden soll an dieser Stelle aber auch, dass es verschiedene Altersheime und Pflegeeinrichtungen gibt, in denen der sogenannte hangover-Effekt von Benzodiazepinen (Diazepam) geschätzt wird. Damit bleibt der Patient länger müde, er wird sozusagen ruhig gestellt (sediert). Gerade mit der ständigen Reduzierung des Heim- und Pflegepersonals wird diese Gefahr größer, macht doch ein ruhiger Patient, der vor sich hindämmert, weniger Arbeit als ein aktiver.

Es gibt eine ganze Reihe von altersspezifischen Angeboten: spezielle Kliniken, ambulante Rehabilitationsbehandlungen für Senioren, die hauptsächlich aus Einzel- und Gruppengesprächen bestehen (ca. sieben bis neun Monate), Altenhilfeeinrichtungen. Hier sollte ich mich informieren, ob neben gerontologischem Fachwissen auch suchtspezifische Kenntnisse vorhanden sind.

Allen Betroffenen und Angehörigen, besonders aber denjenigen, die keine Angehörigen haben, kann ich den Besuch von Selbsthilfegruppen nur empfehlen! Auch hier gibt es besondere Angebote für Senioren. Im Kreise von gleichaltrigen Betroffenen sinken die Hemmschwelle und die Scham, über sein Problem zu sprechen. Eine umfassende Übersicht über Suchtselbsthilfegruppen in Berlin findet man unter www.landesstelle-berlin.de.

Ziele

An erster Stelle steht natürlich der Erhalt der Gesundheit, die durch Alkoholabhängigkeit und Medikamentensucht stark geschädigt werden kann. Mit der Abstinenz erhöht sich auch wieder die Lebensqualität. Die körperliche und kognitive Leistungsfähigkeit wird verbessert. Der Kontakt mit Kindern, Enkeln usw. wird intensiver erlebt. Bestimmte Tätigkeiten (Auto- und Radfahren, Schwimmen usw.) sind wieder möglich. Der Tagesablauf wird strukturiert. Körperliche Hygiene und Wohnumfeld gewinnen an Wert. Im sozialen Bereich können Funktionen übernommen werden. Kompetenz und Anerkennung steigen.

Das alles sind Dinge, für die sich eine Abstinenz lohnt. Und besonders in der Sucht gilt die chinesische Weisheit: Der Weg beginnt mit dem ersten Schritt (Konfuzius zugeschrieben).

Jürgen Schiebert

Wohin denn ich

Pensionierung – ein Suchtrisiko?

Der Mann hatte über 40 Jahre in einem Bezirksamt gearbeitet. Die letzten Jahre hatte er meistens Zahlen addiert, die ihm von anderen Stellen zugesandt worden waren. War er damit fertig, hatte er die Ergebnisse an eine dritte Dienststelle geschickt, die wiederum seine Zahlen mit denen anderer Bezirksämter verglich und dann an eine Zentrale weiterleitete. Was dann damit gemacht wurde, wusste der Mann nicht.

Die letzten 10 Jahre hatte er sich zunehmend gelangweilt. Nur das tägliche Kaffeetrinken im Team brachte Licht in seine Zahlenlabyrinthe. Nicht unerwartet, aber plötzlich, setzte seine Pensionierung ein. Nun hatte er endlich Zeit für wichtigere Dinge. Darauf hatte er lange gewartet. Nun saß er da und dachte darüber nach, was die wichtigeren Dinge sein könnten. Ihm fiel aber nichts ein. Anstatt sich über die neue Freiheit zu freuen, ging seine Stimmung zu Boden. Auch das Kaffeetrinken im Team war weggefallen. Sein Team zu Hause war schon vor 11 Jahren aufgelöst worden, dort gab es schon lange kein gemeinsames Kaffeetrinken mehr. Seine Frau lebte anderswo. Wo anderswo war, wusste er nicht. Er wäre gerne auch anderswo gewesen, aber wo war anderswo? Jetzt begann er in den Supermärkten Preise zu vergleichen, mit Zahlen kannte er sich ja aus. Schließlich ging er auch spazieren und zählte seine Schritte, denn Zählen hatte er gelernt. Mal ging er hierhin, mal dahin, dann mal dahin und dorthin. Er ging mal zuerst nach links, dann mal zuerst nach rechts. Im Sommer setzte er sich auch auf eine Bank, statt Kaffeepause. Er war immer unzufriedener und trauriger. Einmal ging er um die Ecke und kaufte sich ein Bier. Das trank er sogar schon am Vormittag, also während seiner früheren Dienstzeit. Die Wirkung war angenehm. Fortan machte er das immer so. Er ging um die Ecke und kaufte sich ein paar Flaschen Bier. Die trank er dann zu Hause aus. Der Gedanke, dass er eigentlich anderswo sein müsste, verschwand nach ein paar Bieren. Einmal stürzte er nach Biergenuss und hatte fortan Rückenschmerzen. Seitdem konnte er auch schlecht schlafen. Deswegen ging er zum Arzt und der verschrieb ihm Schmerzmittel und Schlafmittel. In der Kombination mit Bier war die Wirkung wunderbar. Seitdem dämmerte der Mann vor sich hin. Der Arzt verschrieb ihm immer wieder die bewährte Mischung. Der Mann glaubte nun, es ginge ihm besser, er merkte auch nicht mehr, wie die Zeit verging.

Auf einmal – Jahre nach seiner Pensionierung – wachte er überraschend in einem Krankenhaus auf. Er war als Notaufnahme wegen eines Krampfanfalls eingeliefert worden. Es setzten lang anhaltende Unruhe, Zittern, Schwitzen und Herzjagen ein. Die Ärzte sagten, das seien Entzugserscheinungen, ausgelöst vom Alkohol und den Medikamenten seines freundlichen Hausarztes.

Jetzt war der Mann endlich anderswo: Auf der Entzugsstation einer psychiatrischen Anstalt. Er erhielt Medikamente gegen Entzugssymptome und Krampfanfälle. Er musste peinliche Gespräche über seinen Suchtmittelkonsum führen. Er schämte sich sehr. Sucht und Psychiatrie, dafür schämt man sich. Auch für sein Alter schämte er sich. War er nicht zu alt für eine Suchterkrankung? Er sah aber bald, dass er nicht der einzige 70-jährige Patient im Krankenhaus war. Er sah das auch in der Suchtberatungsstelle, deren Zahlen er früher immer auf dem Amt addiert hatte. Bei dem Abstinenzverband, zu dem er seither ging, war es ebenso. Es gab dort sogar viel mehr Ältere als Jüngere.

In seiner neuen Selbsthilfegruppe konnte er nun endlich reden und zuhören. Er bekam dort auch bald Aufgaben, er konnte mithelfen, er konnte wieder im Team Kaffee trinken. Nun wurde ihm deutlich, dass er doch noch gebraucht wurde. Er teilte seine Einsamkeit nicht mehr mit Suchtmitteln. Er hatte eine Gemeinschaft gefunden, die ihm seinen Lebenssinn zurück gab. Er war dauerhaft anderswo angekommen. Da Ältere mehr Lebenserfahrung haben als jüngere Menschen, konnte er diese bei der Bewältigung seiner Sucht mit einbringen. Rückfälle gab es nicht. Den Arzt hatte er auch gewechselt. So war das Ende seiner Sucht der Anfang eines neuen Lebens. Das liegt heute 15 Jahre zurück.

Heidt-Müller

1 Marie Luise Kaschnitz veröffentlichte 1963 ein Buch mit dem Titel „Wohin denn ich“. Es handelt sich um Aufzeichnungen der 63 -jährigen Lyrikerin über Probleme des Alterns, Trauer um den toten Ehemann usw. .

 

Titelthema 1/13: Neukölln ist überall?

Neukölln ist überall?

Wenn sich ein Bürgermeister für das Zusammenleben der Menschen in seinem Bezirk interessiert, dann ist es Buschkowsky. Es geht ihm nicht um Selbstdarstellung, nicht um Geld, nicht um Wahlpropaganda, sondern schlicht um die wohlverstandenen Interessen der Bürger, speziell aber um die Zukunft der Kinder. Deswegen fragten wir ihn was zu tun ist, um die riesigen Probleme durch Einwanderung in Neukölln, beziehungsweise in ganz Deutschland zu lösen.

Sie beschäftigen sich in Ihrem Buch mit den Problemen, die sich aus der Entstehung von Parallelgesellschaften ergeben. Spaltungen der Gesellschaft gab es in Neukölln aber schon lange, nur zwischen anderen Gruppierungen. Bereits in den 70er-Jahren wohnten dort z.B. Studenten, die seinerzeit meist sehr ungern von Einheimischen gesehen wurden. Halten Sie es für möglich, dass sich die heutigen Spaltungen ebenfalls irgendwann von selber auflösen?

Mir ist eine solche Spaltung Neuköllns in den 1970er-Jahren nicht aufgefallen. Diese Aussage überrascht mich. Dass die Bevölkerungsveränderungen in Neukölln noch nicht ihr Ende gefunden haben, muss eigentlich jedem klar sein. Wir haben heute einen Anteil von Einwanderern und ihren Nachkommen berechnet auf ganz Neukölln von 41%. In der Innenstadt ist die Hälfte bereits gut überschritten. In unseren Grundschulen im Norden stellen die Einwandererkinder 85 – 95%. Das heißt, die Bürger von morgen sind heute schon da. Hieraus folgt, dass zumindest Nord-Neukölln in zehn Jahren eine Einwandererstadt sein wird. Weitere Veränderungen, Werteverschiebungen und unterschiedliche Lebenswelten werden zwangsläufig das Ergebnis sein. Kinder von heute sind die Erwachsenen von morgen. Das hat nichts mit Politik zu tun. Das ist schlicht und ergreifend Biologie.

Sie reden von Einwanderern. Reden Sie da nur von Einwanderern oder auch von Deutschen mit Migrationshintergrund?

Wo sehen Sie da den Unterschied? Ich habe mich letztendlich für den Begriff Einwanderer entschieden, weil er der umfassendste und eigentlich der klarste ist. Es sind Menschen, die von außen kommend zur bestehenden Gesellschaft hinzustoßen. Egal, ob als Spätaussiedler, Nachkomme der ehemaligen Gastarbeiter oder als Asylbewerber. Sie können sie auch Menschen mit Migrationshintergrund, Migranten oder Zuwanderer nennen. Ich sage Einwanderer, weil es eine Einwanderung ist, aus welchen Gründen auch immer. Zum Beispiel wie wir sie gerade aus Bulgarien und Rumänien erleben. Es gibt Politiker, die behaupten, trotz 16 Millionen Einwanderer, das sind 20 Prozent der Gesamtbevölkerung, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Das ist faktischer Quatsch an der Grenze zur Volksverdummung.

Sie fassen unter den Begriff „Einwanderer“, wie Sie es nennen, auch Menschen mit türkischen Wurzeln, wo die Eltern oder Großeltern …

Ich spreche von Einwanderern und ihren Nachkommen.

Wir haben hier jetzt noch eine Frage – Zitat aus einem Buch des TrokkenPresse-Verlags von Christian Becks: Mach uf ick bring dir um: „Ich renovierte eine Wohnung – Neukölln, Schillerpromenade 30, Hinterhaus Parterre rechts, Nordseite, Ofenheizung. Ich hatte seltenerweise gute Laune. In den Nachrichten wurde berichtet, dass Franz Josef Strauß (1988, Anm. Redaktion) von uns gegangen ist. Ansonsten war das Renovieren frustrierend. Die Wohnung war zuvor von Mietern bewohnt worden, die man in Neukölln öfter traf: Miete hatten sie schon jahrelang nicht mehr gezahlt. Strom und Wasser hatte der Vermieter übernommen…“ – Was hat sich inzwischen seit 1988 geändert?

Wir haben in Neukölln ein Drittel der Bevölkerung, das in irgendeiner Weise von staatlichen Transfermitteln lebt. Warum auch immer. Ob das die alleinigen Einkünfte sind, sei bis zum Beweis des Gegenteils dahin gestellt. Lehrer und Erzieher sagen mir allerdings, dass der Lebensstandard der Familien oder auch die Unterhaltungselektronik, die die Kinder mit sich herumschleppen, eigentlich nicht zum offiziellen Einkommen passt. Ich kann nur mit der amtlichen Statistik arbeiten und danach haben wir die höchste Dichte an Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften auf 1.000 Einwohner in der Bundesrepublik Deutschland. Als makaberen Scherz sage ich manchmal, „bei uns fallen Sie mitunter schon dadurch auf, dass Sie ihre Miete selber bezahlen“. Neukölln ist nun mal nicht der Stadtteil der Schönen und Reichen. Das war er nie und das wird er auch nie werden. Da, wo die „feiner Leut’“ wohnen, ist’s doch so langweilig, dass ich da nicht tot über dem Zaun hängen möchte. Neukölln ist ein altes Arbeiterquartier. Hier wohnten die Leute früher in dunklen Hinterhöfen, eine Toilette für alle unten auf dem Hof. Wer es schon zu etwas gebracht hatte und nach vorne ziehen konnte, hatte die Toilette eine halbe Treppe tiefer. Das ist heute Geschichte. Aber natürlich leben hier viele, viele Menschen, die vom Schicksal gebeutelt sind. Ja, und es gibt auch Parallelgesellschaften. Menschen gleicher Volksgruppen, die am liebsten unter sich bleiben und bleiben wollen und die ihre eigenen Lebensregeln, ein eigenes Wertegerüst haben. Die deutsche Gesellschaft ist ihnen ziemlich gleichgültig.

Drückt sich das auch in der Immobilienbesitzer-Struktur aus, also sprich, kaufen Einwanderer und ihre Nachkommen hier vermehrt Mietshäuser oder ist das weiterhin in deutscher Hand? Migranten investieren ja auch in Neuköllner Immobilien.

Ja, selbstverständlich. Ich kann Ihnen das nicht auf das einzelne Haus herunterbrechen, aber die Immobilienpreise in Neukölln sind beachtlich in die Höhe geschnellt. Nach dem Mauerfall lagen die Preise etwa beim 14 – 15-fachen der Jahresrohmiete. Zwischendurch ging’s bergab bis auf das 6-fache. Im Moment wird das 18- bis 20-fache aufgerufen. Für Immobilien in Neukölln werden teilweise Wahnsinnssummen gezahlt. Natürlich liegt das auch daran, dass wir einen Anteil illegaler Bevölkerung haben, die man mit Tagesmieten – pro Kopf und Nacht 10 Euro – abzocken kann. Der Begriff „Geldwäsche“ liegt da nicht so fern. Das gilt auch für Geschäfte, die Tag und Nacht geöffnet sind, in denen man aber nie Kundschaft sieht. Irgendwie muss das Geld ja in den Wirtschaftskreislauf, das im Mädchen- und Drogenhandel oder illegalem Glücksspiel gemacht wird.

Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie andere Städte mit gleichen Problemen bessere Lösungen gefunden haben als Berlin. So gibt es beispielsweise in London eine enge Zusammenarbeit zwischen Schulen, Jugendämtern und Polizei. Während hier eine Behörde von der anderen getrennt arbeitet und auch deren Daten weitgehend nicht kennt, ist dort jeder staatlichen Schule ein Polizeibeamter zugeordnet, der alle Schuldaten kennt, die Schule regelmäßig besucht und auch Hausbesuche durchführt. Ist eine solche Verbesserung der Kooperation auch in Berlin denkbar? Falls ja, wer könnte sie durchsetzen?

In den Niederlanden, England, aber auch in anderen Ländern habe ich die Praxis und die damit verbundenen Erfolge kennengelernt, wenn die öffentlichen Stellen tatsächlich vernetzt, also Hand in Hand arbeiten. Die „Versäulung“, wie man das bei uns nennt, dass möglichst eine Behörde nicht wissen darf, was eine andere tut und sie sich auch gerne gegeneinander abschotten, ist der Nährboden für Fehlentwicklungen. Das fängt bei einer anderen Definition des Datenschutzes an. In meinem Buch drucke ich einen Vertrag über den Umgang mit Sozialdaten ab, wie er zum Beispiel in den Niederlanden üblich ist. Das ist doch keine Bananenrepublik. Datenschutz kennen sie da auch. Der Grundsatz allerdings lautet: Zuerst kommt das Wohl des Gemeinwesens und dann der Schutz der Schwachen. Die individuellen Bürgerrechte sind dort nachrangig, denn sie können dort nie über dem Kollektivrecht der Gemeinschaft stehen.

Bei uns ist das anders. Wir diskutieren leidenschaftlich, ob man die Videobänder aus U-Bahnhöfen 24 oder 48 Stunden aufheben darf. Wenn es für die Nachwelt von Bedeutung ist, können Sie das Band, was mich beim Fahrscheinkaufen zeigt, gern 100 Jahre archivieren. Für eine Neubewertung müssten unsere Abgeordneten die Initiative ergreifen. Ein Schweizer Wissenschaftler verwendet übrigens die Bezeichnung „asozialer Individualismus“. Er bedeutet, ich sehe nur noch mich und meine Interessen. Sie sind das Maß der Dinge. Der Sozialraum ist nur noch dazu da, für mich zu sorgen. Diese Vollkaskomentalität ist mir nicht ganz unbekannt. Die Gesellschaft ist dafür verantwortlich, dass es mir gut geht. Sie trägt daran Schuld, wenn es mir schlecht geht. Wenn meine Kinder nicht lesen und schreiben lernen, ist die Schule schuld. Wenn ich keine Arbeit habe, ist dafür das Jobcenter verantwortlich. Es gibt für jede Lebenslage einen Schuldigen. Das ist ein verhängnisvoller Trend. Er verliert völlig aus dem Auge, dass jeder Mensch erst einmal selbst für sein Leben verantwortlich ist. Das Abschieben auf andere mag bequem sein, lähmt aber Ehrgeiz und den Selbstbehauptungswillen. Andere Länder fordern die Eigeninitiative heraus, verlangen den Einsatz der Kompetenzen, über die jeder Mensch verfügt. Auch, wenn sie manchmal erst geweckt werden müssen. Mir scheint dieses System erfolgreicher.

Sie sehen jetzt innerhalb des deutschen oder des Berliner Datenschutzes Ihre Möglichkeiten ausgereizt? Also, innerhalb dieser Gesellschaftsordnung sehen Sie, dass Sie das Optimale gemacht haben?

Ich könnte Ihnen über Beispiele berichten, da würden Sie die Hände über dem Kopf zusammen schlagen. Ich bin gegen den gläsernen Menschen und durchaus ein Anhänger von Datenschutz. Aber für mein Empfinden ist er bei uns pervertiert.

Wie sollte man in den Schulen mit Kindern schwieriger Eltern umgehen? Damit sind Migrantenkinder gemeint (Migranten, die sich nicht „eingemeinden“ lassen wollen), aber auch Kinder z.B. von alkoholabhängigen Eltern. Welche Hilfen fehlen noch?

Es gibt im Regelfall keine lernunwilligen Kinder. Kinder lernen gerne. Erst wenn sie den Anschluss in der Klasse verloren haben, verlieren sie die Lust am Lernen und versuchen mit Rollen wie dem Klassenclown oder dem stärksten Prügler wettzumachen, dass die anderen besser rechnen oder lesen können. Eine ganz andere Frage ist, wie man mit den Defiziten der Elternhäuser umgeht, die die Kinder im Rucksack des Lebens mit sich herumschleppen. Aus meiner Sicht lohnt es nicht, sich an den Eltern abzuarbeiten und ihnen zu erklären, dass das, was der Großvater ihnen beigebracht hat, alles falsch war. Es funktioniert ebenso wenig, dem alkoholkranken Menschen die fünfte Langzeittherapie aufzuschwatzen, wenn er noch nicht so weit ist, zu begreifen, dass er gerade das Wertvollste, was er besitzt, vernichtet: Sein Leben und das seiner Familie. Da verkämpft man sich. Wo keine Einsicht ist, hat es auch keinen Zweck, an Menschen „herumzudoktern“. Worin liegt der Sinn, Süchtige zu substituieren, die auf das Methadon noch irgendetwas anderes raufschmeißen, damit es richtig „zeckt“? Es mag sein, dass man damit den Absatz im Drogenhandel schmälert, aber ob es den Menschen hilft, da setze ich ein Fragezeichen.

Doch zurück zu den Kindern. Wir müssen ihnen vielmehr eine Alternative zu ihrem jetzigen Leben zeigen. Wir müssen ihnen den Gedanken nahebringen, den sie aber selbst bis zu Ende denken müssen: Meine Kinder sollen es einmal besser haben als ich. Das kann aber nur gelingen, wenn wir ihnen Werte vermitteln, die sie verstehen lassen, was sich zu Hause abspielt, und dass Verwahrlosung, Sucht und Gewalt menschenunwürdig sind. Wenn die letzte verbliebene Triebfeder sich nur noch darum dreht, wo ich die nächste Dosis herkriege, egal wie die Droge heißt. Aber auch, dass eine tolerante, demokratische Gesellschaft nicht vereinbar ist mit dogmatischen, religiösen Riten, die 1.500 Jahre alt sind. Darauf müssen die Kinder aber selbst kommen. Wir könne sie nur begleiten und behutsam lenken

Sie kommen immer wieder darauf zurück, dass eine verlässliche, konsequente Haltung wichtig sei, mit anderen Worten: Verbindliche „Spielregeln.“ In der Suchtkrankenhilfe gibt den Begriff der „Co-Abhängigkeit“. Das bedeutet unter anderem, dass Angehörige sich zwar die größte Mühe geben auf den Alkoholkranken Einfluss zu nehmen, ohne aber die entscheidenden Schritte zu tun. Beispielsweise kündigen sie bestimmte Handlungen an, ohne diese dann umzusetzen. Damit nehmen sie unwissentlich Anteil an der Fortdauer der Erkrankung. Daraus lernen die Betroffenen nur, dass sie die Worte von Ehefrau/Ehemann nicht ernst nehmen müssen. Es ändert sich nichts, auch weil die Konsequenz fehlt. Erkennen Sie in der „Co-Abhängigkeit“ eine Ähnlichkeit zu den bislang praktizierten Verhaltensweisen gegenüber Parallelgesellschaften?

Ich finde den Vergleich arg konstruiert. Es geht eigentlich um eine simple Frage: Ist Laissez-Faire eine brauchbare Therapie, egal bei welcher Diagnose? Die Antwort lautet natürlich: Nein! Zuschauen, treiben lassen, Inkonsequenz, abtauchen, schönreden und welche Begriffe uns noch so einfallen, sie lösen nie ein Problem. Weder zu Hause, noch in der Gesellschaft. Unabhängig davon, ob der Vergleich hinkt oder nicht, trete ich dafür ein, dass eine Gesellschaft ihre Entwicklung steuern muss. Sie darf sie nicht in Form einer beobachtenden Gesellschaft einfach geschehen lassen. Sie muss dort, wo Dinge aus dem Ruder laufen, als intervenierende Gesellschaft Rahmenbedingungen vorgeben und geltende Normen des Zusammenlebens durchsetzen. Ein zahnloser Tiger taugt nun einmal nur zum Bettvorleger. Die Gesellschaft muss regelkonformes Verhalten stimulieren. Zur Not mit Sanktionen. Wer bei rotem Ampellicht nicht stehenbleibt, bezahlt 150 Euro und kassiert drei Punkte.

In der Suchtkrankenhilfe spielen die Abstinenzverbände eine besonders große Rolle, weil diese nicht nur für einen begrenzten Therapiezeitraum präsent sind, sondern „lebenslänglich“ und natürlich auch, weil sie nichts kosten. Neukölln hat den Guttemplern ein ganz besonderes Gebäude überlassen, nämlich das ehemalige Wasserwerk in der Wildenbruchstr. 80. Dort leisten die ehrenamtlichen Suchtkrankenhelfer vorzügliche Arbeit. Trifft es zu, dass die Miete von jetzt 261 Euro im Jahr 2020 auf 4800 Euro aufgestockt werden soll? Falls ja, würden Sie sich für die Beibehaltung der alten Bedingungen einsetzen?

Seit 1995 beträgt die symbolische Miete 1 DM bzw. 0,51 Cent zuzüglich Betriebskosten. Dieser laufende Vertrag gilt noch bis 2020. Soweit mir bekannt, gibt es einen Nachtrag, der bereits im Jahre 2010 einvernehmlich zwischen den Guttemplern und der Stadt und Land abgeschlossen wurde. Den Inhalt kenne ich nicht. Ich werde mich aber nicht in Verträge einmischen, die andere im Frieden miteinander vereinbart haben.

Sie haben sich in hohem Maße als Bürgermeister engagiert. Ein grüner Bürgermeister soll gesagt haben, dass man in dieser Position, als Beamter eine 80-Stunden-Woche habe. Wie wird Ihr Alltag aussehen, wenn Sie in Pension sind?

Mein Ruhestand ist noch etwas hin. Ich kann aber definitiv ausschließen, dass ich einen Verein zum Züchten von Rosen gründen werde und ich werde auch in keinen Angelverein eintreten. Ich warte in Demut ab, welche Rolle das Schicksal mir für den Rest meines Lebens zuweist.

Was ist für Sie in diesem vielfach gewandelten, verwandelten Bezirk noch Heimat? Gibt es bestimmte Situationen oder bestimmte Orte bzw. Menschen, die ein „Heimatgefühl“ auslösen?

Ob mein Heimatgefühl an Menschen gekoppelt ist, habe ich bisher nicht deutlich gespürt. Neukölln, insbesondere der Teil draußen in Rudow, wo ich als Kind und Jugendlicher gelebt und von wo aus ich die Welt entdeckt habe, das ist schon meine Heimat. Der Reuterplatz schon weniger. Hier war ich nicht zu Hause, wir „Dörfler“ sind ins Pigalle gefahren, wenn wir was erleben wollten. Es war also ein Reiseziel. Je ferner man ist, desto größer wird der Fokus. Bin ich auf Usedom, denke ich an meinen heutigen Wohnsitz in Buckow, bin ich in Oslo, denke ich an Berlin. Dann ist Berlin meine Heimat. Die Stadt, in der ich immer gelebt habe.

Warum setzen Sie sich für die Integration der höchst unterschiedlichen Bevölkerungsteile in Neukölln so intensiv ein? Welche Wurzeln hat Ihr Engagement? Hat das etwas mit Glauben zu tun oder welchen anderen Grund gibt es für Ihre Haltung?

Mit einem religiösen Glauben hat das nichts zu tun. Religionsfreiheit bedeutet, auch frei von Religion leben zu können und zu dürfen. Ich engagiere mich, weil ich möchte, dass Neukölln auch mit einer mehrheitlich von Einwanderern geprägten Bevölkerung in der Zukunft nicht nur im Atlas in der Mitte Europas liegt, sondern auch in den Köpfen und in den Herzen der Menschen. Viele Menschen, die hier leben, haben mit ihren Nachbarn keine gemeinsame Vergangenheit. Aber sie müssen eine gemeinsame Zukunft haben. Ich möchte gerne, dass alle Kinder, die in diesem Bezirk geboren werden, die gleichen Chancen auf ein emanzipiertes, eigenständiges Leben haben, dass ihnen die gleichen Chancen eröffnet werden, wie ich sie hatte. Daran arbeite ich mich ab. Ich arbeite für die Zukunft der Kinder und gegen die Eltern, die die größte Gefahr für ihre Zukunft sind.

Woher kommt das Engagement?

Thilo Sarrazin würde sagen: „Vielleicht ist es genetisch“ (Lachen). Woher es kommt, weiß ich nicht. Keine Ahnung. Auch mein Vater hat niemals in Lambarene gearbeitet. Vielleicht ist es meine innere Grundhaltung, die irgendwann mal dazu geführt hat, dass ich Mitglied der SPD geworden bin.

Sehr geehrter Herr Buschkowsky, die TrokkenPresse dankt Ihnen für das Gespräch